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Praxis der Partnerschaft | APuZ 12/1963 | bpb.de

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APuZ 12/1963 Praxis der Partnerschaft Spannungen im Bündnis Die amerikanische Atompolitik und Frankreichs Forderungen Atlantica Eine Zwangsehe Europa und Amerika in der atlantischen Partnerschaft

Praxis der Partnerschaft

Dean Acheson

Hauptaufgabe des westlichen Bündnisses blieb ungelöst Während der Krise, die durch die Entdeckung russischer strategischer Kernwaffen und Trägersysteme auf Kuba ausgelöst wurde, ist vielen Amerikanern erst klar geworden, welch erheblichen Zuwachs an Stärke die Mitgliedschaft in unseren Bündnissen in der westlichen Hemisphäre und Europa bedeutet. Darüber hinaus wurde erkannt, wie außerordentlich wichtig es ist, bei der Abwehr einer feindlichen Bedrohung die Wahl zwischen mehreren, nichtatomaren Mitteln zu haben. Im scharfen Licht der Erfahrung lassen diese Erkenntnisse das Hauptproblem unseres europäischen Bündnisses deutlich hervortreten.

Dean Acheson Praxis der Partnerschaft . . Henry A. Kissinger Spannungen im Bündnis . . Malcolm W. Hoag Die amerikanische Atompolitik und Frankreichs Forderungen Christian A. Herter Atlantica................................ Lionel Gelber Eine Zwangsehe...................... Seite 3 Seite 13 Seite 30 Seite 40 Seite 47

In den Jahren nach dem Kriege haben die Vereinigten Staaten Westeuropa in kluger Weise zur wirtschaftlichen Wiedergesundung verhülfen. Die gleiche Klugheit veranlaßte sie, auf den Zusammenschluß von Westeuropa und Nordamerika hinzuwirken, um die Verteidigung dieses Zentrums und Kraftwerks freier Gesellschaftssysteme sicherzustellen. Seitdem haben weitblickende politische Führer in Europa eine wirtschaftliche Intregration zusammengebracht und damit einer noch umfassenderen Entwicklung und der politischen Einheit den Weg bereitet. Gleichzeitig jedoch wird das Atlantische Bündnis von neuen Problemen bedrängt und von neuen Spaltungen bedroht. Zum Teil erwuchsen sie aus der Lösung kolonialer Bindungen, die vielen unserer Verbündeten größte Schwierigkeiten bereitet hat und — bei der Suez-Affäre — sowohl bei den Vereinigten Staaten als auch bei ihren Verbündeten zu einem Verhalten führte, das der gemeinsamen Sache schwer geschadet hat. Bisweilen kamen die Spannungen aber auch aus den inneren Begrenzungen unserer eigenen Macht, wie im Falle unserer Zahlungsbilanzschwierigkeiten.

Jedoch besteht eine wesentliche, wenn nicht gar die größte Schwierigkeit des Bündnisses heute darin, daß seine Hauptaufgabe — die Verteidigung Europas und Amerikas — nicht bis zu einer für alle Mitglieder annehmbaren Lösung durchdacht worden ist. Lassen Sie mich hier sogleich ein verwirrendes Mißverständnis wenn möglich ausschließen. Ich glaube nicht, daß die militärische Sicherheit, oder ein erreichbares Maß davon, die Probleme der freien Welt wirklich löst. Im Gegenteil, ich glaube, eine gesunde alliierte militärische Verteidigung muß auf der Überzeugung der beteiligten Völker beruhen, daß es unerläßlich ist, die grundlegenden Werte und Hoffnungen zu schützen, denen sich die Völker am tiefsten verpflichtet fühlen. Eine glaubwürdige, reale Basis für diese Werte und Hoffnungen zu schaffen, erfordert eine Innen-und Außenpolitik von höchster Differenziertheit; dies wiederum setzt in allen alliierten Ländern eine Staatskunst von so gleichbleibend hohem Niveau voraus, daß man sie nur annährend zu erreichen hoffen kann. Schließlich wäre eine Strategie und ein Rüstungsaufbau, die durch ihre Belastungen und Methoden das zerstören, was sie schützen sollen, schlimmer als sinnlos.

Kurzum, eine erfolgreiche Militärpolitik ist dann und nur dann möglich, wenn man in ihr einen von mindestens drei Strängen sieht, aus denen das Geflecht der Politik der alliierten Staaten besteht. Die anderen beiden sind die allgemeine Staatspolitik und die Wirtschaftspolitik. Jeder von uns mag noch an weitere solche Stränge denken. Es zeigt sich also deutlich, daß eine erschöpfende Erörterung der Bündnispolitik wie das Spiel eines Orchesters sein müßte, in dem eine große Zahl von In-3 strumenten, von der Kesselpauke bis zur Piccoloflöte, ihren Teil zu dem symphonischen Zusammenklang beitragen. Leider kann aber ein Einzelner nur ein Instrument auf einmal spielen, ein Thema auf einmal erörtern. Hier spreche ich nur von der Notwendigkeit einer strategischen Gesamtkonzeption für das Bündnis, allerdings in dem vollen Bewußtsein, daß eine solche Konzeption nicht allein für sich bestehen kann, -ich bin mir aber auch darüber klar, daß die allgemeine Politik und die Wirtschaftspolitik innerhalb des Bündnisses und gegenüber anderen Staaten eine wahrhaft verhängnisvolle Entwicklung nehmen können, wenn das Bündnis nicht in der Lage ist. militärische Streitkräfte möglichst rasch aufzustellen und eine wirksame Strategie für sie zu entwickeln, um das höchstmögliche Maß an Sicherheit zu garantieren.

Wandlungen der N A T O -S t r a t e g i e Beginnen wir mit dem Blick auf die Geschichte der NATO-Strategie. Ihre ersten strategischen Gedanken waren einfach und kurzlebig. Die im Nordatlantikvertrag übernommene politische Verpflichtung — „einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen (der Mitgliedstaaten) in Europa oder Nordamerika als einen Angriff gegen alle" anzusehen — zusammen mit der Tatsache, daß die Vereinigten Staaten im Besitz von Kernwaffen waren, sollten die notwendige Abschreckung gegen einen sowjetischen Griff auf Westeuropa bilden. Nach der Auslegung des State Department soll der Vertrag, der ein gemeinsames Vorgehen der Mitglieder eindeutig vorsieht, „der Gefahr vorbeugen, daß ein potentieller Angreifer glaubt, er könne die Mitgliedstaaten einzeln überwinden".

Nähere Überlegungen führten alsbald zu Zweifeln an dieser beruhigenden Schlußfolgerung. Man wies darauf hin, daß sowjetische Streitkräfte in Osteuropa nach Westen vorrücken könnten, ohne daß mehr als ein „symbolischer" Widerstand in Europa geleistet würde. Unsere Kernwaffen würden dort schlimmer als nutzlos sein, und ihr Einsatz gegen Rußland nach dem Beginn eines Angriffs könne vielleicht zu spät kommen. Unsere europäischen Verbündeten würden wenig begeistert von der Aussicht sein, noch einmal besetzt und wieder befreit zu werden — falls eine „Befreiung" überhaupt noch irgendeinen Sinn hätte. Diese Überlegungen führten im Jahre 1950 zur Einrichtung des Alliierten Oberkommandos Europa unter General Eisenhower und zu der strategischen Konzeption eines Schildes aus konventionellen Streitkräften, der an Ort und Stelle halten und schützen solle, bis das von den Vereinigten Staaten geführte Atomschwert den Angreifer niederstrecke.

Unglücklicherweise ist dieser „konventionelle Schild" zwar keineswegs unbedeutend, aber dennoch weit davon entfernt, auch nur diese vorübergehende begrenzte Aufgabe zu erfüllen. Zunächst konnten die Schildstreitkräfte überhaupt nicht aufgestellt werden, solange Deutschland nicht daran beteiligt war;

über diese Beteiligung kam vier Jahre lang nicht einmal eine Vereinbarung zustande. Als die Bundesrepublik schließlich beitrat, war die militärische Kraft Frankreichs von Algerien aufgesogen worden, während die bescheidenen Mittel Großbritanniens zwischen dem Versuch, eine Atommacht zu werden und die Bedürfnisse der Garnisonen von Aden bis Singapore zu erfüllen, zersplittert waren; dabei blieb für die Rheinarmee wenig übrig. Die Regierung Eisenhower hatte inzwischen den Grundsatz der nuklearen Vergeltung in ihr Verteidigungsprogramm ausgenommen. Das Ergebnis ist, daß zwar das konventionelle Grundgefüge vorhanden ist, auf dem sich weiterbauen läßt, daß diese Streitkräfte aber den begrenzten Umfang des Schildes noch nicht erreicht haben und völlig unzulänglich sind. Merkwürdigerweise fiel die Entscheidung für die Kernwaffenvergeltung fast genau mit der ersten russischen Atom-Explosion des Jahres 1953 zusammen. 1954 begann die NATO ihre strategische Konzeption auf die nukleare Vergeltung umzustellen, eine Konzeption, der sie sich seit 1956 und 1957 immer fester verschrieb als Folge amerikanischer Bemühungen, der europäischen Vertrauenskrise zu begegnen, die durch die Suez-Affäre und die bald darauf folgenden russischen Sputniks ausgelöst worden war. 1959 schlug General Norstad vor, die NATO solle die vierte Atom-macht werden und mit in Europa stationierten Raketen von mittlerer Reichweite ausgerüstet werden. Dieser Gedanke wurde im folgenden Jahr von Außenminister Herter unterstützt und dahin ergänzt, daß die Raketenträger Polaris-Unterseeboote sein sollten, die einer noch näher zu bestimmenden „multinationalen Kontrolle", wie man es damals bezeichnete, unterliegen sollten.

Als es Jahre dauerte, ohne daß die Schild-streitkräfte eine ausreichende Stärke erreichten, hatten unsere Verbündeten allmählich nicht mehr das Gefühl, wirksam verteidigt zu werden. Der Gedankengang, mit dem die alliierte Verteidigung gerechtfertigt wurde, das „strategische Konzept", erschien, je größer die sowjetische Kernwaffenmacht wurde, in immer seltsamerem Licht. Die bildersprachlichen Wendungen häuften sich. Der „Schild" schmolz zu einem „Stolperdraht“ zusammen, über den der Angreifer fallen würde und wodurch er dann den nuklearen Vergeltungsschlag auslösen sollte. Aber die Sowjets hatten jetzt ein Gegenmittel; und da die Raketen von mittlerer Reichweite — 1 600 bis 2 400 Kilometer — in den späten fünfziger und frühen sechsicher Jahren zahlreicher und treffsicherer waren als die interkontinentalen Raketentypen, schien Europa den Europäern gefährdeter als die weiter entfernten Vereinigten Staaten.

So galt der Stolperdraht nun als unzureichend. Er wurde also durch Kernwaffen ergänzt in Gestalt von Waffen, die von Jagdflugzeugen abgefeuert und taktischen Waffen, die auf dem Gefechtsfeld von der Artillerie und von verschiedenen Raketen mit verhältnismäßig geringer Reichweite verschossen werden können. Das Ziel war, Europa während des allgemeinen Krieges, der durch eine Überschreitung des Stolperdrahts ausgelöst werden würde, gegen die einfallenden Russen zu verteidigen. Eine Zeitlang bestand die Hoffnung — die damals vielleicht den Tatsachen entsprach, sich aber inzwischen als trügerisch erwiesen hat —, daß die Russen mit ähnlichen taktischen Atomwaffen nicht hinreichend ausgerüstet seien. Die nächste Entscheidung fiel im Jahre 1957. Um eine Antwort auf den Sputnik zu geben und die Zeit bis zur Entwicklung unserer interkontinentalen Raketen zu überbrücken, wurde beschlossen, verwundbare Raketen mit langsamerer Schußfolge von etwas größerer Reichweite sowie Atomsprengkörper nach Europa zu schicken. Alle Sprengköpfe blieben —• zumindest theoretisch und rechtlich — im Gewahrsam des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Im November 1960 erklärte General Norstad vor Parlamentariern aus den NATO-Ländern, daß die Verstärkung der Feuerkraft einer kleinen NATO-Streitmacht einen etwaigen Angreifer veranlassen werde, innezuhalten und die volle Konsequenz seiner unbesonnenen Absichten noch einmal zu überprüfen.

Diese neue Wendung schien darauf hinzuweisen, daß die Ausrüstung der europäischen NATO-Streitkräfte mit taktischen Atomwaffen von mittlerer Reichweite den Streitkräften eine neue Bedeutung verlieh und ihnen eine — zumindest für Soldaten — ansprechendere Rolle zuwies. Damit horten sie auf, ein nicht allzu gefährlicher Stolperdraht zu sein und übernahmen eine gewisse Abschreckungsfunktion. Bei näherem Hinsehen zeigten sich jedoch Mängel. Für General de Gaulle lag der Mangel darin, daß nicht Europa, sondern Washington die Verfügungsgewalt über das Abschrekkungsmittel, sofern es überhaupt eines war, innehatte. Für andere bestand der Mangel darin, daß es keine sichtbare Alternative zu geben schien zwischen Nachgeben gegenüber den russischen Drohungen und Auslösung eines nuklearen Schlagwechsels, unter dem Europa mit Sicherheit schwer zu leiden haben würde. Der eben damals vorgebrachte Hinweis, die beiden Atomriesen könnten auf den Versuch, sich gegenseitig zu zerstören, verzichten und sich auf einen Krieg mit taktischen Kernwaffen in Europa beschränken, war auch kein großer Trost.

Die Regierung Kennedy hat bisher einer von Schiffen eingesetzten Atomstreitmacht mit multinationaler Bemannung und unter multinationaler Kontrolle im Prinzip zugestimmt;

sie hat erklärt, daß einige Polaris-Unterseeboote (denen weitere folgen sollen) einsatzbereit seien und im Falle eines Angriffs zur Verteidigung des Gebietes der NATO-Länder bestimmt seien; sie hat die Initiative ergriffen, bei der Ausarbeitung von Grundsätzen, die im voraus festlegen sollen, wann Kernwaffen zur Verteidigung Europas eingesetzt werden sollten und auch eingesetzt werden würden; schließlich hat sie unsere Verbündeten gedrängt, die konventionellen Streitkräfte der NATO zu verstärken. General de Gaulle zeigt sich weiterhin hartnäckig entschlossen, eine französische Atomstreitmacht aufzubauen.

Ein großer Teil der französischen Armee und die gesamte französische Marine ist, im wesentlichen wegen des algerischen Aufstandes, der NATO-Befehlsgewalt entzogen worden.

Die britische Regierung ist das enttäuschende Unternehmen der Schaffung einer eigenen Atommacht leidgeworden, kann sich aber nicht zu einer Entscheidung durchringen, ob sie sich weiter darum bemühen oder es ganz aufgeben soll; die deutsche Regierung hingegen gibt deutlich zu verstehen, daß, wie auch immer über Kernwaffen und ihre Kontrolle entschieden werden möge, die Bundesrepublik nicht gewillt ist, beseitezustehen oder eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Kurzum, als Präsident Kennedy am 30. Januar 1961 in seiner ersten Jahresbotschaft an den Kongreß sagte, das NATO-Bündnis sei „noch ein unvollkommener Zustand und in einige; Unordnung geraten ..., durch wirtschaftliche Rivalität geschwächt und durch nationale Interessen zum Teil unterhöhlt" und die Verbündeten hätten bisher „weder ihre Hilfsquellen voll mobilisiert noch einen gemeinsamen Standpunkt erreicht", so gab er damit einem Gefühl des Unbehagens Ausdruck, das weder aus damaliger noch aus heutiger Sicht übertrieben erscheint. An die Beendigung dieses unglücklichen und gefährlichen Zustands kann man erst herangehen, wenn das Bündnis eine strategische Konzeption, einen Gesamtplan für die ihm zur Aufgabe gestellte Verteidigung besitzt und eine stillschweigende oder ausdrückliche Vereinbarung existiert, auf Grund deren Entscheidungen getroffen und Befehle erteilt werden können, die für die Durchführung notwendig sind.

Zweifel an der Zuverlässigkeit der amerikanischen Garantie Aus diesem entmutigenden Bericht heben sich zwei Tatsachen deutlich heraus: Einmal hat seit der Entwicklung der sowjetischen Kernwaffen die NATO niemals einen ausreichenden Verteidigungsplan auf lange Sicht für Europa gehabt. Die von Zeit zu Zeit abgegebenen Erklärungen — die sogenannten strategischen Konzeptionen — waren zum großen Teil theoretische Konkretisierungen dessen, was man unter den jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen für praktikabel hielt. Zum andern haben die Vereinigten Staaten durch ihren Grundsatz, die Verteidigung in Europa in so hohem Maße auf Kernwaffen zu stützen, unweigerlich den Eindruck erweckt, als sei die Verfügungsgewalt über die Kernwaffen die erste und wichtigste Voraussetzung für diese Verteidigung. Auf Grund der strategischen Theorie der Amerikaner selbst konnte man in Europa sagen — und es wurde auch gesagt —, die Verteidigung Europas hänge vollkommen von den Vereinigten Staaten ab. Man fragte, ob man sich darauf verlassen könne, daß die Vereinigten Staaten angesichts der möglichen Folge für ihr eigenes Land Kernwaffen einsetzen würden, wenn nicht ihre eigene Sicherheit unmittelbar bedroht sei? Europa glaubte verständlicherweise, eine Antwort auf diese Frage in der Erklärung sehen zu müssen, die Unterstaatssekretär Herter am 21. April 1959 vor dem Außenpolitischen Ausschuß des Senats während der Debatte über seine Ernennung zum Außenminister abgab: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Präsident uns in einen großen Atomkrieg verwickeln würde, wenn nicht die Tatsachen eindeutig zeigen, daß wir selber in Gefahr sind, vernichtet zu werden, oder daß konkrete Maßnahmen zu unserer Vernichtung ergriffen worden sind.“

Jedenfalls hat diese zweiseitige Einstellung unserer Regierung und unserer Presse zu einer Reihe von Kontroversen zwischen und mit unseren Verbündeten wegen der Verfügungsgewalt über die Kernwaffen geführt, die uns von dem grundsätzlichen Problem der Ausarbeitung und Durchführung eines strategischen Planes für die Streitkräfte und für ihren Einsatz zur Verteidigung Europas ablenken und die eigentliche Frage verdecken. In diesem Plan werden die Atomstreitkräfte eine lebenswichtige Rolle spielen. Aber diese Rolle, ebenso wie die Frage des Einsatzes und der Verfügungsgewalt über diese Waffen wird im Lichte eines strategischen Gesamtplanes, der über die Organisation und die Kräfte zu seiner Durchführung im ganzen Auskunft gibt, sehr anders aussehen, als wenn sie für sich allein betrachtet wird. Außerdem ist es im Augenblick unmöglich, die Frage der Verfügungsgewalt über Kernwaffen zu lösen, weil schwer zu lösende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verbündeten bestehen, die zum Teil nur durch den Ablauf der Zeit behoben werden können.

Prinzipien einer langfristigen Verteidigungskonzeption Ein brauchbarer strategischer Plan, eine Theorie für die Verteidigung Europas besteht nicht aus einer zündenden Phrase oder einem Schlagwort, auf dem sich eine Rede oder eine Rechtfertigung des Status quo, oder ein Traum, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, aufbauen läßt. Es muß ein Operationsplan sein, der seine Grundlage in bestimmten politischen Zielen hat, der die Bedürfnisse und Interessen derjenigen berücksichtigt, zu deren Gunsten er ersonnen wurde, der in Krisenzeiten und an Krisenpunkten die Streitkräfte und Hilfsmittel versammelt und einsetzt, die verfügbar gemacht werden können, um das gewünschte Ziel mit einem Minimum von Schaden für die Ausführenden zu erreichen. Er sollte nicht so aussehen, daß er wie die Ungeheuer, die den Eingang der Tempel von Nikko bewachen, böse Geister und Menschen mit unlauteren Absichten davon abschreckt, den heiligen Bezirk zu betreten, zugleich aber auch den Gläubigen selbst einen gewaltigen Schrecken einjagt. Ein strategischer Plan muß so angelegt sein, daß die Beteiligten bereit sind, ihn, wenn nötig, durchzuführen in dem vollen Bewußtsein, daß der zu zahlende Preis zwar hoch ist, aber nicht höher als nötig, und daß er jedenfalls der Unterwerfung unter einen feindlichen Willen vorzuziehen ist. Den Plan und alle Mittel zu seiner Durchführung zu ersinnen, ist ein gewaltiges Unternehmen von unendlicher Kompliziertheit. Er verlangt die volle Aufmerksamkeit der höchsten zivilen und militärischen Stellen, denen die besten Köpfe zur Unterstützung beigegeben werden müssen. Er erfordert fortlaufende Entscheidungen, je klüger desto besser, an denen unbeirrbar festgehalten wird, und einen disziplinierten militärischen Apparat, der diese Entscheidungen aufnimmt und nach ihnen weiterarbeitet. Der erste Schritt auf dem Wege zu einem strategischen Plan für die NATO besteht darin, daß die Vereinigten Staaten einen Plan entwickeln, über den sich die gesamte Exekutive, die zivile wie die militärische, einig ist, den sie zu unterstützen und deshalb auch den anderen Mitgliedern der NATO vorzuschlagen bereit ist.

Ob ein strategischer Verteidigungsplan brauchbar und durchführbar ist, wird sich erst an Millionen von Einzelheiten erweisen; aber wir wissen auch heute schon genug von der Verteilung der militärischen und wirtschaftlichen Macht in der Welt, von dem Entwicklungsstand der Waffen und der Richtung, die diese Entwicklung nehmen wird, von der Stimmung und den Eigenschaften der Völker, um vorläufige Voraussagen über einige wichtige Elemente eines ausführbaren Verteidigungsplanes zu machen. Diese Voraussagen sind wahrscheinlich so weitgehend richtig, daß man daraus auf die Art der politischen Probleme, die eine gemeinsame Verteidigung bald mit sich bringen wird, auf die Rangordnung ihrer Wichtigkeit und auf die beste Lösung für sie schließen können wird.

Aufgaben der nicht-atomaren Streitkräfte Ein brauchbarer Verteidigungsplan sollte in erster Linie vorsehen, daß die nicht-atomaren Verteidigungsstreitkräfte in Europa an Stärke und Bedeutung zunehmen und daß ihre Funktion neu definiert wird. Sodann sollte man sich bei der Festlegung von Funktion, Stationierung und Befehlsgewalt über strategische Kernwaffen nicht von der Sorge leiten lassen, daß das Bündnis auseinanderbrechen könnte oder daß die Vereinigten Staaten diese Waffen im Notfall nicht einsetzen würden; man sollte vielmehr möglichst viele Alternativen für den Einsatz dieser Waffen vorsehen, den „Notfall" genau definieren, die Atomkraft der Vereinigten Staaten voll in den Plan einbauen, endlich auf die wirksamste Anwendung der Waffen bedacht sein. Wenden wir uns der Aufgabe der nicht-atomaren Streitkräfte zu.

Diese Streitkräfte sollten nicht — wie es der Funktion eines „Stolperdrahts“ entspräche — als Mittel gedacht werden, eine atomare Antwort auf einen bewaffneten Angriff auszulösen. Sie sollten aber auch nicht gerade nur um so viel stärker sein als ein „Stolperdraht", daß sie einen Grenzüberfall größeren Ausmaßes zurückschlagen oder eine Kampfpause herbeiführen könnten, während der der Angreifer Zeit hätte, über die möglichen atomaren Gegenmaßnahmen nachzudenken. Vielmehr sollte es das Ziel dieser Streit-kraft sein, der Sowjetunion die Möglichkeit zu nehmen, ihre Absichten in Europa mittels konventioneller Streitkräfte durchzusetzen. Wenn es heute bei einem Konflikt zur Gewaltanwendung käme, bliebe der NATO keine andere Wahl, als entweder nachzugeben oder sehr bald Kernwaffen einzusetzen. Stünde umgekehrt die Sowjetunion ihrerseits vor der Notwendigkeit bei dem Versuch, in Europa ihre Absichten zu verwirklichen, sich der Kernwaffen zu bedienen, so müßte ihr schon ein weit verlockenderer Preis winken, als man sich heute vorstellen kann, wenn die damit verbundenen Risiken gerechtfertigt sein sollten. Prüfen wir also, wieweit dieses Ziel verwirklicht werden kann, und hüten wir uns dabei, zuviel zu behaupten.

Es darf unumwunden gesagt werden, daß Westeuropa ziemlich weit östlich des Rheins gegen einen massiven sowjetischen Angriff verteidigt werden kann, auch wenn daran Streitkräfte teilnehmen, die von der Sowjetunion aus mobil gemacht, eingesetzt und versorgt werden. Diese Ansicht widerspricht einem großen Teil der landläufigen Lehre, sollte jedoch keine Überraschung verursachen, wenn man folgendes überlegt: 1. daß das Menschenpotential und die Hilfsquellen Westeuropas und Nordamerikas zusammengenommen die der Sowjetunion weit übersteigen; 2. daß die sowjetischen Satellitenstaaten sehr unzuverlässige Verbündete wären, besonders bei einem offensiven Vorgehen dieser Art; 3. daß das sowjetische Nachrichtenwesen und der gesamte militärische Versorgungsapparat dem westeuropäischen eindeutig unterlegen sind und 4. daß die NATO mehr Soldaten unter Waffen hat als die Länder des Warschauer Paktes. Wir dürfen also den Schluß ziehen, daß es durchaus möglich ist, die konventionellen Streitkräfte der Russen in Europa aufzuhalten, ohne daß Kernwaffen angewendet werden müssen und ohne daß eine sehr große Erhöhung der Verteidigungsbudgets der einzelnen Länder eintritt.

Dennoch würde die Gefahr eines Atomkrieges bestehen bleiben und wahrscheinlich jede größere Krise und jeden größeren Konflikt beherrschen. Aber die sowjetischen Hemmungen gegenüber einer geplanten Offensive wären erheblich verstärkt. Eine Offensive mit konventionellen Waffen würde keine Aussicht auf Erfolg haben, und zu den Risiken, die mit einem solchen Versuch verbunden wären, käme noch die fast sichere Aussicht, daß sich der Konflikt zu einem Atomkrieg ausweiten würde.

Es wird gelegentlich darauf hingewiesen, eine Verstärkung der konventionellen Rüstung könne dahin gedeutet werden, daß die Vereinigten Staaten keine Kernwaffen anwenden würden. Ich glaube, das Gegenteil würde der Wahrheit näher kommen. Es würde deutlich zu erkennen gegeben werden, daß die Vereinigten Staaten eine erste Alternative zu dem Kampf mit Atomwaffen haben wollen. Sicherlich aber würde unsere Entschlossenheit und unsere Fähigkeit, mit konventionellen Waffen zu kämpfen, wenn wir durch Bedrohung oder Angriff dazu gezwungen werden sollten, es eher mehr als weniger glaubhaft erscheinen lassen, daß wir auch bereit wären, Kernwaffen in die Waagschale zu werfen, sei es, um notfalls unsere Truppen zu schützen, sei es, um dem Schlag eines zum äußersten entschlossenen Feindes vorzubeugen.

Diese Glaubwürdigkeit ist unerläßlich, wenn es nicht darum geht, einen russischen Vormarsch nach Westeuropa aufzuhalten, sondern einer russischen Gewaltanwendung hinter der jetzigen Grenze, zum Beispiel in Berlin, entgegenzutreten. Ich behaupte nicht, daß die vorgeschlagenen konventionellen Streitkräfte eine Besetzung Berlins verhindern könnten, ohne daß Kernwaffen angewendet oder mit ihrer Anwendung gedroht würde. Aber ich bin der Ansicht, daß die von Verteidigungsminister McNamara am 29. September 1962 ausgesprochene Drohung, im Falle eines Konfliktes über Berlin Kernwaffen anzuwenden, falls es erforderlich sein sollte, stärker und nicht weniger stark wirkt, wenn die Zahl unserer eigenen und der alliierten Truppen an der Front wächst.

Wieviele Divisionen sind nötig?

Wie groß eine solche konventionelle Streit-macht sein müßte oder wie sie ausgerüstet und eingesetzt werden sollte, das zu entscheiden, ist nicht Sache eines Amateurstrategen. Aber man muß irgendeine Größenordnung vor Augen haben, wenn man die Frage mit einer gewissen Wirklichkeitsnähe erörtern will. Daß eine größere Streitmacht in Europa nötig ist als jetzt dort existiert, liegt auf der Hand, aber ich müßte mich sehr wundern, wenn eine gut ausgerüstete und versorgte Streitmacht am mittleren NATO-Abschnitt in der ungefähren Stärke von 30 Divisonen, von der man heute spricht, zusammen mit der gleichen Zahl von rasch mobilisierbaren Reserven nicht auch schon gute Dienste leisten könnte. Dieser Vorschlag liegt durchaus im Bereich des praktisch Möglichen.

Man mag sich fragen, ob es realistisch sei, in diesen Größenordnungen zu sprechen, da unsere europäischen Verbündeten die von ihnen verlangten geringeren Streitkräfte der NATO bisher nicht zur Verfügung gestellt haben. Ich glaube, es ist realistisch, und gerade die Ausarbeitung eines solchen strategischen Planes ist eine wesentliche Vorbedingung dafür, daß die Gespräche konkreter werden. Bisher sind unsere Verbündeten — zum Teil, wie ich schon sagte, auf Grund unserer eigenen Haltung — der Ansicht gewesen, die von ihnen geforderten konventionellen Streitkräfte nur von geringer militärischer Bedeutung seien und ihr Einsatz sei lediglich als Vorspiel einer Kernwaffenaktion gedacht. Ferner können sie nicht glauben, daß wir sie bitten, etwas zu tun, wozu wir selber nicht bereit sind — nämlich, konventionelle Streitkräfte zu stellen. Wir haben heute, die Matrosen der 6. Mittelmeerflotte mitgerechnet, 400 000 Mann in Europa. Unsere Streitkräfte in Europa sind größer als die Gesamtzahl der unter Waffen stehenden Männer in jedem anderen Land der NATO, ausgenommen die Türkei und Frankreich.

Die Beseitigung des sowjetischen Übergewichts an der Grenze zu Westeuropa würde auch wichtige politische Folgen haben. Die Stabilität der Satellitenregierungen in Osteuropa hängt von diesem Übergewicht ab. Die gegenwärtige sowjetische Politik gegenüber Ostdeutschland und Berlin wäre ohne sie viel schwieriger. Auch viele Unsicherheiten und Zweifel der Alliierten haben hier ihren Ursprung. Die sowjetische Politik in Osteuropa besteht im wesentlichen darin, gewaltsame Aktionen durchzuführen wie in Ungarn und der Ostzone Deutschlands. Die Sowjets vertrauen darauf, daß es auf der Gegenseite keine Macht gibt, die in der Lage wäre, örtlichen Widerstand zu unterstützen, und daß eine „massive Vergeltung" durch Kernwaffen für zu gefährlich gehalten würde. Sähe sich die Sowjetunion an ihrer Westgrenze gleich starken konventionellen Kräften und an einigen Punkten überlegenen Kräften gegenüber, so würde die Vorausberechnung der Handlungen und Risiken in der Sowjetunion ebenso wie in Europa sehr anders aussehen. In der Voraus-berechnung von Handlungen und Risiken besteht aber die Politik einer Regierung.

Die Rolle der atomaren Streitmacht Wenden wir uns nun der atomaren Bewafinung der NATO zu. Man beklagt sich zur Zeil in Europa häufig darüber, die Regierung der Vereinigten Staaten übe durch ihren ungeheuren Vorsprung auf dem Gebiet der Atomwaffen eine unverhältnismäßig starke Kontrolle über die Vorausberechnung von Handlungen und Risiken aus. Nirgendwo aber hört man Spekulationen über die dramatische Veränderung des relativen militärischen Gleichgewichts, die stattfände, wenn Europa, entsprechend der oben skizzierten Verteidigungsstrategie der NATO, konventionelle Streitkräfte im Rahmen der vorgeschlagenen Größenordnungen stellte. Es liegt auf der Hand, daß dann diejenigen, deren Streitmacht die Aufgabe hätte, einen Gewaltstreich der Sowjets — zum Beispiel Sperrung oder Störung der Zufahrtswege nach Berlin — als erste aufzuhalten, einen ungeheuren Einfluß auf die politische und militärische Strategie des Westens ausüben würden. Das wäre eine unausweichliche Folge der neuen Machtstellung, die Europa innerhalb des Bündnisses gewänne. Daraus könnten sich auch realistische Methoden für Vereinbarungen über bestimmte Aktionen und deren Durchführung ergeben. Natürlich kann eine auf Grund des hier vorgeschlagenen strategischen Planes handelnde alliierte Verteidigungsmacht nicht einer Versammlung unterstellt werden, deren Beschlüsse einstimmig gefaßt werden müssen. Niemand sollte überrascht sein, wenn sich in dieser Zwangslage ein starkes Bedürfnis nach weiteren supranationalen Organisationen ergäbe. Am deutlichsten aber würde sich die sehr viel stärkere Position zeigen, die Europa mit Sicherheit einnehmen würde. Es wäre eine so starke Position, daß die Vereinigten Staaten es vielleicht schwer hätten, ein Mitspracherecht zu erhalten, das der Bedeutung ihrer nuklearen Stärke entspräche, so wesentlich diese Stärke auch dann für Politik und Strategie wäre, wenn sie nicht mehr im Vordergrund einer Auseinandersetzung mit der Sowjetunion stünde.

Mit anderen Worten, das grundsätzliche Problem für das atlantische Bündnis ist nicht die Frage der Verfügungsgewalt über eine bestimmte Waffe. Die Frage ist vielmehr, welche Ziele das Bündnis verfolgen will, wie es sie zu erreichen gedenkt und wie die Entscheidung über die Anwendung von Gewalt, um der Gewalt zu begegnen — Gewalt in jeder Forml —, getroffen werden soll im vollen Bewußtsein der damit verbundenen Risiken, aber auch in der Erkenntnis, daß es sich zunächst um örtlich begrenzte Aktionen handeln kann. Selbst wenn alle Verbündeten völlig überzeugt sind, daß Kernwaffen zur Verfügung stehen und im kritischen Augenblick angewendet werden sollen, bleibt die Grundentscheidung doch immer die, ob eine gemeinsame Aktion, bei der die Anwendung von Kernwaffen notwendig werden könnte, unternommen werden soll oder nicht.

Die Erörterungen über die Verteilung und Kontrolle der Kernwaffen sind dadurch erschwert worden, daß Erwägungen des Stolzes und der Angst mit hineinspielen. So wird zum Beispiel die Forderung gestellt, die Verteidigung Frankreichs dürfe von keinem anderen Lande abhängen. Nun hängt aber die Verteidigung Frankreichs — ja, ganz Europas — von der Verbindung mit den Vereinigten Staaten ab — und das war immer so während des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts. Genauso ist die Sicherheit der Vereinigten Staaten auf das engste mit Europa verbunden, auf ebenso wichtige, wenn auch andere Weise wie damals, als die britische Flotte für die Einhaltung der Monroe-Doktrin Bürge war.

Der gleiche Gedanke wird anders ausgedrückt, wenn er nicht dem Stolz, sondern der Angst entspringt. Dann heißt es, die Vereinigten Staaten könnten sich eines Tages aus Europa zurückziehen und wieder in die Isolation zurückkehren. Für diesen Fall müsse Europa über eine selbständige, nur von ihm selbst getragene Atommacht verfügen, oder es werde nicht die Kraft haben, die Sowjets abzuschrekken oder ihnen Widerstand zu leisten. Es wäre in der Tat ein böser Tag für die ganze freie Welt, wenn sich die Vereinigten Staaten von der Verteidigung Europas zurückzögen, denn weder Europa noch die Vereinigten Staaten wären auf die Dauer in der Lage, ihre freiheitlichen Institutionen aufrechtzuerhalten, oder einem Eurasien, Afrika und Südamerika umfassenden kommunistischen System erfolgreich Widerstand zu leisten. Wenn unter diesen Voraussetzungen geplant und gehandelt wird, so muß jeder gemeinsame Verteidigungsplan für Europa scheitern. Denn dann können weder die konventionellen noch die atomaren Streitkräfte, die zu dieser Verteidigung erforderlich sind, aufgebracht werden.

Eigenständige europäische Atommacht bliebe drittrangig Es ist eine Illusion zu glauben, daß Europa innerhalb eines für die militärische Planung irgendwie ausschlaggebenden Zeitraums eigene nukleare Abschreckungswaffen herstellen kann oder wird. Das würde auch dann nicht möglich sein, wenn es die nötige technische Hilfe erhielte. Unsere europäischen NATO-Verbündeten geben für die gesamte Verteidigung etwa 15 Milliarden Dollar im Jahr aus. Verteidigungsminister McNamara hat erklärt, daß die Vereinigten Staaten im kommenden Haushaltsjahr für Kernwaffen und Trägersysteme allein 15 Milliarden Dollar ausgeben werden. Die über viele Jahre gehenden britischen Bemühungen, Kernwaffen herzustellen, haben die vorhandenen Mittel aufs äußerste angespannt, die konventionellen Streitkräfte auf ein Minimum reduziert und doch nur zu einem Kernwaffenpotential geführt, das vielleicht 2 v. H.der atomaren Schlagkraft beträgt, die die Vereinigten Staaten heute im NATO-Gebiet anzuwenden imstande wären. Wenn wir davon ausgehen, daß Frankreich das gleiche Ergebnis erzielen und das übrige NATO-Europa noch einmal soviel beitragen könnte, so wäre das Ganze keine wesentliche Bereicherung der atomaren Kapazität, die die Vereinigten Staaten beigesteuert haben oder in der gleichen Zeit noch zusätzlich beisteuern würden. Außerdem ginge dieser Beitrag, ähnlich wie in England, zu Lasten der erforderlichen Stärkung, wenn nicht gar der Aufrechterhaltung der jetzigen nicht-atomaren Streitkräfte. Mit anderen Worten: eine eigenständige europäische Atommacht würde eine tragische Fehlleitung von Mitteln bedeuten, die für die grundlegende Verteidigung lebenswichtig sind. Dennoch müssen wir fragen, ob eine solche Verschwendung Europa zu einem wirkungsvollen Abschreckungsmittel gegen die Sowjetunion oder zu einer gewichtigeren Stimme bei der Führung und Kontrolle der NATO oder zu irgendeinem anderen Mittel für die Verteidigung Europas verhelfen würde.

Als Abschreckung gesehen, würde eine europäische — und gar nur eine französische -— strategische Atomstreitmacht nur eine geringe Bedrohung für die sowjetische Atommacht bedeuten. Sie könnte nur einen Bruchteil der Ziele bestreichen und wäre offensichtlich nicht in der Lage, die Sowjetunion außer Gefecht zu setzen oder ihre Atomkraft ernsthaft zu schwächen. Im Einsatz wäre sie bald zerstört oder aufgebraucht. Als Waffe gegen Städte könnte eine kleine europäische Streitmacht mit ernsthaftem Schaden drohen. Aber die Drohung würde sich nach zwei Seiten auswirken und die europäischen ebenso wie die amerikanischen Städte schweren Gefahren durch Vergeltungsmaßnahmen aussetzen. Ihre Abschrekkungskraft gliche der eines entschlossenen Mannes, der einen Revolver gezückt hat. Einiges vermag er zu verhindern, er geht aber dabei Risiken ein, die schließlich von selbst eine Lösung erzwingen; sein Tun endet entweder mit einer Gewalttat oder mit seiner Entwaffnung. Zu viele andere sind daran interessiert, ein Ende herbeizuführen.

Eine sinnvolle A u f g a b e n t e i 1 u n g ist vorzuziehen Es wird gelegentlich behauptet, eine selbständige, wenn auch kleine europäische Atom-macht würde Europa einen stärkeren Einfluß auf die Anwendung und Verfügungsgewalt der Kernwaffen verschaffen, weil es dann in der Lage wäre, einen Atomschlag einzuleiten und damit das Strategische Luftkommando in Bewegung zu setzen. Es wäre in der Tat traurig um das atlantische Bündnis bestellt, wenn die gemeinsame Planung und Steuerung der Verteidigung auf diese erpresserische Weise erzwungen werden müßte. Wie Verteidigungsminister McNamara in der Öffentlichkeit in allgemeiner Form und vor dem NATO-Rat im einzelnen dargelegt hat, liegt, wenn einmal die gefürchteten Kernwaffen eingesetzt werden müssen, unsere beste, ja die einzige Chance zu überleben in einer einheitlichen Planung und einem einheitlichen Oberbefehl. Ein paar vereinzelte schwache Schüsse am Anfang bedeuten den Untergang für alle.

Europas Einfluß wäre bei weitem stärker, ja vielleicht entscheidend, wenn eine Verteidigungsstrategie und die Streitkräfte zu ihrer Durchführung vorhanden wären, wobei Euro-10 pa selbst den größten Teil der konventionellen Streitkräfte und die Vereinigten Staaten die Atommacht und dazu noch erhebliche konventionelle Streitkräfte stellen würden. Durch eine solche Politik würde Europa, wie ich schon sagte, die beherrschende Stimme bei der Festlegung einer Politik des Widerstandes gegen sowjetische Forderungen und Drohungen zufallen. Gerade in diesem Punkt befürchteten einige Europäer eine Halsstarrigkeit der Vereinigten Staaten. Außerdem würde die Politik des Bündnisses dadurch gestärkt und gefestigt, daß die Vereinigten Staaten durch eine sehr präzise, vorherige Zusicherung gebunden würden, ihre Atomkraft dort einzusetzen, wo ein von allen vereinbarter und angenommener Verteidigungsplan es vorsähe.

Soweit die Forderung nach einer europäischen atomaren Abschreckungswaffe nicht auf Stolz oder Angst zurückgeht, beruht sie auf mangelnder Kenntnis der Tatsachen. Hierfür ist die Politik der Vereinigten Staaten zum größten Teil verantwortlich. Die an sich wünschenswerte Geheimhaltung ist für wichtiger gehalten worden als das Verständnis unserer Verbündeten, auf das wir aber nicht verzichten können.

Von Zeit zu Zeit wird die These aufgestellt — häufig im Zusammenhang mit der Behauptung, die Zeit für bemannte Flugzeuge sei vorbei —, daß strategische Kernwaffen in Europa stationiert sein müßten, die dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa unterstünden und die weitreichend genug sein müßten, um die Ausganspunkte eines drohenden Angriffs auf Europa zu erreichen. Wenn die an verantwortlicher Stelle stehenden Männer bei unseren Verbündeten Kenntnis von den Plänen einer Verteidigung Europas mittels atomarer Kampfmittel erhielten, würde ihnen klarer sein, daß Europa keine Waffen herstellen könnte, die diesen Zweck zu erfüllen imstande wären. Sie würden auch sehen, daß es Verteidigung und Sicherheit Europas nicht nur nicht stärken, sondern erheblich schwächen hieße, wollte man Waffen, die für diesen Zweck vorgesehen, oder andere, die dafür verfügbar sind, von ihrem jetzigen Standort außerhalb Europas entfernen. Schließlich würden sie auch erkennen, wie untrennbar die nukleare Verteidigung Europas und Amerikas verbunden ist und daß umfassende Planung und einheitliche Führung von unendlich größerer Wirksamkeit sein können, sowohl hinsichtlich, der Stärke und Beweglichkeit der Verteidigung als auch der Sicherheit der eingesetzten Waffen. Dann würden unsere Partner auch deutlich sehen, daß die Beteiligung an der Aufstellung eines strategischen Gesamtplanes und an der entsprechenden Verteilung der Streitkräfte das Wesen einer gemeinsamen Verteidigung bilden. Zersplitterung der strategischen Waffen und der Befehlsgewalt würde ihre Vernichtung bedeuten.

Ein b i n d e n d e r s t r a t e g i s c h e r Gesamtplan würde Einigung erleichtern

Verständnisvolle Mitwirkung bieten im übrigen die beste und wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, einer zersetzenden und schwächenden Aufspaltung der alliierten Bemühungen in „selbständige" atomare Streitmächte zu begegnen. Eigenwillige Persönlichkeiten werden sich nicht leicht dazu überreden oder verlocken lassen, lang gehegte Pläne aufzugeben; auch werden andere Nationen auf die Dauer nicht die Haltung des „Onkel Sam weiß es am besten" hinnehmen. Mit der Zeit aber können genaue Kenntnisse und kluges Vertreten der eigenen Interessen auch einen entschlossenen Kurs mildern oder andere dazu bringen, sich ihm nicht anzuschließen.

Was die Aufstellung und Durchführung eines gemeinsamen Verteidigungsplanes für Europa mit sich bringt, reicht viel weiter als das heute umlaufende Gerede von „multinationalen Atomstreitkräften" und andere Vorschläge für eine „atomare Gemeinsamkeit". Denn die hier vorgeschlagene umfassende Vereinbarung ist mehr als die Einigung über einen auf dem Papier stehenden brauchbaren theoretischen Operationsplan, dem eine Aufstellung der für seine Ausführung nötigen Streitkräfte einschließlich Reserven, Ausrüstung, Versorgung und Nachschub beigegeben wurde. Das allein ist schon so schwer, daß es bisher nicht gelang, obwohl es eine unerläßliche Voraussetzung ist. Der Vorschlag begnügt sich auch nicht mit der Bereitschaft der Alliierten, einen solchen Plan in die Tat umzusetzen, die Mittel dazu zur Verfügung zu stellen und die nötigen Gesetze (Militärdienst usw.) zu erlassen. Es muß vielmehr eine zivile Verteidigungsorganisation der NATO eingerichtet werden, die die Aufgabe der Koordinierung übernimmt und dafür sorgt, daß der Plan durchgeführt wird. Diese Aufgabe könnte vom Generalsekretär der NATO übernommen werden, wenn sein Amt mit dem nötigen Personal und entsprechenden Vollmachten ausgestattet würde.

Kern des Problems wird die Herstellung eines engen Vertrauensverhältnisses zwischen den atomar bewaffneten und den konventionellen Bestandteilen dieser kombinierten Streitmacht sein. Es müßte noch viel mehr dafür getan werden, daß die Alliierten sich an der Koordinierung der Zielverteilung im Rahmen der NATO-Verteidigung Europas und Nordamerikas beteiligen. Das, was auf diesem Gebiet schon geschehen ist, hat bei den Beteiligten bereits zu einer größeren Einsicht in die Realitäten der atomaren Verteidigung und zu gegenseitigem Vertrauen geführt. Ausgewähltes europäisches Personal könnte zu den Kampfeinheiten der Vereinigten Staaten versetzt werden. Präsident Kennedy hat bereits vorgeschlagen, Polaris-Unterseeboote, die mit Mittelstreckenraketen ausgerüstet und ständig einsatzbereit sind, für die Verteidigung Europas zur Verfügung zu stellen. Auf Grund des hier vorgeschlagenen Planes würde das gesamte Strategische Luftwaffenkommando der Vereinigten Staaten für die gleiche Aufgabe verpflichtet werden. Daraus könnte sich mit der Zeit und nachdem man Erfahrungen gesammelt hat, ein echtes NATO-Atom-Kommando ergeben.

Vor allem kommt es darauf an, großartig klingende Vorschläge zu vermeiden und langsam und umsichtig vorzugehen. Wenn das geschieht, würde das zweifellos vorhandene Sicherheitsrisiko an Bedeutung verlieren gegenüber der Tatsache, daß unsere europäischen Verbündeten die atomare Stärke der Vereinigten Staaten richtig einschätzten und Vertrauen in unsere Bereitschaft, Europa zu verteidigen, hätten.

Diese Aufgaben, die in der Tat schwer genug sind, machen uns im Augenblick genügend zu schaffen. Gelingt es, sie zu bewältigen, werden wir uns noch größeren gegenübersehen, deren Umrisse sich bereits abzuzeichnen beginnen. Ich habe sie schon angedeutet. Ihre Bewältigung setzt die Einigung über eine gemeinsame Politik für die atlantischen Verbündeten auf verschiedenen Gebieten voraus, auf denen die Meinungen gegenwärtig noch auseinandergehen. Ist diese Einigung erzielt worden, bleibt noch die Auseinandersetzung mit dem allerschwierigsten Problem: auf welche Weise soll diese Politik angesichts wachsender Spannungen verwirklicht, wie sollen die letzten kritischen Entscheidungen getroffen werden, die für ein energisches Handeln unerläßlich sind? Dies alles wäre schon für die Führung eines einzelnen Staates schwer genug; in einem Bündnissystem ist es noch viel schwieriger. Daß aber die Aufgabe erleichtert und nicht erschwert wird, wenn ein strategischer Gesamtplan und die Streitkräfte zu seiner Durchführung vorhanden sind, liegt auf der Hand.

Fussnoten

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Dean Acheson, geb. 1893, Außenminister der Vereinigten Staaten 1949— 1953.