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Mittelalterliche Staatssymbolik. Zur Erinnerung an die Kaiserkrönung Otto I. in Rom am 2. Februar 962 | APuZ 22/1962 | bpb.de

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APuZ 22/1962 Mittelalterliche Staatssymbolik. Zur Erinnerung an die Kaiserkrönung Otto I. in Rom am 2. Februar 962

Mittelalterliche Staatssymbolik. Zur Erinnerung an die Kaiserkrönung Otto I. in Rom am 2. Februar 962

Percy Ernst Schramm

Es handelt sich um einen Vortrag, der im Rahmen einer Reihe festlicher Veranstaltungen in der Wiener Universität am 1. Februar 1962 gehalten wurde. Zusammen mit den übrigen Vorträgen dieser Veranstaltung wird er in einem Ergänzungsband der »Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung" veröffentlicht.

Vor tausend Jahren, am 2. Februar 962, ließ sich Otto I., der König der Deutschen, in Rom durch den Papst zum Kaiser der Römer salben und krönen. Er begründete damit eine Tradition, die erst ihr Ende fand, als Franz II., der Habsburger, in Wien am 6. August 1806 die Kaiserwürde niederlegte. 844 Jahre, das ist eine Tradition, mit der sich in der Weltgeschichte nur wenig messen kann, in der neueren Geschichte am ehesten noch das französische Königtum, das — de facto begründet durch Karl den Kahlen — beendet wurde durch den Sturz des Königs Louis Philippe im Jahre 1848, also — rund gerechnet — ein ganzes Jahrtausend umfaßte, das heißt: dreißig Generationen.

Wenn man noch hinzunimmt, daß von 962 an für Jahrhunderte die Geschicke Deutschlands und Italiens aneinander gekoppelt blieben, darf man sagen, daß es seit der Völkerwanderung kaum ein Ereignis gibt, das so stark Geschichte gemacht wie die Krönung Ottos 1. zum Kaiser. Man sollte annehmen, daß die Chronisten ihr gebührend Rechnung getragen haben. In der Tat findet sich das Faktum verzeichnet, aber doch nicht mit dem Nachdruck, wie wir es erwarten. Die Historiographie dieser Zeit ist auch sonst nicht allzu beredt, und es ist ja nicht der einzige Fall, daß die Bedeutung eines säkularen Ereignisses den Zeitgenossen nicht klar geworden ist.

Da die Wortzeugnisse nicht viel mehr als die nüchternen Tatsachen verdeutlichen, müssen wir uns nach anderen Zeugnissen umsehen, um zu erkennen, worum es sich bei dem Vorgang am 2. Februar 962 handelte. Wir versuchen die Antwort zu finden, indem wir die „Herrschaftszeichen“ und die „Staatssymbolik“ befragen.

Ich verzichte darauf, eine Begriffsbestimmung für diese beiden Begriffe zu geben; denn ich hoffe, daß sich im Laufe dieser Abhandlung von selbst ergeben wird, was gemeint ist. Das bedeutet, daß ich die Ereignisse aus dem Geist ihrer Zeit heraus zu begreifen trachte, also dar-auf bedacht bleibe, das 10. Jahrhundert aus dem Geist des 10. Jahrhunderts heraus zu interpretieren, d. h. ernst zu nehmen, was diese Zeit ernst nahm, und nicht etwa Anschauungen späterer Zeit mitsprechen zu lassen.

Ich sehe von weiteren Argumentationen ab und wende mich gleich den Fakten zu. Ich gehe zunächst auf das Ereignis ein, das als Vorform der Feier des Jahres 962 betrachtet werden darf, auf die Krönung Otto I. zum König im Jahre 936.

1. Otto I. als König

Abb. 1:

Zeichnung nach den Angaben des Verfassers von Herbert Wefels.

Wir müssen uns zunächst vergegenwärtigen, daß beim Tode Heinrichs 1. keine feste Tradition bestand. Der Herzog der Sachsen war ja als erster seines Geschlechts auf den Thron gelangt und hatte die Unzulänglichkeit seiner „Wahl“ — zunächst konnte er sich nur auf die Zustimmung der Sachsen und Franken berufen — schrittweise heilen müssen: erst als er die Schwaben auf gütlichem Wege und dann auch noch mit Einsatz seiner Macht die Bayern dazu gebracht hatte, der „Wahl“ beizutreten, war seine Position als rechtlich gesichert anzusehen. Die im Jahre 925 vollzogene Eingliederung Lothringens in das Ostreich hatte keine Rechts-probleme aufgeworfen; aber die grundsätzliche Frage, wie das Verhältnis des Königs zu den Stammesherzögen und ihr Verhältnis zum König eigentlich beschaffen waren, hatte noch keine Klärung gefunden.

Ungeklärt war auch die Beziehung des Königs zur Kirche. Um nicht von vornherein von ihr abhängig zu werden, hatte Heinrich I. es ja im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem Franken Konrad L, abgelehnt, sich salben und krönen zu lassen.

Ungeklärt war schließlich die Frage der Nachfolge. Denn in dieser Zeit bildeten die beiden Prinzipien „Wahl" und „Erbrecht“ nicht — wie es das für uns geworden ist — einen Gegensatz, sondern zwei sich gegenseitig stützende Methoden, um einen geeigneten Herrscher auf den Thron zu setzen. Denn der Grundsatz der Primogenitur war noch nicht ausgebildet; andererseits war das Teilungsrecht noch nicht überwunden. „Wahl“ bedeutete „Auswahl“ aus den in Betracht kommenden Anwärtern, unter denen der erste vollbürtige Sohn — falls er bereits mannbar war — das virtuell beste Anrecht besaß, unter denen aber auch — falls die „Stirps regia" nicht würdig vertreten wurde — die angesehensten der Principes in Betracht kamen.

Heinrich hatte als Nachfolger seinen Sohn Otto ausersehen, vermutlich bereits lange Jahre vor seinem Tod. Das können wir aus der erst vor kurzem in das rechte Licht gerückten Tatsache entnehmen, daß Otto bereits 929 in einer Reichenauer Urkunde der Titel „rex“ eingeräumt wurde. In aller Form hatte Heinrich diesen Sohn jedoch erst kurz vor seinem Tode mit Zustimmung jener, die gerade zur Stelle waren, zu seinem Nachfolger bestimmt: er hatte ihn, um den Rechtsausdruck zu gebrauchen, „designiert“ — ähnlich wie der sterbende Konrad ihn durch das Übersenden seiner Herrschaftszeichen zum nächsten König designiert hatte. Doch ging Heinrich nicht so weit wie der Herzog von Bayern, der im Vorjahre in Erwartung seines Todes den Sohn nicht nur zum Nachfolger bestimmte, sondern ihm auch gleich hatte huldigen lassen; Heinrich ging erst recht nicht so weit wie die italienischen Könige, die ihre Söhne bereits vor ihrem Tod zu „Mitkönigen" erhoben, um den Wahlvorgang seines Inhalts zu entleeren.

Die Designation Ottos lief darauf hinaus, daß der älteste, jedoch nicht vollblütige Halbbruder Thangmar beiseite geschoben wurde. Dieser nahm diese Entscheidung nicht hin, empörte sich gegen Otto und wurde 938 von seinen Verfolgern in der Erisburg gestellt. Er floh in die Kirche und legte auf deren Altar seinen goldenen Halsring sowie seine Waffen nieder. Das war ein staatssymbolischer Akt mit eindeutigem Sinn: er entkleidete sich als Königssproß sowie als Krieger. Aber seine Verfolger achteten weder dieses Aktes, den wir eine „Devestitur" (als Gegenstück zur „Investitur“) nennen dürfen, noch der Heiligkeit des Ortes und töteten Thangmar durch einen von hinten geführten Lanzenwurf.

Auch Ottos I. anderer Bruder, der von ihm zum Herzog von Bayern erhobene Heinrich, vollbürtig wie dieser, aber jünger, nahm die Designation des Vaters nicht an und berief sich darauf, daß Otto vor, er jedoch nach der Wahl des Vaters zum König geboren, also nur er ein wahrer „Königssohn“ sei. So konnte man nur argumentieren auf Grund der Vererblichkeit des Königsheils, aber es war in diesem Falle so eingeengt, daß Heinrichs Gedankenfolge nicht überzeugen konnte. Die Entscheidung führten die Waffen herbei: Heinrich mußte sich unterwerfen.

Wir haben zeitlich vorgegriffen, um deutlich zu machen, wie unsicher Ottos I. Lage im Augenblick von Heinrichs Tod war, weil es noch keine gefestigte, eindeutige Herrschaftstradition gab. Denn dadurch wird verständlich, daß der Erbe alles tat, um eine rechtlich unangreifbare Grundlage für seine Herrschaft zu gewinnen. Gern wüßte man, ob er die Einzelheiten, vor allem die Auswahl des Krönungsortes, bereits mit seinem Vater abgesprochen hatte; alles greift so schlüssig ineinander, daß diese Annahme nahe liegt — aber kein Chronist vermeldet etwas darüber.

Über Ottos Wahl, Salbung und Krönung, die am 7. April 936 im Aachener Dom vollzogen wurde, besitzen wir den eingehenden, Sachkenntnis sowie Verständnis für Staatssymbolik erkennen lassenden Bericht Widukinds von Corvey — dieser ist so oft erörtert worden, daß wir aus ihm nur die Fakten herauslösen wollen, die in unserem Zusammenhang von Wichtigkeit sind.

Zu scheiden haben wir die weltlichen und die kirchlichen Akte, die Otto staatssymbolisch in die Herrschaft einführen oder — um einen Ausdruck der Urkundensprache zu benutzen — die ihm die „Corroboratio" in der Herrschaft erteilten. Bei den kirchlichen Vorgängen handelt es sich um drei:

1. Otto wurde gesalbt — im Gegensatz zu seinem Vater, aber in Einklang mit der karolingischen Tradition, für die den leitenden Erz-bischöfen ein westfränkischer Ordo zur Verfügung gestanden haben wird. Der gesalbte König gehörte daher fortan als einziger Laie zu den „Christi Domini", den Gesalbten des Herrn.

2. Otto wurde — gleichfalls gemäß karolingischem Herkommen — mit den Herrschaftszeichen bekleidet oder — um den sowohl in der Liturgik als auch im Recht benutzten Terminus zu gebrauchen — er erhielt die „Investitur" mit Schwert, Armspangen, Mantel, Szepter, Stab und Krone, so wie Bischof und Abt bei ihrer Weihe mit ihren Amtszeichen „investiert" wurden — die Nähe dieser Akte war im 10. Jahrhundert so groß, daß die für die Übergabe des Königs-sowie des Abtstabes benutzten Formeln sich im Wortlaut berühren. 3. Schließlich wurde der König im Schmucke seines Ornats von den Erzbischöfen auf die Empore des Aachener Münsters hinaufgeleitet und hier feierlich auf den Steinthron Karls des Großen gesetzt. Das war eine der drei Formen der Einweisung, die im germanischen Bereich entwickelt worden waren: Erhebung auf einen Schild, Übergabe einer Lanze und Stuhlsetzung. Doch ist zu beachten, daß diese ähnlich von den Römern geübt und daher auch bei der Papst-und Bischofsweihe üblich geworden war.

Diesen in der Kirche vollzogenen Akten gingen weltliche voraus, deren Schauplatz der Raum vor dem Münster war: die Herzöge und Fürsten setzten Otto auf einen hier errichteten Thron, gaben ihm — so drückt sich Widukind aus — die Hand und versprachen ihm Treue, d. h. sie vollzogen — um uns der Rechtssprache zu bedienen — die „Manumissio“, mit der sich die Lehnsleute in den Schutz („Munt“) ihres „Senior“ begaben. Daß zwei Thronsetzungen stattfanden, erklärt sich durch das Bemühen, zwischen den weltlichen Wahl ansprüchen und den geistlichen Weihe ansprüchen auszugleichen; in der Folgezeit fand immer nur eine statt und zwar die auf dem Throne Karls.

Den in der Kirche vollzogenen Akten folgte wiederum ein weltlicher: ein feierliches Mahl. Den Schauplatz gab der (in den Fundamenten des heutigen Aachener Rathauses noch erhaltene) Palast Karls des Großen ab. Es handelte sich hier jedoch nicht um etwas, was man in späterer Zeit mit „Staatsbankett" bezeichnet hätte. Im germanischen Bereich bestand vielmehr die letzte „Corroboratio" bei der Über-gabe eines Bauernhofes und daher auch bei der eines Königreiches in dem feierlich abgehaltenen „Erbbier“, bei dem der Erbe auf den verwaisten Sitz des Vorfahren gesetzt wurde und dann den Teilnehmern zutrank. Aber jenes Festmahl im Aachener Palast wäre zu einfach gesehen, wenn man es allein auf die germanische Tradition zurückführen wollte. Notker, der Mönch von St. Gallen, erzählt nämlich von Karl dem Großen, er sei von Herzögen, Fürsten und Königen verschiedener Völker „bedient“ worden, diese von Grafen, diese von Rittern usw.: d. h. Karls Mahl hatte laut dieser die Wirklichkeit steigernden, aber im Kern sicherlich richtigen Darstellung die Amtshierarchie sichtbar gemacht, die inzwischen entstanden war. Ottos Mahl war in dieser Hinsicht noch konkreter; vier namentlich angeführte Herzöge — wohl niemals vorher hatten gleichzeitig so viele am Königshof geweilt! — amtierten bei ihm als Marschall, Kämmerer, Truchseß und Mundschenk. Sie amtierten als solche — aber sind sie es auch? Um sich im Alltag diese Dienste leisten zu lassen, hatte Otto I. wie jeder König, ja wie jeder „Senior" von Ansehen, seine Hofbeamten, die er dafür mit Lehen ausstattete. Bereits aus dem 10. Jahrhundert kennen wir einige von ihnen mit Namen, und wir können dann verfolgen, wie diese Ämter die Tendenz haben, sich zu vererben. Die Herzöge sind also nicht Hofbeamte, sondern treten nur bei dem festlichen Anlaß an deren Stelle, um noch sinnfälliger als am Morgen bei der Huldigung vor der Kirche zu machen, wie ihr Verhältnis zum König vorzustellen war.

Es handelt sich hier also — so könnte man sagen — um den abschließenden Akt eines politischen Schauspiels, in dem den Anwesenden die Struktur des unsichtbaren „regnum Theutonicorum" vor Augen geführt wird. Ein Schauspiel im Sinne dieser Zeit: man gewahrt menschliches Agieren, durch das man hindurchschauen muß — genau so wie bei den Mysterienspielen, von denen wir ja zuerst im 10. Jahrhundert hören. So wie in der Kirche fromme Menschen Teile der einst abgelaufenen Heilsgeschichte aufführen, um die Zuschauer die für sie alle lebenswichtige, sonst nur gehörte Erlösung s e h e n zu lassen, so wurde in Aachen vor dem Münster und in der Pfalz allen Anwesenden in der Analogie konkreten Geschehens vor Augen geführt, was eigentlich an diesem Tage vor sich ging: Thronwechsel und Erneuerung der Verpflichtungen gegenüber dem neuen Herrscher. In diesem „politischen Schauspiel" stellte sich den Zusehenden das „regnum Theutonicorum" dar, als wenn es ein Lehnsverband mit einem „Senior" an der Spitze sei, als wenn es konstruiert sei nach Art der „Curia" eines „Senior“, der Anspruch auf die Dienste seiner Hofbeamten hat.

Der Ton liegt aber auf diesem „als wenn“. Zu sagen: das „regnum" w a r ein Lehnsstaat, wäre im Hinblick auf die Zeit Ottos 1. falsch; erst in der Folgezeit ist es so begriffen und ausgestaltet worden. In bezug auf die Zeit Ottos I. wäre eine solche Aussage schon deshalb unangebracht, weil das Abstraktum „Staat" den Anwesenden im Jahre 936 zwar bewußt war, aber von ihnen nicht „begriffen" wurde, d. h. mit einem Namen dingfest gemacht werden konnte — das Wort „Staat" und seine romanischen Entsprechungen gehören ja erst dem späten Mittelalter an. Es waren sehr kluge, sehr erfahrene Männer, die die Abfolge der Otto in die Herrschaft einweisenden Akte festlegten und die weltlichen Akte mit den geistlichen verzahnten. Für alle, die sich in der Staatssymbolik aus-kannten — und dazu dürfen wir sowohl die führenden Laien als auch die Bischöfe und Erzbischöfe rechnen —, handelte es sich um den Ablauf einer Reihe von Handlungen, die im Gesamt das Wesen von Ottos Königtum nach allen Seiten hin sinnfällig machten. Wer aber auch den neuen König beraten haben mag, das entscheidende Wort muß er selbst gesprochen haben. Wie er gewählt, wie er gesalbt, wie er auf den Thron gesetzt und wie er beim Mahl bedient wurde, alles das verlief so, wie es Otto I. recht war.

Vor allem muß des Königs Wort bei der Auswahl des Krönungsortes die Entscheidung gefällt haben: Weihe in Aachen, das bedeutete ein eindeutiges Programm. Nicht nur dieses: Otto legte bei der Krönung fränkische Kleidung an, d. h. er „devestierte" sich als Sachse und machte sich zum Mitglied des Stammes, aus dem die Karolinger hervorgegangen waren. Er „setzte sich“ auf Karls Thron, in der Zeit der Sachsenkaiser zu Recht als „archisolium", Erzthron des Reiches, bezeichnet, und „besaß“ dadurch hinfort das Reich. Er, der Sproß des Sachsen Brun, der mit Wittekind die Selbständigkeit der Sachsen gegen Karl den Großen zu verteidigen gesucht hatte, annektierte — so möchte man sagen — den Thron des Sachsenbezwingers. Aber dieser lange zurückliegende Streit war bereits in Ver-gessenheit geraten. Als im Jahre 936 der Sachse Otto, gesalbt und investiert nach karolingischem Ritus, auf dem Thron des Frankenkaisers Platz nahm, da „besaß“ er dadurch nicht nur das „regnum Theutonicorum“, sondern er wurde gleichzeitig ergriffen von der karolingischen Tradition. Im französischen Mittelalter galt in bezug auf die Übernahme der Herrschaft der Satz „Le mort saisit le vif“ (der Tote ergreift den lebenden Nachfolger); in bezug auf Otto darf man ihn abwandeln in den Satz: als Otto den Thron Karls „besaß“, da ergriffen die in diesem Steinsitz verkörperten Traditionen ihn und verpflichteten ihn, auf die Bahn Karls des Großen einzuschwenken und die Einheit der von ihm beherrschten Länder zu sichern durch den Erwerb der Kaiserkrone, die Karl als erster Herrscher des Abendlandes auf dem Haupt getragen hatte. 2. Die Schlacht auf dem Lechfelde und ihre Folgen Da es hier nicht um einen geschichtlichen Bericht geht, dürfen wir springen. Wir vermerken, daß Otto seinen Sohn Liudolf 939 zum König designieren ließ, die Nachfolge also bereits im Vollbesitz der Kraft regelte. Wir übergehen die Frage, wie Otto die Beziehungen zu den Slawen im Osten ausbaute, welche Ziele er bei der Einmischung in die Angelegenheiten Frankreichs verfolgte. Wir erinnern kurz daran, daß der König von seinem ersten Italienzug (951/2) an seine Macht auf das südliche Nachbarland konzentrierte. Kraft des errungenen Sieges nannte er sich vorübergehend genau wie Karl der Große „rex Francorum et Langobardorum (bzw. Italicorum)" und benutzte wohl auch — wie die byzantinischen Kaiser und seine karolingischen Vorgänger — eine Bulle. Die durch Huldigung bekräftigte „Personalunion“ — diesen modernen Ausdruck dürfen wir sowohl auf ihn wie schon auf Karl beziehen — verstärkte Otto noch, indem er Adelheid, die Witwe des verdrängten Königs, heiratete, was auf die Rechtsfiktion einer zusätzlichen „Matrimonialunion“ hinauslief. Aber der König gab den vollen Titel wieder preis und nahm auch von der Absicht Abstand, Rom aufzusuchen, da der Papst, dem Druck des römischen Stadtherrn Alberich gehorchend, sich ihm versagte. Otto steckte die Pflöcke wieder zurück und nahm den gegen seinen Willen zum König gewählten und gekrönten Berengar in den 936 bei den deutschen Herzögen beobachteten Formen als Lehnsmann an, wodurch dieser in eine den karolingischen Unterkönigen entsprechende Stellung gelangte. Als Zeichen der Investitur mit der Herrschaft über Italien händigte er ihm im August 952 auf einem Reichstag in Augsburg ein goldenes Szepter aus — mit einem Szepter hatte bereits Kaiser Arnulf den König Boso von Burgund investiert; mit einem Szepter wird später Heinrich VI. Amalrich von Zypern zu seinem Lehnskönig machen.

Aus dem weiteren Hin und Her der Ereignisse hebt sich heraus der Sieg, den Otto im August 955 auf dem Lechfelde über die Ungarn errang.

Er ist in unserem Zusammenhang in dreifacher Hinsicht wichtig.

1. Fortan war nicht nur die Ungarngefahr beschworen, sondern es wurde möglich, fortan die christliche Mission nach Ungarn hinzutragen. Ottos Name gewann dadurch Klang über die Grenzen seines Reiches hinaus; die von ihm geförderte, ja gesteuerte Mission stärkte das Ansehen des Königs.

2. Im Jahre 936 waren die wichtigsten Herzöge zum erstenmal zu gemeinsamem Handeln angetreten, jetzt hatten zum ersten Male alle Stämme bei der Abwehr einer Deutschland bedrohenden Gefahr mitgewirkt; fortan gab es in der Erinnerung aller Stämme ein Ereignis, das ihre Herzen höher schlagen ließ.

3. Nach Widukind wurde Otto auf dem Schlachtfeld zum Vater des Vaterlands und Kaiser ausgerufen: „pater patriae imperatorque appellatus est“. Was meinte der Corveyer Mönch mit dieser antikisierenden Ausdrucksweise? Von einer Kaiserwahl oder -erhebung kann natürlich keine Rede sein: Otto führte nach der Schlacht eben den Titel weiter, den er vorher geführt hatte, also den Königstitel. Aber sicherlich hat auf dem Schlachtfeld eine Siegesfeier stattgefunden; denn solcher Brauch war üblich. Er hatte auch — wie uns Karl Hauck gezeigt hat — ein bestimmtes, aus der germanischen Tradition herausgewachsenes Ritual, bei dem der siegende Fürst und Feldherr im Mittelpunkt stand. Mag sein, daß der eine oder andere oder auch viele in der Begeisterung dieser Stunde Otto als Kaiser zugejubelt haben -Folgen hatte das jedenfalls nicht. Aber Otto hatte nun die Gewißheit erlangt, nicht ein König wie andere zu sein, sondern von Gott mehr als seinesgleichen gefördert zu werden. „Dei Gratia“, von Gottes Gnaden, titulierte er sich gemäß der von Karl dem Großen begründeten Tradition; diese Gnade Gottes hatte ihm bereits viele Erfolge und jetzt einen ganz großen Sieg eingebracht: wozu mochte sie ihn noch weiter ausersehen haben?

Das Problem, das sich Otto aufdrängte, war also, sich klar zu werden und den anderen deutlich zu machen, wie er zu Gott und zu Christus stand. Er hatte das Glück, sich auf diesem Wege von einem Manne beraten lassen zu können, der in Deutschland von diesen Dingen am meisten verstand, nämlich von seinem Bruder Brun, dem Erzbischof von Köln und von 955 an auch Herzog von Lothringen — aus den noch nicht veröffentlichten Forschungen Josef Flekkensteins ergibt sich, daß bei dem Ausbau der Kapelle Ottos in den fünfziger Jahren der Erzbischof-Herzog Anreger und Leiter war.

Das Resultat, zu dem die Überlegungen der beiden Brüder kamen, liegt versteinert vor in der Reichskrone: „versteinert" können wir — wenn auch in nicht üblicher Weise — sagen, seitdem uns Hansmartin Decker-Hauff gelehrt hat, daß bei ihr die Zahl, die Farbe und die Art der Steine auf das genaueste überlegt sind, und „Reichskrone" dürfen wir sie nennen, obwohl der Ausdruck erst in der Staufischen Zeit belegt ist, da es sich bei ihr weder um eine Königs-noch um eine Kaiserkrone handelte, sondern eben um die Krone, die die Nachfolger — mochten sie Könige oder Kaiser sein — als rechtmäßige Erben Ottos auswies.

Ist die Krone wirklich so alt? Auf ihrem Bügel steht der Name Konrads II., aber es läßt sich zeigen, daß er einen älteren, gleichgeformten ersetzt hat. Der Vergleich der originalen acht Platten mit anderen Goldschmiedearbeiten der Zeit, den Hermann Filiitz durchführte, kam zu dem Ergebnis, daß der Kronreif bereits mit den ältesten Werken des Essener Domschatzes korrespondiert, also bis mindestens in die Jahre um 970 heraufdatiert werden muß. Da aus den fünfziger und sechziger Jahren Arbeiten ähnlicher Qualität leider fehlen, ist es nicht möglich, nur auf kunsthistorischem Wege zu einer noch genaueren Datierung zu gelangen: jeden-falls bestehen von dieser Seite keine Bedenken gegen eine Datierung der Krone um 960. Sicher ist, daß die Anfertigung lange Zeit in Anspruch nahm und wohl noch längere das Sammeln der zahlreichen, so verschiedenartigen Edelsteine — man wird mit Jahren zu rechnen haben. Einen Hinweis darauf, wann der Auftrag erteilt wurde, gibt eines der vier Emailbildchen: dargestellt ist, wie der Prophet Jesaja dem erkrankten König Hiskias dreimal fünf Lebensjahre zulegt — ikonographisch eine ganz ungewöhnliche Szene. Nun wissen wir, daß Otto 957 längere Zeit sehr schwer erkrankt war und seine Errettung auf die Hilfe des in Corvey verehrten heiligen Veit zurückführte. Es drängt sich daher der Schluß auf, daß jenes Email mit dieser Krankheit zusammenhängt, der König die „Reichskrone“ also kurz vorher oder kurz nachher in Auftrag gab. Die Vermutung führt dann zu dem weiteren Schluß, daß sie zwischen dem Sieg auf dem Lech-felde und der Kaiserkrönung angefertigt wurde.

Was soll die Krone besagen? Die Frage, die viel erörtert worden ist und dem Betrachter durch die seltsame, noch dazu völlig einmalige Form ja geradezu aufgedrängt wird, können wir jetzt auf Grund der Untersuchungen H. M. Dekker-Hauffs beantworten, ohne uns dem Vorwurf des Hineindeutens auszusetzen. Die Vorderseite bezieht sich auf die zwölf Apostel, die Rückseite auf die zwölf Söhne Jakobs, d. h. die zwölf Stämme Judas, die beiden Seitenflächen auf die Apokalypse — zwei also auf die Vergangenheit, zwei auf die Zukunft. Zwischen die vier Platten mit Steinen sind Platten mit Emails eingefügt: die auf der rechten Seite beziehen sich auf das Prophetentum, die auf der linken Seite auf das alttestamentliche Königtum. Der Träger einer solchen Krone war also in vielfacher Weise in Beziehung zur Heilslehre, zur göttlichen Ordnung der Welt und zum Ablauf der Geschichte gesetzt — nie vorher war das bei einer Krone versucht worden.

Das Verblüffendste an der Krone ist der Bügel, der hahnenkammartig von der Vorderseite zum Nacken gespannt ist. Denn Bügel hatte es in karolingischer Zeit zwar schon gegeben, jedoch immer nur zwei flach über den Kopf verlaufende, die sich auf dem Scheitelpunkt überkreuzten. Es stellt sich somit eine Doppelfrage:

1. Weshalb wurde auf den Querbügel verzichtet? 2. Weshalb wurde der Stirnbügel senkrecht aufgerichtet?

Die Antwort auf beide Fragen lautet: das mußte so sein, damit unter der Krone eine Mitra getragen werden konnte: eine niedere Mitra mit zwei „cornua", d. h. stumpfen Edeen an den Seiten und einem Sattel in der Mitte. Das ist keine herbeigeholte Erklärung: wir wissen vielmehr, daß zur Reichskrone im ganzen Mittelalter eine solche Mitra gehörte, und können aus der Folgezeit sogar Bilder von der Reichs-krone namhaft machen, auf denen aus der Krone die „Cornua" der Mitra herausragen.

Krone und Mitra vereinigt? Hatte es das vorher schon gegeben? Ja, nur einmal und zwar im alten Israel: im Alten Testament ist vermerkt, daß eine „corona aurea super mitram" getragen wurde vom Hohenpriester.

Diese Feststellung mag überraschen, aber an sie hängen sich noch zwei weitere:

Als der bisher in Nürnberg verwahrte Reichshort am Ende des 18. Jahrhunderts vor den Franzosen nach Wien in Sicherheit gebracht werden mußte, ging ein Gürtel verloren; aber dieser ist uns noch durch einen sehr genauen Stich aus eben diesem Jahrhundert bekannt. Der Gürtel war damals bereits beschädigt, aber die verletzte Inschrift ist neuerdings durch Norbert Fickermann in überzeugender Weise ergänzt worden: danach handelt es sich um das Geschenk eines Sicco an einen der Ottonen — wir kennen ihn als Vertrauten Ottos II.: er oder sein gleichnamiger Sohn haben demnach diesem Kaiser oder Otto III.den Gürtel als Geschenk dar-gebracht.

Zu erwähnen ist der Gürtel hier, weil an ihm an blauen und roten Schnüren — das sind die beim Ornat des Hohenpriesters vorwaltenden Farben — vier Glöckchen hingen. Dadurch wird ein Zeugnis aus dem 11. Jahrhundert verständlich, das in übertreibender Weise behauptet, alle Gewänder des Kaisers seien mit einer Unzahl solcher Glöckchen besetzt gewesen. Wieso konnte man auf den seltsam anmutenden Gedanken verfallen, am Herrscherornat „tintinnabula“ anzubringen? Die Antwort lautet wiederum: weil das nach dem Zeugnis des Alten Testaments bei der Gewandung des Hohenpriesters der Fall gewesen war. Deshalb hatten bereits im 9. Jahrhundert Geistliche ihre liturgischen Gewänder so verzieren lassen; für Laien ist solcher Brauch jedoch erst durch den verlorenen Gürtel bezeugt.

Wir sind noch nicht am Ende mit den Fakten, die in diesen Problemkreis gehören.

Im Bamberger Domschatz hat sich ein — neuerdings von Frau Müller-Christensen meisterhaft wieder in seiner alten Pracht erstellter — Mantel erhalten, auf dessen blauem Grund in Gold die Figuren des Zodiacus und Gestalten der Apokalypse eingestickt sind. Nach der Inschrift wurde er Heinrich II. von einem süditalienischen Großen verehrt. Wir wissen aber, daß audi Otto III. und sein Zeitgenosse, der König Hugo Capet von Frankreich, solche „Himmelsmäntel“ besessen haben. Die Deutung, daß die Träger dadurch einen Anspruch auf die Weltherrschaft hatten sichtbar machen wollen, liegt nahe, da Mäntel solcher Art im alten Orient und im hellenistischen Bereich diese Funktion in der Tat ausgeübt hatten; aber eine solche Auslegung paßt nicht zum 10. Jahrhundert. Die Lösung findet sich wiederum im Alten Testament: nach der Weisheit Salomonis war auf dem Mantel des Hohenpriesters „totus orbis terrarum", der ganze Weltkreis, abgebildet. Wer hat zuerst einen solchen hohenpriesterlichen Mantel auf seinen Schultern getragen? In karolingischer Zeit fehlt jeder Beleg; andererseits ist zu beachten, daß Heinrich II.der Großneffe, Otto III.der Enkel und Hugo der Schwestersohn Ottos I. waren, also jenes Herrschers, der zuerst wie der Hohepriester unter der Krone eine Mitra trug. Führen wir auf ihn auch den Himmelsmantel zurück, dann dürfen wir das mit den hohen-priesterlichen Glöckchen gleichfalls tun. Denn in der karolingischen Zeit sind Mitra, Himmels-mantel, Glöckchen als Teile des Herrscherornats noch nicht zu belegen. Sie alle drei gehören ja auch als „Zeichen" so eng zusammen, daß sie als Teile eines und desselben Ornats angesprochen werden dürfen. Diese wird Otto aller Wahrscheinlichkeit nach — ebenso wie die Reichskrone" — bereits vor der Kaiserkrönung getragen haben.

Sind unsere Folgerungen zu kühn? Wir können sie nachkontrollieren an Hand eines weiteren Belegs aus dem Bereich der Staatssymbolik.

Seit langem hat die Forschung ein offensichtlich sehr alter Ordo für die Krönung beschäftigt. Aus den Studien des uns durch den Tod entrissenen, aber in dankbarer Erinnerung behaltenen Monsignore Michel Andrieu, dem wir auch die maßgebende Edition verdanken, hat sich ergeben, daß der Ordo zu einem Pontifikale gehört, das um 960 im Mainzer Kloster St. Alban entstand — also unter den Augen des Erzbischofs Wilhelm, eines nicht-vollbürtigen Sohnes König Ottos. Wie bei den anderen Teilen des Pontifikale wurde auch in dem Königsordo auf ältere Vorlagen zurückgegriffen; aber bei der Zusammenfassung und Ausbalancierung der Krönungsakte tritt Eigenes heraus. Offen bleiben muß die Frage, ob der Ordo im Hinblick auf die im Jahre 961 vollzogene Krönung Ottos II. zum Mitkönig oder rückschauend unter deren Eindruck aufgesetzt wurde — so oder so spiegelt der Ordo die Auffassung wider, die sowohl der König als auch die Kirche von den Aufgaben des Herrschers hegten.

Natürlich liegt diesem Ordo die vom Papste Gelasius I. im Jahre 494 klassisch formulierte Zweigewalten-Lehre zugrunde: wer hätte es wagen können, das Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Gewalt, von „sacerdotium“ und „regnum“, in Frage zu stellen. Aber in einer der Weiheformeln wird gesagt, daß der König teilhaftig werde des bischöflichen Ministeriums (per hanc, seil, coronam, te participem ministerii nostri non ignores), und entsprechend ist die Königsweihe der Bischofsweihe, soweit nur angängig, angeglichen. Am deutlichsten spricht, daß der König zweimal als der bezeichnet wird, der den Namen, den Typus Christi „trage". Diese von den Kirchenvätern entlehnte Formulierung knüpft an die Bedeutung: Christus = der Gesalbte an, ist aber nur im Rahmen des im Frühmittelalter so sehr gepflegten allegorischen Denkens zu verstehen, das darauf aus war, überall Entsprechungen, Gleichheiten, Ähnlichkeiten aufzudecken. So gesehen, „entspricht" der gesalbte König auf Erden Christus im Himmel und kann daher — so heißt es an einer anderen Stelle des Ordo — der „Mittler“ (mediator) zwischen Kirche und Volk sein.

Hier ist also im Bereich der Kultsprache der Herrscher — ebenso wie in der Staatssymbolik — weit in den priesterlichen Bereich hineingeschoben — weiter als je seit Karl dem Großen.

Anknüpfend an die in der Konstantinischen Fälschung benutzte Formel „imitatio imperii", die dort die entgegengesetzte Tendenz kennzeichnet, dürfen wir sagen: es handelt sich hier um eine „imitatio sacerdotii“, die sich zugleich an Augen und Ohren der Zeitgenossen richtete und von ihnen sicherlich wie gewollt verstanden wurde. Diese „imitatio sacerdotii“ dürfen wir das Hauptkennzeichen der Jahre zwischen dem Sieg auf dem Lechfelde und der Krönung Ottos I. zum Kaiser nennen.

3. Otto I. als Kaiser (962): Krönung-Vorbilder-Ansprüche

Abb. 2:

entnommen der Darstellung eines Regensburger Bischofs in hohenpriesterlicher Gewandung im Uta-Codex, Anfang des 11. Jahrhunderts.

Otto II. als Erbe seines Vaters

Aus der Vorgeschichte der Kaiserkrönung heben wir noch einmal zwei bereits gestreifte Fakten heraus: bereits 951 hatte Otto 1. die Hand nach Rom ausgestreckt, war dann aber vor der Ablehnung des Papstes und des diesen lenkenden Stadtherrn Alberich zurückgewichen. Ferner: im Jahre 961 hatte der König an Stelle des zum Nachfolger designierten, aber vorzeitig verstorbenen Liudolf seinen Sohn Otto trotz dessen jugendlichem Alter zum Mitkönig wählen, salben und krönen lassen — er war also schrittweise vom Vorbild seines Vaters abgewichen und hatte sich, das „Wahl" -Prinzip einengend, der Nachfolgeregelung angeglichen, die in Frankreich und Italien, aber auch in Byzanz üblich war.

In Italien hatte sich inzwischen eine ganz neue Konstellation ergeben. Diesmal war es der Papst, der den König zur Hilfe rief! Nach Alberichs Tod war nämlich dessen Sohn auf die Cathedra Petri gesetzt worden; im Besitz sowohl der geistlichen als auch der weltlichen Macht hatte er sich mit dem König Berengar verfeindet. Wer anders als Otto hätte ihm Hilfe leisten können? Dieser schob seinen Lehnskönig beiseite und fand daher den Weg nach Rom offen. Aber noch beherrschte Mißtrauen beide Parteien: Papst Johann XII. ließ den König erst in die Stadt hinein, nachdem er durch Eide Sicherheit erlangt hatte, und während seiner Krönung stand Ottos Schwertträger bereit, um — sollte ein heimtückischer Überfall erfolgen — diesen abzuwehren; er könne später seine Gebete nach-holen, hatte ihm sein Herr bedeutet.

Die am 2. Februar 962 nach dem Herkommen vollzogene Krönung hat also keine gute Vor8eschichte, und auch der Nachklang der Feier wurde getrübt, da sich Johann XII. gegen Otto mit Berengars Sohn verbündete: Otto konnte jedoch die Entthronung des Papstes durchsetzen und Berengar mit seiner Sippe gefangen nehmen. Erst nach zwei Jahren war er wirklich Herr in Italien.

In diesem Rahmen ist Ottos Kaiserkrönung zu betrachten.

Wie schön wäre es, wenn Widukind, gestützt auf den Bericht eines Augenzeugen, in seine Chronik auch über Ottos Erhebung zum Kaiser einen ähnlich ausführlichen Bericht wie über die Königskrönung eingefügt hätte oder ein anderer Geschichtsschreiber, der nicht dessen Abneigung gegen die neue Kaiserwürde teilte, ausführlicher gewesen wäre. So beschränkt sich unser Wissen auf die Grundtatsachen. Wir zählen die wichtigsten der Reihe nach auf: 1. Otto wurde — wie seit Ludwig dem Frommen üblich — gesalbt. Bei Karl dem Großen war das noch nicht der Fall gewesen: in Würdigung der Tatsache, daß das Sakrament der Herrscher-weihe nur einmal gespendet werden könne. Dann hatte sich jedoch die Anschauung durchgesetzt, daß das Kaisertum einen höheren „Gradus" darstelle als das Königtum, daß also der gesalbte König als Kaiser noch einmal gesalbt werden müsse — so wie der zum Bischof gewählte Presbyter eine weitere Weihe zu empfangen hatte. 2. Otto wurde durch den Papst gekrönt und sicherlich auch mit den anderen Herrschaftszeichen investiert, wie der Papst das Schritt für Schritt von der Zeit Ludwigs des Frommen an durchgesetzt hatte. Karl dem Großen hätte diese Entwicklung sehr mißfallen; denn dadurch gewann der Papst bei jeder Krönung von neuem Einwirkung auf die Erhebung zum Kaiser.

Das war sehr folgenschwer; denn im Mittelalter bildete das, was einmal rechtens geschehen war, den Präzedenzfall für das Kommende. Durch seine Kaiserkrönung begründete Otto das hinfort gültige, bis zum Untergang des Reiches nie ernstlich in Frage gestellte Gewohnheitsrecht, daß nur der deutsche König als Kandidat für die Kaiserwürde in Frage komme; andererseits ergab sich aus der vom Papst vollzogenen Krönung für diesen die einleuchtende Argumentation, daß er nicht gezwungen werden könne gegebenenfalls einen König zum Kaiser zu krönen, der im Sinne der Kirche „non idoneus“, d. h. nicht geeignet war; er müsse also das Recht haben, den zum König gewählten zu „approbieren“ und im Falle einer Doppel-wahl zu entscheiden, welcher von den beiden Königskandidaten der besser geeignete sei. Der Streit hierüber durchzieht die ganze mittelalterliche Geschichte Deutschlands wie ein roter Faden.

Wer rückschauend diese Entwicklung beurteilt, mag geneigt sein zu folgern, es sei ein „Fehler" gewesen, daß Otto Rom als Krönungsort und den Papst als Krönenden anerkannte; jedoch war beides durch Gewohnheitsrecht gesichert, und was im Mittelalter rechtens war, vermochte selbst der mächtigste Herrscher nicht abzuändern. Für Otto bestand daher nur die Alternative: Kaiser in Rom mit Hilfe des Papstes werden oder König bleiben. Aber Deutschland und Italien auf die Dauer allein durch eine Personalunion zusammenzuhalten — wer hätte das wohl für möglich gehalten? Um beide Reiche zusammenzuklammern, hatte ja auch Karl der Große die Kaiserwürde angenommen.

3. Noch ein drittes Faktum ist aus dem Ablauf der Krönungshandlung herauszuheben: Seit Karl dem Großen war es üblich, daß die Anerkennung des gekrönten Kaisers abschließend durch die Darbringung der „Laudes" bekräftigt wurde, die ihm in festgelegter Form Sieg und Heil wünschten. Auch dieser Brauch trat 962 wieder in Kraft und wurde fortan beibehalten. Nie ist jedoch der Versuch gemacht worden, zu klären, wer denn eigentlich nach Salbung und Krönung dem Neugekrönten diese weltliche „Corroboratio" erteilte: Waren es die Stadtrömer, war es der Klerus als Vertreter der römischen oder sogar der Gesamtkirche, oder waren es alle Anwesenden gemeinsam als Vertreter des Reichsvolkes? Daß — ähnlich wie der Papst — auch die Stadtrömer nicht einfach gewillt waren, sich mit einer ausführenden Rolle zu begnügen, zeigte sich in ihrem später angemeldeten Anspruch, den Kaiser „wählen" zu dürfen. Ihnen kam zwar die antike Tradition zugute, aber die Stadtrömer hatten im Gegensatz zum Papst nicht die Macht, ihren Anspruch zu verwirklichen: Friedrich Barbarossa hat ihn mit schneidenden Worten zurückgewiesen.

Was läßt sich über die „Kaiseridee" aussagen, die Otto von seiner Kaiserkrönung an vertrat? Wir müssen im Sinne behalten, daß das eine durch und durch moderne Formulierung ist. Mittelalterlich gefaßt muß die Frage lauten: auf welches Vorbild hin richtete sich der neue Kaiser aus? Die Antwort lautet: vornehmlich auf das karolingische.

Ottos Kaiserbulle ist nicht erhalten, aber es ist wahrscheinlich, daß sie die von Ludwig dem Frommen an benutzte Inschrift: „Renovatio regni Francorum“ trug. Otto führte auch normalerweise den von jenem Kaiser an üblich gewordenen Titel „Imperator Augustus“ — nur ausnahmsweise begegnet der Zusatz „Romanorum“. Aus der Anknüpfung an die karolingische Tradition zog Otto ferner die — seine Machtstellung in Italien einengende — Folgerung, daß er dem Papste das zuerst von Pippin ausgestellte und dann mehrfach erweiterte Paktum, die Rechtsgrundlage für dessen weltlichen Ansprüche, bestätigte.

Dagegen wies der Kaiser die damals wieder an das Licht gezogene Konstantinische Fälschung von sich. Die Ausrichtung auf das karolingische Vorbild bedingte — wie schon zur Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger — die Tendenz, daß die abendländischen Kaiser nicht hinter den byzantinischen zurückstehen dürften. Zeugnis dafür legt das von 962 an benutzte Siegel ab, das ein bescheideneres ersetzte und den Herrscher nicht mehr im Profil, sondern — wie in Byzanz — frontal darstellte. Vor allem kommt diese Tendenz in Ottos Bestreben zum Ausdruck, eine byzantinische Prinzessin als Gattin für seinen Sohn zu gewinnen. Der Kaiser kam bekanntlich erst zum Ziel, als in Konstantinopel ein Usurpator den Thron eingenommen hatte, dem daran liegen mußte, in Italien nicht durch einen Feind bedroht zu sein. Um seinen Sohn und Erben, dem Otto ja bereits die Stellung eines Mitkönigs eingeräumt hatte, in den Augen der Byzantiner so ansehnlich wie möglich zu machen, bewirkte er beim Papst, daß Otto II. — wie in Byzanz — zum Mitkaiser erhoben wurde: dies war das zweite und letzte Mitkaisertum, das es im Abendland gegeben hat — das erste hatte Karl der Große einige Monate vor seinem Tode in Aachen ohne Mitwirkung des Papstes herbeigeführt. Damals hatte noch keine Rechtstradition bestanden; Otto war jedoch durch die mittlerweile gefestigte gebunden und war daher gezwungen, — im modernen Sinn — abermals einen „Fehler“ zu begehen.

Die Verständigung mit Byzanz dauerte nur so lange, als sich dort die neue Dynastie auf dem Thron behauptete. Als die angestammte ihn wieder einnahm, trat die unausweichliche, seit Karl dem Großen immer nur vorübergehend ausgeglichene Rivalität wieder heraus, und als die Byzantiner Otto II. nicht gegen die Moslims geholfen hatten, fügte dieser voll Empörung über solches Verhalten seinem Titel als ständig benutzte Formel das ominöse Wort „Romanorum" hinzu: es besagte, daß der „Imperator Augustus Romanorum" des Abendlandes, nicht aber der „Basileus kai Autokrator Rhomanion“ in Konstantinopel der einzig berechtigte Kaiser sei.

Der Gedanke, daß Karl der Große das alte römische Reich wieder erneuert habe, spielte für Otto 1. keine Rolle von Belang. Aber aufhorchen läßt doch das Lob, das 967 der Papst Johann XIII.dem Kaiser spendete: Otto habe Rom als Haupt der Welt und der universalen Kirche wieder hergestellt und sei als Dritter nach Konstantin der kaiserlichste Kaiser (omnium augustorum augustissimus tertius post Constantinum). Auf den ersten christlichen Kaiser hatte bereits Karl der Franke sein Kaisertum bezogen; jetzt verlängerte der Papst diese Linie bis zu dem Sachsenkaiser. Das wird dessen Selbstbewußtsein wohlgetan haben, paßte auch insofern zu ihm, als er die Verbreitung und Förderung des Glaubens ja gleichfalls als seine Lebensaufgabe ansah; aber man gewahrt nicht, daß irgendwelche Folgerungen aus dieser — für alle Zeitgenossen sicherlich einleuchtenden — Geschichtssicht gezogen worden sind.

Ließ der Kaiser sich irgendwo durch die Tatsache bestimmen, daß zu seinem Reich Länder nicht gehörten, die einmal Karl, womöglich Konstantin botmäßig gewesen waren? Nichts spricht dafür. Wo aber sah er die Grenzen seines Machtbereichs? Diese Frage drängt sich jedem modernen Betrachter auf; denn wir denken in fest gezogenen Grenzen und werden in unseren staatlichen Vorstellungen durch den Begriff der Souveränität geleitet. Das frühe Mittelalter dachte ganz anders, nämlich — wie auch sonst — gradualistisch und kannte daher gleitende Übergänge von dem unmittelbar beherrschten Raum über die den Herzögen anvertrauten Bereiche, über die in Lehens-oder Zins-abhängigkeit stehenden Länder bis zum Anspruch eines nicht mit konkreten Rechten ausgestatteten Vorranges vor den anderen Herrschern. Otto I. im besonderen war — das zeigt sein ganzes Leben — als Politiker ein Realist, der sich durch utopische Ansprüche nicht verlocken ließ, und in seiner Denkweise Spekulationen abgeneigt. Auch stand ihm nach dem im Jahre 965 erfolgten Tode seines Bruders Brun ja nicht mehr wie in der Königszeit ein theologischer und politischer Berater im gleichen Rang zur Seite. Zu einer ausgeprägten „Kaisertheorie“ wird es in Ottos Zeit und auch in der seines Sohnes gar nicht gekommen sein. Festgehalten wurde die erhöhte Stellung, die in der Königszeit auf Grund der „imitatio sacerdotii“ errungen war, und den Kern des Kaisergedankens bildete die bereits aus früheren Schichten stammende Vorstellung, Kaiser sei, wer mehrere „Nationes" beherrsche — auf den bekannten Bildern Ottos III. mit den ihrem Herrscher Gaben darbringenden Personifikationen der beherrschten Völker hat dieser Gedanke großartigen Ausdruck gefunden.

Das Ansehen, dessen sich der schon von den Zeitgenossen mit dem Beinamen der Große geehrte Kaiser weit über die Grenzen seiner „Nationes" hinaus erfreute, kam am Ende seines Lebens in den zahlreichen Gesandtschaften zum Ausdruck, die sich an seinem Hofe einfanden. Mit Stolz und Genugtuung verzeichnen die Annalen solche aus Böhmen, aus Polen, aus Ungarn, aus Bulgarien, aus Benevent sowie aus Dänemark — aber sie knüpfen daran nicht die Folgerung, daß die fremden Gesandten zum Kaiser Otto als ihrem Oberherrscher gekommen seien.

Ein Jahrzehnt vorher hatte Widukind den König Heinrich als „rerum dominus et regum maximus Europae“ gerühmt — auf Otto I. bezogen, hätte diese Formel wohl allen Zeitgenossen angemessen gedünkt.

4. Otto 111. (983-1002)

In bezug auf den dritten Ottonen möchte ich mich kurz fassen, obwohl unter dem Gesichts-winkel der Staatssymbolik gerade aus seiner Regierungszeit sehr viel zu vermerken wäre. Denn ich möchte nicht wiederholen, was bereits vor langen Jahren von mir vorgebracht und seither — soviel ich sehe — im großen und ganzen von der Forschung angenommen worden ist.

Otto Hl. unterschied sich von seinem Großvater durch die gediegene Bildung, die ihm in seinen jungen Jahren vermittelt worden war und die er noch zu verbreitern trachtete; aber er hatte mit ihm gemeinsam, daß auch ihm ein den Zeitgenossen überlegener Mann zur Seite stand: sein Lehrer Gerbert, der mit Hilfe seines Schülers schließlich zur „Kathedra Petri" aufgestiegene Papst Silvester II. Nicht nur das: Otto verfügte auch noch über weitere Berater von Rang. Kein Wunder, daß die bisher vertretenen Gedanken jetzt schärfere Konturen annahmen. Da der junge Kaiser jedoch für das religiöse Leben seiner Zeit so aufgeschlossen wie noch keiner seiner Vorfahren, konnte alles, was er unternahm, — von ihm aus gesehen — nur zum Nutzen der Kirche gemeint sein.

Nirgends ergibt sich, daß der dritte Ottone sich in Gegensatz zu seinen Vorgängern setzen wollte. Sein Hauptgedanke war vielmehr, das Ansehen zu steigern, das sie ihm hinterlassen hatten. Er begnügte sich nicht damit, die Tradition der Karolinger zu pflegen, sondern knüpfte unmittelbar wieder an Karl den Großen an, dessen heimlich gesuchte Gebeine er neu beisetzte. Seine Bulle zierte der junge Kaiser nicht nur mit der Inschrift von Karls Kaiser-bulle: „Renovatio Imperii Romanorum", sondern er eignete sich auch — so dürfen wir in dieser die Ähnlichkeitsfrage leicht nehmenden Zeit sagen — das Gesicht seines Vorbildes an, indem er auf seiner Bulle dort, wo laut Umschrift sein Kopf zu sehen sein sollte, den Kopf von Karls Königsbulle anbringen ließ. Über Karl den Großen hatten ja bereits die Vorgänger in loser Beziehung zu Konstantin und damit zu den Kaisern des Altertums gestanden. Dem dritten Ottonen genügte das nicht. Er machte Ernst mit der Römischen „Renovatio“, bezog eine Residenz am Tiber, vergab Titel, die altrömisch klangen oder der byzantinischen Amtshierarchie als Fortsetzerin der römischen entnommen waren, und saß — was als ungewöhnlich angesehen wurde — so heißt es bei Thietmar — „allein an einer erhöhten Tafel zu Tisch, der wie ein Halbkreis gemacht war", also die Form eines antiken Sigma hatte. Am deutlichsten spricht — wie Josef Deer gezeigt hat — eine herrliche Augustus-Kamee, die ihren Platz auf dem von Otto gestifteten Lothar-Kreuz dort fand, wo üblicherweise das Bild des Stifters angebracht wurde, d. h„ der Kaiser eignete sich nicht nur das Gesicht Karls, sondern auch das des Augustus an. Diese Feststellung bestätigt, daß für Otto und seine Zeitgenossen die Antike und die karolingische Tradition nicht im Gegensatz standen, sondern sich aneinander schlossen.

Im weltlichen Bereich durfte sich also Otto als den Vollender einer vom Altertum bis zu ihm reichenden, gelegentlich getrübten, aber durch „Renovationes" wieder hergestellten Tradition empfinden. Dagegen mußten sich, wenn das alte Problem der zwei Gewalten, der „auctoritas sacrata pontificum" und der „regalis potestas", genauer als bisher durchdacht wurde, Schwierigkeiten über Schwierigkeiten herausstellen. Otto gab die „Imitatio sacerdotii" nicht preis, wie der von ihm getragene Himmelsmantel bezeugt. Er wies wie der Großvater die Konstantinische Fälschung zurück, aber er lehnte auch die Bestätigung des karolingischen Paktum ab. Statt dessen suchte er im Verein mit Silvester II. nach einer neuen Rechtsgrundlage für die Beziehung der zwei Gewalten, die die Möglichkeit schuf, auch die sich immer wieder ergebenden Konflikte zwischen kaiserlichen und päpstlichen Ansprüchen auf italienischem Boden zu beenden.

Daß der Papst dem Kaiser auf diesem Wege entgegenkam, zeigt bereits der von ihm gewählte Papstname; Silvester I. war ja der Zeitgenosse Konstantins gewesen. Mit seinem neuen Namen wies Silvester II. Otto die Rolle des vierten Konstantin zu. Das erste Stadium der neuen Doktrin hängt mit der Reise des Kaisers nach Gnesen (999/1000) zusammen, auf der er im Einverständnis mit dem Papst den Ausbau der polnischen Kirche in Kraft setzte und die Beziehung des Herzogs zum Reiche neu regelte. Otto legte sich dafür den von Paulus in seinen Briefen benutzten Titel „Servus Jesu Christi" bei, sprach sich also die Funktion eines Apostels zu. In der zweiten Phase, die mit der Eingliederung der Ungarn in Kirche und weltliche Ordnung des Westens zusammenhängt, nannte Otto sich dagegen „Servus apostolorum" — das klingt wie ein Herabsteigen. Aber gemeint war „Diener Petri und Pauli“, also der beiden Hauptheiligen der römischen Kirche. Als solcher sah sich der Kaiser — die herkömmliche Vorstellung, daß er der „Vogt“ (advocatus) der Kirche sei, zuspitzend — betreut mit der Verwaltung von deren weltlichen Angelegenheiten; dem Papst verblieb als dem „Vicarus s. Petri“ die Betreuung des geistlichen Bereiches.

Es ist bei einem Anlauf geblieben. Denn Otto III. wurde vor der Zeit vom Tode ereilt, und Silvester II. folgte ihm ein Jahr später ins Grab. Aber beider Versuch, aus dem Geist der vorscholastischen, durch „Entsprechungen“ geleiteten Zeit heraus geboren, geläutert durch das scharfe Denken des ausgehenden 10. Jahrhunderts, bleibt denkwürdig als ein Versuch, um ein Problem zu regeln, dessen Unlösbarkeit sich in der Folgezeit mehr und mehr herausstellte.

5. Heinrich II. (1002-25)

Der letzte Kaiser aus dem Sächsischen Hause fühlte sich nicht im Gegensatz zu seinem Vorgänger; er hat es sich vielmehr angelegen sein lassen, für das Andenken seines Vaters zu sorgen. Aber er hat doch die Pflöcke wieder dorthin zurückgesetzt, wo sie in der Zeit Ottos I. und Ottos II. eingepflanzt worden waren. Heinrich nahm die Bulleninschrift des ersten Ottonen: „Renovatio regni Francorum" wieder auf, versuchte nicht mehr, unmittelbar in die Angelegenheiten Roms einzugreifen, und setzte an die Spitze einer für den Papst ausgestellten Urkunde jenen Satz des Papstes Gelasius, in dem die Zweigewaltenlehre ihre bleibende Formulietung erhalten hatte.

Aber auch Heinrich trug einen hohenpriesterliehen Sternenmantel, und um seinen Einfluß auf die deutsche Kirche zu sichern, bediente er sich des neuen Mittels, daß er als weltlicher Ehrenkanoniker in die Kapitel bevorzugter Kirchen eintrat. Er brach also nicht als Herrscher in den geistlichen Bereich ein, sondern verband — was nicht zu beanstanden war — in einer Art Personalunion ein weltliches mit einem geistlichen Amt und schuf dadurch eine Institution, die noch den Investiturstreit überdauert hat.

Aus den staatspolitischen Fakten, die sonst noch zu verzeichnen wären, sei nu noch eines herausgegriffen: von der Zeit Heinrichs II. an gehörte zu den Herrschaftszeichen des Kaisers auch der seit dem Altertum mit der Kaiseridee verbundene Reichsapfel, mit dem bereits Karl der Kahle und die Ottonen abgebildet worden waren, den sie aber in Wirklichkeit noch nicht in der Hand gehalten hatten. Seltsamerweise war es nicht der Kaiser, sondern der Papst, der den ersten Reichs-apfelanfertigen ließ: Benedikt VIII. händigte ihn Heinrich bei dessen Kaiserkrönung im Jahre 1014 aus. Man muß wissen, daß er aus dem Geschlecht der Grafen von Tuskulum stammte, das tätigen Anteil an Ottos III. römischer Renovatio genommen hatte. Aber es handelte sich nicht einfach um einen Akt der Römischen „Renovatio“. Die Erklärung ist vielmehr in anderer Richtung zu suchen: in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts war es üblich geworden, Christus als den „König der Könige“ mit einer solchen Kugel abzubilden. Da laut Krönungsordo der Herrscher ja dessen „Typus trug", schien es angemessen, nun auch ihn mit diesem Herrscher-zeichen auszustatten. Der Reichsapfel gehörte also noch in den Bereich jener „imitatio Christi“, von der früher die Rede war — wenige Jahrzehnte später hätte kein Papst mehr die Hand zu einem ähnlichen Akt geboten.

Zusammenfassung

Obwohl noch manches anzuführen wäre, stelle ich nur noch die Frage: Weshalb wurde Deutschland so viel schwerer durch den Investiturstreit erschüttert als Frankreich und England? Sicherlich nicht deshalb, weil hier Simonie, Priester-ehe und andere Scandala größer waren als in den Nachbarländern. Eine schwere Belastung für das Verhältnis der römischen Kirche zu den deutschen Herrschern bedeutete es natürlich, daß die weltlichen Rechte in Italien sich überschnitten — aber auch dieses Faktum reicht trotz seiner Gewichtigkeit als Antwort auf die gestellte Frage nicht aus.

Aus unseren Darlegungen ist herausgetreten, wie weit die den “ Typus Christi tragenden“ Ottonen auf dem Wege der „imitatio sacerdotii“ gegangen waren. Wenn Otto III.den in den Herrschaftszeichen nach Art des Hohenpriesters verdinglichten Anspruch modifiziert hatte zu der Doktrin, daß der Kaiser der „Diener der Apostel“ sei, wenn Heinrich II. sich mit der Stellung eines Ehrenkanonikers begnügt hatte, so war immer noch mehr geblieben, als je ein König von Frankreich oder England beanspruchte. Und dieses „Mehr“ konnte die Kirche nicht mehr hinnehmen, nachdem im Jahre 1046 der Geist der Reform sie ergriffen hatte und nun das kanonische Recht, im Bunde mit der Scholastik, aus bisher unausgeglichenen „auctoritates" verschiedenster Herkunft ein schlüssiges System mit scharf geschliffenen, sich mit „Entsprechungen“ nicht begnügenden Begriffen aufbaute. Jenes „Mehr“ mußte bekämpft werden, wenn die deutschen Herrscher es nicht von sich aus fahren ließen. Das aber vermochten sie nicht, da die Salischen Kaiser nicht nur dem Rechte nach, sondern auch ideell die Nachfolge der Sachsen antraten und die Staufer sich wiederum in solcher Weise an die Salier anschlossen. Sie konnten ihre Ansprüche einschränken, konnten sie modifizieren, konnten sie verharmlosen — und sie haben das getan; aber sie konnten nicht freiwillig von der Höhe herabsteigen, auf die Otto 1. sie hinaufgeführt hatte.

In dem unvermeidbaren, unausweichlichen Kampf aber waren die Kaiser die Unterlegenen, weil die entscheidenden geistigen Kräfte der Zeit, die Reform, die Kanonistik, die Scholastik, nicht ihnen, sondern den Päpsten zugute kamen. Ja, von Gregor VII. an konnten diese es wagen, durch eine „imitatio imperii" den Kaisern auch im weltlichen Bereich entgegenzutreten. Fortan waren die Kaiser in der Verteidigung, die Päpste im Angriff. Nach dem Tode Friedrichs II. (1250) durfte sich Rom schließlich als Sieger betrachten — aber es war ein Scheinsieg. Mit der neuen Kraft, die während des Kampfes zwischen den Päpsten und den Kaisern erstarkt war, den Nationalstaaten, vermochte die Kurie, geschwächt durch die ein Jahrhundert andauernde „Gefangenschaft“ in Avignon, nur fertig zu werden auf dem Wege des Kompromisses.

Ja — nach der Erhebung Karls des Großen zum Kaiser am Weihnachtstage des Jahres 800 gibt es kaum ein Ereignis, das für die Geschichte Deutschlands und Italiens, ja Europas gleich ein-schneidend und folgenschwer war wie der jetzt tausend Jahre zurückliegende 2. Februar 962, an dem der sächsische Otto als Kaiser gesalbt, investiert, gekrönt und akklamiert wurde.

Literaturnachweis

Abschnitt 1: P. E. Schramm (nachfolgend P. E. S.): Die Krönung bei den Westfranken und Angelsachsen von 878 bis 1000, in der Zeitschrift für Rechtsgesch. 54, Kanon. Abt 23, 1934 S. 117— 242; Ders., Die Krönung in Deutschland bis zum Beginn des Salischen Hauses (1028), ebd. 55, Kanon. Abt. 24 S. 184— 332; Ders., Die Krönung Ottos I. in Aachen, 7. Aug. 936, in: Geistige Arbeit III, 1936 S. 5. — Otto I. schon 929 als „rex“ bezeichnet: Karl Schmid, Neue Quellen zum Verständnis des Adels im 10. Jahrh., in der Zeitschr. für Gesch des Oberrheins 108, 1960 S. 185 bis 232. — Thangmars „Devestitur": K. Hauck bei P. E. S., Herrschaftszeichen und Staatssymbolik I, Stuttgart 1954 (Schriften der Mon. Germ. Hist. 13, 1) S. 180. Zum „Erbbier" vgl. K. Hauck, Rituelle Speise-gemeinschaft im 10. und 11. Jahrh., in: Studium generale III, 1950 S. 611— 21.

Abschnitt 2: über Ottos I. Königsbulle (951) im Anschluß an H Bresslau vgl. W. Ohnsorge, Byzanz und das Abendland im 9. und 10. Jahrh., in: Saeculum V, 1954 S. 213 (wieder abgedruckt in dessen Aufsatzsammlung: Abendland und Byzanz, Darmstadt 1958 S. 36).

Auf die Frage der „Siegesfeier" ist Karl Hauck an verschiedenen Stellen eingegangen; eine zusammenfassende Darstellung dürfen wir wohl erwarten. „Reichskrone“: vgl. Hansmartin Decker-Hauff (in Zusammenarbeit mit P. E . S.) in dessen: Herrschaftszeichen a a O II, Stuttgart 1955 (Schriften 13, 2) S. 560— 637. Zur Bügelkrone vgl. P. E. S., Die B., ein karolingisches Herrschaftszeichen, in der Festschrift für K. G Hugeimann zum 80. Geburtstag, II, Aalen 1959 S. 561— 78.

Gürtel mit Glöckchen: vgl. P. E. S., Herrschaftszeichen a. a. O. II, S. 554— 59: Kap. 24 Tintinnabula am geistlichen und am weltlichen Gewände.

„Himmelsmäntel“: vgl. ebd. S. 378 f.

Datum des neuen Ornats: Ich habe in „Herrschaftszeichen* a. a. O II S. 835 ff. die Angabe Liudprands von Cremona, Otto I.sei 962 „miro ornatu novoque apparatu" nach Rom gekommen, als Stütze meiner These angeführt und dafür zahlreiche Padallelstellen angeführt. Da J. Deer in einem — m. W. nicht gedruckten — Vortrag meine Beweisführung bestritten hat, führe ich diesen Beleg im Texte nicht an, halte jedoch an meiner Interpretation fest. Der „Mainzer“ Königsordo im „Pontificale Romano-Germanicum" ist dank Prof. Dr. Cyrille Vogel, der die Nachfolge M. Andrieus antrat und seine Edition zu Ende führt, im Druck. Vgl. vorläufig Ders., Le Pontifical Romano-Germaniquie du Xe siede. Elements constitutifs avec indications des sections imprimees, in der Revue des Sciences religieuses 1958 S. 113— 67; Ders. Precisions sur la date et l’ordonnance primitive du pontifical romanogermanique, in: Ephemerides liturgicae 74, 1960 S. 145— 62. — Mein Abdruck in: Krönung in Deutschland a a. O S. 309 ff. ist nicht mehr ausreichend, nachdem C. Erdmann noch ein weiteres Zwischen-glied zwischen dem von ihm entdeckten „Westfränkischen" und dem Mainzer Ordo festgestellt hat (Forschungen zur polit. Ideenwelt des Früh-mittelalters, hg. von Fr. Baethgen, Berlin 1951 S. 52 ff ). Das entscheidende Wort haben wir zu erwarten von R. Elze, der bereits die Ordines der Kaiserkrönung herausgegeben hat und mit der Geschichte der deutschen Königsordines befaßt ist. Laut seiner schriftlichen Mitteilung, für die ich ihm Dank schulde, bleibt es dabei, daß der „Mainzer" Ordo zusammengesetzt ist aus dem „frühdeutschen" Ordo (Erdmann a. a. O. S. 83 ff.) und dem „Ordo der sieben Formeln" (ebd. S. 87 ff.).

über die „Imitatio imperii“ und „Imitatio sacer-dotii“ vgl. P. E. S., Sacerdotium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte, in den Studi Gregoriani II, Rom 1947 S. 403— 56.

Abschnitt 3: Zur „Approbatio“ gibt es eine umfangreiche Literatur. Zu einem benachbarten Problem vgl. jetzt W. Goetz, Translatio imperii, Tübingen 1958.

Laudes: E. H. Kantorowicz, Laudes regiae. A. Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship, Berkeley-Los Angeles 1946; B. Opfer-mann, Die liturgischen Herrschaftsakklamationen im Sacrum Imperium des Ma. s, Weimar 1953; R. Elze, Die Herrscherlaudes im Ma., in der Zeitschr. für Rechtsgesch. 71, Kanon. Abt. 40, 1954 S 201— 24. Otto 1. und Byzanz: außer Ohnsorge a. a. O. und den einschlägigen Aufsätzen Franz Dölgers vgl. auch noch P. E. S., Kaiser, Basileus und Papst in der Zeit der Ottonen, in der Histor. Zeitschr. 129, 1924 S. 424— 75.

Abschnitt 4: P. E. S., Kaiser, Rom und Renovatio, I—II, Lpz. -Berlin 1929 (Studien der Bibl. Warburg 17, 1— 2) = Neudruck der Wissensch. Buchgemeinschaft: Darmstadt 1957 (eine ital. Übersetzung in Vorbereitung).

Abschnitt 5: Der König als . Ehrenkanoniker': grundlegend bleibt Aloys Schulte, Dtsche Könige, Kaiser, Päpste als Kanoniker an deutschen und römischen Kirchen, im Histor. Jahrbuch 54, 1934 S. 137— 77; vgl. ferner H. -W. Klewitz, Königtum, Hofkapelle und Domkapitel im 10 und 11. Jahrh., im Archiv für Urkundenforschung 16, 1939 S. 102— 56. (Separater Neudruck: Darmstadt 1960.) Weitere Aufklärung erwarten wir von J. Flecken-stein, Die Hofkapelle der deutschen Könige, dessen I Band 1959 erschien (Stuttgart 1959 = Schriften der Mon. Germ Hist. 16, 1).

Heinrichs II. Reichsapiel: vgl. P. E. S., Sphaira-Globus-Reichsapfel, Wandung und Wandlung eines Herrschaftszeichens von Caesar bis zu Elisabeth II., Stuttgart 1958 S. 61 ff.

Zusammenfassung: Zum Vergleich s. A. Becker, Studien zum Investiturproblem in Frankreich, Saarbrücken 1955 (Schriften der Univ, des Saarlandes).

Fussnoten

Weitere Inhalte

Anmerkung: Percy Ernst Schramm, Dr. phil., o. Universitätsprofessor für Mittlere und Neuere Geschichte in Göttingen; geb. in Hamburg am 14. 10. 1894. Mitglied der Akad. Göttingen, Wien, Hist. Kommission, Bayr. Akad. d. Wissenschaften, Inhaber der Friedens-klasse des Ordens pour le merite. Führte von Anfang 1943 bis zum Kriegsende das Kriegstagebuch des OKW.