Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft | APuZ 46/1962 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 46/1962 Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft Geschichte als Politische Wissenschaft

Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft

HANS MOMMSEN

Zuerst als Vortrag gehalten in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing auf der Arbeitstagung Uber „Politische Bildung in der Oberstufe der Höheren Schule“ Der Vortrag stellt eine unter dem Gesichtspunkt der Saarbrückener Rahmenvereinbarung eränderte und gekürzte Fassung des in Heft 4/1962 der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte erschienenen Aufsatzes des Vers. dar. Deshalb kann ier von Literaturhinweisen und Anmerkungen ab-Sosehen werden.

Problematik der „Gemeinschaftskunde"

Waldemar Besson Geschichte als politische Wissenschaft (siehe Seite 585)

in der Sicht der Historie und Politischen Wissenschaft

Die grundsätzliche Problematik des Fadis „Gemeinschaftskunde" — oder wie immer der in der Saarbrückener Rahmenvereinbarung angestrebte Gesamtunterricht in den historisch-politischen Fächern bezeichnet werden mag — kann nicht nur unter pädagogisch-didaktischen und politisch aktuellen Gesichtspunkten erörtert werden, auch wenn sie zunächst im Vordergrund stehen. Es ist darüber hinaus zu fragen, wie sich die Problematik des neuen Faches vom Standpunkt der beiden hier vornehmlich angesprochenen Universitätsdisziplinen — der Historie einerseits, der Politischen Wissenschaft andererseits — darstellt. Die Rückwirkungen, die von der Verwirklichung der Saarbrückener Rahmenvereinbarung auf die praktische Organisation des wissenchaftlichen Lehrbetriebs in den beiden Fächern ausgehen müssen, sind dabei erst in zweiter Linie zu betrachten, obgleich es sich hier wohl nicht nur um die Frage zweckmäßiger akademischer Abschlußprüfungen handelt. Es scheint vor allem notwendig zu sein, sich über das methodische Selbstverständnis beider Wissenschaften zueinander klar zu werden. Denn anders ist wohl eine begründete Beurteilung des gegeneinander abzuwägenden didaktischen Wertes der beiden Disziplinen für unsere Schulen und für die politische Bildung überhaupt nicht zu erreichen. Anders würde auch die in der Rahmenvereinbarung vorgesehene Kombination der beiden Fächer in den Primen unserer Gymnasien ein äußerliches Richtlinienprodukt bleiben und ein Notbehelf, dem alle Anzeichen des Provisoriums anhaften.

Kein geschlossenes Welt-und Geschichtsbild im Westen

Es ist auf dieser Tagung darauf hingewiesen worden, daß die Saarbrückener Rahmenvereinbarung unbestreitbar ein Werkzeug der Politik sei, und daß nach ihr die Anforderung der Fachverbände gegenüber den grundsätzlichen politischen Aufgaben unseres Bildungswesens zurückstehen müßten. Gegen eine solche Auffassung erheben sich mancherlei Bedenken. Vor allem wird man sagen müssen, daß es fragwürdig ist, wenn unser Bildungswesen einseitig aus der Situation totalitärer Bedrohung richtung-gebende Impulse empfangen soll. Daß die totalitären Systeme des Ostens — zugleich aber auch die der modernen industrialisierten Gesellschaft inneliegenden Tendenzen zu anonymer Funktionalisierung und Apparatisierung — eine sehr ernst zu nehmende Herausforderung darstellen, ist unbestritten. Aber diese Herausforderung kann nur darin bestehen, daß beide Wissenschaften alles tun, um ihr eigenstes Wesen zu entfalten, nicht aber darin, daß sie sich möglicherweise fremden Gesetzen fügen. Es ist davon die Rede gewesen, daß die deutsche Geschichtswissenschaft der östlichen, die diesen Namen nur mit größtem Vorbehalt verdient, nichts Gleichwertigeres an die Seite zu stellen habe. Derartige Äußerungen legen die Vermutung nahe, daß es hier darum ginge, in einer einseitigen Kampfstellung gegen die totalitäre Bedrohung des Ostens, eine Art demokratisches Konterfei der jenseits der Mauer durch terroristische Mittel zementierten Gesellschaftswissenschaften zu begründen. Dem gegenüber wird man das Grundprinzip westlicher Wissenschaft und Bildung betonen müssen, das eben darin besteht, daß sie aus sich selbst ihre Gesetzlichkeit empfängt und — wie wir glauben — gerade darin ihren spezifischen Auftrag in der modernen bildungsarmen Gesellschaft hat. Es ist angedeutet worden, daß die Eigengesetzlichkeit und der spezifische Bildungssinn der Geschichte nirgends recht ausgefüllt seien, daß also Klarheit darüber fehle, was mit dem Bildungswerk der Geschichte eigenlich gemeint sei. Es scheint sich bei den Kulturpolitikern, wenn man die Ausführungen auf dieser Tagung betrachtet, die Vorstellung festgesetzt zu haben, als sei es möglich, ein Welt-und Geschichtsbild der kommunistischen Ideologie entgegenzusetzen, das ähnlich fest abgerundet und geschlossen ist. Man hat den Eindruck, als bestünde die Vorstellung, daß die Geschichte dies allein nicht zu leisten vermöge, daß sie vielmehr — befangen in einem relativistischen Historismus — vor dieser Aufgabe notwendig versagen müsse und daß es daher darauf ankomme, durch eine Kombination mit der politischen Disziplin die Aufgabe zu erfüllen, dem Schüler und Studenten ein klares und präzises Normensystem zu vermitteln, welches ihm einen festen Stand in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus gibt. Wir meinen, daß in dieser Beziehung etwas zu schwarz gemalt wird und daß durch eine „Rettet die Freiheit" -Gesinnung die geistige Bedrohung durch den Kommunismus als ein überdimensionales trojanisches Pferd hingestellt wird, wobei die Kraft unserer freiheitlichen Bildungstradition recht eigentümlich unterschätzt ist. Die viel zitierten „übergreifenden geistigen Gehalte“ sollen das Vakuum füllen, das sich angeblich im Westen ausgebreitet hat. Es bedarf denen gegenüber keiner ausführlichen Begründung, daß gerade die Geschichte ihrem Wesen nach mit übergreifenden geistigen Gehalten zu tun hat, daß sie, nach der berühmten Formulierung Huizingas, die geistige Form ist, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt. Käme es darauf an, nur übergreifende geistige Gehalte in diesem Sinne zu vermitteln und nicht konkretes politisches Orientierungswissen, würde die Diskussion über das Fadi Gemeinschaftskunde erst gar nicht aufgetreten sein.

Geschichte ist Reflexion der Vergangenheit

Was indessen bei der bisherigen Erörterung des Problems nur unzulänglich bedacht erscheint, ist die Frage, ob nicht Geschichte und Politische Wissenschaft — denn die Geographie kann als mehr oder minder informatives Fach aus dieser Problematik ausgeklammert werden — einfach überfordert sind, wenn man ihnen zur Aufgabe setzt, ein verbindliches Normensystem den Schülern und Studenten zu vermitteln. Bevor man den Verdacht auf sich zieht, eine Art Parteilichkeit des Bildungswesens für die Demokratie oder für die Werte westlicher Lebensformen überhaupt zu wünschen, wird man sich füglich darüber klar werden müssen, was Geschichte als Wissenschaft und was Politik als Wissenschaft in dieser Beziehung überhaupt leisten können, sofern man an ihrem Wissenschaftscharakter festhält, und es wird zu fragen sein, ob die prinzipielle Offenheit der Geschichte, ob ihre Aspekthaftigkeit nicht gerade entscheidend wert-voll ist, indem sie dadurch jede dogmatisierte Geschichtsschematik entlarvt und damit die Ausnützung der Geschichte durch totalitäre Herrschaftssysteme potentiell verhindert. Jedenfalls unterscheidet sich das westliche Denken vom östlichen darin grundlegend, daß es Geschichte in diesem Sinne gibt und daß es möglich ist, geschichtliche Vorgänge zu betrachten, ohne sie gleich dem Schema gegenwärtig politisch relevanter Wertsysteme zu konfrontieren. Anders gesagt, daß Geschichte geistige Reflexion der Vergangenheit, nicht aber die Reflexion von Zukunftsentwürfen in die Vergangenheit — wie im kommunistischen System — darstellt. Geschichte und geschichtlicher Sinn sind so Grundbedingungen eines freien westlichen Denkens, und es wäre verfehlt, würde man durch das Fach Gemeinschaftskunde den Aushöhlungsprozeß, dem das historische Denken in der modernen Welt unterworfen ist, noch unterstützen.

Bildungswert der Geschichte ist in Frage gestellt

Auch unter diesen Gesichtspunkten ist es notwendig und angemessen, das Selbstverständnis von Politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft zu untersuchen und der Frage nachzugehen, inwieweit sie zur geistigen Klärung der Position des Westen beitragen können. Schon der Umstand, daß die Abgrenzung und die Beziehungen zwischen Politischer Wissenschaft und Historie im Nachkriegsdeutschland noch keine eingehende Behandlung gefunden haben, deutet an, daß die Bestimmung des methodischen Selbstverständnisses beider Disziplinen und im Zusammenhang damit ihres eigentümlichen Bildungsauftrages noch nicht zu hinreichender Klarheit gelangt ist. Gerade auf dem Grenzsaum beider Wissenschaften, dem Arbeitsgebiet der Zeitgeschichte, bedarf es präziser Distinktionen, wenn nicht Methodenwirrnis um sich greifen soll. Die Festlegung der im exemplarischen Unterricht bevorzugt zu bearbeitenden historisch-politischen Problemkreise kann nicht ohne Berücksichtigung der spezifischen methodischen Schwerpunkte beider Fächer vor sich gehen. Die Herausarbeitung der jeweiligen Eigenart beider Disziplinen ermöglicht zugleich erst wirkliche gegenseitige Befruchtung, die auf einer Durchdringung, nicht auf einer Vermengung wesens-verschiedener Fragehorizonte beruht.

In der Tat ist das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft in Deutschland in dem Maße einer Veränderung unterworfen, als sich die Politische Wissenschaft ihr gegenüber durchsetzt und mit dem Anspruch auftritt, für die praktische Daseinsorientierung des modernen vergesellschafteten Menschen und für die Bewahrung seiner persönlichen Freiheit unentbehrlich zu sein. In der zunehmenden Aktivität der Politischen Wissenschaft deutet sich eine Abkehr vom seitherigen politisch-historischen Denken an, wie es von der großen politischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Die früher unbestrittene Hochschätzung des Bildungswertes der Geschichte ist in einem Rückgang begriffen, indem sich eine in vieler Hinsicht empirisch verfahrende politische Forschung an die Stelle der Historie setzt.

Der Prozeß der Veränderung, dem unser traditionelles Bild von der Geschichte unterworfen ist, zeigt sich auf das deutlichste in der Forschung selbst. Die Politische Wissenschaft beeinflußt heute Thematik, Methodik und Fragestellungen der historischen Arbeit in hohem Maße. Eine Fülle von Begriffen, Typen und Modellen, die ursprünglich von der Politischen Wissenschaft entwickelt worden sind, hat in den historischen Disziplinen Eingang gefunden. Die Unterschiede beider Disziplinen scheinen, gerade was die neueste Geschichte angeht, sich mehr und mehr zu verwischen. Gleichwohl bedarf die Übernahme eines stärker systematisch geprägten Begriffsapparats durch die Historie einer bewußten methodischen Kritik, damit nicht anfängliche Befruchtung zur Überfremdung und damit zur Sterilität führt.

Diese Erwägungen zeigen, daß es notwendig ist, die methodische Eigenart der Geschichtswissenschaft im Verhältnis zur Politischen Wissenschaft neu zu bestimmen. Andererseits wird aber die Politische Wissenschaft aus der Konfrontation mit der Historie Kategorien und Gesichtspunkte gewinnen können, die maßgeblich zur Klärung ihres methodischen Selbstverständnisses beitragen und ihre Stellung innerhalb der Wissenschaften bestimmen lassen. Auf dem Hintergrund der Verschiedenheit werden die Gemeinsamkeiten von Politik und Historie und damit die Bedingungen ihrer gegenseitigen Befruchtung deutlich werden.

Entfremdung mit dem Durchbruch des Historismus Der Aufstieg der Politischen Wissenschaft stellt für die Geschichtswissenschaft eine Herausforderung dar, ihre bisherige methodische Grundhaltung zu überprüfen. Indessen gehen die wiederholten Behandlungen des alten Themas „Geschichte und Politik“ auf die Tätigkeit der Politischen Wissenschaft nur am Rande ein, während die Bedeutung der Soziologie unter sozial-geschichtlichem Gesichtspunkt lebhaft erörtert worden ist. Insbesondere verdient die Frage Aufmerksamkeit, inwiefern sich die Bestrebungen der Politischen Wissenschaft, zu einer umfassenden Systematik des politischen Verhaltens und der politischen Prozesse zu gelangen, für den Arbeitsbereich der Geschichte fruchtbar machen lassen. Denn eine Geschichtsforschung, die jeden Ansatz zu einer umfassenden Lehre von der Politik leugnet, wird an der historischen Bewältigung der für unsere politisch-soziale Situation existentiellen Fragen vorbeigehen müssen.

Es gehört zur Eigenart der deutschen Entwicklung, daß Historie und Politik als Wissenschaft getrennte Wege gegangen sind, und das nicht allein wegen der Zersplitterung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen unter dem Einfluß des Positivismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Vielmehr vollzog sich die Entfremdung zwischen beiden Fächern recht eigentlich mit dem Durchbruch des Historismus. Die Betonung der Einmaligkeit und Konstellationsbedingtheit geschichtlicher Vorgänge richtete sich nicht nur gegen die Versuche, Geschichte als Gesetzeswissenschaft im Sinne Karl Lamprechts zu betreiben, sondern auch gegen die klassische liberale Historie, die die Trennung zwischen generalisierender politischer Theorie und geschichtlicher Darstellung nicht gekannt hatte. Indem die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts die Fesseln von sich abstreifte, die ihr Staatslehre und Politik angelegt hatten, vollzog sich die Abwertung der Lehre von den „Politica" zu einer reinen Staatsverwaltungslehre und Staatsökonomie. In Leopold von Rankes Berliner Antrittsvorlesung, die unter dem hier zu erörternden Thema „Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik stand, wurde der Gegensatz zwischen historischem Denken und politisch-theoretischen Auffassungen deutlich hervorgehoben. Ranke war überzeugt, daß die Politik die Historie zur Grundlage habe: „Denn da es keine Politik gibt als die, welche sich auf eine vollkommene und genaue Kenntnis des zu verwaltenden Staates stützt — eine Kenntnis, die ohne ein Wissen des in früheren Zeiten Geschehenen nicht denkbar ist —, und da die Historie eben dieses Wissen entweder in sich enthält oder doch zu umfassen strebt, so leuchtet ein, daß auf diesem Punkt beide auf das innigste verbunden sind". Der von Ranke erhobene Anspruch, daß der historischen Erfahrung der Primat bei der politischen Urteilsfindung gebühre, erhielt seine Zuspitzung durch die dahinterstehende Geschichtstheologie. Für Ranke war Geschichte weniger das Resultat frei und selbstverantwortlich handelnder Individuen als die Verwirklichung überpersönlicher, realgeistiger Tendenzen. In der idiographischen Methode des Historismus war für eine generalisierende politische Theorie kein Raum. Es bedurfte in Deutschland erst des Aufstiegs der Sozialwissenschaften, um die Erkenntnis vorzubereiten, daß Politik als Lehre von den politisch-gesellschaftlichen Gestaltungen und deren normativer Grundlegung eigene Methoden und Verfahren verlangten und daß sie nicht von der Geschichtswissenschaft treuhänderisch verwaltet werden konnten. Diese Erkenntnis ist von der deutschen Geschichtsforschung unter dem Einfluß des Historismus geradezu hintangehalten worden. Sie trachtete förmlich danach, ihre Sachverständigkeit für Fragen der Politik zu monopolisieren. Nicht zuletzt unter dem Einfluß des restaurativen Grund-

zugs der Ranke’schen Geschichtskonzeption er-

starrte die deutsche Historie in seiner Nachfolge trotz der Fruchtbarkeit der Einzelforschung in einer zu eng gewordenen preußisch-deutschen oder national-liberalen Staatsideologie. Die fruchtbare Verhältnissetzung von Geschichte und Politik mußte verkümmern, weil ihr eine Auffassung des Politischen zugrunde lag, die Politik vollständig mit dem Staatshandeln gleichsetzte. Daher war es möglich, daß sich die Tendenz zur Staatengeschichte weitgehend durchsetzte und sich in der Lehre vom Primat der äußeren Politik als einer Art historischen Grundgesetzes verdichtete. Maßgebend für diese Entwicklung war einerseits das Individualitätsaxiom, das ursprünglich den Gesichtskreis der Historie von spekulativen und moralisierenden Schemata gereinigt hatte, aber nicht davor gefeit war, in eine restaurative Verherrlichung des deutschen Machtstaates umzuschlagen. Zum anderen stand die deutsche Geschichtsschreibung im Banne der romantischen Identitätsphilosophie, die an die Stelle des Aufsteigens vom Besonderen zum Allgemeinen die verborgene Identität beider setzt. Dies beförderte die Neigung, die Konflikte und Spannungen in der jüngeren deutschen Geschichte unzulässig zu harmonisieren; das gilt im besonderen für die kleindeutsche Schule. „Die Symbiose von Geschichte und Politik“, von der Friedrich Meinecke in bezug auf die deutschen liberalen Historiker des 19. Jahrhunderts gesprochen hatte, ist mit dem Fortgang des Jahrhunderts immer mehr verkümmert. Der Anspruch politischer Geschichtsschreibung leistete geradezu einer Einengung des politischen Blickfeldes Vorschub.

Vernachlässigung innenpolitischer Probleme vor 1914

Die deutsche Geschichtsforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts unterlag in gewisser Hinsicht einem Prozeß der Entpolitisierung. Das mutet merkwürdig an, wenn man bedenkt, daß die deutschen Historiker sich damals leidenschaftlich mit den Lebensfragen der Nation beschäftigten und sich für die imperialistischen Zielsetzungen in der Zeit vor 1914 namhaft einsetzten. Sie entfernten sich dabei von den grundlegenden innenpolitischen Problemen, die mit dem Begriff der nicht durchgesetzten „inneren Reichsgründung" umschrieben werden können. Die Grundspannung der deutschen Verhältnisse im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zwischen politischer und gesellschaftlicher Verfassung ist daher von der Historie weitgehend vernachlässigt worden. Lorenz von Stein war für sie ebenso Außenseiter wie später Max Weber, als er die innere Verfassung des Bismarck-Reiches einer unnachsichtigen Kritik unterzog, und ähnlich gilt dies für Friedrich Meinecke und Ernst Toeltsch, als sie sich 1918 auf die Seite der Republik stellten. Auch am Beispiel Heinrich von Treitschkes zeigt sich der politische Substanzschwund der kleindeutschen Schule, obwohl er der politisch am stärksten engagierte und wohl auch am meisten profilierte Vertreter derselben gewesen ist. Von seiner streitbaren Geschichtsschreibung führte kein Weg zu einer empirisch orientierten Politischen Wissenschaft, wie sie bereits im Westen zu klassischer Höhe aufstieg. Insofern wird man das harte Urteil Ludwig Dehios, daß die deutsche Historie der Weimarer Zeit die Konsequenzen aus der Niederlage des ersten Weltkrieges zu ziehen versäumt habe, auh nah der innenpolitishen Seite ergänzen müssen. Denn die Geshihtsshreibung tat nihts, um die Ausbreitung der Dolhstoß-Legende zu verhindern, und sie vermohte niht, ein Verständnis für die veränderten gesellshaftlih-politishen Bedingungen der modernen industriellen Arbeitswelt zu vermitteln. Die weiterhin „nationalen" Geshihtsbüher verdeckten ein Vakuum politishen Denkens, und die Geshihtsshreibung trug niht wenig dazu bei, die Neigung des deutshen Bürgertums, Politik im mythishen Lihte zu sehen, lebendig zu erhalten. Das Vakuum politisher Wertvorstellungen, das durh die Historisierung verdeckt worden war, bildete den Nährboden für formalistishe und aktivistishe politishe Ideologien nah Art der Theorie Carl Shmitts von der Politik als einem Freund-Feind-Verhältnis. Die Geschichtswissenshaft hat — niht als einzige unter den Wissenshaften — politish versagt, gerade weil sie sih des Zusammenhanges von Politik und Geshihte zu siher war. Die historishe Erfahrung lehrt, daß die Historie auf das Korrektiv einer politishen Forshung niht verzihten kann, die die „Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände“ zurückführt, d. h. durh empirische Analyse des politishen Verhaltens und der politish-sozialen Funktionalismen ein Abgleiten in utopishe Zielsetzungen verhindert und die normativen Grundlagen politisher Urteile systematish zu fassen suht.

Politische Wissenschaft zwischen Historie und Sozialwissenschaften

Angesichts der bis heute nachwirkenden Aversion der Geschichtswissenschaft gegen ein System der Politik war es natürlich, daß die in Deutschland als akademische Disziplin junge Politische Wissenschaft auf den methodologischen Erfahrungsschatz der Geschichtswissenschaft kaum zurückgegriffen hat. Das lag auch deshalb fern, weil für sie im Vordergrund die Auseinandersetzung mit der positivistisch orientierten Strömung des „behaviourism“ und der „policy science“ stand. Es mußte der neuen Disziplin darum gehen, den Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu behaupten, ohne auf die schiefe Ebene der von Max Weber postulierten Wertfreiheit zu gelangen. Zum anderen stand für sie das Bedürfnis im Vordergrund, sich gegen eine kryptototalitäre Deutung des Politischen nach der Art Carl Schmitts zur Wehr zu setzen. Erst neuerdings bemüht sich die Schule Arnold Bergstraessers um eine Konzeption der Politischen Wissenschaft, die bewußt an die historisch-soziologische Tradition des deutschen Staatsgedankens anknüpft. Die Politishe Wissenshaft nimmt daher nah einer Periode stärkster Beeinflussung durh die empirishen Sozialwissenshaften die ältere politikwissenshaftlihe Tradition neu auf, die sih an die Namen Robert von Mohl und Lorenz von Stein anknüpft. Die Entwürfe Hermann Hellers und Hans Kelsens kommen zu neuem Reht; insbesondere vermag Hellers „Staatslehre" Grundlegendes zu dem Problem der Abgrenzung der Politishen Wissenshaft von den Sozialwissenshaften auszusagen. Die Bedeutung der historishen Methode ist in dieser Auseinandersetzung mit der Sozialforshung bislang zu wenig hervorgehoben worden. Was wir von der Historie behauptet haben, daß. sie ihren Aufgaben niht gereht wird, wenn sie jeden systematishen Ansatz zu einer Lehre der Politik leugnet, gilt umgekehrt von der Politishen Wissenshaft, die auf eine individualisierende historishe Methode niht verzihten kann. Hermann Heller, den man als Vater der Politishen Wissenshaft in Deutshland bezeihnen kann, hat dieses Problem aufgeworfen, indem er den Gegenstand der Politishen Wissenshaft vorwiegend im Bereih der autonomen politishen Entsheidungen erblickte: „Niht alles Politishe, ja niht einmal alles Staatlihe, ja sogar niht einmal jede Staatstätigkeit gehört in den Kreis der Probleme“, den die Politische Wissenschaft als Spezialdisziplin behandelt. Hellers Postulat einer Strukturwissenschaft war das gerade Gegenteil einer bloß deskriptiv-analytischen Lehre von der Politik. Es ging ihm darum, die Politische Wissenschaft von der bloß sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise zur Analyse des eigentlichen politischen Entscheidungshandelns hinzu-lenken.

Politisches Interesse und historisches Interesse sind gleichartig strukturiert

Ähnlich hat Karl Mannheim im Anschluß an Schäffles Unterscheidung von „laufendem Staatsleben“ und „Politik“ die politische Entscheidung in dem irrationalen Spielraum angesiedelt, der im Gegensatz zum rationalisierten Gefüge der Gesellschaft autonomes, auf persönlicher Entscheidung beruhendes politisches Handeln zuläßt. Das ist insofern zu eng gefaßt, als das Gefüge selbst Gegenstand der politischen Forschung sein kann und muß. Aber diese Entgegensetzung macht deutlich, daß es die Politische Wissenschaft im Unterschied zur Soziologie und den ihr verwandten sozial-wissenschaftlichen Zweigen eben mit dem Spannungsfeld zu tun hat, das sich zwischen dem Entscheidungshandeln von Individuen und Gruppen und den vergleichsweise starren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ideologischen und politisch-staatlichen Strukturen erstreckt. In der Orientierung der Politischen Wissenschaft auf das politische Entscheidungshandeln ist sie auf das engste mit der Historie verbunden. Beide Disziplinen haben zentral mit der Analyse und Beschreibung individueller Willenshandlungen und individueller Motivationen zu tun. Die Politische Wissenschaft trifft ständig auf das Problem, wie individuelle Akte der politischen Willensbildung sich innerhalb von nur langsamer Veränderung unterworfenen gesellschaftlichen Strukturen und relativ konstanten historischen Entwicklungstendenzen auswirken. Soziologische Struktur-analyse und Erforschung der Herrschaftsgefüge können der Politischen Wissenschaft nicht Selbstzweck sein, sondern dienen der Feststellung der Bedingungen, unter denen politisches Handeln möglich und sinnvoll ist. Es ist geradezu einer der Gründe ihre Existenz als selbständige Disziplin, daß sie die Aufgabe hat, die Unüberschaubarkeit des politisch-sozialen Gesamtgefüges so zu durchdringen, daß die Momente spontanen oder vorbereiteten politischen Wollens erkennbar werden, und daß sie dieses Wollen daraufhin analysiert, ob es genuinen politischen Leitbildern entspringt, oder ob es bloß Anpassung einer vorgegebenen Interessenlage an sich verändernde politisch-soziale Bedingungen darstellt. Die vielkritisierte Apparatisierung im politischen Leben wie die Umgehung politischer Entscheidungen durch Juridifizierung politischer Materien oder durch die Einschaltung von Fachgremien fordern die ständige Analyse der verborgenen politischen Antriebe durch die Politische Wissenschaft heraus und sie wird dergestalt einer scheinbaren Versachlichung und . Entpolitisierung" der Politik entgegenwirken müssen.

Die Verwandtschaft von Politikwissenschaft und Historie scheint unter diesem Gesichtspunkt evident. Die erwähnte Spannung zwischen politischem Wollen und präformiertem politischem Gefüge stellt im gleichen Sinne auch das Lebenselexier der historischen Forschung dar, die aus diesem Grunde zäh am Individualitätsaxiom festhält. Es will scheinen, als sei das politische Interesse gar nicht anders strukturiert als das historische Interesse auch, wenn man einmal davon absieht, daß sich die Geschichte als prozeßhaftes Nacheinander, die Welt der Politik als Fülle von nebeneinander angeordneten und einander überschneidenden Sozial-und Herrschaftsgebilden darstellen. Politik und Geschichte ereignen sich überall dort, wo der Wille konkreter Individuen und Gruppen aktiv auf einer Veränderung der sozialen Umwelt gerichtet ist. Dieser Wille ist nichts Abstraktes und ist auch nicht einfach Überbau wirtschaftlicher und soziologischer Faktoren, sondern gegenständliches individuelles Wollen. Dies ist — wenn man den problematischen Versuch überhaupt machen will, den Gegenstand der Politischen Wissenschaft formal zu definieren — ihr eigentlicher Bereich.

Frage der Zulässigkeit von Werturteilen

Wenn es sich so verhält, daß Geschichtswissenschaft und Politische Wissenschaft in gemeinsamer Frontstellung gegen die empirische Sozialforschung auf eine individualisierende Betrachtungsweise nicht verzichten können, ergibt sich als zentrales Problem die Frage der Zulässigkeit von Werturteilen und deren normativer Grundlegung. Die innerhalb der Politischen Wissenschaft geführte Werturteilsdiskussion ist im Grunde aus den ihr von Max Weber und Carl Schmitt vorgezeichneten Bahnen trotz aller Bemühungen noch nicht wirklich hinausgelangt. So hat sich die Auffasssung durchgesetzt, daß ein wertneutraler Ansatz im Sinne der von Max Weber postulierten Wertfreiheit oder des modernen Neopositivismus verfehlt ist, da sich die Politische Wissenschaft nicht auf die wertfreie Analyse der Herrschaftstechniken und politischen Funktionalismen in der modernen Gesellschaft beschränkt, sondern zur wertenden Beurteilung der politischen Entscheidungen vordringt. Aber die Tendenz, wertneutrale Vorstellungen weiterzuschleppen, läßt sich in verschiedentlichen Ansätzen, Politik formal als „das umfassende Handeln in allen öffentlichen Angelegenheiten“ zu definieren, deutlich erkennen.

Politik ist nicht wesentlich Technik der Macht

Dies gilt insbesondere für die Richtung, die Politik wesentlich als „Technik des Machterwerbs und der Machtbehauptung" auffaßt und die ihren vornehmsten Vertreter in Max Weber besessen hat. In „Politik als Beruf“ definierte er Politik als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.“ Diese machtorientierte Betrachtungsweise wird von der Mehrzahl der ausländischen politischen Theoretiker, aber auch in Deutschland vertreten. Die Thesen der deutschen Hochschulen für Politik heben hervor, daß es die Politische Wissenschaft „insbesondere mit dem Erwerb, dem Gebrauche, dem Verbrauch der Macht“ zu tun habe. Der Errichtung einer politikwissenschaftlichen Systematik auf der Basis des Machtbegriffs ist jedoch neuerdings scharf widersprochen worden. Wilhelm Hennis erklärte, damit werde die Politische Wissenschaft zu einer Lehre von den Techniken der Politik erniedrigt. Arnold Bergstraesser machte geltend, daß damit eine künstliche Einengung ihres Blickfeldes auf das Machtphänomen vollzogen werde; sein Schüler Kurt Sontheimer urteilte, daß man „die Wissenschaft von der Politik auf eine Trivialität gründen würde, wollte man sie auf die Kategorie der Macht als ihrem entscheidenden Begriff fundieren“. Arnold Brecht hat darüber hinausgehend den Begriff der Macht als „adäquate Grundeinheit der Politischen Theorie“ überhaupt geleugnet.

In der Tat verfährt eine bloß machtorientierte Politische Wissenschaft nominalistisch im Sinne der Weber’schen Werturteilsfreiheit auch dann, wenn sie versucht, den Machtbegriff mit Wert-begriffen, wie etwa dem Begriff der Kultur, zu kombinieren. Macht ist eine amorphe Größe, die sich jeder Einordnung in ein werthaftes System entzieht. Man wird daher auch den Gegenstand der Politischen Wissenschaft nicht erfassen, wenn man an die Stelle des Machtbegriffs die Begriffe des Potestas und der Auctoritas oder die Begriffe Herrschaft und Ordnung setzt. Die unbefriedigendste Seite der macht-orientierten Theorie besteht darin, daß ihr Formalismus nicht gestattet, die Frage nach den Aufgaben der Politik hinreichend zu beantworten und daß sie nicht in der Lage ist, zu wirklich relevanten Aussagen vorzudringen. Das Beispiel der Historie vermag diesen Sachverhalt deutlich zu machen. Schon Arnold Brecht wies bei seiner Kritik des Machtbegriffs auf die Machtverherrlichung der kleindeutschen Historie hin. Sie fand ihre theoretische Zuspitzung in der für die deutsche Geschichtsschreibung des ausgehenden 19. Jahrhunderts charakteristischen Entgegensetzung von „Realpolitik“ einerseits und liberaler Prinzipenpolitik andererseits. Der von August Ludwig von Rochau 1853 aufgebrachte Begriff der „Realpolitik", der die begeisterte Zustimmung Heinrich von Treitschkes fand, trat alsbald seinen Siegeszug in der deutschen Historie an und führte zu einer Verkennung der politischen Realitäten. Sie stand im Zusammenhang mit der politischen Desillusionierung des deutschen Bürgertums seit dem Scheitern des Liberalismus und mündete in eine Überbewertung, ja in eine Mythisierung des Machtfaktors. Das läßt sich am Beispiel der Geschichtsschreibung erhärten, die in Deutschland vielfach bestrebt war, Geschichte unter dem Aspekt der Machtbildung darzustellen. Wie wenig eine solche Interpretation der Geschichte, aus der — um mit Jacob Burckhardt zu urteilen — alle spezifischen Kulturwerte als belanglos oder als Überbau eliminiert werden, zu konstruktiven Resultaten fähig ist, zeigen hinlänglich die Versuche, Weltgeschichte als Machtgeschichte zu schreiben. Es bedarf keines näheren Hinweises auf die Irrtümer realpolitischer Geschichtsschreibung in der Bismardc-Forschung.

Begriff der Macht ist eine unproduktive historische Kategorie

Es erweist sich daraus, daß der Begriff der Macht seinem Wesen nach eine unproduktive historische Kategorie ist. Gewiß ist der Machtbetrieb, den Friedrich Meinecke „die Naturseite alles staatlichen Lebens" nannte und als „persönliche Pleonexie" als nicht weiter auflösbare Größe betrachtete, eine Grundkraft des historisch-politischen Geschehens. Gleichwohl entzieht sich die Macht weithin dem Zugriff des analysierenden Historikers. Das ist nicht die Folge unzulänglicher Methoden, sondern Ausdruck davon, daß der Machttrieb als Kontinuum in allen sozialen und politischen Prozessen das am wenigsten Spezifische derselben ist. Der Historiker wird daher nicht dabei stehen bleiben, das Phänomen der Dämonie der Macht und ihrer Strukturen zu analysieren, sondern er wird den geistigen und sozialen Kräften nachspüren, die am Anfang der großen machtpolitischen Entscheidungen stehen und von denen sie ihren geschichtlichen Sinn erhalten. Friedrich Meinecke hat in der „Idee der Staatsräson“ diese Problematik dargestellt, indem er eine idealtypische Verknüpfung des Machtbegriffs mit den grundsätzlichen Aufgaben des staatlichen Lebens vollzog. Er nahm dabei die Gegenposition zur herrschenden Tendenz ein, den Gedanken der Staatsräson und die Idee des Kräftegleichgewichts der großen Mächte in den Dienst des deutschen Imperialismus zu stellen.

Nicht allein die Ambivalenz des Machtbegriffs veranlaßt also die moderne Geschichtsschreibung, ihn zurückhaltend anzuwenden, sondern vor allem das Wissen darum, daß Historie als geistige Form mit einer bloß machtorientierten Analyse am Eigentlichsten ihrer Aufgabe vorbeigeht, daß Geschichte, verstanden als Abfolge von Machtbildungs-und Zersetzungsprozessen, in Hinsicht auf die in ihr zur Anschauung erhobenen Kulturwerte verarmt. Für beide Wissenschaften ist demnach festzuhalten, daß das Machtphänomen nicht für sie spezifisch ist, da es von dem eigentlich politischen Phänomen, dem Entscheidungshandeln, abstrahiert und das Wertproblem durch einen im Prinzip wertneutralen Ansatz nur verdunkelt.

Versuche einer werterfüllten Interpretation der Politik

Auf Seiten der Politischen Wissenschaft hat man dieser Gefahr eines Abgleitens in einen Wertneutralismus damit entgegentreten wollen, daß man versuchte, den Begriff des Politischen formal und inhaltlich zu bestimmen und ihn von vornherein mit bestimmten Wertvorstellungen aufzufüllen. Die Mehrheit der deutschen Politik-wissenschaftler ist sich einig, daß Politik auf den Staat oder das Gemeinwesen bezogenes Handeln sei. Gleichwohl haftet allen Definitionen etwas Willkürliches an, ob man mit Hennis unter Politik „die Realisierung der einem Gemeinwesen aufgegebenen Zwecke“ oder mit C. J. Friedrich den im Begriff des „government“ angesprochenen Erfahrungskreis verstehen will. Auch die Formulierung von der Gablentz’: „Politik ist Kampf um die gerechte Ordnung“ kann nicht genügen, weil damit nur ein Teilaspekt politischer Erscheinungen in das Blickfeld gelangt.

Es ist offenbar für die geschichtliche Situation der Gegenwart bezeichnend, daß eine wertmateriale Bestimmung des Wesens der Politik auf allgemeine Zustimmung nicht rechnen kann. Dafür ist nicht allein die Erfahrung des Totalitären, sondern auch die analytische Methode der Wissenschaften selbst maßgebend gewesen, indem sie zu einer Formalisierung des Politik-Begriffes geführt hat. Diese Formalisierung haftet sämtlichen definitorischen Bestimmungsversuchen des Wesens der Politik wie des Gegenstandes der politischen Wissenschaft an. Das Werturteilsproblem wird durch derartige begriffliche Operationen im Grunde nur umgangen, da sie einen hohen Grad unverbindlicher Allgemeinheit und damit einer mehr oder minder beliebigen normativen Ausfüllbarkeit besitzen. Es liegt hier ein ähnlicher Zirkelschluß vor wie bei der nationalstaatlichen Historie, die die Nation als obersten und unerschütterlichen Wert setzte, obwohl dieser erst durch die historische Arbeit unter jeweils individualisierenden Fragestellungen als solcher bestimmt werden konnte.

Anknüpfung an den Begriff des bonum commune

Im Unterschied zu den mehr oder minder formalen Ansätzen zu einer normativen Systematik hat insbesondere Wilhelm Hennis den Versuch unternommen, mittels einer historischen Ableitung des Begriffs der Politik zu einer akzeptablen wertmaterialen Interpretation zu gelangen. Er wies darauf hin, daß die Vorstellung von Politik als technischem Machterwerb erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestünde. Eine Übertragung einer solchen Vorstellung auf ältere Epochen werde zu ähnlichen Sinnentstellungen führen, wie dies Otto Brunner für die Anwendung der für den Kapitalismus spezifischen Begriffe der „Rentabilität und „Rationalität“ auf die vorkapitalistischen Wirtschaft-stile nachgewiesen hat. Hennis ist demgegenüber bemüht, eine moderne politische Theorie auf traditionellem Grunde zu errichten. Ähnlich wie Bergstraesser, stellte er dem modernen formalisierten Begriff der Politik die ältere Lehre von der Polis entgegen, die in der von Otto Brunner beschriebenen alteuropäischen Ökonomik ihr Gegenstück hat. Dieser ursprüngliche Begriff des Politischen war an ethische Normen gebunden, die mit der Vorstellung vom guten und tugendhaften Herrscher zusammenhingen und mit dem Begriff des bonum commune umschrieben werden können. Hennis ist der Meinung, daß es in Deutschland auch heute noch ein solches Vorverständnis des Politischen gäbe, und daß die politische Theorie dieses Vor-verständnis wieder lebendig machen müsse. Es ist jedoch zweifelhaft, ob in Deutschland ein derartig ungebrochenes Verhältnis zur Politik des Gemeinwesens anzutreffen ist und ob nicht vielmehr eine Verwechslung mit dem vorliegt, was Radbruch einmal „die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" genannt hat. Auch wenn es ein solches werterfülltes Vorverständnis des Politischen da und dort geben mag, so bleibt es doch im Zeichen des Gruppenpluralismus beliebig manipulierbar. Wenn Hennis’ Politik „als Art und Weise der Realisierung der aufgegebenen Zwecke eines Gemeinwesens“ definiert, so ist er selbst zu einem Rückzug in den Formalismus gezwungen.

Hennis hat eindringlich den Verfall des älteren, in einer kontinuierlichen philosophischen Tradition gegründeten, wertbezogenen Politik-Begriffs geschildert. Schon Hermann Heller beklagte diesen Aushöhlungsprozeß, der sich in der Entpolitisierung und Formalisierung der deutschen Staatslehre bemerkbar machte und im Gerber-Laband’schen Rechtspositivismus gipfelte. Die Aushöhlung des ursprünglich wertbezogenen politischen Denkens fand ihren Höhepunkt in Max Webers Herrschaftssoziologie und der von ihm geforderten Wertfreiheit. Indem Webers Staatssoziologie weite Bereiche des Politischen auf die bloße Technik des Machterwerbs reduzierte, konnte sie indirekt autoritär-faschistischen Experimenten den Weg bereiten. In der Tat führte von Webers nominalistisch-funktionalistischem Verständnis der Politik ein gerader Weg zu Carl Schmitts Theorie des Freund-Feind-Verhältnisses. Webers Rüdegriff auf Charisma und plebiszitäres Prinzip konnte von Schmitt zum reinen Plebiszitarismus fortgebildet werden. Auf die Bestrebung Webers, der befürchteten bürokratischen Erstarrung einer zunehmend entzauberten Welt entgegenzuwirken, legte es nahe, das Politische ausschließlich als „Dynamik“ und „Bewegung" erscheinen zu lassen. Für Hennis stellt die Lehre Carl Schmitts, daß es keine „Substanz“ des Politischen gebe, die geschichtlich notwendige Konsequenz des einmal vollzogenen Abfalls von dem älteren werterfüllten Begriff der Politik dar.

Politisierung aller Bereiche des sozialen und privaten Lebens ist nicht mehr rückgängig zu machen

Man wird Hennis’ klinischer Diagnose des deutschen Denkens folgen, nicht aber den Schlüssen, die er daraus ableitet. Denn die bitteren Resultate der politischen Theorie Carl Schmitts widerlegen dessen Prämisse nicht, daß die Politik zum allgemeinen Schicksal geworden ist und potentiell alle Bereiche des sozialen und privaten Lebens durchdringt, daß es eine inhaltlich eigene politische Sphäre neben anderen Sphären nicht gibt, wie Carl Schmitt formulierte. Die Politisierung des gesamtgesellschaftlichen Raumes ist nicht zu bestreiten und es bedarf nicht erst der Erfahrung der totalitären Regime, um zu erkennen, daß eine generelle Trennungslinie zwischen Politischem und Nichtpolitischem im Bereich der Gesellschaft und selbst dem der Kultur nicht mehr gezogen werden kann. Diese historische Lage mag beklagt, kann aber nicht rückgängig gemacht werden. Wenn Hennis dagegen angeht, vollzieht er eine fragwürdig gewordene Einengung des Politik-Begriffes im Sinne der liberalen Tradition, die vom Postulat einer nicht-politischen und nicht-staatlichen Sphäre durchdrungen gewesen ist.

Es ist statt dessen zu fragen, ob die Konsequenz, die Carl Schmitt aus dem politischen Wertrelativismus gezogen hat, die einzig mögliche ist und ob sie zulässig war. Indem er die Einheit, nicht den Inhalt des politischen Wollens und die auf „Artgleichheit“, nicht auf gemeinsamer politischer Intention beruhende „Volksgemeinschaft“ an die Stelle oberster politischer Werte setzte, vollzog er eine willkürliche und logisch unhaltbare Überhöhung rein formaler Kategorie. Es war eine Flucht nach vorn, ein Sprung in den Irrationalismus. Das Dilemma, das sich dahinter verbirgt, besteht bis heute fort, und es erscheint unmöglich, dem Problem des Wertrelativismus zu entgehen, indem man an die ältere philosophische Tradition der Politik anknüpft. Denn ihre Aushöhlung aufgrund der Historisierung und Relativierung vorher gültiger Normensysteme ist kein reversibler Vorgang. Der Begriff des bonum commune, der in einer relativ stationären ständischen Gesellschaft Verbindlichkeit beanspruchen konnte, kann nicht einfach auf die moderne pluralistische Gesellschaft übertragen werden. Die Konstellation, die vor dem Durchbruch des Historismus zwischen Politik und Historie bestanden hat, läßt sich nicht wieder zurückrufen. Die historische Herleitung eines wertmaterialen Ansatzes zu einer Theorie der modernen Demokratie, wie sie von Hennis unternommen worden ist und wie sie von einer Reihe deutscher politischer Wissenschaftler vertreten wird, ändert nichts an seiner prinzipiell gegebenen historischen Relativierbarkeit. Ein solcher Standpunkt ist im Grunde nichts anderes als die formale Gegenposition zu Carl Schmitt. Der Bereich des politischen Interesses und Engagements wird dadurch willkürlich eingeengt. Das Hineingestelltsein des Einzelnen in den politi-sehen Raum ist eine existenzielle Tatsache und kann nicht partikularer Natur sein. Alle wertmaterialen Bestimmungen des Wesens der Politik pflegen daher entweder systematisch nicht zu genügen oder einen so hohen Abstraktionsgrad aufzuweisen, daß sie durch die konkrete politische Erfahrung nicht verifiziert werden können. Den Bemühungen, den Ort der Politischen Wissenschaft systematisch zu bestimmen, liegt eine ähnliche Aporie zugrunde wie den Bestrebungen, die Universalität der geschichtlichen Prozesse von einem integrierenden Gesichtspunkt her zu deuten. Ebenso wie die universal-geschichtlichen Entwürfe Lamprechts, Spenglers und Toynbees den Mangel nicht verdecken können, daß die Anwendung deduktiver Schemata das Element der geschichtlichen Entscheidung eliminiert, so kann ein System der Politik, welches sich an vorgegebenen festliegenden Kategorien orientiert — ob sie — wie das Machtphänomen — wertneutral sind oder von bestimmenden objektiven Normen abgeleitet werden —, das politische Entscheidungshandeln nicht situationsgerecht beurteilen. Die Gesamtgeschichte kann von keinem Punkte aus systematisch umgriffen werden, ohne daß sie an Geschichtlichkeit einbüßt; das gilt analog für die Politische Wissenschaft.

Gemeinsamkeiten von Historie und Politischer Wissenschaft

In der Frage der Werturteile befinden sich Historie und Politische Wissenschaften prinzipiell in der gleichen Lage. Sie sind beide zu ständigen Werturteilen gezwungen und können sich nicht auf die Zusammenstellung positivistischen Einzelwissens beschränken. Sie können desgleichen ihrer Arbeit kein generelle Gültigkeit forderndes System von Wertannahmen zugrunde legen. Sie sind jeweils an bestimmte, von wechselnden Werten geprägte Perspektiven gebunden, wobei diese Werte in der gegebenen Gesellschaftsordnung als relativ verbindlich gelten können, aber nicht gelten müssen. Für beide Wissenschaften besitzt die Aspekthaftigkeit alles Erkennens fundamentale Bedeutung. Sie ist nicht nur im Sinne der Auswahl der untersuchungswürdigen Gegenstände im vorwissenschaftlichen Raum unumgänglich, sondern sie ist die Grundbedingung eines die Komplexität und Pluralität der historisch-politischen Vorgänge sinnvoll strukturierenden Erkennens, das nicht im empirisch-deskriptiven Bereich stehen bleiben kann, in dem es als aufgehäuftes und beziehungsloses Einzelwissen zu einer Aussage bezüglich seiner Relevanz unfähig bleibt. Denn eine wertgebundene Perspektivik ist die Voraussetzung relevanter, d. h. für uns als Lebende, für unsere konkrete Daseinsorientierung wesentlicher Aussagen.

Ein derartiger „parteiergreifender Relativismus“ (Arnold Brecht) gewinnt aus der Standortbezogenheit erst die Möglichkeit, die Konsequenzen alternativer Wertannahmen darzustellen und damit auf die relative Richtigkeit der eigenen Resultate zu reflektieren. Er muß aber bewußt verstanden werden als Teil des möglichen Fragens, kann sich also nicht identifizieren mit der Gesamtheit der im Rahmen politischer oder historischer Forschung gelegenen Betrachtungsweisen. Wie die Geschichtswissenschaft, vermag die Politische Wissenschaft den Anspruch relativer Objektivität ihrer Erkenntnisse nur dadurch zu erfüllen, daß sie bereit ist, ihre jeweiligen Urteilskategorien ständig am konkreten Forschungsgegenstand auf ihre Richtigkeit und Vertretbarkeit zu prüfen und zu modifizieren, d. h. sie einem fortwährenden Prozeß der Verifizierung zu unterwerfen. Anderenfalls läuft sie Gefahr, den bestehenden politisch-sozialen Ordnungssystemen dienstbar zu werden. Insofern kann die Begriffsbildung der Politischen Wissenschaft auf die historische Methode als einer Form induktiven Aufsteigens, das von einer heuristisch verstandenen Identität von Subjekt und Objekt ausgeht, nicht entbehren.

Beide Wissenschaften empfangen ihre Forschungsimpulse aus der gegenwartspolitischen Aktualität. Beide gehen arbeitshypothetisch von der Annahme historischer und politischer Gesetzmäßigkeiten aus, ohne darum Gesetzeswissenschaften zu sein, denn es geht ihnen nicht primär um die Bestimmung der allgemeinen Verlaufsformen politischer Konflikte, sondern um die jeweils konkreten Konstellationen und die darin vollzogenen politischen Alternativen. Sie können daher nicht zu einem systematischen Gebäude von Theorien und Arbeitshypothesen dem sich mit dem Wandel der politisch-sozialen Gesamtsituation und sind an wechselnde Wert-annahmen gebunden. Die Politische Wissenschaft befindet sich dergestalt der Politik gegenüber in einer prinzipiell gleichartigen Lage wie die Geschichtswissenschaft gegenüber der Geschichte. Beide haben es mit einem Stoff zu tun, dem eine innere Systematik nicht zugrunde liegt und der übergreifend die verschiedensten Wissensgebiete umfaßt. Beide sind, um einen Begriff Ernst Fraenkels aufzunehmen, „Integrationswissenschaften", die einerseits den in der Unübersehbarkeit überlieferter Details verschwindenden Prozeß der Herausbildung unserer Gegenwart, andererseits den nicht minder komplexen politischen Strukturwandel der Gegenwart durch wertende Analyse sichtbar machen. Im Blickpunkt einer solchen Verhältnis-setzung stehen Politische Wissenschaft und Ge-Schichtswissenschaft gleichsam Rücken an Rükken, jeweils der Totalität des historisch-politischen Geschehens geöffnet.

Der zwischen beiden Disziplinen liegende Grenzsaum ist von Arnold Bergstraesser damit beschrieben worden, daß die Rechtfertigung der Politischen Wissenschaft in ihrer Konzentration auf den res gerendae bestünde, während die Historie mit den res gestae zu tun habe. Man kann hinzufügen, daß beide Wissenschaften um die Aufhellung des Gegenwartsbewußtseins bemüht sind — die eine mit universalem Blickpunkt und bezogen auf den allgemeinen geistigen und materiellen Grund einer Kultur, die andere mit dem Ziel, die Kritik des politischen Handelns und der ihm zugrunde liegenden Motive mit dem Ausweis möglicher Reformen und deren technischer Durchführbarkeit zu verbinden.

Politische Forschung ist auf kurzfristige Konstellationsanalyse gerichtet

Vor den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten beider Wissenschaften hinsichtlich des Werturteils-problems, der Aspekthaftigkeit alles Erkennens und der Orientierung auf das politische Entscheidungshandeln treten ihre Unterschiede deutlich heraus. Während die Aussagen der Historie zur Darstellung relativ langfristiger und universaler Entwicklungen tendieren, ist die politische Forschung auf kurzfristige Konstellationsanalyse gerichtet. Sie untersucht, was im konkreten Falle politisch zu tun richtig und möglich ist. Um zu begründeten Urteilen zu kommen, kann sie bestimmte Wirkungsfaktoren nicht isolieren, sondern muß eine möglichst große Zahl beeinflussender Faktoren bestimmen. Ihre horizontal angelegte Analyse setzt eine breite empirische Forschung voraus, auch wenn man den Erkenntniswert der quantifizierten Methoden der empirischen Sozialforschung verschieden beurteilt. Ohne Frage sind die Verfahren des sampling, des Interviews und der Meinungsforschung bei richtiger Anwendung geeignet, kurzfristige Aussagen über das politische Verhalten zu ermöglichen. Sie bedürfen freilich einer Korrektur durch die Ergebnisse langfristig eingestellter historischer Analysen. Die Politische Wissenschaft hat es zugleich in hohem Maße mit der Feststellung und Beschreibung der politischen Techniken ihrer institutionellen, juristischen, ökonomischen Voraussetzungen zu tun, und sie nähert sich hierin den Sozialwissenschaften.

Ihre Fragestellungen sind zugleich an der zeitgeschichtlichen Analyse orientiert, wie die sich immer mehr durchsetzende Methode der Fallstudien (case studies) zeigt, die mittels induktiver historischer Analyse exemplarische Zusammenhänge beschreiben und sich von der historischen Einzelforschung nur durch die Tendenz zu punktueller Generalisierung unterscheiden.

Der Schwerpunkt politischer Forschung liegt gleichwohl nur bedingt auf der querschnitthaften Strukturanalyse der politischen Tendenzen der Gegenwart. Sie strebt notwendig zur Prognose. Um Burckhardts berühmtes Wort abzuwandeln, kommt es ihr nicht sowohl darauf an, weise für immer, als vielmehr klug für ein andermal zu sein, d. h. Voraussagen über die Realisierungschancen konstatierbarer politischer Tendenzen zu machen und die Mittel und Methoden für ihre Durchsetzung anzugeben. Durch das Bemühen um kritische Prognose, die nur kurzfristig sein kann und vor allem auf technische Beratung hinausläuft, unterscheidet sich die Politische Wissenschaft auf das strengste von der Historie. Sie ist zwar gerade deshalb darauf gerichtet, das Prozeßartige aller gesellschaftlichen Phänomene zum Gegenstand ihrer Analyse zu erheben. Aber die historische Erfahrung tritt dabei, wie Bergstraesser glücklich formuliert hat, in einen anderen „Aggregatzustand“. Während die ideographische Methode der Historie bestrebt ist, in der ex post als zwangsläufig und determiniert erscheinenden Geschehnisabfolge das Element individueller Entscheidung und Verantwortung aufzusuchen, geht es hier darum, die individuellen Besonderheiten zu eliminieren und die generell wirksamen Tendenzen herauszuarbeiten.

Wohin gehört die Zeitgeschichte?

Es erhellt daraus, daß für die Politische Wissenschaft generalisierende und typologisierende Verfahrensweisen eine weit höhere Bedeutung haben als in der Historie. Dazu kommt die Verwendung geschichts-soziologischer Modelle und die Bemühung, durch den Rüdegriff auf die ältere politische Theorie zu ordnungspolitischen Modellen heuristischen Charakters zu gelangen. Die stärker theoretische Ausrichtung der Politischen Wissenschaft, ihre komparative Methode und ihre von den konkreten historischen Besonderheiten abstrahierende Begrifflichkeit unterscheidet sich freilich nicht durchweg von der Geschichtswissenschaft. Gerade auf zeitgeschichtlichem Gebiet ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte, da die zeitgeschichtliche Forschung ohne die Zuhilfenahme typologisierender und generalisierender Methoden die Fülle der sie angehenden Probleme nicht adäquat verarbeiten kann. Die thematische und methodische Überschneidung von innerer und internationaler Politik mit der zeitgeschichtlichen Forschung legt es nahe, Zeitgeschichte im Rahmen der Politischen Wissenschaft zu betreiben. Gerade an diesem Beispiel läßt sich freilich zeigen, wie wenig sinnvoll ein solches Verfahren ist. Die Heraus-lösung der Zeitgeschichte aus dem Gesamtzusammenhang geschichtlicher Forschung würde sie im wesentlichen auf propädeutische Funktionen beschränken und die Folge wäre vermutlich ein Verlust an historischer Substanz und eine Tendenz zu wenig produktiver Aktualisierung.

Sie war in den letzten Jahren häufig namentlich in mehr populärer Literatur zu beobachten, und das abflauende Interesse an zeitgeschichtlichen Themen ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, daß ihre Behandlung das historische Interesse nicht wirklich anzusprechen vermochte.

Zeitgeschichte ist ein unentbehrlicher Zweig der allgemeinen Geschichtsforschung

So instruktiv eine Forschungsrichtung ist, die bestrebt ist, ein Modell der modernen Diktatur am Beispiel des Nationalsozialismus zu entwikkeln, so wenig kann dies Hauptaufgabe zeitgeschichtlicher Forschung sein, zumal man bei einer solchen Betrachtungsweise die Phänomene vernachlässigen würde, die im Falle des Nationalsozialismus gegen eine totalitäre Zementierung des staatlichen Machtapparats sprechen und vielmehr auf einen Zerfall der Staatlichkeit überhaupt hindeuten. Die zeitgeschichtliche Forschung kann durchaus zum Exempel genommen werden, um den Unterschied zwischen historisch und politisch-theoretischer Analyse klarzmachen. Ihr Nachdruck liegt nicht auf der Isolierung ihres Gegenstandes zum Zwecke prototypischer Deutung. Sie bemüht sich vielmehr, zeitgeschichtliche Stoffe innerhalb des geistigen Gesamtzusammenhanges zu interpretieren, in dem sich die Vergangenheit dem Historiker darstellt. Die Zeitgeschichte ist daher ein legitimer und zugleich ein unentbehrlicher Zweig der allgemeinen Geschichtsforschung. Denn eine Geschichts-B gen Geschichte von sich abstreift, steht in der Gefahr, nicht nur antiquarischen Tendenzen zu verfallen, sondern auch von subjektiv unklar gefühlten werterfüllten Fragestellungen an die Vergangenheit heranzugehen, ohne sich um das Problem zu kümmern, ob sie im Lichte der zeitgeschichtlichen Erfahrung modifiziert werden müssen. Eine Geschichtsschreibung, die nicht von einer historischen Konzeption ausgeht, nach der die Geschichte Herausbildung unserer Gegenwart ist, wird sich ohne Frage im modernen Spezialismus und in der Stoffülle verlieren, wird keine integrierenden Gesichtspunkte haben und daher der Gefahr historischer Konstruktivismen erliegen. Auch die Zeitgeschichte hat als zentrales Problem die Frage von Kontinuität und Diskontinuität, und sie bewahrt sie vor einem Strukturfatalismus, welcher sich bei einer von vornherein auf theoretisch ergiebige Resultate abgestellten Analyse einzustellen pflegt. Sie fragt nicht nach der Zwangsläufigkeit des historischen Prozesses, sondern konzentriert sich darauf, die vollzogenen und verpaßten Entscheidungen herauszuheben. Das gibt ihr die Spannweite, um über eine apologetische oder einseitig moralisierende Sicht hinaus zu einer historischen Bewältigung der ihr speziell aufgegebenen Problematik zu gelangen, die sich in tagespolitischen Analogien nicht erschöpft. Gerade indem die Zeitgeschichte ihre Bindung an die historische Methode ernst nimmt, vermag sie zugleich produktiv die Politik ’ Wissenschaft in ihren Ergebnissen und Fragestellungen zu befruchten.

Die Geschichtswissenschaft ist im Unterschied zu einer politisch-theoretischen Auswertung zeitgeschichtlicher Daten primär auf die individuellen Vorläufe bezogen. Sie besitzen gerade dadurch, daß sie sich abheben von der Gesamtheit bloßer Tendenzen, exemplarische Bedeutung.

Die Überlieferung wird von der Geschichte gleichsam unter dem Gesichtspunkt der Freiheit betrachtet, sie wird auf diejenigen Konflikts-und Spannungssituationen hin untersucht, die in das bewußte Handeln menschlicher Akteure einmünden. Die Geschichtswissenschaft bedient sich zwar der von den Sozialwissenschaften entwickelten quantitativen Verfahren, hält aber grundsätzlich am Entwicklungsbegriff fest, der ihre Besonderheit ausmacht und der der Synthese von Individuellem und Allgemeinem zugrunde liegt. Sie ständig neu zu vollziehen, ist ihre eigentliche Aufgabe, denn sonst würde freilich der Entwicklungsbegriff unversehens mit einem Struktur-oder einem teleologischen Fatalismus vertauscht. Die Historie ist insofern Spiegelung der gesamten materiellen und geistigen Lebensäußerung einer Kultur, auch wenn die Welt der politischen Gestaltungen in dem Mittelpunkt ihrer Betrachtung steht.

Perspektiven der Geschichtswissenschaft und Politischen Wissenschaft ergänzen sich

Die Politische Wissenschaft tendiert demgegenüber zu einer isolierenden Betrachtung der politischen Prozesse. Ihrer nahsichtigen Optik entgehen leicht die allgemeineren Antriebe politischen Handelns, die erst historische Perspektive erschließen kann. Daher erweist sich die historische Erfahrung für sie als ein unentbehrliches Korrektiv, wie umgekehrt die Historie sich von der Tendenz zur antiquarischen Erstarrung nur freihalten kann, wenn sie die Anregungen der Politischen Wissenschaft aufnimmt. Daraus erhellt die Bedeutung, die der historischen Sehweise im Rahmen der politisch-zeitgeschichtlichen Bildung zukommt. Man wird daher darauf achten müssen, daß das Fach der Gemeinschaftskunde nicht so organisiert wird, daß die Elemente geschichtlicher und individueller Erfahrung darin verlorengehen. Wir können auf ge-schichtliches Denken in diesem Sinne nicht verzichten, denn nur dadurch kann der in den politischen Fachwissenschaften fast automatisch vorhandenen Tendenz entgegengewirkt werden, den Bereich verantwortlicher menschlicher Entscheidung gegenüber der Schilderung und der Analyse des politischen Betriebs aus den Augen zu verlieren. Ebenso wie die Historie Gefahr läuft, durch deskreptive Erklärung des Gewordenen das Phänomen der Freiheit in der Geschichte zu verdunkeln und Geschichte als „Erlebnis“ durch „Geschichte als Wissenschaft“ zu ersetzen, ist die Politische Wissenschaft ständig in der Gefahr, die Politik zu „entpolitisieren“, d. h. sie ah Feld von Sach-und Funktionszusammenhängen und Interessenkonflikten zu beschreiben und die spontanen und individuellen Züge im Prozeß der politischen Willensbildung und im politischen Verhalten zu verdecken.

Fragwürdige Pragmatisierung der Politischen Wissenschaft

Das ist um so stärker der Fall, je mehr sich die Politische Wissenschaft als pragmatische Disziplin begreift. Sie wird sich bewußt sein müssen, daß sie, indem sie bestrebt ist, politische Fachleute, also Techniker des politischen Geschäfts, auszubilden, auch einer Sterilisierung des politischen Betriebs Vorschub leistet. Die Tendenz, politische Fachleute mit politischen Entscheidungen zu betrauen, ist keine Garantie dafür, daß diese nicht zugunsten der Ressorts ausfallen. Indem die Politische Wissenschaft durch ihre Erkenntnisse die Möglichkeiten, politische Willensbildung zu manipulieren, in umfangreichem Maße vermehrt und indem sie in der Form technischer Beratung die bestehenden Machtgruppierungen konserviert, schränkt sie auch den Spielraum, innerhalb dessen politische Entscheidungen möglich sind, ein und befördert sie unfreiwillig eine fragwürdige »Versachlichung" der Politik. Die von der Schule Arnold Bergstraessers vertretene Auffassung, daß die Politische Wissenschaft von einem normativen Verständnis des Wesens der Politik her dem Gemeinwesen aktiv zu dienen habe, muß daher starkem Zweifel begegnen. Die Politik als Wissenschaft wird den Nachdruck ihrer Forschung weniger auf die pragmatische Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse, selbst innerhalb eines auf die Garantierung eines „guten tugendhaften Lebens" gerichteten Staatswesens, als vielmehr auf die allgemeine Erörterung der Funktion und Struktur der politisch-sozialen Gebilde legen, die unser modernes Leben bestimmen. In diesem Sinne kann man beide Wissenschaften als Wissenschaften von der Freiheit bezeichnen, denn die Freiheit besteht nicht zuletzt darin, daß auf der einen Seite dem Menschen die eigene Vergangenheit nicht als blindes Fatum entgegentritt und daß er sie als Element menschlicher Entscheidung in sein Daseinsverständnis einbezieht, und sie besteht wohl andererseits darin, daß der Mensch den Mechanismen sozialtechnischer und politischer Zwänge nicht passiv unterworfen ist, sondern ihre bewußte Beherrschung und Gestaltung anstrebt. Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft haben daher grundsätzlich gesehen gemeinsame Aufgaben, die sie in arbeitsteiliger Differenzierung lösen müssen. Sie werden diesen Aufgaben nicht gerecht, wenn sie sich voneinander abkapseln und sich gegen wechselseitige Befruchtung verschließen. Das setzt aber die Bewahrung und Hervorhebung der methodischen Eigenständigkeit beider Fächer voraus.

Geschichte darf nicht der politischen Aktualität geopfert werden

Die Frage, welche konkreten Konsequenzen aus dieser mehr methodischen Erörterung der beiden Fächer Geschichte und Politik abzuleiten sind, ist nicht eindeutig zu beantworten. Eines wird man festhalten müssen, daß Geschichte nicht dem politischen Orientierungswissen geopfert werden darf, daß es vielmehr darauf ankommt, Geschichte als Geschichte zu erhalten. Das sollte auch in dem jetzt angestrebten Fadi der Gemeinschaftskunde möglich sein. Weiter wird man sagen müssen, daß die Auswahl der bevorzugt zu behandelnden Gegenstände nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt des historischen Denkens vollzogen werden muß, daß also exemplarische Modelle geschichtlicher Betrachtung von einer universalen historischen Konzeption; nicht von der politischen Aktualität her ausgewählt werden sollten. Das bedeutet nicht, daß dabei nicht politische Interessen und politische Gesichtspunkte im allgemeineren Sinn einfließen können; die kurzfristige politische Gegenwartsproblematik darf aber dafür nicht allein bestimmend sein. Schließlich ist die Überwindung jener Residuen, die das deutsche politische Denken unheilvoll beeinflußt haben, nur durch die Geschichtswissenschaft und durch den Geschichtsunterricht möglich, nicht aber durch die politische Theorie.

Spannung zwischen Politik und Wissenschaft kann im Fach Gemeinschaftskunde zum fruchtbaren Unterrichtsprinzip werden

In dem geplanten Fach könnte möglicherweise gerade die Spannung zwischen Politik und Geschichte zum fruchtbaren Unterrichtsprinzip werden. Die verschiedenartigen Betrachtungsweisen in beiden Fächern, die langfristig universalere der Historie, die punktuell-funktionsanalytische der Politikwissenschaft, sind auch dem jungen Menschen einsichtig zu machen, wenn man es nur pädagogisch richtig anfängt, wie es überhaupt zwischen den Tendenzen und Zielsetzungen der Forschung und den konkreten Bildungsaufgaben des Geschichtsunterrichts eine Parallelität bestehen kann und bestehen soll. Beide Betrachtungsweisen finden ihren gemeinsamen Nenner in der Herausarbeitung des politischen Entscheidungshandelns und damit in der Hervorhebung des Elements der Verantwortung in Vergangenheit und Gegenwart. Die sozialwissenschaftlichen Bildungsstoffe sind demgegenüber sekundär und sie sind einzubeziehen in dem Maße, wie sie zum Verständnis eben des politischen Entscheidungshandelns notwendig sind. Das ist in der Geschichtswissenschaft nicht anders, die, wie schon erwähnt, in der sozial-geschichtlichen Forschung die soziologischen Arbeitsweisen übernimmt, ohne sie in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Gerade die Spannung zwischen der von der Politikwissenschaft angestrebten Prognose und der von der Geschichtswissenschaft immer wieder deutlich gemachten Offenheit geschichtlicher Situationen würde zum zentralen Gesichtspunkt des Fachs Gemeinschaftskunde werden. Wie diese Dinge pädagogisch umgesetzt werden können, ist im Rahmen dieser mehr methodologischen Erörterung nicht zu beantworten. Sicher ist, daß diese pädagogischen Überlegungen von den grundsätzlichen methodischen Fragen nicht abgelöst werden können. Ob es beispielsweise besser ist, bei einem jeweiligen Problemkreis von der aktuellen politischen Strukturanalyse auszugehen, um dann eine historische Vertiefung und Verbreiterung anzustreben, oder ob man die geschichtliche Darstellung typisch wichtiger Vorgänge bis zu dem Punkte führt, wo die Gegenwartserfahrung andere Methoden und andere Gesichtspunkte der Wirklichkeitserfassung erfordert, wäre durch praktische Unterrichtsmodelle zu prüfen. Gewiß wird man sich hier nicht in ein System fesseln dürfen und wird man sich darüber klar sein, daß die thematische Gestaltung und Anordnung des Unterrichts eine weitgehende Freiheit erfahren kann, sofern über die grundsätzliche Verschiedenheit der historischen und der politisch-theoretischen Sehweisen Einigkeit besteht.

In dem von der Saarbrückener Rahmenvereinbarung angestrebten übergreifenden Fach „Gemeinschaftskunde" liegt ohne Frage eine ernsthafte Chance, die historisch verursachte und erst allmählich in Auflösung begriffene Entfremdung zwischen politischer und historischer Forschung auch von der Realität des praktischen Bildungswesens her zu überwinden und der Abkapselung von historischen, politik-und sozialwissenschaftlichen Spezialdisziplinen entgegenzuwirken. Damit ist eine Aufgabe in die Hände der Geschichts-und Gemeinschaftskundelehrer gelegt, die über den engeren Bereich des Unterrichts an den höheren Schulen hinaus allgemeine Bedeutung für eine Erneuerung und Ernüchterung des deutschen historisch-politischen Denkens hat. Das angestrebte Fach wird dem Schüler die persönliche Auseinandersetzung im politischen Richtungsstreit nicht abnehmen und ihm nicht zu einem fixierten politisch-historischen Weltbild verhelfen können, wohl aber geschichtlichen Sinn und politische Einsicht aus der Haltung eines „parteiergreifenden" Relativismus verknüpfen, der sich offen hält für das unablässige Fragen nach der Rangordnung der historisch-politischen Wertvorstellungen, die dem politischen Entscheidungshandeln zugrunde liegen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Anmerkung: Hans Mommsen, Dr. phil., 1930 in Marburg geboren, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, München.