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Weltbürgertum und Patriotismus heute | APuZ 37-38/1962 | bpb.de

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APuZ 37-38/1962 Weltbürgertum und Patriotismus heute Das Dritte Reich im Zusammenhang der deutschen Geschichte

Weltbürgertum und Patriotismus heute

HEINZ GOLLWITZER

Zuerst als Vortrag gehalten anläßlich des Burschen-tages im Juni 1962 in Münster.

Adresse an die Deutsche Burschenschaft

Karl Dietrich Erdmann Das Dritte Reich im Zusammenhang der deutschen Geschichte (s. Seite 463)

Der Historiker, der zu der Deutschen Burschenschäft auf ihrem pfingstlichen Jahrestag spricht, vergegenwärtigt sich nicht ohne Bewegung, mit welchen wichtigen Ereignissen und Phasen unserer Vergangenheit die Geschichte dieser studentischen Gemeinschaft verbunden ist. Er gedenkt der Gründung der Burschenschaft als des Werks von freiwilligen Teilnehmern der Kriege gegen Napoleon und von Anhängern der Jahn-schen Turnbewegung, und er erwägt, was die Burschenschaft in rund anderthalbhundert Jahren ihres Bestehens geprägt und gewandelt, bestärkt und erschüttert hat: ihre Begeisterung für die deutsche Einheitsund Verfassungsbewegung, ihre Verfolgung durch die Reaktion, die Richtungskämpfe in ihren Reihen, ihr Auftreten im Jahre 1848, die Konsolidierung nach 1870 im Sinne nationaler Hingebung an das Bismarckreich, die Hoffnungen, Enttäuschungen und Verstrickungen in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, der Blutzoll, der in zwei Weltkriegen entrichtet wurde, und die politischen Folgerungen, die man aus dem Erleben der jüngsten Vergangenheit gezogen hat; schließlich die Neugründung nach dem Zusammenbruch. Fügt man das Denken und Handeln der Burschenschaften in den Strom der Geschichte ein, und sieht man umgekehrt in ihnen unsere Geschichte sich spiegeln, so wird man mit einer großen Anzahl von Fragen konfrontiert, die uns in zeitgemäß veränderter Form zum Teil noch heute angehen und beschäf-tigen: Wir beobachten die Initiative und das Schicksal einer studentischen Kriegsgeneration, wir nehmen Anteil an der Auseinandersetzung einer bürgerlichen Freiheitsbewegung mit den Mächten des Ancien regime und konstatieren ihre Aussöhnung mit einem immer noch sehr konservativen Kurs im Hohenzollernreich, wir erhalten Aufschlüsse über die Entwicklung des Akademikertums im 19. und 20. Jahrhundert und seine Standespolitik, wir erleben die geistige Welt der deutschen Hochschulen in ihrer Ausstrahlung und ihrer Gefährdung, wir sehen die moralischen Energien des deutschen Idealismus am Werk und stellen ihre Ablösung durch Motive anderer Art und anderen Ursprungs fest. Ich möchte aus der Fülle der in der burschenschaftlichen Geschichte beschlossenen Impulse denjenigen herausgreifen, der sich auf lange Zeit hin als Dominante studentischen Fühlens und Wollens erwiesen hat, derzeit jedoch umstritten ist: den Patriotismus, und zwar in seinem Verhältnis zu weltbürgerlicher Gesinnung einerseits und zu der Macht des Nationalismus andererseits.

Die Geburt der nationalen Idee

Wir wollen zunächst auf die historische Entfaltung des Nationalen und seine geschichtliche Bedeutung eingehen. Aber dies nur als Einführung und Vorbereitung! Weniger ein Resümee einer hinter uns liegenden Epoche möchten wir ziehen, als uns über eine gegenwärtige Aufgabe klar werden. Worum es in diesem Beitrag eigentlich geht, ist die Frage, wie wir heute den Begriff des Patriotismus verstehen und bestätigen sollen, ob wir ihm, verglichen mit früher, einen neuen Sinn abgewinnen können, und wie es uns gelingen mag, als weltbürgerliche Patrioten oder patriotische Weltbürger zu bestehen und uns zu bewähren.

Die Nation und das Nationale treten seit früher geschichtlicher'Zeit über die ganze Welt hinweg in tausendfachen Ausprägungen auf. Aber seit wann gibt es Nationalismus als Weltanschauung und politisches Prinzip? Diese Frage läßt sich verhältnismäßig genau beantworten. Nachdem mancherlei Vorstufen auf dem Weg dorthin zurückgelegt waren, begannen am Ende des 18. Jahrhunderts fast gleichzeitig, aber mit charakteristischen Unterschieden, in den meisten europäischen Ländern Bewegung und Ideologie des Nationalismus. Die Fundamente zu dem neuen System wurden in Frankreich, Deutschland und England gelegt, aber kaum ein Volk, das nicht seinen gewichtigen Beitrag zu dem nationalen Ideengebäude geleistet und nationale Politik praktiziert hätte. Ich schicke voraus, daß ich in diesem Zusammenhang den Ausdrude Nationalismus vorerst nur als einen wertneutralen geschichtlichen terminus technicus für eine Bewegung von europäischer und weltweiter Ausdehnung und Bedeutung verwende. Die wertende Stellungnahme wird nicht umgangen, aber sie wird später erfolgen.

Die Wurzeln des Nationalismus

Als Geburtsstunde eines gesellschaftlich-politischen Nationalismus ist die Große Französische Revolution zu bezeichnen, eine Erkenntnis, die sich in Deutschland noch keineswegs durchgesetzt hat Was geschah in der Französischen Revolution, deren unzulängliche Interpretierung im Geschichtsunterricht zu den Rückständigkeiten unserer politischen Bildung zählte, und die man nicht, wie es vielfach der Fall war, einfach mit ihrer Terrorphase identifizieren darf? Die Ereignisse des Jahres 1789 haben den Zusammenbruch des alten ständischen Gesellschaftssystems bewirkt und an seine Stelle eine freie Nation in staatsbürgerlicher Gleichheit treten lassen. Was bisher den privilegierten Geburtsund Berufsständen vorbehalten war, dessen sollte nunmehr nach dem Maßstab von Leistung und Verdienst jedermann teilhaftig werden. Damit war aber auch das bisherige Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Souveränität des Herrschers wurde durch die Volkssouveränität abgelöst; im Grundsatz war jeder Bürger zur Teilnahme und Teilhabe an den Staatsgeschäften berufen. Aus diesem Zusammenwachsen von Staat und Gesellschaft und der Begeisterung und Freude darüber entsteht der politische Nationalismus der Französischen Revolution, ein Nationalismus der Volkssouveränität, der Selbstbestimmung und Selbstbestätigung der Nation, ein Integrationsvorgang im Inneren der Nation, noch bevor die expansive Wendung nach außen erfolgte.

Im bewußten Gegensatz zu den Geschehnissen in Frankreich hat in England der Politiker Edmund Burke und haben seine Nachfolger in ganz Europa eine historisch-traditionelle Konzeption des Nationalbewußtseins ausgebildet.

Sie suchten die Einheit der Nation in der gemeinsamen Überlieferung, im alten Herkommen, in der historischen, nicht in der konstruierenden und revolutionierenden Vernunft. So konservativ aber dieses Denken angelegt war, auch Burke und seine Schule mußten im Endeffekt demokratisierend wirken, weil sie einen über alle ständische Besonderung hinweg gültigen, neuen Begriff in das öffentliche Leben einführten und jedermann für ihre Vorstellung von der Nation zu gewinnen suchten.

Als dritter Strom mündet in den europäischen Nationalismus die sogenannte Deutsche Bewegung von Herder bis zur Romantik. Bei ihr handelt es sich zunächst ganz überwiegend um eine kulturelle, wissenschaftliche und literarische Richtung, um die Erforschung und Bewahrung von „Volksseele" und „Sprachgeist“, um die Erhaltung und Erneuerung der volkstümlichen Eigenart in Dichtung und Bildung, in Sitte und Gesittung, um Volks Integrität im Gegensatz zur politischen Volks Souveränität. In den völkischen Individualitäten erblickte man innerhalb der Deutschen Bewegung eine edle, wenn nicht die edelste Gottesgabe, die es zu pflegen und vor allem rein zu halten gelte.

Von Anfang an haben sich nun diese drei Hauptrichtungen gegenseitig durchdrungen. Schon Rousseau, einer der geistigen Väter der Französischen Revolution, hat den Genfern, Korsen und Polen Ratschläge im Sinn der Erhaltung und Ausprägung ihrer Eigenart erteilt. Und der Nationalismus verschiedener europäischer Völker nahm zwar seinen Ausgang von der deutschen Volkstumsideologie, hat sich aber dann sehr früh politisiert im Sinne des Selbst-bestimmungsrechts der Nationalitäten. In Deutschland selbst hat die Periode der Unterdrückung durch Napoleon alsbald eine entschiedene und scharfe Wendung des bisher vorwiegend kulturellen Nationalbewußtseins zum politischen Selbstbewußtsein der Nation herbeigeführt, mitunter damals bereits zu einem fanatischen Nationalismus.

Nationalismus — eine Emanzipationsbewegung des Bürgertums

Wir bemühen uns in diesem Zusammenhang nicht darum, den europäischen Nationalismus in seine ideengeschichtlichen Bestandteile zu zerlegen. Vielmehr wollen wir ein Bild von seinen Wirkungen gewinnen, wollen wir ihn in seiner Geschichtsmächtigkeit begreifen. Man erleichtert sich das Verständnis nicht, wenn man den Nationalismus als eine von Anfang an außenpolitisch in Erscheinung tretende Bewegung auffaßt, im Sinne von Nationalitätenkämpfen und gegenseitiger nationaler Eifersucht und Befehdung großer und kleiner Völker. Viel förderlicher ist es, die europäische Bewegung zum Nationalbewußtsein als einen Vorgang im Inneren der Völker, als einen Reifungsprozeß breiter Schichten auszulegen, die herkömmlicherweise vom politischen Leben ausgeschlossen waren. Eine Emanzipation des Bürgertums ist, je weiter das 18. Jahrhundert fortschreitet, das beherrschende Thema der inneren Geschichte der meisten west-und mitteleuropäischen Staaten. Im politischen Sprachgebrauch der Zeit, in der Publizistik, tritt uns als Leitfigur und Ideal allenthalben der Patriot entgegen, d. h. eine Persönlichkeit, die nicht mehr schlechthin ihrem Fürsten dienen will, nicht mehr in royalistischer Treue aufgeht, sondern die Patria, das Vater-land, die Staatsgesamtheit sich vor Augen stellt und das Gemeinwohl im Sinne hat. Die Französische Revolution, zunächst ein gänzlich innen-und gesellschaftspolitisches Geschehen, erweitert, modernisiert und vollendet, was in dem vorhergehenden Patriotismus schon vorgebildet war. Es macht den Enthusiasmus der Revolutionszeit aus, daß man glaubt, sich in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Nation gefunden zu haben. Wer die Begeisterung kennt, mit der der größte Teil der bürgerlichen Intelligenz Europas den Prinzipien der Französischen Revolution in ihrem Beginn zugestimmt hat, weiß, daß es sich bei dem Erwachen der Nation um eine internationale Strömung handelt. In jedem Lande erstrebte man, auf verschiedenem Wege und in unterschiedlichen Formen zwar, im Grundsätzlichen doch das gleiche: Das Sichselbstfinden, das Zusichkommen der Nation, die Rechtsgleichheit, die Erlangung politischer Mündigkeit. Die Bedeutung des ursprünglichen Nationalismus liegt also darin, daß er als eine Befreiungsbewegung aufgefaßt und empfunden wurde, als Aufschließung oder auch Aufsprengung des politischen Raums für diejenigen, die bisher in einem apolitischen Zustande niedergehalten wurden.

Nationalismus -Demokratie -Liberalismus

Das, was wir heute Demokratie nennen und als Grundprinzip unseres politischen Verhaltens anerkennen, stammt aus der gleichen Wurzel wie die nationale Bewegung. Der Nationalismus kommt, auch wenn man das heute weder links noch rechts gerne hört, von links; die Demokraten und die Liberalen waren die ersten Nationalisten, die Konservativen zogen nach, um sich einigermaßen in einer verwandelten Welt behaupten zu können. Was sich in der Geschichte der deutschen Burschenschaft als Kampf gegen Reaktion, Restauration und Partikularismus abgespielt hat, ist beispielhaft dafür, daß seit der Französischen Revolution der Wille der lebendigsten und geistig führenden Kräfte des Bürgertums darauf gerichtet war, über die Dynastien und über das erstarrte und veraltete Gesellschaftssystem des Ancien regime hinweg Nationaleinheit und Freiheit zu gewinnen. Daß bei uns das Einigungswerk auf Kleindeutschland eingeschränkt blieb, von einem konservativen Staatsmann in die Hand genommen und zuwege gebracht wurde, daß das Hohenzollernreich von 1871 sich als ein Fürstenbund darstellt und verfassungsmäßig auf der Grundlage des monarchischen Prinzips beruht, hat häufig die Erkenntnis verdunkelt, daß der Motor deutscher Nationalstaatsbildung gleichwohl die nationalliberale und national-demokratische Bewegung gewesen ist. Ohne sie wäre Bismarck Preuße geblieben und nicht Deutscher geworden, ohne sie hätte man sich mit dem Deutschen Bund, wie er auf dem Wiener Kongreß entworfen worden war, zufrieden gegeben, ohne sie wäre es nicht zur Revolution von 1848 gekommen, die zwar vordergründig gesehen scheiterte, aber tatsächlich unaufhörlich weiterschwelte, vielleicht, ich sage vielleicht, bis zum Jahre 193 3, als man irrigerweise glaubte, nun endlich d i e erfolgreiche deutsche Revolution, die nationale Revolution zu erleben. Es gilt festzustellen, daß der Nationalismus nicht nur als gesellschaftlich revolutionierende, sondern auch als staatsschaffende und staatsbildende Kraft aufgetreten ist. Wer einigermaßen empfindet, was geschichtliches Gewicht hat, wird zu würdigen wissen, daß die Landkarte Europas durch den Nationalismus verändert wurde, daß die Emanzipation des Bürgertums unter nationalen Vorzeichen stattgefunden hat und — auch das sollte man nicht übersehen — daß ganze Generationen ihr Bestes hingegeben haben, um nationale Ziele zu erreichen.

Vom Nationalbewußtsein zum Nationalhaß

Wenn allen diesen Tatsachen zum Trotz heute niemand mehr die Entwicklung zum Nationalismus und des Nationalismus selbst als Ganzes positiv zu beurteilen vermag, wenn zum mindesten im deutschen Sprachgebrauch das Wort Nationalismus in Verruf geraten ist, so muß dies schwerwiegende Ursachen haben. Sie sind vorhanden, und sie sind es, die heute im Vordergrund der Diskussion und der Kritik stehen. Ich kann mich daher kurz fassen, wenn ich auch diese Seite der Dinge berühre, und so das Bild der Lage vervollständige, mit der wir uns heute auseinanderzusetzen haben. Wenn die moderne Nationalbewegung zu Anfang vielmehr ein Prozeß der gesellschaftlichen Selbstbesinnung und der inneren Konsolidierung statt der Abkapselung nach außen gewesen ist, so geht daraus hervor, daß ein notwendiger Gegensatz zwischen Humanität und Weltbürgertum einerseits und Nationalbewußtsein andererseits keineswegs bestand. Im Gegenteil! Bedeutende Vertreter der nationalen Richtung haben die Erhebung des Volkes zur Nation als dessen gegebenen Weg zu einer höheren menschlichen und menschheitlichen Stufe angesehen, und die europäische Linke träumte über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus davon, die Heilige Allianz der Fürsten durch eine Heilige Allianz der Völker, durch eine Internationale der Nationalisten, wie man später gesagt hat, abzulösen. Der Gedanke freilich, die sich selbst bestimmenden Nationen würden notwendigerweise eine Friedenspolitik betreiben, hat sich als schwerer Irrtum herausgestellt. Die Machtkämpfe zwischen den Staaten gingen weiter. Ja sie verschärften sich:

einmal, weil die Nationalitätenfrage ständig neue Konflikte hervorrief, zum anderen, weil der Nationalismus als Ideologie in den Dienst schlechthin aller rivalisierenden großen, kleinen und kleinsten Mächte gestellt wurde. Volks-gruppen, die bisher unter dem Dach eines Hauses recht und schlecht miteinander ausgekommen waren, begannen, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen. Mit dem Erstarken des Nationalbewußtseins und dem Reifen der nationalen Individualität verschärfte sich auch der nationale Haß. Die Kriegführung, die im 18. Jahrhundert ein relativ hohes Maß an Ritterlichkeit gewonnen hatte, wurde durch nationales Engagement neuerdings entfesselt. Nun machten nicht mehr Berufsheere und Söldnertruppen das untereinander ab, wofür sie eben ihre Haut zu Markte trugen. Auf der Grundlage der Nationalfeindschaft wurden wieder heilige Kriege, Glaubens-kriege, Kreuzzüge, Rachekriege, Bestrafungskriege möglich und üblich. Die Nationen traten gegeneinander an, nicht mehr die Armeen der Könige.

In seiner ideologischen Fassung identifizierte sich der Nationalismus mehr und mehr mit dem politischen und sozialen Darwinismus. Das Verhältnis der Nationen untereinander sah man fortan unter dem Motiv des Kampfes aller gegen alle, und damit war ein verhängnisvoller Weg eingeschlagen.

Es mußte weiterhin die Erfahrung gemacht werden, daß das nationale Prinzip als einzige Grundlage weder für eine gesunde Innenpolitik noch für eine vernünftige auswärtige Politik ausreichte. Minderheiten, die man früher durch Gewährenlassen neutralisiert hatte, erwiesen sich im Zeichen des Nationalismus als Sprengkörper im Staatsleben. Wir müssen freilich auch in diesem Zusammenhang zuerst verstehen, bevor wir urteilen oder verurteilen. Die moderne Welt steht im Zeichen einer stets wachsenden Bewußtwerdung. Infolgedessen konnten Volks-gruppen seit der Französischen Revolution je länger je weniger in jenem unschuldigen Zustand verharren, der ihnen früher vergönnt war. Man hatte vom Apfel der Erkenntnis gegessen und war sich seiner selbst viel be-wußter als ehedem; damit prägte sich aber die Individualität schärfer aus, und die Spannungen nahmen unaufhörlich zu. Nicht wenige Nationen, die das Schicksal ihrer Volks-genossen im Ausland als Irredenta beklagten, vergönnten innerhalb ihrer Grenzen andersvölkischen Minoritäten keine Freiheit, suchten sie vielmehr im Sinne der Mehrheit zu nationalisieren. So kam in das Nationalbewußtsein, das ohne Zweifel viele edle Leidenschaften erwecken konnte, doch auch eine gefährliche Inkonsequenz, oder richtiger gesagt, eine ausgesprochene Unehrlichkeit hinein: für sich selber nahm man uneingeschränkte nationale Entfaltung in Anspruch, was man aber tatsächlich betrieb, nach außen hin und den eigenen Minoritäten gegenüber, war Imperialismus.

Nationale Bewegung und soziale Frage

Unzulänglichkeiten einer ausschließlich nationalen Orientierung traten auch auf anderen Gebieten zutage. Wenn ganze Generationen des Bürgertums im nationalen Prinzip ihr Lebens-ideal erblickten, lag die Gefahr nahe, daß darüber andere, ebenso wichtige Fragen vernachlässigt wurden, z. B. die sozialen Probleme. Es ist zwar zu betonen, daß immer Kreise und Richtungen vorhanden waren, die versucht haben, mit der nationalen Selbstbehauptung die soziale Reform zu verbinden. Aber es hat auch die nationale Phrase als Alibi für mangelndes soziales Verantwortungsbewußtsein gegeben. Die nationale Idee ist im Laufe des 19. und noch mehr des 20. Jahrhunderts immer mehr von links nach rechts gewandert, und sie hat sich dort mitunter mit sozialkonservativen und auch sozialreaktionären Auffassungen verbunden. Demgegenüber hat die Sozialdemokratie, die in ihrer vormarxistischen Periode noch durchaus national eingestellt war, auf längerer Zeit hin das nationale Element zu ihrem Schaden fast ganz vernachlässigt. Die Begrenztheit des nationalen Prinzips erwies sich schließlich angesichts der modernen, technischen und wissenschaftlichen Entwicklung, die rücksichtslos über Staats-und Nationalgrenzen hinwegschritt und — darauf kommt es hier an — sich nicht auf ihre eigene Sphäre beschränkte, sondern gerade die Politik wesentlich umgestaltet hat. Mehr und mehr Aufgaben stellten sich der Menschheit, die in nationalem Rahmen schlechterdings nicht mehr zu bewältigen waren. Es muß auch als eine Antwort auf die Anforderungen und Herausforderungen der technischen Revolutionierung der Welt verstanden werden, daß sich seit dem 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße übernationale Blockbildungen, Panbewegungen, kontinentale Systeme und internationale Organisationen entwickelt haben. Schon die großen, wenn auch kurzlebigen Reichsschöpfungen des Imperialismus gehören hierher, ebenso der internationale Kommunismus wie der internationale Faschismus, der Völkerbund, die LIN, um nur einige wenige, aber markante Beispiele zu benennen. In den Kriegen und Katastrophen, deren mithandelnde und mitleidende Zeugen wir geworden sind, ging es längst nicht mehr um die Auseinandersetzungen zwischen Nationen und Staaten allein; internationale Ideologien und Interessen spielten nicht minder entscheidend mit.

Die Nationen im Weltstaatensystem

Und das ist nun die Situation, in der wir heute stehen: wir sind uns dessen bewußt, daß die Große Politik endgültig Weltpolitik geworden ist, daß fast alle entscheidenden Fragen weltweite Dimensionen angenommen haben. Dieser Erkenntnis und dieser Lage finden wir uns aber nach wie vor in unserer Eigenschaft als Deutsche gegenübergestellt. Welchen Stellenwert dieses unser Deutschtum in einem veränderten politisch-geistigen Koordinatensystem einnimmt, darüber herrscht heute große Unsicherheit und Verworrenheit. Was der älteren Generation unter den Mitlebenden noch weithin als Binsen-wahrheit erscheint, das ist es für die jüngere nicht mehr. Wer als Hochschullehrer ständigen Umgang mit jungen Menschen hat und wem es obliegt, mit ihnen Fragen des öffentlichen bebens zu erörtern, weiß, wie anders, verglichen mit früheren Generationen, ihre seelischen Beziehungen zu den Begriffen Volk, Nation, Vaterland, Staat geworden sind. Daß es sich so verhält, ist nicht schlechthin der selbstverständliche Reflex einer in jedem Zeitalter sich vollziehenden Veränderung des geistigen Klimas, sondern gleicherweise das Ergebnis bewußter meinungsbildender Einwirkung, die seit mehr als 15 Jahren an der Gesinnung der jungen Generation formt. Jeder Einsichtige begrüßt es, daß die Erziehung durch die Schule und die Beeinflussung durch die Massenkommunikationsmittel, soweit es sich um deren gehobene Sphäre handelt, sich im Politischen auf das Prinzip der Demokratie und in ethisch-kultureller Hinsicht auf unsere christlichen oder humanistischen Traditionen festgelegt hat. Aber es kommt sehr darauf an, ob solche Festlegung und Erziehungsarbeit in einer abstrakt-konventionellen, doktrinär-rhetorischen oder in einer wirklichkeitsgemäßen Weise erfolgen, und es müßte nicht sein, daß man darüber versäumt, vor dem politisch in-teressierten Publikum und namentlich vor der heranwachsenden Generation zu klären, was es heute mit den Begriffen Staat und Nation auf sich hat. Einiges geschieht in dieser Hinsicht wohl, aber keineswegs genug.

Die Ordnungsfunktion des Nationalstaates in der Gegenwart

Wer nicht ausschließlich mit doktrinärer Brille sieht, kann nicht leugnen, daß Nation und Nationalstaat heute nach wie vor eine Grundtatsache der politischen Ordnung in aller Welt darstellen. Bei dem gewaltigen Emanzipationsgeschehen der asiatischen und afrikanischen Völker handelt es sich oft um faszinierende Beispiele neuer Nationsbildung. Der Ausgangspunkt ihrer praktischen Politik kann noch gar kein anderer sein als die des Nationalstaates, sei es auf alter historischer oder erst auf kolonialer Grundlage. Die sogenannten farbigen Völker fangen in gewisser Hinsicht von vorne an, und doch bleibt ihnen kein anderer Weg der Integration und des Eintritts in die internationale Gesellschaft souveräner Mächte als das Zusammenwachsen zur Staatsnation und deren institutionellen Festigung und Entfaltung. Der Ideologie der kommunistischen Welt in ihrer Ausdehnung vom Stillen Ozean bis an die Grenzen der Bundesrepublik steht zwar das Prinzip der Gesellschaft hoch über dem der Nation. In der politischen Praxis der marxistischen Staaten spielt jedoch die Nation eine überaus bedeutsame Rolle. Die Gesellschaftsverfassung hat sich allenthalben radikal geändert, aber geblieben sind trotzdem Völker, Nationen und Nationalstaaten. Die, wie ich sie vorsichtigerweise nennen darf, Varianten, die im kommunistischen Blöde sichtbar werden, stehen in Beziehung zur nationalen Gliederung auch des Weltkommunismus. Man mag sie bei genauerer Analyse bald mehr als dogmatische Streitigkeiten oder als Machtkämpfe rivalisie-render Führungszirkel oder als Auflehnung von Satrapen gegen die Zentrale ansprechen — ihre größte internationale Wirkung gewinnen sie doch erst dadurch, daß nationale Staatswesen sich mit der einen oder anderen Richtung identifizieren und gegeneinander Stellung nehmen. Erst recht ist die westliche Welt, der wir zugehören, bis auf weiteres nur als Nationengemeinschaft denkbar und lebensfähig. Ich schließe nicht aus, daß die Nation in ferner Zukunft einmal von anderen Organisationsformen abgelöst werden könnte. Aber vorerst ist sie uns noch ganz unentbehrlich. Die Notwendigkeit übernationaler Zusammenschlüsse bestreitet kein vernünftiger Mensch, aber sie kann und darf sich nicht in der Form der Auflösung von Nationen vollziehen, sondern diese sollen und müssen in ein höheres Ganzes als Einheiten, ais kompakte Größen eingebracht werden. Auch die umfassendste internationale Organisation, die UN, nennen sich wohlweislich nicht vereinte Menschheit, sondern Vereinte Nationen. Die Völkerbundsidee und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen stammen ideengeschichtlich aus der gleichen Wurzel. Je geschlossener, gefestigter, je mehr ihrer selbstmächtig und gewiß die Nationen sind, um so wertvoller ihre Mitgliedschaft in übernationalen Verbänden. Niemand kann sich heute von der Privatperson zum Europäer oder zum Kosmopoliten sublimieren, es sei denn, daß er gleichzeitig seine nationale Zugehörigkeit und seine Staatspflichten ernst nimmt.

Neubewegung der nationalen Idee

Vollzieht sich heute noch der größte Teil unseres Handelns in vaterländischem Rahmen und bleibt das Vaterland der Ausgangspunkt auch für unsere internationalen Beziehungen, so muß es schwerwiegende Konsequenzen tragen, wenn der Begriff des Vaterlandes mit Mißachtung oder Nichtbeachtung behandelt wird, wenn man die Zugehörigkeit zu einem Staat oder einem Volk für belanglos nimmt, allenfalls für „einen Erdenrest zu tragen peinlich“. Ist es nicht richtiger im Vaterland unser Haus zu sehen, das wir sauber und in Ordnung halten müssen und auf dessen guten Zustand wir stolz sein dürfen, oder das Feld unserer Lebensbewährung, das wir uns nicht verkleinern oder verkümmern lassen dürfen, weil sonst für jeden einzelnen eine Verminderung seiner Möglichkeiten eintreten müßte. Wenn dem so ist, dann kann allerdings der Vaterlandsbegriff nicht in der Sphäre der Unverbindlichkeit und Gegenstand vager Gefühle bleiben. Die Zugehörigkeit zu Staat und Nation appelliert an unsere moralische Persönlichkeit:

Verantwortungsbewußtsein, Disziplin und Selbst-achtung sind unabdingbar mit ihr verbunden.

Vermögen wir das Nationalprinzip und den Vaterlandsbegriff nach wie vor positiv zu bestimmen, so darf andererseits doch nicht verschwiegen werden, was diese unsere Auffassung von früheren Anschauungen unterscheidet, von Anschauungen, die gewiß nie Allgemeingut gewesen sind, aber ohne Zweifel weite und nicht unmaßgebliche Kreise erfüllt haben.

Die erste Stelle unter den Gütern, die uns wert und teuer sind, kann die Nation nicht mehr einnehmen.

Grundsätzlich müssen die Menschenrechte der Einzelpersönlichkeit, sei sie Angehöriger des eigenen Volkes oder eines fremden, grundsätzlich muß die Orientierung auf die gesamte Menschheit hin den nationalen Belangen vorangehen oder, praktischer gedacht, man muß es als ein wichtiges Ziel nationaler Erziehung ansehen, solche Konflikte von Anfang an zu verhüten und auszuschalten. Die Nation ist nach wie vor eine Tatsache, die Respekt verlangt, aber sie kann kaum mehr ein schlechthin überwältigender Lebensinhalt sein, noch kann sie als Höchstwert gelten. Um es pointiert zu sagen: Deutschland geht uns innerlich und äußerlich eben nicht mehr über alles.

Wir müssen wieder lernen, daß sich Weltbürgertum und Patriotismus, tiefer aufgefaßt als es vielfach geschah, keineswegs ausschließen, sondern ergänzen, ja nur die verschiedenen Aspekte eines vernünftigen und humanen Verhaltens darstellen. Führende Köpfe gerade einer unserer glanzvollen Epochen, des Zeitalters der Deutschen Bewegung auf der Wende vom 18. und 19. Jahrhundert, haben es nie anders verstanden und vertreten. Sie mögen manchmal in der Umschreibung der menschlichen Funktion des deutschen Volkes weit über das Ziel hinausgeschossen sein. Aber entscheidend blieb, daß sie das Verhältnis der Nationen untereinander nicht als den Kampf aller gegen alle begriffen, sondern von jedem Volk Dienst am menschlichen Ganzen erwarteten. Was ihrer Zeit noch als Utopie erschien, ist heute, wenn auch in höchst unvollkommener Form, als internationale Organisation, als institutioneller Komplex der europäischen Zusammenschlüsse und als LIN Wirklichkeit geworden. Das vaterländische Verantwortungsbewußtsein wird sich heute gerade an der Einordnung in übernationale Organisation und der Teilhabe an ihrem Integrationswerk bewähren. Jedenfalls ist die angebliche Unvereinbarkeit von Weltbürgertum und Patriotismus ein ebenso unhaltbares Vorurteil wie die Vorstellung, nationale Gesinnung und Demokratie schlössen sich gegenseitig aus. Viele europäische Nationen haben in der Vergangenheit und in der Gegenwart bewiesen, zu welch bedeutender historischer Wirksamkeit die Verbindung von vaterländischer Entschlossenheit und demokratischer Staats-und Gesellschaftsordnung führen konnten. Ja, ist nicht der, verglichen mit Deutschland, so viel größere politische Erfolg der USA, Englands und Frankreichs neben vielen anderen Gründen auch darauf zurückzuführen, daß der gewiß kräftige und zielbewußte Nationalsinn dieser Völker sich aufs ganze gesehen weniger als in Deutschland aus der Verflechtung mit universellen, übernationalen Normen gelöst hat? Ich möchte diese Fragen bejahen, wenn ich hier auch anderen Motiven größere Wichtigkeit beimesse als den ideologischen.

Unser Verhältnis zur eigenen Geschichte

Bei der Bemühung um einen vernünftigen und zeitgemäßen Patriotismus müssen wir ferner erwägen, welches Verhältnis von Nationalbewußtsein und Geschichtsbewußtsein wir heute als angemessen betrachten sollen. Jede Zeit stellt neue Fragen an die Geschichte und unternimmt es, historische Tatbestände neu auszulegen. Die theoretische Diskussion um die sogenannte Re-Vision unseres Geschichtsbildes steht im Augenblick nicht im Vordergrund, aber wer mit den Veröffentlichungen und den Gesinnungen der deutschen Historiker vertraut ist, weiß, daß eine solche Revision in der Praxis stattgefunden hat und stattfinden mußte. Dabei schließe ich entschieden alle jene Extremisten aus, die jahrhundertealte Irrwege der deutschen Geschichte konstruieren, die ausnahmslos jede Konsolidierung der Macht auf deutscher Seite als einen Sündenfall ansehen, die die Selbstpeinigung zum Prinzip erhoben haben. Sie haben mehr Verwirrung als daß sie zur Besinnung beigetragen hätten, sie haben nicht begriffen, daß man von einem Extrem auf die Mitte zurückgehen und nicht ins andere Extrem ausschweifen soll, sie treiben Nationalismus mit umgekehrten Vorzeichen. Es ist schlechterdings widernatürlich für den einzelnen wie für eine Nation, ständig mit fast der gesamten eigenen Vergangenheit auf dem Kriegsfuß zu stehen. Auch für die Völker gilt das vierteGebot!

Forderungen an die deutsche Historie

Wie sollte nun heute die nationalpädagogische Rolle von Geschichtsschreibung und Geschichtsunterricht beschaffen sein? Man weiß, welchen gewaltigen Anteil Historie und Historiker am Zustandekommen des Nationalismus aller Völker genommen haben. Die Gefahr, über der nationalen Aufgabe das wissenschaftliche Berufs-ethos zu verletzen, war groß. Demgegenüber erscheint uns heute der Historiker als der beste Patriot, der seine eigentliche Aufgabe am genauesten nimmt, dem es in erster Linie um die wissenschaftliche Erkenntnis und die Wahrheit geht und der die Wahrheit ungeschminkt und nach bestem Vermögen wiedergibt. Wer Geschichte zu interpretieren, wer die Stellung des eigenen Volkes in der Vergangenheit auszulegen hat und nach Kriterien sucht, wird gut tun, sich die veränderte Einordnung der Nation auf der Tafel der Werte zu Gemüte zu führen. Im ganzen läuft die geschichtliche Unterweisung heute hauptsächlich auf eine Stärkung des kritischen Sinns und der moralischen Überzeugungen, nicht mehr auf die Ausbildung des National-stolzes oder der nationalen Begeisterung hinaus. Deswegen ist solcher Geschichtsunterricht weder anational noch antinational, kann man doch seinem Volk keinen besseren Dienst erweisen, als es kritisch, nüchtern und rechtschaffen zu erziehen. Überdies vermag man einem aufgeklärten Publikum, mit dem man es heute zu tun hat, Geschichte nicht mehr als Sammlung nationaler Pluspunkte darzustellen, ganz zu schweigen von dem Versuch, patriotische Heldenlegenden aufzutischen. Ebenso verbietet es sich, unser Geschichtsbild angesichts der revolutionierenden Wandlungen unseres Jahrhunderts auf bestimmte Richtungen, Traditionen und Tendenzen, auch auf bestimmte Persönlichkeiten der Vergangenheit festzulegen. Es wäre schlimm, wenn wir unsere Großen nicht mehr mit an Bord führen würden, aber es erscheint mir nicht ausgemacht, ob wir sie, sowie einstmals, an unserem Schiff als Gailionsfiguren befestigen können. Nach wie vor zwar gebühren unsere kritische Achtung und Bewunderung einem Karl dem Großen, einem Friedrich dem Großen, einer Maria Theresia, einem Bismarck. Aber die Welt ist über deren Maßstäbe hinausgewachsen und infolgedessen wäre es unsinnig, Bismarck-und Fridericusdeutsche heranbilden zu wollen oder gar gewisse Irrtümer unserer Romantiker über das mittelalterliche Abendland neuerdings zu begehen. Die Historie hat der Kontinuität zu dienen, die Vergangenheitsdimension unseres Daseins zu bewahren und zu erläutern, aber gleichzeitig unsere Orientierung in der Gegenwart zu erleichtern, indem sie auf die großen Unterschiede zwischen damals und heute hinweist. Solche Sachverhalte zu klären ist recht verstandener Patriotismus; unpatriotisch ist es demgegenüber, die Geschichtswissenschaft zur Theologie einer nationalen Pseudoreligion herabzuwürdigen.

Vier Deutungen der Nation

Eine weitere Veränderung unserer Auffassung des Nationalen ist dadurch hervorgerufen, daß es uns auf Grund geschichtlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Überprüfung nur mehr mit äußerster Vorsicht möglich ist, von biologischen oder naturhaften Seiten des Volkes zu sprechen. Volksgeist und Volksseele, Volkscharakter als character indelebilis — alle diese Begriffe, mit denen frühere Generationen so zuversichtlich operiert haben, sind uns heute fragwürdig geworden. Statt der Vorstellung von Volk als einer organischen Größe, als Volkheit oder monadisches Volkstum, statt eines geschlossenen, sich abkapselnden Volksbegriffes bevorzugen wir heute eine dynamische, offene, den Wandel betonende und bejahende Volkskonzeption. Wir halten hingegen fest am Begriff der Nation als der geschichtlich-politisch und kulturell gehogestiftet, benen Stufe eines Volkes oder einer Verbindung mehrerer Völker. Was uns Deutschen wie anderen Völkern die Nation hier und heute als lebendige, aktuelle Größe zu bedeuten hat, glaube ich in vier Punkten zusammenfassen zu dürfen:

Die Nation ist erstens eine politische Schick-

salsgemeinschaft. Ich gehe dabei von dem häufigen Fall der staatlichen Einheit einer Nation aus. Unser eigentümliches Schicksal ist es, daß teils durch Zwang und Gewalt, teils, wie in Österreich, durch Sanktionierung seitens der Bevölkerung, die politische Einheit der deutschen Geschichtsund Kulturnation nicht mehr besteht. Freie Entschlüsse müssen respektiert werden, aber wo entgegen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker nur mehr die Machträson der großen Politik am Werke ist, soll man nicht aufhören, auf den Widerspruch zwischen Recht und

Freiheit einerseits und dem Interesse der Weltmächte andererseits hinzuweisen. Dem objektiven Zustand der Schicksalsgemeinschaft entspricht subjektiv die Nation als Willensgemeinschaft. Der französische Gelehrte Renan hat für diese Seite der nationalen Zusammengehörigkeit eine Formulierung gefunden, die bei uns viel zu wenig bekannt und noch weniger beherzigt worden ist: „Eine Nation ist eine große Gemeinschaft, die sich gründet auf das Bewußtsein der Opfer, die man gebracht hat und noch zu bringen bereit ist, auf die Übereinstimmung, den klar ausgesprochenen Wunsch, das gemeinschaftliche Leben weiterzuführen . . . Nation ist, was eine Nation sein will . . . Die Existenz einer Nation ist ein Tag für Tag fortgesetztes Plebiszit“. Wer sich diese Sätze zu eigen macht, bekennt sich zum dynamischen Prinzip der Nation und er denkt nationaldemokratisch. Der Volks-wille wird in den Mittelpunkt gerückt.

Auch im Zustand der staatlichen Zerrissenheit besteht zweitens die Nation als historisch-kulturelle Traditionsgemeinschaft oder als individuell geprägte Teilhaberin einer solchen fort. Wer die Geschichte als Daseinsmacht zu würdigen weiß, wird verstehen, daß es sich auch in dieser Hinsicht, wie in der Politik, nicht um Beliebiges und Beiläufiges, sondern um Bestimmendes und Verbindliches handelt.

Beschränkt auf den Aktionsradius der jeweiligen staatlichen Gebilde tritt die Nation drittens als Leistungs-und Wettbewerbsgemeinschaft in Erscheinung. Unsere Mitwirkung an der Entwicklungshilfe, unsere Verflechtung in die Weltwirtschaft, unser Beitrag zur übernationalen Wissenschaft, unsere Beteiligung am internationalen Sport können nicht ohne ein gewisses Engagement, ohne Korps-und Teamgeist realisiert werden.

Viertens erscheint mir der staatlich gefestigten Nation die Aufgabe gestellt zu sein, sich als soziale Bewährungsgemeinschaft zu erweisen. Unsere gesellschaftlichen Formen und Beziehungen sind stärker denn je in Fluß geraten, und hier sich den rasch wechselnden Situationen mit einer jeweils vernünftigen Ordnung anzupassen, zählt zu den wichtigsten Aufgaben, die das öffentliche Leben uns stellt. Gewiß handelt es sich dabei um weltweite Vorgänge, aber sie sind doch national erheblich differenziert, und Staat und Nation bleiben eben vorerst das Organisationsprinzip, das auch bei der Bewältigung mondialer Angelegenheiten zu Grunde gelegt werden muß. Es ist stets dasselbe Bild: unsere Situation ist weltbürgerlich geworden, unsere Leitbilder und Ziele sind universaler Natur, aber wir können dieser Situation nicht gerecht werden, wenn wir die nationale Arbeitsteilung aufgeben, die freilich ihrerseits immer noch viel mehr als eine auswechselbare Methode darstellt.

Noch ein Wort zum Schluß: Eine veränderte politische und geistige Konstellation erfordert einen neuen Stil und eine neue Sprache. Das Pathos und die emotionale Diktion, die der Reichsgründungsgeneration von 1870/71 angemessen waren, konnten den Männern des ersten Weltkrieges nicht mehr entsprechen und zusagen. Für uns ist, um von den politischen Grün-den ganz zu schweigen, die nationalistische Terminologie der zwanziger und dreißiger Tahre schon aus Motiven des Stilgefühls und des Ge-schmacks nicht mehr erträglich. Das Vokabular unseres Nationalbewußtseins ist heute durch äußerste Sparsamkeit und Zurückhaltung bestimmt. Ein Patriotismus, der weiß, was er zu tun hat, der sich nur selten in Formeln artiku-liert, aber sich schweigend und taktvoll realisiert, schiene mir nicht der schlechteste zu sein. Viele Formulierungen vergangener Zeiten verbieten sich heute von selbst. Wer könnte es noch wagen, von einer deutschen Sendung zu sprechen? Wir beanspruchen keine Mission mehr, aber wir wünschen die uns möglichen Funktionen auszuüben.

Ein Wort zur deutschen Nationalhymne

Zu den zahlreichen Fragen des patriotischen Stils zählt auch die der Nationalhymne. Vom Standpunkt des Historikers aus gesehen sind die meisten Nationalhymnen verhältnismäßig junge Gebilde, eine Gattung, dichterisch und musikalisch über die Länder hinweg von sehr verwandtem Typus, literarisch kaum als wertvoll anzusprechen, und darin macht auch das Deutschlandlied, gewiß nicht die schlechteste von vielen Hymnen ihresgleichen, keine Ausnahme. Es ist freilich zuzugeben, daß hier weit weniger ästhetische und literarische, als Gefühlswerte im Spiele sind, und ohne Not sollte man eine traditionelle Nationalhymne gewiß nicht aufgeben. Aber ist hinsichtlich der ersten Strophe des Deutschlandlieds diese Notlage nicht eingetreten? Hat sich nicht zwischen ihr und der deutschen Wirklichkeit eine unüberbrückbare Diskrepanz ergeben? Ich finde, es ist weniger die Angst, nach außen hin Anstoß zu erregen, die uns das Absingen der ersten Strophe problematisch erscheinen läßt, als das innere Bedürfnis, über die Tradition, die wir achten und hochhalten, doch die nüchterne Gegenwartsanalyse zu stellen. Gegen die zweite Strophe rebelliert unser literarisches Empfinden. Ganz anders steht es jedoch mit der dritten Strophe. Sie scheint uns geradezu vorbildlich das zu sagen, was als Synthese von Weltbürgertum und

Patriotismus, von Universalismus und Eigenständigkeit unsere Generation erfüllen sollte. Sie geht aus von der Einigkeit, die wir auch heute noch in dem Sinne als unentbehrlich bezeichnen müssen, als über die Existenzfragen der Nation und die letzten Normen ihres Zusammenlebens im wesentlichen Einhelligkeit bestehen sollte. Sie holt die übernationalen Werte des Rechts und der Freiheit in die Realität der vaterländischen Betätigung. Weltgültige Ideen stellt sie dem deutschen Volk vor Augen und ruft es auf, sein Glück in ihrer Beherzigung zu suchen. Die Wirklichkeit menschheitlicher Leitgedanken und die Wirklichkeit des Vaterlandes werden anerkannt und miteinander in fruchtbare Beziehung gesetzt: das ist eine zeitgemäße Lösung, die wir aufmerksamer denn je hören wollen und sollen:

Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glüdtes Unterpfand, blüh'int Glanze dieses Glüdtes, blühe deutsdies Vaterland.

Fussnoten

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Anmerkung: Heinz Gollwitzer, Dr. phil., geb. 30. Januar 1917, o. Prof, für Politische, Sozial-und Wirtschaftsge-schichte an der Universität Münster.