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Der „neue Mensch" des Kommunismus | APuZ 24/1963 | bpb.de

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APuZ 24/1963 Der „neue Mensch" des Kommunismus Artikel 1

Der „neue Mensch" des Kommunismus

Günther Bartsch

Die Formung des „neuen Menschen" als Grundbedingung des „Vollkommunismus" und seine drei Hauptaspekte

Abbildung 1

Alle Revolutionäre, die im Verlauf der menschlichen Geschichte die politische Bühne betraten, haben versucht, ihre Regierung zu stürzen und die politische Macht zu erobern. Einige, die weitergingen, waren bestrebt, auch eine neue Sozialordnung einzuführen. Was die Kommunisten von allen anderen Revolutionären unterscheidet, ist, daß ihnen weder die Eroberung der politischen Macht, noch die Einführung einer neuen Sozialordnung genügt. Sie wollen auch einen neuen Menschen schaffen. Das ist ihr kühnster und daher auch beachtenswertester Plan, der in der Sowjetunion geboren wurde und bereits aus dem Stadium theoretischer Erwägungen in die politische Praxis überführt wird. Die Sowjetführer meinen, daß der Aufbau des Kommunismus eine objektive und eine subjektive Seite habe: objektiv sei die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus, subjektiv die Formung eines neuen Menschen nötig. Der erfolgreiche Aufbau des Kommunismus in der Sowjetunion hänge von der gleichzeitigen Lösung beider Aufgaben ab. Chruschtschow sagte am 9. 7. 1960 auf dem Allrussischen Lehrerkongreß: „Wir lösen gegenwärtig zwei Aufgaben: die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus und die Erziehung des neuen Menschen. Im Grunde genommen ist das ein einheitlicher Prozeß. Bleiben wir mit der Bildung und Erziehung des Sowjetmenschen zurück, dann wird unvermeidlich der ganze Aufbau des Kommunismus ins Stokken geraten."

Mit diesen drei knappen Sätzen nahm Chruschtschow den gesamten innenpolitischen Teil des neuen sowjetischen Parteiprogramms voraus, das auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 beschlossen worden ist. Er ging sogar noch einen Schritt weiter als auf dem Lehrerkongreß, als er in seiner Programmrede auf dem Parteitag darauf hinwies, daß „der wichtigste Bestandteil des kommunistischen Aufbaus die Erziehung des Menschen im Geiste des Kommunismus" sei. Damit wurde der Formung des neuen Menschen eine noch größere Bedeutung als der materiell-technischen Basis beigemessen. Zugleich war mit Chruschtschows Programmrede die Grundlinie bei der Schaffung des neuen Menschen gezeichnet. Diese Grundlinie wird im Parteiprogramm „Erziehung des kommunistischen Bewußtseins" genannt und in sieben Aufgaben unterteilt: „Formierung einer wissenschaftlichen Weltanschauung", „Erziehung zur Arbeit“, „Entwicklung und Sieg der kommunistischen Moral", Entwicklung des proletarischen Internationalismus und des sozialistischen Patriotismus", „allseitige und harmonische Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit", „Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus im Bewußtsein und Verhalten der Menschen" sowie die „Entlarvung der bürgerlichen Ideologie". Wir wollen auf die drei ersten und zugleich wichtigsten Punkte näher eingehen:

a) Formierung einer wissenschaftlichen Weltanschauung Sie soll „auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus als eines in sich geschlossenen und harmonischen Systems philosophischer, ökonomischer, sozialer und politischer Anschauungen" erfolgen, wobei „alle Werktätigen der Sowjetgesellschaft" zu erfassen seien. Chruschtschow hatte auf dem XXII. Parteitag kurz und bündig die „Durchsetzung der kommunistischen Weltanschauung" verlangt. Anscheinend hat sie sich also bisher noch nicht durchgesetzt.

In diesem Zusammenhang war ein Artikel interessant, den die „Iswestija" am 27. 4. 1960 veröffentlichte und in dem „höchst beunruhigende Fragen" aufgeworfen wurden, zum Beispiel: „Warum werden die vielseitigen Kenntnisse eines gewissen Teils der Jugend nicht zu Überzeugungen?" — nämlich zu kommunistischen Überzeugungen. Der Verfasser, A. Protopopowa, vertrat die Ansicht, es liege daran, daß viele Lehrer ihre Schüler „mit fertigen Kenntnissen" versorgten, „die einer selbständigen Gedankenarbeit keine Nahrung geben“. Es komme aber darauf an, eine „organische Einheit von Wissen, Überzeugung und Handeln" herzustellen.

Vom Unterrichtsjahr 1961/62 an wird daher in den Oberklassen der Oberschulen sowie in den oberen Lehrgängen der mittleren Fach-schulen in der Sowjetunion ein neues Gemeinfach „Grundlagen der politischen Bildung" obligatorisch. Es soll, wie die Zeitung „Utschitelskaja gaseta" am 28. 6. 1960 schrieb, a) gewährleisten, „daß die Schüler und Studierenden sich ihres Verhältnisses zum Aufbau des Kommunismus als der die tiefgreifendste Umwandlung der Gesellschaft und den Triumpf der unsterblichen Ideen Lenins manifestierende Epoche bewußt werden", b) klarmachen, daß der Kommunismus „die beste und gerechteste Gesellschaft der Erde" ist.

Durch das neue Gemeinfach soll die kommunistische Weltanschauung der Schüler „ihre eigentliche Form" erhalten.

Nun wird ja der Marxismus-Leninismus in den sowjetischen Schulen bereits seit 1918 gelehrt, so daß die sowjetische Jugend andere politische und philosophische Theorien in der Regel gar nicht kennenlernen konnte. Indes hat sich erwiesen, daß viele sowjetische Studenten und Schüler die kommunistischen Dogmen zwar griffbereit in ihren Köpfen aufgestapelt haben, „ohne daß aber die Beherrschung der Theorie auf ihr Bewußtsein oder ihr Verhalten den geringsten Einfluß ausübt" („Kommunist", Nr. 6/61). Um diese Situation zu ändern, genügt es nicht, den Marxismus-Leninismus zu lehren; man muß jene, denen er gelehrt wird, auch veranlassen, marxistischleninistisch zu denken. Das Denken ist aber ein schöpferischer und kritischer Vorgang, der sich auf den Meinungskampf und damit auch auf die Meinungsfreiheit stützt. Andererseits soll der Marxismus-Leninismus nicht nur die Staatsideologie der Sowjetunion bleiben, sondern auch zur Volksideologie werden, an der kein Zweifel erlaubt ist. Die Zeitschrift „Kommunist" (Nr. 6/61) hat das daraus entspringende Dilemma zwar nur vage, aber doch andeutungsweise umrissen:

„Das Ziel des Pädagogen besteht darin, den Studenten Selbständigkeit im Denken, Urteilen und Analysieren beizubringen, und sie zu lehren, wie man zu beliebigen Fragen einen eigenen Standpunkt einnimmt und vertritt. Die Anschauungen der Hörer müs-sen dabei selbstverständlich marxistischleninistisch und parteilich bleiben und erkennen lassen, daß man von ihrer Richtigkeit völlig überzeugt ist."

Einerseits soll also davon abgegangen werden, fertige Kenntnisse zu vermitteln, andererseits gilt der Marxismus-Leninismus nicht nur als „harmonisches", sondern auch als ein „in sich geschlossenes System", weshalb der Denkprozeß nicht über ihn hinausgehen dürfe. Der Sowjetmensch bleibt damit weiterhin ohne jene geistigen Alternativen, die einen schöpferischen Denkprozeß überhaupt erst möglich machen und ihn nähren würden. Damit, daß die Sowjetführer trotz Entstalinisierung weiterhin alle nichtkommunistischen Theorien als unerlaubt erklären, verhindern sie nicht nur deren Assimilierung im Rahmen ihres Systems und damit eine ernsthafte Bereicherung des Marxismus-Leninismus; sie stoßen auch alle jene in den eigenen Reihen, die gewisse Zweifel an der kommunistischen Ideologie in sich aufsteigen fühlen, in die Opposition.

b) Erziehung zur Arbeit Chruschtschow hat sich in den letzten Jahren wiederholt über die bei einem Teil der sowjetischen Jugend, insbesondere unter den Studenten, anzutreffende Geringschätzung gegenüber der körperlichen Arbeit und über die „Müßiggänger" erregt. In seiner Rede auf dem XIV. Komsomolkongreß am 19. 4. 1962 stellte er die Müßiggänger auf eine Stufe mit den Dieben; sie seien sogar „die gefährlichsten Veruntreuer von Volkseigentum, die gefährlichsten Diebe", gegen die man „den Zorn des Volkes wachrufen" müsse. Denn „die Lebensregel unserer Gesellschaft ist das Gesetz: wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen."

„Sie möchten nicht arbeiten, aber sie möchten sich hübscher anziehen, schönere und bessere Kleider und Schuhe tragen, sie möchten mehr Kleider und Schuhe besitzen, um sie öfter wechseln zu können, sie möchten besser essen, sie wünschen sich eine schöne Wohnung, einen Fernsehapparat und andere gute Dinge . . . Mehr noch, unter den Elementen dieses Schlages sind sogar solche, die es sich herausnehmen, zu murren: warum gibt's denn hiervon so wenig, warum ist dies nicht da, warum läßt die Qualität zu wünschen übrig?"

Welch harmlose Wünsche werden doch von diesen „gesellschaftswidrigen Elementen" geäußert, deren Bekämpfung „noch intensiver als bisher" betrieben werden soll. (Chruschtschow: „Ich denke dabei auch an den Staatsapparat.") Außerdem taucht die Frage auf, ob es sich — angesichts der lückenlosen sowjetischen Arbeitskontrolle — tatsächlich um Müßiggänger im vollen Sinne des Wortes handelt; wahrscheinlich ist neben Sektenpredigern und illegalen Prostituierten vor allem an Leute gedacht, die aus Gründen, die den Funktionären nicht ausreichend erscheinen, einige Zeit dem Betrieb fernbleiben.

Aber zu den Kriterien des neuen Menschen gehört, daß ihm die Arbeit „erstes Lebensbedürfnis" ist, wobei unter Arbeit noch immer vornehmlich körperliche Arbeit (die unmittelbare Beteiligung an der Produktion materieller Güter) verstanden wird.

Gegen die Müßiggänger wurde im Mai 1961 das „Parasitengesetz" erlassen; um der Abneigung gegen die körperliche Arbeit zu begegnen, wurde die allgemeine polytechnische Erziehung der Jugend verordnet. Zugleich wird gegen die Vorstellung angegangen, daß der Kommunismus eine gleichsam arbeitsfreie Gesellschaft sei. Chruschtschow erklärte auf dem XXII. Parteitag:

„Die Kommunisten haben sich das Ziel gestellt, die Menschen nicht von der Arbeit, sondern von der Ausbeutung ihrer Arbeit zu befreien". Und der Vorsitzende des Kommunistischen Jugendverbandes, Pawlow, sagte auf dem XIV. Komsomolkongreß, man müsse „alle diejenigen unbarmherzig lächerlich machen, die glauben, das Wesen des Kommunismus liege nur darin, auf den Knopf zu drücken und in jedem Restaurant kostenlos zu speisen."

Die Kommunisten wollen jedoch den Sowjetmenschen nicht nur zur Arbeit schlechthin, sondern zur kommunistischen Arbeit erziehen. Das bedeutet dreierlei: a) die Arbeit soll statt als ein lästiges Übel als „eine Sache der Ehre und des Ruhms" betrachtet werden; b) selbstlose Pflichterfüllung im Betrieb im Interesse der Gesellschaft und des Kommunismus; c) die Stachanowbewegung soll zu einer ausnahms5 los alle sowjetischen Arbeiter und Angestellten sowie die technische Intelligenz umfassenden Volksbewegung werden.

Kommunistische Arbeit bedeutet nicht zuletzt freiwillige Mehrarbeit über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus. Lenin hat im Juni 1919 von den kommunistischen Subbotniks — den freiwilligen Sonderschichten — als dem „faktischen Beginn des Kommunismus" gesprochen und sie „die große Initiative" genannt.

Nur durch die Schaffung einer höheren Arbeitsproduktivität, als sie jemals in der Welt existierte, könne der Kommunismus endgültig über den Kapitalismus siegen. (Diese Grundlinie Leninschen Denkens setzt sich heute in der These vom Einholen und Überholen der Ökonomie des Westens fort.) Die Arbeiter und Eisenbahner der Moskau-Kasaner Eisenbahn — denen die große Initiative zugeschrieben wird — hätten als erste „in der Tat bewiesen, daß sie fähig sind, wie Kommunisten zu arbeiten".

c) Entwicklung und Sieg der kommunistischen Moral Das neue sowjetische Parteiprogramm enthält einen „Moralkodex der Erbauer des Kommunismus", der „Treue zur Sache des Kommunismus", „hohes gesellschaftliches Pflichtbewußtsein", „Kollektivgeist" und „Unduldsamkeit bei Verstößen gegen gesellschaftliche Interessen" ebenso fordert wie „Ehrlichkeit", „Wahrheitsliebe", „gegenseitige Achtung in der Familie", „humanes Verhalten", „sittliche Sauberkeit" und „gewissenhafte Arbeit", ferner „Unversöhnlichkeit gegenüber Ungerechtigkeit, Schmarotzertum, Habgier" und den „Feinden des Kommunismus." Die von Chruschtschow schon auf dem XXL Parteitag der KPdSU im Jahre 1959 entworfenen und auf dem XXII. Parteitag endgültig formulierten „ethischen Prinzipien" sind in das neue Statut des Komsomol ausgenommen worden.

Im Molalkodex wird versucht, allgemeine Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln, die auch im Westen gelten, mit spezifisch kommunistischen Vorstellungen zu verknüpfen. Das geschieht nicht ungeschickt. Gleichwohl sollte man sich in der Sowjetunion klar darüber sein, daß sich beispielsweise die „Treue zur Sache des Kommunismus" wohl zu einer Forderung erheben, aber nicht zu einem ethischen Prinzip machen läßt. Ethische Normen lassen sich nicht diktieren, ganz abgesehen davon, daß Ethik und Gesetzgebung zweierlei sind. Die entscheidende Schwäche oder der innere Widerspruch des Moralkodexes besteht aber darin, daß versucht wird, allgemein menschliche Normen mit den Prinzipien der Parteilichkeit zu verquicken, wodurch sich beide überschneiden. So kann die Forderung nach Unversöhnlichkeit gegenüber den Feinden des Kommunismus täglich mit dem Gebot des humanen Verhaltens in Konflikt geraten. Umgekehrt kann sich die „Unversöhnlichkeit gegenüber der Ungerechtigkeit" in ihrer Spitze gegen den Kommunismus richten, aus deren Mitte die „neue Klasse" hervorgewachsen ist.

Es muß als hochbedeutsam gelten, daß sich die Kommunisten — nicht nur in der Sowjetunion, sondern beispielsweise auch in Ungarn und in der Sowjetzone — seit einigen Jahren ernsthaft um die Schaffung einer kommunistischen Ethik bemühen. Die Ideologie soll das Bewußtsein, die Ethik das Unterbewußtsein des Menschen durchdringen. Das ist ein Zangengriff, der nicht unterschätzt werden darf.

In einem sowjetischen Parteibeschluß vom Juni 1960 wurde von der „Wesensformung des neuen Menschen der kommunistischen Epoche"

gesprochen und eine „neue psychologische Theorie" gefordert, die den Vorgang dieser Wesensformung klärt. Die gesamte Arbeit auf dem Gebiet der pädagogischen Wissenschaften bedürfe „einer grundlegenden Reform." Die schon zitierte „Iswestija" sprach am 27. 4. 1960 vom „Primat des Gesellschaftlichen gegenüber dem Persönlichen" als einem „ehernen Gesetz der kommunistischen Moral", mußte jedoch zugeben: „Aber die Wirklichkeit sieht oft auch heute noch anders aus." Erst kürzlich wurde in der Sowjetunion eine Pressekampagne gegen jene Komsomolzen entfacht, die dem Aufruf der Partei gefolgt waren, in die Neulandgebiete zu gehen und dort dem „Virus" der Eigentümermentalität erlagen, nachdem sie sich ihre Häuser und Blockhütten mit eigenen Händen erbaut hatten. Man rätselte herum, was getan werden könne, um diese ehemals begeisterten Jung-kommunisten wieder auf den rechten Weg zurückzuführen. Zur Durchsetzung der kommunistischen Moral sind in der Sowjetunion einige „gesellschaftliche Organe" gebildet worden. Es handelt sich neben der „Volkswacht" um die „Kameradschafts-“ und „Drushinengerichte", die sich vor allem mit Verletzungen der Arbeitsdisziplin und jugendlichem Rowdytum befassen und „antigesellschaftliche Elemente" zu zwei-bis fünfjähriger Verbannung verurteilen können. Der Staat hat diesen Gerichten zwar die Vollmacht zur Rechtsprechung delegiert, mit Ausnahme von Geringfügigkeiten (kleinen Diebstählen usw.), die Ahndung von Gesetzesverletzungen aber bei sich behalten. Die Kameradschafts-und Drushinengerichte sollen in erster Linie Verletzungen der kommunistischen Moral verfolgen. Es wurde also ein zusätzlicher Raum der Gerichtsbarkeit geschaffen, der die Privatsphäre des Menschen kollektiviert. Der psychologische Druck wird nicht gelockert, sondern verstärkt.

Keine ideologische Koexistenz in der Erziehung

Die übrigen vier Punkte sind im wesentlichen Ergänzungen der ersten drei. Die „Entwicklung des proletarischen Internationalismus" scheint sich besonders gegen „nationalistische Tendenzen" in nationalen Minderheiten der Sowjetunion zu richten. Die „allseitige und harmonische Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit" soll „einen neuen Menschen erziehen, der geistigen Reichtum, moralische Sauberkeit und körperliche Vollkommenheit harmonisch in sich vereint". Als Beispiel dafür, wie die Überbleibsel des Kapitalismus im Bewußtsein und Verhalten der Menschen" zu überwinden seien, wird darauf hingewiesen, daß „systematisch eine breite wissenschaftlich-atheistische Propaganda zu betreiben" ist. Dabei, so heißt es im neuen Regierungsprogramm, „muß man sich auf die Errungenschaften der modernen Wissenschaft stützen, die ... für die phantastischen Märchen der Religion von überirdischen Kräften keinen Platz mehr übrigläßt." (Allerdings haben sich an den „Jugend-Sommertagen", die von den Komsomolzen in Estland als „Gegengewicht zur Konfirmation" durchgeführt werden, nach dem Bericht des Komsomol-Sekretärs Pawlow im Jahre 1961 nur „etwa 7 000 Jungen und Mädchen" beteiligt.) Die „Entlarvung der bürgerlichen Ideologie“ müsse nicht nur fortgesetzt, sondern forciert werden, weil es keine ideologische Koexistenz gebe und weil man, wie Chruschtschow auf dem Lehrerkongreß sagte, bei der Jugend „sogar auf ideologische Verarmung im Sinne des Nihilismus" stoße.

Nur eine der im Parteiprogramm aufgezählten Aufgaben zur „Erziehung des kommunistischen Bewußtseins" faßt den Menschen als Persönlichkeit ins Auge, sieht ihn als Subjekt, doch wird ausgerechnet die „allseitige und harmonische Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit" nur sehr sparsam und überdies mit weitgehend nichtssagenden Worten kommentiert. Die anderen sechs Aufgaben zielen auf die Veränderung des Bewußtseins, der Mentalität und des Verhaltens von außen und von oben (durch Partei und Staat) her ab.

Die sowjetische Zeitschrift „Kommunist" — das theoretische Organ der KPdSU — nannte im Januar 1961 die Erziehung des neuen Menschen die „Generallinie" der ideologischen Arbeit. Zur Erreichung des gesteckten Zieles seien „die Anstrengungen aller ideologischen Waffengattungen besser durchdacht zu koordinieren" und unermüdlich „neue Mittel der ideologischen Einwirkung auf die Massen zu suchen".

Es hat jedoch eine Gewichtsverschiebung gegeben. Auf dem XXL Parteitag der KPdSU im Januar/Februar 1959 hatte Chruschtschow noch die Forderung einer bewußten, kommunistischen Einstellung zur Arbeit in den Mittelpunkt der Erziehung „des neuen Menschen" gestellt. Nun, nach dem Parteiprogramm, ist die Erziehung zur Arbeit an die zweite Stelle gerückt. Der Sowjettheoretiker Iljitschew kommentierte das dahingehend (Januar 1962), daß „die Formung einer wissenschaftlichen Weltanschauung bei allen Mitgliedern der Gesellschaft der Schlüssel zur Lösung der Kardinalfragen der kommunistischen Erziehung" sei. Die Ideologie soll also auch das Arbeitsbewußtsein heben.

Die Charakterzüge des neuen Menschen"

a) Zwei Charakteristiken Nach den Vorstellungen der Sowjetführer wird der neue Mensch des Kommunismus folgende " Charakterzüge" haben:

1.seine tiefverwurzelte Weltanschauung wird der Marxismus-Leninismus sein;

2. die Arbeit ist ihm zum ersten Lebensbedürfnis geworden;

3. er wird den kommunistischen Moralkodex freiwillig und aus innerem Antrieb beachten, so daß administrative Regelungen überflüssig sind;

4. er kennt weder Vorurteile der Nationalität noch der Rasse;

5. er wird allseitig gebildet und vielseitig ausgebildet (disponibel) sein;

6. er ist völlig frei von Individualismus, Egoismus, dem Hang zum Privateigentum und religiösem „Aberglauben".

Es gibt noch eine andere Charakteristik des zukünftigen „Erbauers des Kommunismus", die auf das Gemüt der Jugend zugeschnitten ist. Sie stammt von dem schon mehrfach genannten Komsomolführer Pawlow:

„Der Kommunismus ist aber kein Tummelplatz für Tagediebe, sondern eine Gesellschaft kluger, schöner und starker Menschen, die an einer freudigen und lichten Arbeit teilnehmen."

Klug, schön und stark — welcher junge Mensch möchte diese drei Eigenschaften nicht in sich vereinen? Nur: wo bleibt in dieser Auffassung des „neuen Menschen" der Kommunismus? Gleichzeitig kluge, schöne und starke Menschen gibt es in jedem beliebigen Lande der Welt und unter jedem beliebigen System. Anzunehmen, daß ausgerechnet der Kommunismus zu Klugheit, Schönheit und Stärke führt, hat mit Wissenschaftlichkeit oder auch nur schlechthin mit Politik nichts mehr zu tun. Immerhin mag gerade diese Träumerei, der die uralte soziale Utopie einer harmonischen Zukunftsgesellschaft zugrunde liegt, auf die Jugend zündender wirken als trockene Formeln aus dem Museum des Marxismus-Leninismus. b) Utopische Züge Wenn wir uns nach der Realität des partei-offiziellen Zukunftsbildes fragen, so entdecken wir ebenfalls utopische Züge. Es steht nicht nur in einem Spannungsverhältnis zu der sowjetischen Wirklichkeit und den Gegeben-

heiten in den anderen kommunistischen Ländern, sondern widerspricht in vielen Aspekten auch den Erfahrungen der Wissenschaft vom Menschen und der menschlichen Geschichte.

Man kann schwerlich alle Mitglieder einer Gesellschaft unter das Dach einer einzigen Weltanschauung stopfen. Die Arbeit ist zwar in den europäischen Industriestaaten für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung längst zu einer Gewohnheit geworden; sie darüber hinaus in den Rang des ersten Lebensbedürfnisses zu heben, hieße aber, in ihr den Sinn des Lebens zu sehen; gerade für den neuen Menschen soll jedoch „die rückhaltlose Hingabe an den Kommunismus" (Chruschtschow) der Sinn des Lebens sein. Der Glaube, daß Gewohnheitsrecht das positive Recht ersetzen könne, läßt nicht nur die destruktiven Kräfte des Menschen außer acht, sondern steht auch in einem seltsamenMißverhältnis zum Zwangs-charakter des totalitären Systems und seinem tiefen Mißtrauen gegen jegliche Spontaneität.

Nationale und rassische Vorurteile lassen sich womöglich beseitigen. Auch eine allseitige Bildung und die Ausbildung des Einzelnen in mehreren Berufen dürften nicht unmöglich sein. Selbst das Absterben der Religion scheint im Zuge der Zeit zu liegen, obwohl das Erstarren kirchlicher Formen nicht mit dem Versiegen des religiösen Gefühls verwechselt werden sollte. Um so verwegener ist die Hoffnung auf einen Menschen, dem jegliche Selbstsucht fremd wäre. Sprechen nicht gerade die Kommunisten in den Ländern, die sie beherrschen, auf vielfältige Weise die „materielle Interessiertheit" an, um die Arbeitsproduktivität zu steigern? Haben sie nicht in noch stärkerem Maße als im Westen den hohen Lebensstandard — und damit mehr Besitz für alle — zu einem Staatsziel erhoben? — womit jene Privateigentümer-Mentalität, die sie „ausrotten" wollen, gefördert, ja angestachelt wird! c) Die „Dialektiker" leugnen die dialektische Struktur des Menschen Die tiefste Schwäche der Theorie des neuen Menschen liegt jedoch im kommunistischen Menschenbild. Die Kommunisten geben an, Dialektiker zu sein: Anhänger der dynamischen Lehre von den Polaritäten und von der Entwicklung durch den Kampf innerer Gegensätze. Gleichzeitig leugnen sie die Polarität im Menschen, die innere Widersprüchlichkeit der menschlichen Person. Beispielsweise wandte sich Pawlow auf dem letzten Komsomolkongreß gegen „einige Autoren", die „in verstärktem Maße die Kompliziertheit des Lebens und des Menschen" betonten und dadurch den Eindruck hervorriefen, „daß der Mensch in sich widersprüchlich" sei. Das treffe nicht zu. Der Mensch ist nach der kommunistischen Theorie ein ausgesprochen soziales Wesen. Daß er ein gleichzeitig soziales und individuelles Wesen ist — sowohl gesellig als auch ungesellig, der Gemeinschaft ebenso bedürfend wie der Einsamkeit, des Fürsichseins — würde zwar die Dialektik nahelegen, aber in diesem Falle widerspricht die Dialektik dem kommunistischen Menschenbild; folglich kann sie auf den Menschen keine Anwendung finden. Würde man nämlich anerkennen, daß es in jedem Menschen ein polares Spannungsverhältnis zwischen Ich und Wir, zwischen Persönlichem und Sozialem, zwischen Verneinung und Bejahung der Gesellschaft gibt — was wiederum zu einem unaufhebbaren Widerspruch zwischen Individuum und Gemeinschaft führt —, bräche die Grundfeste der kommunistischen Weltanschauung — der Kollektivismus — zusammen. Die Kommunisten leugnen die Doppelnatur, die Zwiespältigkeit des menschlichen Wesens, obwohl sie ständig mit ihr zu tun haben. In ihrem theoretischen Schema gibt es nur die soziale und gesellige Hälfte des Menschen. Der Marxismus-Leninismus beruht auf einer Halbierung der menschlichen Natur. Und da die Wirklichkeit entsprechend der Theorie umgestaltet werden soll, wird versucht, die . individualistischen Geschwüre'aus dem Menschen herauszuschneiden — jene „Überbleibsel des Kapitalismus" und der „bürgerlichen Ideologie", die den Menschen angeblich daran hindern, seiner sozialen Natur zu folgen. In Wahrheit handelt es sich bei diesen „Überbleibseln" um jene Hälfte des Menschen, die im Schema des Marxismus-Leninismus nicht existiert. In der kommunistischen Praxis existiert sie durchaus, aber wie ein Fremdkörper. d) Individuum und Persönlichkeit Wohlgemerkt, es ist nicht so, daß der Kommunismus lehren würde, der Mensch sei kein Individuum. Das Individuum ist der Grundstoff jeder beliebigen, auch der totalitären Gesellschaft. Der Kommunismus leugnet nur die innere Polarität zwischen dem Persönlichen und dem Sozialen und daher auch die äußere Polarität zwischen Individuum und Gemeinschaft. Aber dieses „nur" ist natürlich in Anführungsstriche zu setzen, weil es kein völlig einseitiges Menschenbild ergibt. Der Kommunismus geht von der Hypothese aus, daß der Mensch seiner Natur nach ein Kollektivwesen ist. Deshalb gehört die „Priorität des Gesellschaftlichen" zu den Prinzipien der kommunistischen Moral. Woraus wiederum „das kommunistische Prinzip einer Verschmelzung des Gesellschaftlichen und Persönlichen auf der Grundlage der Priorität des Gesellschaftlichen" („Kommunist", Nr. 1/61) folgt.

Streng genommen handelt es sich darum, daß der Kommunismus entsprechend seinem kollektivistischen Wesen die „Priorität des Gesellschaftlichen" fordert und in seinem Machtbereich diktiert (wobei er wiederum die Gesellschaft mit dem Staat identifiziert und das dynamische Spannungsverhältnis zwischen beiden bestreitet). Er glaubt aber tragischer-weise, sich damit in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur zu befinden und deren Befreiung von allen Fesseln behilflich zu sein. In Wirklichkeit projiziert er seine Theorie des Menschen auf die menschliche Natur, wobei er die soziale Seite des Menschen verabsolutiert und dessen persönlichen Kem wie einen Blinddarm zu operieren sucht. Das Resultat kann nur eine Deformierung des Menschen und damit alles Menschlichen sein. Der „Vollkommunismus" wäre — theoretisch und anthropologisch gesehen — die nicht nur zur Herrschaft gelangte, sondern auch zu Ende gedachte soziale Seite des Menschen, der seine innere und äußere Polarität gesprengt und alle „individualistischen Schlacken" abgeworfen hätte. Der Versuch zur „Verschmelzung" des Persönlichen und Gesellschaftlichen läuft — da es sich in der Vorstellung der Kommunisten nicht um Gleichrangiges handelt — auf das Einschmelzen des Persönlichen ins Gesellschaftliche, das Aufgehen des einzelnen im Kollektiv hinaus.

Soll der Historische Matrialismus auf den Kopf gestellt werden?

a) Kommunismus als Lebensform Diese Einwände erschöpfen jedoch nicht die erregenden Probleme, die sich aus dem kommunistischen Plan zur Schaffung eines neuen Menschen ergeben. Sie haben nämlich bisher weitgehend außer acht gelassen, worauf die Formung eines neuen Menschen zielt.

Sie zielt dahin, einen Menschentyp hervorzubringen, der kommunistisch denkt, kommunistisch arbeitet und kommunistisch lebt. Dies soll jedoch nur die Voraussetzung und Bedingung dafür sein, daß der Kommunismus aus einer Staatsform zu einer Lebensform wird. Hier liegt der springende Punkt bei allen Überlegungen um den neuen Menschen. Chruschtschow hat sich als einziger bisher offen darüber geäußert:

„Man darf jedoch nicht vergessen, daß der Kampf um die neue Lebensform, die neue Moral, gegen die zähen und widersetzlichen Überbleibsel des Alten noch andauert."

(„Prawda", 10. 7. 1960).

Wir könnten hinzufügen, daß er sogar über sein Anfangsstadium noch nicht hinausgekommen ist. Die Sowjets haben beispielsweise gewiß nicht zufällig in den letzten Jahren — nach mehr als vier Jahrzehnten Sowjetmacht — die Todesstrafe für besonders schwere Fälle von Diebstahl und „Spekulantentum" eingeführt; nahezu jeden Monat wird über Erschießungen berichtet, die kein Ende nehmen. Chruschtschow hatte auf dem XXI. Parteitag (1959) verkündet, daß sich „beim Sowjetmenschen das Streben nach Bereicherung und Privateigentum verliert". Anscheinend ist es umgekehrt. Vielleicht sollen gerade deshalb die materiellen Anreize, vor allem im Arbeitsprozeß, allmählich durch moralische Stimulanten ersetzt werden. Dazu ist nötig, das gesamte soziale Leben auf eine neue Basis zu transferieren, die nicht mehr materieller, sondern ethischer Natur ist. Nach dem Historischen Materialismus bestimmt das materielle auch das geistige Leben. Nun soll es umgekehrt sein. Die „neue Moral" ist eine geistige Schöpfung der Kommunistischen Partei, die das materielle Sein verändern soll. Nach einer Rede des Chefredakteurs der Zeitschrift „Woprosy filosofii", Mitin, vom 12. 2. 1962 befaßten sich die sowjetischen Philosophen „in der Vergangenheit mit der gründlichen und vielseitigen theoretischen Entwicklung der marxistischen These von der Abhängigkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins von dem gesellschaftlichen Sein ... Doch stehen wir heute vor der dringenden Aufgabe, . . .

das Problem der Rückwirkung des menschlichen Bewußtseins auf das gesellschaftliche Sein allseitig zu erforschen."

Nun ist klar, warum so viel Wert auf die Erziehung des kommunistischen Bewußtseins gelegt wird. Der „Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus" in der Sowjetunion soll über die Brücke des kommunistischen Bewußtseins geleitet werden. Die Entwicklung würde damit gleichsam . antimarxistisch'verlaufen.

Das kommunistische Bewußtsein soll entscheidend dazu beitragen, das gesellschaftliche Sein des Kommunismus, insbesondere „neue soziale Beziehungen" zu schaffen. Um es hierzu zu befähigen, müssen, wie Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag sagte, „alle Hebel genutzt werden". Als die beiden wichtigsten, wie zwei Zahnräder ineinandergreifenden Hebel werden der Marxismus-Leninismus und die kommunistische Moral angesehen.

b) Umwandlung der Ideologie in eine Moral Der Marxismus-Leninismus soll, indem er sich wie Blei in die Gehirne senkt, aufhören eine Ideologie zu sein, die man annehmen, zu der man sich aber auch passiv verhalten oder die man gar ablehnen kann. Es genügt den Sowjetführern auch keineswegs, daß sich ihre Untertanen formal zur kommunistischen Ideologie bekennen, ebensowenig wie es ihnen genügt, daß die vom Obersten Sowjet erlassenen Gesetze beachtet werden. Die Zeitschrift „Kommunist" (Nr. 11/59) verpflichtete die Volksdrushinen-und Kameradschaftsgerichte zur „rechtzeitigen Einwirkung auf jene, die irgendwelche Abweichungen von den gesellschaftlichen Verhaltensnormen an den Tag legen". Vor Abweichungen vom Marxismus-Leninismus wird man erst sicher sein, wenn die Ideologie zur Glaubensgewißheit geworden ist — und damit zur Grundlage des Denkens. Die ungarische Revolution brach u. a. aus, weil sich die kommunistische Ideologie nur über das Bewußtsein des Volkes gelegt hatte, ohne ihm unter die Haut zu dringen. Mit der kommunistischen Moral sollen die kommunistischen Prinzipien sogar zur Grundlage des Lebens und damit des täglichen Verhaltens werden. Das Verständnis der Ideologie setzt eine gewisse geistige Aufgeschlossenheit sowie die Fähigkeit zu abstraktem Denken voraus — zwei Bedingungen, die nur bei einer Minderheit des Volkes als gegeben unterstellt werden. Der Moralkodex wurde daher so abgefaßt, daß er für jedermann zugänglich ist und — nach Chruschtschow — jedem Sowjetbürger „in Fleisch und Blut übergehen" kann. Die Ideologie modelliert den Geist, die Moral formt die Psyche.

„Die Ideen des Parteiprogramms müssen das Bewußtsein der Menschen beherrschen, zur Grundlage sowohl ihrer Überlegungen wie auch ihrer Handlungen werden." (Filosofskii nauki, Nr. 3/62)

Die Erreichung dieser Ziele kann allerdings durch den Umstand durchkreuzt werden, daß der Moralkodex im Grunde nur vulgarisierte Ideologie ist, daß wir es mit dem Versuch einer ideologischen Ethik zu tun haben. Auf der anderen Seite soll dieser Moralkodex dazu beitragen, die kommunistische Weltanschauung ihres Gruppenbewußtseins zu entkleiden, indem sie auf dem Wege ethischer Prinzipien bis in die geheimsten Winkel der menschlichen Seele eindringt.

c) Der biologische Aspekt Zu diesem Zweck spielt man sogar mit dem Gedanken einer „Lenkung der natürlichen Erblichkeit", um notfalls den Menschen auch von der biologischen Seite in den Griff zu bekommen. Diese Idee erscheint phantastisch, ist aber durch Forschungen auf dem Gebiet der chemischen Genetik bereits in die Reichweite des Experiments gerückt. Der „genetische Code" als Grundlage des Erbvorganges wurde von der Wissenschaft weitgehend entschlüsselt. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit des Gen-Austausches, was nicht weniger heißt, als daß man durch Einflußnahme auf den Erbvorgang den Menschen mit bestimmten Eigenschaften versehen könnte, die aus irgendwelchen Gründen wünschenswert erscheinen, während unerwünschte Eigenschaften, die sich aus dem Code des Zellkerns ablesen lassen, gleichsam schon in der Anlage ausradiert werden. d) Der soziologische Aspekt Unter dem soziologischen Aspekt wird in der Sowjetunion das „Studium neuer Arbeits-und Lebensformen in den Fabriken" betrieben, um Ansatzpunkte für die „Verwandlung der Arbeit in ein Lebensbedürfnis" zu finden. Suslow, einer der prominentesten KP. -Führer, sprach in diesem Zusammenhang vom „Hinüberwachsen der sozialistischen in die kommunistische Arbeit", das den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus begleiten müsse.

Die sowjetischen Kommunisten haben einen neuen Staat und eine neue Sozialordnung geschaffen. Aber der sowjetische Mensch blieb in seiner Mehrheit trotz radikaler Umweltveränderung im großen und ganzen derselbe und wurde damit zum konservativsten Faktor innerhalb eines Systems, das mehr als jedes andere auf das Rad der Dynamik geflochten ist. Die Sowjetführer sind an einem Punkt angelangt, von dem ab die weitere Verwirklichung ihres Programms und damit ihre Existenz-Legitimation nicht mehr durch die Änderung bestehender Verhältnisse, sondern nur durch die Änderung des Menschen möglich ist — jener Menschen, die man wohl zur Arbeit, aber nicht dazu zwingen kann, die Arbeit als erstes Lebensbedürfnis zu empfinden; die man zwingen kann, ihr Knie vor der Partei zu beugen, aber nicht, im Sinne der Partei zu denken, zu arbeiten und zu leben. Bleiben jedoch diese Ziele unerfüllt, wird der „Vollkommunismus" stets nur ein theoretisches Schema sein, was früher oder später das Erlahmen der politischen Dynamik, die Stagnation und den Verfall des Systems zur Folge haben müßte, denn kein beliebiges Volk der Erde läßt sich auf unbegrenzte Zeit vertrösten und betrügen. Ohnehin sind aus dem „Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus" schon mehrere „historische Stadien" geworden. Erst kürzlich haben die Sowjets ein weiteres Stadium, das des „Volksstaates", für „obligatorisch" erklärt:

„Der Staat des ganzen Volkes ist eine neue Etappe in der Entwicklung des sozialistischen Staates, die auf dem Wege zur Gesellschaft ohne Staat obligatorisch ist." (Sowjetskoje gosudarstwo i prawo", Nr. 7/62). Stalins Praxis, spezifische Erscheinungen des kommunistischen Systems der Sowjetunion zum „Gesetz" für alle kommunistischen Länder zu erheben, ist also keineswegs tot. Sie wird im Gegenteil auch auf der wirtschaftlichen und ideologischen Ebene fortgeführt, was sich an zahlreichen Beispielen nachweisen ließe. Damit übertragen die Sowjetführer aber nur ihre eigenen Probleme auf die anderen kommunistischen Staaten, ohne selbst zu ihrer Lösung fähig zu sein. Auch die Formung des „neuen Menschen" ist bereits für den gesamten kommunistischen Herrschaftsbereich obligatiorisch geworden, obwohl die sowjetischen Kommunisten schon seit 1917, die ungarischen und tschechoslowakischen Kommunisten beispielsweise aber erst seit 1948 an der Macht sind.

e) Entweder die Ideologie oder der Mensch wird korrigiert Die Formung des neuen Menschen dürfte für den Kommunismus und insbesondere für sein Menschenbild die bisher härteste Probe aufs

Exempel werden. Bei dieser Probe wird entweder die Theorie oder der Mensch korrigiert, wenn nicht zerbrochen. Bisher hat das kommunistische System die in ihm lebenden Menschen gleichsam nur an der Oberfläche berührt und umfaßt — obwohl diese Berührung und Umfassung schon brutal genug war —, nun will es ihn an der Wurzel packen. Läßt sich das durch Erziehung erreichen?

Der Marxismus-Leninismus ist in der Sowjetunion, wie die wachsende Zahl der Lehrbücher, die zugleich immer umfangreicher werden, erweist, in die Periode seiner Kodifizierung eingetreten. Gleichzeitig versucht er, aus einem Dogmen-zu einem Wertsystem zu werden und sich damit zu fundieren. Neben die Ideologie und die Gesetze des Staates treten die Normen der kommunistischen Moral. Noch niemals hat ein politisches System ein dichteres Netz um den Menschen gesponnen.

Der totalitäre Mensch

a) Das totalitäre System braucht den totalitären Menschen Der Übergang zum Vollkommunismus verlangt, den Prozeß der totalitären Umformung der Sowjetgesellschaft zu Ende zu führen. Das soll geschehen, indem sich das totalitäre System den totalitären Menschen schafft. Erst damit wäre die Einheit von System und Mensch gegeben (— wie die von Staats-und Lebensform.) Diese Einheit ist für den Kommunismus lebenswichtig. Wie die Demokratie sich nur hält und festigt, wo das Volk demokratisch ist, so wird sich auch der Kommunismus letzten Endes nur behaupten können, wenn er sich auf den kommunistischen Menschen stützen kann.

Dieser Mensch, der sich daran erkennen ließe, daß er ohne äußeren Zwang kommunistisch denkt, lebt und arbeitet, wäre ebenso totalitär wir das System, in dem er lebt, weshalb er es nicht mehr als einen Druck, sondern eher wie eine Haut empfinden würde, die sich um den Organismus der Gesellschaft spannt. Ein Mensch dieser Art erscheint uns aus vielen Gründen als eine Utopie. Fast alles spricht dagegen, daß er geformt werden kann — selbst wenn wir davon ausgehen, daß sich die Sowjetführer nur eine annähernde Verwirklichung ihres Ideals vom neuen Menschen versprechen. b) Lebt der totalitäre Mensch schon unter uns?

Wie aber, wenn sich herausstellen sollte, daß der totalitäre Mensch bereits unter uns lebt;

wenn sich also herausstellen sollte, daß der eigentliche Träger der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts ein totalitärer Menschen-typ ist? Möglicherweise, so ließe sich sagen, wurde seine Heraufkunft deshalb übersehen, weil er sich erstens vom menschlichen Normalfall äußerlich nur wenig unterscheidet und weil er zweitens noch in der Minderheit ist. Vielleicht demonstrierte Fridell ein feines historisches Gespür, als er in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit" schrieb:

„Eine neue Ära beginnt, wo eine neue Varietät der Spezies Mensch auf den Plan tritt."

Auch die Neuzeit, meinte Fridell, sei auf den Schultern eines neuen Menschentyps geboren worden. Nicht durch die Entdeckung Amerikas, die Erfindung der Buchdruckkunst und die Reformation sei die Neuzeit entstanden. Umgekehrt: Amerika habe entdeckt, die Buchdruckkunst erfunden und die Reformation eingeleitet werden können, weil um die Wende des 15. Jahrhunderts „eine neue Menschenvarietät die Bühne der Geschichte betrat". Ähnliche Gedanken finden sich bei dem Soziologen Alfred Weber, von dem der Begriff des „dritten" und „vierten Menschen" stammt. Es könnte nützlich sein, das durch Fridell und Alfred Weber angeleuchtete Problem unter dem Gesichtspunkt zu durchdringen, ob das „Ende der Neuzeit" (Guardini) damit Zusammenhänge, daß Anfang des 20. Jahrhunderts wiederum ein neuer Menschentypus auftaucht, der seine extremste Prägung in den auf Weisung einer Partei blindlings tötenden GPUund SS-Leuten fand und als dessen Prototyp in der Mitte des 20. Jahrhunderts der kommunistische Apparatschik gelten darf. Keim dieses Apparatschiks war vermutlich der kommunistische Berufsrevolutionär, dessen Grundzüge Lenin im Jahre 1903 in seinem Buch „Was tun?" entwarf. Wir betonen: entwarf'Die Berufsrevolutionäre wurden zum Skelett der bolschewistischen Partei, die Lenin eine „Partei neuen Typus" nannte. Sie spielten eine überaus wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle in der russischen Oktoberrevolution im Jahre 1917.

c) Der Berufsrevolutionär Lenin war selbst ein Berufsrevolutionär. Aber dessen Herausbildung zu einem Typus erstreckte sich in Rußland über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren. In seiner Autobiographie „Mein Leben" spricht Trotzki dann von einem „Typus des Bolschewik im Gegensatz etwa zu dem Menschewik", wobei er letzteren mit dem westeuropäischen Sozialdemokraten verglich. „Bei genügender Erfahrung", schrieb Trotzki, „konnte das Auge — mit einem kleinen Prozentsatz von Irrtümern — sogar nach dem Äußeren einen Bolschewik von einem Menschewik unterscheiden." Diese erstaunliche Äußerung ist unseres Erachtens bisher weder genügend beachtet noch an Hand der Erfahrungen von Exkommunisten nachgeprüft worden. Sollte sie zutreffen, müßte angenommen werden, daß sich der Typus des Berufsrevolutionärs als des Grundstocks der bolschewistischen Partei allmählich auf die nichtberufsmäßigen Funktionäre und Mitglieder der rusrischen KP zu übertragen begann, und zwar nicht nur in Gestalt bestimmter Verhaltensweisen und Umgangsformen, sondern auch in Form bestimmter Eigenschaften und der Herausbildung eines neuen Menschentyps, der seinerseits wieder wellenförmig im Volks-ganzenexpandieren könnte. (Ohnehin gilt ja der kommunistische Parteifunktionär als das Urbild des neuen Menschen.) Unter diesem Aspekt wäre die Schaffung eines neuen Menschen ein weniger utopisches Unternehmen als es auf den ersten Blick scheint. Wenn wir annehmen, daß die moderne Technik — mit ihrer parzellenhaften Aufsplitterung aller menschlichen Lebensbereiche in festumrissene Funktionen im Rahmen der modernen Industriegesellschaft — ihrerseits dazu beiträgt, einen Menschen zu formen, dessen Grundgesetz nicht die Freiheit, sondern die Anpassung ist, besäße die phantastisch anmutende Idee eines neuen Menschen nicht nur eine reale Perspektive, sondern auch eine ebenso unerschöpfliche wie unermeßlich breite Basis. Und nun lese man noch einmal ein Chruschtschow-Zitat wie dieses:

„Es ist notwendig, den Komsomolzen, ja allen Sowjetmenschen neue Charakterzüge zu vermitteln . . . Und damit sollte man nicht erst bei den Komsomolzen, sondern schon bei den Kindern anfangen/ d) Der innenpolitische Aspekt — Internatserziehung Um bei den Kindern anfangen zu können, werden die ersten Schritte zu einer allgemeinen Internatserziehung der sowjetischen Jugend getan, die mehrstufig (von der Kinderkrippe bis zur Hochschule) sein soll. Sie wird eine der Formen sein, den Menschen an der Wurzel zu packen. Von allen „Hebeln" verspricht sie die größten Erfolge. Die allgemeine Internatserziehung ist das Kind einer Sorge:

„Unsere besondere Sorge ist darauf gerichtet, die Kinder vor dem Einfluß gläubiger Eltern und Verwandter zu bewahren. Die in der Verfassung verankerte Gewissensfreiheit bezieht sich auf erwachsene Bürger, die für ihre Handlungen verantwortlich sind. Es darf aber niemandem erlaubt sein, ein Kind geistig zu verderben und Zwang auf sein noch ungefestigtes Bewußtsein auszuüben.'

(„Komsomolskaja prawda“, 17. 4. 62)

Niemandem außer der Partei ist erlaubt, Zwang auf das noch ungefestigte Bewußtsein der Kinder auszuüben 1 Die Sowjetführer können kaum damit rechnen, daß es ihnen gelingen wird, die älteren Generationen umzuerziehen. Um so mehr konzentrieren sich ihre Hoffnungen auf die sowjetische Jugend, genauer, auf die Kinder in der Sowjetunion.

Chruschtschow hat nicht umsonst betont, daß die Familienerziehung „als ein sehr wichtiger Bereich der Parteiarbeit zu gelten" habe. Und der Komsomolführer Pawlow sagte noch einige Nuancen deutlicher: „Es müssen jegliche Versuche einer feindlichen Ideologie vereitelt werden, in die sowjetische Jugend einzudringen." Denn die „Hauptwaffe der Imperialisten" sei die „ideologische Diversion". Diese Diversion aber werde, wie Chruschtschow hinzufügte, „weitergehen, solange nicht die Frage entschieden ist, wer wen besiegt, solange nicht endgültig auf dem ganzen Erdball die rote Fahne des Kommunismus ... weht.“

e) Der außenpolitische Aspekt — Vollendung der Weltrevolution Die Gefahr, daß die sowjetische Jugend durch den Westen ideologisch beeinflußt wird, gilt also erst dann als gebannt, wenn es keinen Westen und damit keine Demokratien mehr gibt. Deshalb soll die Formung des neuen Menschen Hand in Hand mit dem „Sturz des Imperialismus" und dem Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab vor sich gehen. Im neuen sowjetischen Parteiprogramm wird angedeutet, daß die Sowjetführer hoffen, bis 1980 im Welt-maßstab gesiegt zu haben. Der Vollkommunismus setzt das Absterben des Staates — nicht nur der inneren, sondern auch seiner äußeren Funktionen, insbesondere der „Verteidigungsfunktion" — voraus. f) Die Ideologie als Schirm — ihr Funktionswandel Bis zu dem Zeitpunkt, da die Frage „wer wen besiegt" entschieden sein wird, fällt der kommunistischen Ideologie eine spezielle Aufgabe zu. Sie soll die Völker der kommunistischen Länder und in erster Linie die im kommunistischen System heranwachsende Jugend vor der „bürgerlichen Ideologie" abschirmen. Als „objektiv die bürgerliche Ideologie widerspiegelnd" gilt auch der „Revisionismus". In dem Manifest der 81 Kommunistischen Parteien vom Dezember 1960 hieß es daher:

„Die weitere Entlarvung der Führer der jugoslawischen Revisionisten und der aktive Kampf dafür, die kommunistische Bewegung wie auch die Arbeiterbewegung gegen die antileninistischen Ideen der jugoslawischen Revisionisten abzuschirmen, ist nach wie vor eine unerläßlicheAufgabe der marxistisch-leninistischen Parteien."

Wir können im Zusammenhang mit der Formung des neuen Menschen geradezu von einem Funktionswandel der kommunistischen Ideologie sprechen. Unter Lenin spielte sie eine vornehmlich revolutionäre Rolle. Unter Stalin wurde sie zu einem Instrument der Rechtfertigung beliebiger Maßnahmen einschließlich des Terrors und der Aggression. Unter Chruschtschow besteht ihre Hauptaufgabe darin, abzuschirmen. Das ist die dritte Etappe des Marxismus-Leninismus, eine Etappe, deren Eigenarten noch bis ins Detail studiert werden müssen, um den Funktionswandel der kommunistischen Ideologie bis an die Wurzeln freizulegen und seine Bedeutung für die Weltpolitik zu erfassen.

Die Auseinandersetzung zwischen Totalitarismus und Demokratie als Hauptinhalt des 20. Jahrhunderts

a) Eine tödliche Folgerung Die wahnwitzigste Folgerung aus der Hypothese, daß das totalitäre System möglicherweise von einem neuen — und zwar totalitären — Menschentyp getragen wird, bestünde darin, daß das Problem des Totalitarismus durch die Vernichtung dieses Menschentyps gelöst werden könne. Eine solche Folgerung wäre, abgesehen von ihrem mörderischen Charakter, selbst totalitär. Sie liefe auf die gleiche barbarische Methode hinaus, mit der Hitler das „Judenproblem" zu lösen versuchte. b) Die metaphysische Dimension des Ost-West-Konflikts Der theoretischen Möglichkeit einer solch entsetzlichen Folgerung muß daher von vornherein entgegengetreten werden. Der Totalitarismus ist eine Tendenz des 20. Jahrhunderts und als solche in jedem Menschen angelegt. Und nicht nur in jedem Menschen, auch in jedem politischen System. Selbst innerhalb der stabilsten Demokratien gibt es totalitäre Tendenzen, wie sie sich beispielsweise in der offen auftretenden Nazibewegung Englands und der Vereinigten Staaten inkarnieren, aber auch in den kommunistischen Parteien dieser Länder. Außer den kommunistischen Parteien in 89 Ländern existieren heute totalitäre Gruppen in allen Staaten der Welt, Gruppen, die in den wenigsten Fällen von Moskau oder der faschistischen Internationale inspiriert sind, sondern durchaus auf nationalem Boden wachsen.

Wenn wir die schnelle Ausbreitung des kommunistischen Systems über ein Drittel der Erde und die totalitären Symptome in allen Teilen der Welt betrachten, so mag der Eindruck entstehen, als treibe die moderne Zivilisation auf einem Strom totalitärer Tendenzen einem niagaraähnlichen Wasserfall zu, in dessen Klippen sie zerschellen kann. Es gibt aber auch einen starken Strom demokratischer Tendenzen, der an vielen Stellen selbst die Dämme des Ostblocks durchbricht. Unter der Decke des kommunistischen Systems sind demokratische Regungen spürbar.

Die Weltgeschichte der Gegenwart wird durch das erdumspannende Ringen dieser beiden Grundtendenzen unseres Jahrhunderts charakterisiert. Dieses Ringen, das wir den Ost-West-Konfikt nennen, spielt sich nicht nur zwischen den totalitären und den demokratischen Systemen, sondern auch innerhalb des Menschen, eines jeden Menschen, ab. Es hat, mit anderen Worten, eine metaphysische Dimension. Deshalb sollte eine der Grundaufgaben demokratischer Politik darin bestehen, die demokratische Tendenz im Menschen selber anzusprechen, um ihr zum Siege über die Gegentendenz, das Totalitäre, zu verhelfen, die auch in der Brust der scheinbar makellosesten Demokraten angesiedelt ist. Diese Grundaufgabe muß nicht nur innerhalb der Demokratien in Angriff genommen werden, sondern über die Demokratien hinaus. c) Verwandtschaft des totalitären und des technischen Menschen Die kommunistischen Staaten haben bisher bei der Heranbildung eines neuen, dem totalitären System gefügigen Menschen, den schon Lenin auf die Tagesordnung setzte, recht sparsame Erfolge erzielt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß sie über bedeutende Möglichkeiten verfügen, um den Menschen an der Wurzel zu packen, was durch einige Strukturelemente der modernen Industriegesellschaft noch begünstigt wird. Der technische Mensch und der totalitäre Mensch sind ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade miteinander verwandt. Wir haben daher Grund genug, den Plan zur Schaffung eines neuen Menschen ernst zu nehmen. d) Der Ausweg — die Demokratie muß zu einer Lebensform werden Auf der anderen Seite ist nicht damit zu rechnen, daß es den Sowjetführern gelingen könnte, das kommunistische System aus einer Staatsform zu einer Lebensform zu machen. Die theoretische Möglichkeit, den Menschen seines persönlichen Kerns zu berauben, muß schon beim Versuch in der Praxis auf ungeheure Schwierigkeiten stoßen. Die Demokratie dagegen ist, da sie von einem gleichsam vollen Menschenbild ausgeht, das die innere Polarität der menschlichen Natur ebenso anerkennt wie die natürliche Differenz zwischen Individuum und Gemeinschaft, durchaus in der Lage, aus einer Staatsform zu einer Lebensform zu werden und damit die Chancen des Totalitarismus an der Wurzel zu untergraben. Leider wurde in dieser Richtung bisher erstaunlich wenig getan.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Günther Bartsch, freier Journalist, geb. 13. Februar 1927 in Neumarkt/Schlesien, von 1948 bis 1953 in leitenden Positionen der kommunistischen Jugendbewegung, Bruch mit dem Kommunismus nach dem 17. Juni 1953.