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Die Reorganisation der sowjetischen WirtschaftsVerwaltung. Ursachen und Hintergründe | APuZ 28/1963 | bpb.de

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APuZ 28/1963 Die Reorganisation der sowjetischen WirtschaftsVerwaltung. Ursachen und Hintergründe Artikel 1

Die Reorganisation der sowjetischen WirtschaftsVerwaltung. Ursachen und Hintergründe

Karl C. Thalheim

In der Geschichte des sowjetischen Wirtschafts-Systems läßt sich beinahe von Anfang an immer wieder das Schwanken zwischen zwei Grundprinzipien der Organisation beobachten, zwischen den Prinzipien des Zentralismus und der Dezentralisation. Das ständig erneute Experimentieren im sowjetischen Wirtschaftssystem tritt uns besonders deutlich in der Tatsache entgegen, daß Perioden einer verstärkten Zentralisation immer wieder einmal durch den Versuch abgelöst werden, dieses System durch den Einbau dezentralisierender Elemente elastischer und beweglicher zu gestalten, daß dann jedoch abermals eine Phase der Zentralisation zu folgen pflegt.

Das ist darauf zurückzuführen, daß die Wirklichkeit und die Funktionsweise des sowjetischen Wirtschaftssystems ziemlich weit entfernt sind von dem, was theoretisch und propagandistisch vom Sowjetkommunismus darüber behauptet worden ist und nach wie vor behauptet wird. Keineswegs hat dieses System bisher den Beweis einer größeren Leistungsfähigkeit, einer größeren ökonomischen Effizienz gegenüber dem marktwirtschaftlichen System des Westens erbracht. Es hat auch keineswegs den Beweis dafür erbracht, daß, wie in seiner Theorie und Ideologie behauptet wird, durch die zentrale Planung eine „proportionale Entwicklung der Wirtschaft" gewährleistet sei; im Gegenteil können wir immer wieder feststellen, daß diese zentrale Planung Disproportionalitäten geradezu produziert, wodurch natürlich die Effizienz der Wirtschaft herabgesetzt werden muß. Die ursprüngliche Vorstellung der führenden Männer des Bolschewismus, man könne alle ökonomisch wesentlichen Entscheidungen zentral treffen, erwies sich bald als unrealisierbar. Als Lenin 1921, nahe vor einer echten Katastrophe der Sowjetwirtschaft, das Steuer herumwarf und die Neue Ökonomische Politik begann, wurden damit auch gewisse Voraussetzungen dafür geschaffen, daß in der Folgezeit, nachdem diese Neue Ökonomische Politik durch die Fünfjahrplan-Politik Stalins und eine forcierte Förderung des wirtschaftlichen, besonders des industriellen Wachstums abgelöst worden war, doch schon der Versuch gemacht werden konnte, gewisse Elemente der Dezentralisation in dieses starre System einzubauen.

Die Chruschtschow-Ära hat zunächst in wesentlich größerem Umfange Reformen gebracht, die das Prinzip der Dezentralisation betonten; das galt besonders für die regionale Dezentralisation der Wirtschaftsverwaltung im Jahre 1957. Nunmehr jedoch steht die Sowjetunion mit der im November 1962 begonnenen erneuten Reorganisation der Wirtschaftsverwaltung in einer Phase, in der sowohl dezentralisierende als auch zentralisierende Elemente miteinander zu ringen scheinen. Es spricht aber — wie noch zu zeigen sein wird — vieles dafür, daß in diesem Ringen die zentralistischen Elemente sich wieder stärker durchsetzen, als das in der Periode von 1957 bis 1962 der Fall war.

Dabei geht es nicht zuletzt um die Position der Kommunistischen Partei gegenüber der Wirtschaft. Die ökonomische Ratio drängt immer wieder auf eine stärkere Beweglichkeit der Betriebsleitungen; sie macht es immer wieder notwendig, in diesem System einer verstaatlichten Wirtschaft den Leitern der Staatsbetriebe Dispositionsbefugnisse zu übertragen, die ursprünglich bei zentralen Instanzen lagen. Damit verstärkt sich aber auch das Schwergewicht dieser Schicht der Leiter der Staatsbetriebe, und das Verhältnis von Partei-und Wirtschaftsführung wird zu einem sehr relevanten Problem des Sowjetsystems.

In der westlichen Presse konnte man im Laufe der letzten Monate, seit dem September 1962, häufig Berichte über die sogenannte „LibermanDiskussion" lesen. Sie begann am 9. September mit einem Artikel des Charkower Professors Liberman in der „Prawda", der unter dem Titel „Plan — Gewinn—Prämie" weitreichende Vorschläge für Reformen im sowjetischen Planungssystem enthielt. Diese Diskussion ist im Westen vielfach recht falsch ausgedeutet worden, und es erscheint noch immer notwendig, irrige Meinungen und Auffassungen über diese Diskussion und die sich daran anknüp-senden Umgestaltungen der sowjetischen Wirtschaftsorganisation richtigzustellen.

Zu diesen in der westlichen Ausdeutung dieser Entwicklungen nicht selten festzustellenden Irrtümern gehört auch die Vorstellung, daß die Diskussionen, für die der Artikel Libermans den Ausgangspunkt bildete, sozusagen etwas völlig Neues wären. Wer etwas besser mit den Dingen vertraut ist, weiß, daß das keineswegs zutrifft. Der wesentliche Inhalt dieser Diskussion trat in Fachzeitschriften und in den Fachtagungen der Sowjetunion schon in den vorangegangenen Jahren in Erscheinung, und die Geschichte ähnlicher Reformen im sowjetischen Wirtschaftssystem beginnt bereits am Ende der 20er Jahre. Dabei war zunächst die Stellung der Betriebe im Planungssystem von Bedeutung, die Frage, ob den Leitern dieser Staatsbetriebe selbständige Dispositionsbefugnisse übertragen werden und wo die Grenzen dieser Dispositionsbefugnisse gezogen werden sollen.

Das sogenannte Chosrastschot-System (in der deutschen Sowjetzone wörtlich, wenn auch ein wenig mißverständlich als wirtschaftliche Rechnungsführung übersetzt) geht mit seinen Anfängen bereits bis in das Ende der 20er Jahre zurück, wenn es auch wirklich große Bedeutung erst nach dem Zweiten Weltkriege, am Ende der 40er Jahre gewonnen hat. Es handelt sich beim Chosrastschot insbesondere um die organisatorische und finanzielle Verselbständigung der im Staatseigentum stehenden Betriebe. Diese bleiben nicht mehr, wie das in den Anfängen der Fall war, unselbständige Teilglieder staatlicher Konzerne — sogar der Name Trust ist in die russische Wirtschaftssprache übernommen worden —, sondern ihnen wurde nun ein gewisses Maß organisatorischer und finanzieller Selbständigkeit gegeben.

Ein zweite Entwicklungslinie ist das soge-nannte Vertragssystem, das seit dem Anfang der 50er Jahre entwickelt wurde. Mit diesem wurden den Staatsbetrieben — vor allem, wenn auch nicht nur, im Bereiche der Konsumgüterindustrie — gewisse Dispositionsbefugnisse hinsichtlich der Aufstellung des Betriebs-planes gegeben. Dadurch wurde zwar die umfassende staatliche Planung nicht etwa beseitigt, aber die den Betrieben erteilten Plan-aufgaben werden globaler gestaltet, und sie sollen durch Verträge der Betriebe untereinander konkretisiert, spezialisiert und detailliert werden.

Eine dritte Linie der Reformen, die erst unter der Ägide Chruschtschows entwickelt wurde, ist die schon erwähnte, im Jahre 1957 angeordnete regionale Dezentralisation der Wirtschaftsverwaltung. Sie stand im Gegensatz zu der ausgesprochenen Zentralisierungstendenz der stalinistischen Ära, bei der in immer größerem Umfange auch die sogenannte operative Leitung, also die laufende Anleitung und Überwachung der Staatsbetriebe durch zentrale Ministerien in Moskau erfolgte.

Es war infolgedessen eine einschneidende Veränderung, als 1957 der größere Teil dieser zu Mammutgebilden angewachsenen Branchen-ministerien in Moskau aufgelöst wurde und an ihrer Stelle ein regional dezentralisiertes System der Wirtschaftsverwaltung geschaffen wurde mit zunächst 105 Wirtschaftsbezirken, an deren Spitze jeweils ein Volkswirtschaftsrat (russische Abkürzung: Sownarchos) gestellt wurde. Das bedeutete, daß ein wichtiger Teil der Funktionen, die bisher bei zentralen Instanzen für die gesamte Sowjetunion lagen, auf regionale Instanzen verlagert wurde. Neben den Sownarchosen betraf das in gewissem Umfang auch die Regierungen der 15 Unionsrepubliken. Auch die Volkswirtschaftsräte sind jedoch Behörden; am Grundsatz der staatlichen Leitung der Wirtschaft änderte sich durch diese „Regionalisierung" also nichts.

Ohne Zweifel wollte Chruschtschow durch die regionale Dezentralisation der Wirtschaftsverwaltung das schwerfällige und unelastische System beweglicher und elastischer gestalten.

Ebenso ohne Zweifel aber ist dieses Ziel durch die Reformen von 1957 nur in beschränktem Umfange erreicht worden. Auf der anderen Seite ergaben sich dadurch neue Schwierigkeiten und Probleme, die man aus der sowjetischen Presse deutlich ersehen konnte. Sie ergaben sich vor allem aus einem Regionalegoismus oder Regionalpartikularismus sowie aus den Schwierigkeiten der Koordinierung der Planung, da auch gewisse Funktionen bei der Planerstellung auf diese regionalen Instanzen verlagert worden waren.

Alles in allem kann man jedenfalls nicht behaupten, daß die Reformen von 1957 zu einer wirklich durchgreifenden Verbesserung der Leistungsfähigkeit des sowjetischen Wirtschaftssystems geführt hätten. Die Klagen, die vorher schon über die entscheidenden Punkte der mangelnden Effizienz des sowjetischen Wirtschaftssystems laut geworden waren, wurden durch die Reform nicht ausgeräumt. Das zeigten besonders die wirtschaftlichen Debatten des XXII. Parteitages der KPdSU im Oktober 1961, jenes Parteitages, auf dem das neue Programm der KPdSU angenommen wurde, das das alte, seit 1919 gültige Programm ablöste. Die Klagen, die auf diesem Parteitag von den Politikern ebenso wie von den Praktikern der sowjetischen Staatswirtschaft über die Mängel des Systems geführt wurden, waren laut und intensiv. Chruschtschow selbst sagte wörtlich folgendes: „Die Praxis der Planung muß grundlegend verbessert werden; es muß gesagt werden, daß die Planungsorgane noch vielfach Fehler und Fehlkalkulationen bei der Festsetzung des Umfangs der Produktion machen. Die Produktionspläne entsprechen nicht immer den Plänen für die materiell-technische Versorgung und für die kooperierten Lieferungen, und die Baupläne nicht immer den Geldzuwendungen, Material-fonds und Lieferungen der Ausrüstung."

Wenn nach beinahe dreieinhalb Jahrzehnten des Bestehens der sowjetischen Planwirtschaft der führende Mann des Sowjetstaates sagen muß: „Die Praxis der Planung muß grundlegend verbessert werden", so ist das wohl ein recht deutlicher Beweis dafür, welche schweren Mängel mit diesem System bisher noch verbunden waren. Diese Mängel kann man heute nicht mehr als Kinderkrankheiten dieses Systems betrachten; nach dreieinhalb Jahrzehnten müßten Kinderkrankheiten überwunden sein, und Mängel, die im System von Anfang bis heute immer wieder in gleicher oder annähernd gleicher Weise auftreten, sind also offenbar nicht Kinderkrankheiten sondern Konstitutionsmängel.

Aus den Reden des XXII. Parteitages könnten Dutzende ähnlicher Zitate angeführt werden. Ein sozusagen unmittelbar an der Front stehender Funktionär, der Erste Sekretär des Gebietskomitees Tscheljabinsk, also eines industriell nicht unwichtigen sibirischen Gebietes, sagte: „Ich kritisiere die staatliche Plankommission und den Obersten Volkswirtschaftsrat; ich kritisiere die entstandenen Methoden der Planung, den Bürokratismus innerhalb der staatlichen Plankommission hinsichtlich der Qualität und der Richtigkeit der Planung . . . Kurz gesagt, die gegenwärtig bestehende Praxis der Planung der Produktion und der materiell-technischen Versorgung ruft ernste Schwierigkeiten in den Betrieben hervor. Wir sind fest davon überzeugt, daß bei der Beseitigung der Mängel in der Planung das Produktionstempo bedeutend ansteigt und die Produktionsausgaben geringer werden.“

Wenn man sich fragt, was denn eigentlich die wichtigsten ökonomischen Aspekte dieser Kritik am sowjetischen Planungssystem sind, so ergeben sich dabei zwei Punkte von entscheidender Bedeutung. Der eine ist die noch immer nicht erreichte richtige Koordination der einzelnen Teile des Wirtschaftsprozesses, begründet sowohl in unzureichender Koordination bei der Aufstellung der Pläne als auch in den bei der Durchführung dieser Pläne entstehenden Störungen.

Das zweite ist, daß offensichtlich die Investitionen im Sowjetsystem mangels ausreichender Kriterien für ihre ökonomische Richtigkeit und Effizienz einen geringeren Wirkungsgrad haben als das in der westlichen Welt der Fall ist. Wenn die sowjetische Propaganda die Behauptung aufstellt, daß das höhere Wachstumstempo der industriellen Produktion ein Beweis für die Überlegenheit des sowjetischen Wirtschaftssystems sei, so möchte ich die Gegenthese vertreten, daß dieses Wachstumstempo nicht durch das Wirtschaftssystem, sondern trotz des Wirtschaftssystems erreicht worden ist. Wirklich entscheidend für die hohen Wachstumsraten in bestimmten Bereichen ist nach meiner Auffassung das politische System, nämlich die Möglichkeit des totalitären Staates, eine Investitionsquote zu erzwingen, die erheblich über den durchschnittlichen Investitionsquoten westlicher Länder liegt, und innerhalb dieser Investitionsquote einen erheblich über dem westlichen Durchschnitt liegenden Teil der Gesamtinvestitionen auf die kapazitätswirksamen Investitionen zu konzentrieren, d. h. diejenigen Investitionen, die unmittelbar der Steigerung der Sachgüterproduktion dienen. Konkret gesprochen handelt es sich dabei vor allem um die Industrie, die in der Sowjetunion mit einem erheblich höheren Prozentsatz an den Gesamtinvestitionen beteiligt ist als normalerweise in westlichen Ländern.

Meine Gegenthese zu der Behauptung der sowjetischen Propaganda ist deshalb die, daß bei gleichem Grade der Effizienz, gleicher Höhe der Investitionsquote und gleicher Struktur der Investitionen unter westlichen Voraussetzungen das Wachstumstempo der Industrie größer sein müßte als es in der Sowjetunion gewesen ist, daß also nicht das Wirtschaftssystem, sondern der totalitäre Staat mit den nur ihm, nicht einem demokratischen Staate mit freiheitlicher Gesellschaftsordnung gegebenen Möglichkeiten die Ursache des besonders raschen Wachstums in den Schwerpunkt-bereichen gewesen ist.

Die aus den angeführten sowjetischen Kritiken ersichtliche unzureichende Effizienz des sowjetischen Wirtschaftssystems muß sich vor allem im Hinblick auf die nach wie vor außerordentlich weitgesteckten Ziele der sowjetischen Führung sehr ungünstig auswirken. Zwar ist z. B.der jetzt laufende Siebenjahrplan realistischer als der vorfristig abgebrochene sechste Fünfjahrplan, der ursprünglich bis 1960 laufen sollte, dann vom 1. Januar 1959 ab durch den Siebenjahrplan abgelöst wurde. Aber auch in diesem waren manche Ziele zu hoch angesetzt, so daß er jetzt ebenfalls abgebrochen und durch einen neuen Siebenjahrplan für die Jahre 1964 bis 1970 ersetzt wird. Generell also muß man sagen, daß auch heute noch die Sowjetführung die Ziele der Planung so weit steckt, daß sie nur unter optimalen Voraussetzungen erreicht werden können. Eine Betrachtung der beiden großen grundlegenden Ziele, die der Wachstumspolitik des Sowjetsystems jetzt vorschweben, zeigt deutlich die beträchtliche Diskrepanz zwischen diesen Zielen einerseits und dem zwar großen, aber doch begrenzten Potential der Sowjetunion andererseits.

Das erste ist das Ziel des „Einholens und Überholens der entwickeltsten kapitalistischen Länder". Zweitens ist es seit der Verkündung des neuen Programms der KPdSU das Ziel der Schaffung der „materiell-technischen Basis des Kommunismus" (wie der offizielle Terminus lautet) bis zum Jahre 1980. Das bedeutet, daß in den wesentlichen Bereichen der Wirtschaft bis dahin die Knappheit an Gütern absolut überwunden sein soll.

Zu dieser Diskrepanz zwischen Zielen und gegenwärtigen Möglichkeiten kommen zwei weitere Gesichtspunkte, die die Problematik des Planungssystems immer schwieriger machen. Einmal ist gerade durch die forcierte Wachstumspolitik der Sowjetunion deren Wirtschaftsstruktur immer komplizierter geworden. Der Reifungsprozeß der Sowjetwirtschaft muß notwendigerweise zu einer komplizierten Wirtschaftsstruktur führen, und er hat das auch getan. Je komplizierter aber die Struktur einer Volkswirtschaft ist, desto schwieriger wird die richtige Bestimmung der Proportionen innerhalb der Wirtschaft, desto schwierigere Probleme stellt die Interdependenz der wirtschaftlichen Vorgänge überhaupt.

Auch der zweite Gesichtspunkt hängt mit diesem Reiferwerden sowohl der Sowjetwirtschaft als auch der Sowjetgesellschaft zusammen: bei der heutigen sozialen Struktur der Sowjetgesellschaft ist eine derartige fast völlige Mißachtung der individuellen Bedürfnisse, der Konsumentenbedürfnisse an Gütern, an Diensten, an Wohnraum, wie sie in der stalinistischen Ara praktiziert wurde, schlechterdings nicht mehr erträglich. Die Sowjetführung muß der „neuen Oberschicht", vor allem aber — was viel stärker ins Gewicht fällt — den sehr viel breiter gewordenen Mittelschichten Konzessionen durch ein viel großzügigeres Wohnungsbauprogramm und durch die vermehrte Produktion von Konsumgütern machen.

Solche Konsumgüter sollen den Bedarf von Menschen decken, die ein Geldeinkommen beziehen, die damit also grundsätzlich freie Konsumwahl gegenüber den überhaupt auf dem Markt angebotenen Gütern haben. Die Planung solcher Güter ist aber wesentlich schwieriger als die Planung von Gütern, die durch staatlich gesetzte Ziele, etwa den Bau von Stahlwerken oder von Schwefelsäure-oder Zement-fabriken oder durch den Bau einer neuen Eisenbahnlinie, bedingt sind.

Die dargestellten Wirkungen des Reifungsprozesses von Wirtschaft und Gesellschaft der Sowjetunion bilden nicht zuletzt den Hintergrund der ständig sich wiederholenden Versuche, das sowjetische Wirtschaftssystem mit dem Ziele größerer Effizienz zu reformieren.

Das Mißverhältnis zwischen der heutigen Kapazität und Produktionsfähigkeit und den gesetzten Zielen zeigte sich mit besonderer Deutlichkeit gerade auf jenem Gebiete, auf dem sich Chruschtschow als besonders sachverständig betrachtet, nämlich der landwirtschaftlichen Produktion. In keinem anderen Bereiche der Sowjetwirtschaft ist die Diskrepanz zwischen Ziel und Wirklichkeit so groß. Im Frühjahr 1962 sah sich die Sowjetregierung zu einer Maßnahme genötigt, die sie sicherlich sehr ungern durchführte, nämlich einer plötzlichen Heraufsetzung der Fleisch-und Butterpreise in beträchtlichem Ausmaß. Diese Preiserhöhung war ein sehr deutlicher Beweis dafür, daß, was wir ja auch aus anderen Quellen wissen, gerade die viehwirtschaftliche Erzeugung, also der für den angestrebten und versprochenen höheren Lebensstandard wesentlichste Teil der landwirtschaftlichen Erzeugung, erheblich hinter den gesteckten Planzielen zurückgeblieben ist. Deshalb war auch die Landwirtschaft derjenige Bereich, in dem die neue Phase der Reformen oder Umgestaltungen der Wirtschaftsverwaltung zuerst einsetzte. Bereits im März 1962 bildeten auf einer der üblichen Plenarsitzungen des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Landwirtschaftsprobleme und die Frage der Organisation der Landwirtschaftsverwaltung das ausschließliche Thema der Erörterungen, die zu tief einschneidenden Veränderungen führten. Neben Veränderungen in den betriebswirtschaftlichen Methoden der sowjetischen Landwirtschaft, auf die ich hier nicht eingehen will, und der Frage einer stärkeren Berücksichtigung der Landwirtschaft bei den Investitionen mit dem Ziele einer rascheren Technisierung ging es vor allem um die Planung und die Organisation der Verwaltung auf dem Gebiet der Landwirtschaft.

Wie wenig den Intentionen der Machthaber die tatsächliche Situation der Landwirtschaft vor dieser Umgestaltung entsprach, können wir aus einer Klage der Fachzeitschrift „Selskaja Shins" vom 24. März 1962 entnehmen. Dort hieß es: „Im Lande gibt es genau genommen kein Organ, das die Landwirtschaft richtig lenkt, sich mit der Organisation der Produktion und Erfassung befaßt, die Bedürfnisse der Kolchose und Sowchose studiert und eine wirksame Nutzung des Bodens, der Technik und der anderen Produktionsmittel anstrebt." Wiederum muß man sagen: wenn im Jahre 1962, nach über 30 Jahren Planwirtschaft, ein so vernichtendes Urteil über die Situation der landwirtschaftlichen Planung gefällt werden muß, so ist das ein Beweis dafür, wie sehr Wirklichkeit und Theorie oder Propaganda hier auseinanderklaffen. Der entscheidende Punkt der Neugestaltung der Agrarverwaltung lag darin, daß zur Leitung der landwirtschaftlichen Produktion mit dem Ziele der Produktionssteigerung in den Gebieten, den Rayons und den Bundesrepubliken territoriale Kolchos-Sowchos-Produktionsverwaltungen gebildet wurden. Diesen territorialen Kolchos-Sowchos-Verwaltungen, die sowohl die Staatsgüter, die Sowchose als auch die Kolchose, die Kollektivwirtschaften an-zuleiten haben, wurde eine Fülle von Aufgaben übertragen, besonders die organisatorische Leitung der Produktion und der Erfassung von Agrarprodukten sowie die Verantwortung dafür, daß die Produktionspläne und die staatlichen Aufkäufe von jedem Kolchos und Sowchos erfüllt werden. Für die Regionen und Gebiete in den autonomen Republiken sowie in den Unionsrepubliken wurden „Komitees für die Landwirtschaft" gebildet, an deren Spitze jeweils der erste Sekretär der zuständigen Organisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion steht. Das ist deshalb besonders wichtig, weil hier zum erstenmal die Kommunistische Partei ganz unmittelbar nicht nur in die Aufstellung der Pläne, sondern auch in die Lenkung und Kontrolle des Wirtschaftsablaufs eingeschaltet wurde. Damit begann eine Entwicklung, die, wie noch darzustellen sein wird, mit der Ende November 1962 begonnenen Reorganisation der Wirtschaftsverwaltung auch auf den Bereich der nichtagrarischen Wirtschaft ausgedehnt wurde.

Bevor wir aber von dieser ersten Etappe, der Reform der Agrarverwaltung, zu den jetzt im Gange befindlichen neuen Umorganisationen übergehen, müssen wir erst einmal einen Blick auf die Entwicklung in der sowjetischen Wirtschaftswissenschaft werfen, und zwar im Zusammenhang mit jener Liberman-Diskussion, von der zu Anfang die Rede war. Die sowjetische Wirtschaftswissenschaft hatte in der stalinistischen Periode eine bemitleidenswerte Existenz geführt. Der Spielraum, innerhalb dessen sich wissenschaftliche Forschung bewegen konnte, war minimal; infolgedessen war der Stand der sowjetischen Wirtschaftswissenschaft sehr niedrig und blieb weit hinter dem zurück, was etwa in ideologisch und politisch nicht gebundenen Wissenschaftsbereichen, wie einer Anzahl von naturwissenschaftlichen Disziplinen, erreicht wurde. In der nachstalinistischen Ära sind auch für die sowjetische Wirtschaftswissenschaft einige Tabus der stalinistischen Periode gefallen. Ich sage bewußt „einige" Tabus. Es gehört meiner Meinung nach zu den häufig zu beobachtenden westlichen Irrtümern in der Beurteilung der sowjetischen Entwicklung, daß die ideologische Gebundenheit der Wirtschaftspolitik vollständig verschwunden oder doch mindestens so eingeschränkt sei, daß sie kaum noch wesentliche Bedeutung hätte. Mit dem ner vorragenden Kenner des dialektischen Materialismus Prof. Bochenski bin ich der Meinung, daß in jenem Bereiche, den Bochenski den Kernglauben nennt, die ideologische Gebundenheit heute nicht weniger stark entwickelt und nicht weniger wirksam ist als in der stalinistischen Periode. Aber auch wenn man dieser Überzeugung ist, wird man doch zugeben können, daß der Spielraum für wirtschaftswissenschaftliche Diskussionen über die Funktionsweise und die Methodik des sowjetischen Planungssystems heute wesentlich größer ist als in der stalinistischen Periode. Zwar wäre es auch heute noch völlig unmöglich, daß ein sowjetischer Politökonom die These verträte, die Marktwirtschaft sei der zentralen Planung überlegen. Wohl aber ist es heute möglich, daß sowjetische Politökonomen sehr intensiv die Methoden erörtern, mit denen die zentrale Planung am effizientesten gestaltet werden könnte. Man wird objektiverweise feststellen müssen, daß diese Diskussionen zum Teil bis hart an den Rand, ja manchmal sogar schon über die Grenze dessen hinausgehen, was als Kernglaube zu bezeichnen ist. Es handelt sich hierbei als zum Teil um Diskussionen, die in der stalinistischen Ära wahrscheinlich zu einer physischen Liquidierung der Mutigen geführt hätten, die diese durch die Ideologie gezogene Grenze so weit zu überschreiten wagten.

Wie ich schon an früherer Stelle sagte, ist in diesen Diskussionen, namentlich seit der Mitte der 50er Jahre, ein großer Teil dessen, was in der Liberman-Diskussion einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht worden ist, im engeren Fachkreise bereits diskutiert worden.

Zwei solcher fachwissenschaftlicher Diskussionen in der sowjetischen „Politökonomie"

sollen hier wenigstens kurz genannt sein, ohne daß ich an dieser Stelle näher auf sie eingehen kann. Es war einmal die sogenannte Wertgesetzdebatte; bei dieser ging es nicht zuletzt um die Kriterien der Preisbildung, insbesondere auch um die Preisbildung für Produktionsgüter. Ein zweiter Fall war die Debatte über die Kriterien der Investitionsauslese, über die Frage, wie man in diesem System zentraler Planung mit autoritär geregelten Preisen exakte Kriterien für die Auslese verschiedener möglicher Investitionsvarianten finden könne. Diese Frage der Investitionskriterien führte notwendigerweise nahe heran an ein Zentralproblem, das dann in der Liberman-Diskussion eine erhebliche Rolle spielte, mindestens unterschwellig, zum Teil aber auch expressis verbis, das Problem nämlich, wie weit die Kapitalkosten in die Kostenberechnung des Sowjetsystems einbezogen werden dürfen, da ja nach der klassischen Marxschen Ideologie nicht das Kapital, sondern nur die lebendige Arbeit produktiv ist. Jedoch weist die im September 1962 mit jenem oben erwähnten Artikel Libermans begonnene Diskussion neue Züge auf, die in dieser Form in ähnlicher Weise in der Sowjetunion vorher nicht festzustellen waren. Mir scheinen da vor allem zwei Punkte wichtig zu sein. Die früheren Diskussionen waren Diskussionen von Fachleuten im engen Kreise, die etwa in der Fachzeitschrift „Voprossi Ekonomiki" („Fragen der Wirtschaft") geführt wurden, oder auf Fachtagungen, die von Instituten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften einberufen wurden und deren Ergebnisse kaum über den engen Kreis der Fachleute hinaus-drangen. Es war also etwas Neues, in gewissem Sinne sogar etwas sensationell Neues, daß die „Prawda", das Zentralorgan der Kommunistischen Partei, ihre Spalten einer solchen Diskussion öffnete, daß damit also diese Diskussion an Millionen von Lesern und nicht nur an einige Tausend herangetragen wurde. Zweitens handelte es sich offenbar um eine wirklich freie Diskussion, freilich natürlich nur innerhalb jener Grenzen, die durch die noch bestehenden ideologischen Tabus des Kernglaubens gezogen waren. Aber sie wurde doch mit einer Freiheit geführt, die in der stalinistischen Ära unvorstellbar gewesen wäre, und sie war frei auch insofern, als offenbar mit ihr nicht beabsichtigt war, die Öffentlichkeit auf eine bereits vorher getroffene Entscheidung propagandistisch vorzubereiten. Diskussionen solcher Art, bei denen die Entscheidung bereits vorlag und die scheinbare Diskussion in der Öffentlichkeit in Wirklichkeit nur eine propagandistische Vorbereitung der Öffentlichkeit für diese Entscheidung war, hatte es früher auch schon gegeben. Die Liberman-Diskussion war jedoch eine offene Diskussion insofern, als offensichtlich, wie noch zu zeigen sein wird, die Entscheidung eben noch nicht gefallen war.

Bei, der Darstellung des wesentlichen Inhalts dieser Diskussion muß ich mich sehr beschränken und kann nur einige Hauptgesichtspunkte herausarbeiten. Der unmittelbare Ausgangspunkt dieser Diskussion war ein Sachproblem, das auf den ersten Blick für den nicht mit den Dingen näher vertrauten westlichen Beobachter nicht sehr bedeutsam zu sein scheint, nämlich die Maßstäbe für die Prämienberechnung in den sowjetischen Staatsbetrieben. Von dieser Prämienberechnung hängt einmal ein wesentlicher Teil des Einkommens der leitenden Angestellten der Betriebe ab, zum anderen auch die Höhe der Mittel, die für bestimmte soziale Zwecke der Belegschaften verwendet werden dürfen. Die Kritik Libermans und der in dieser Diskussion mit ihm übereinstimmenden richtete sich zunächst dagegen, daß die Prämienberechnung von der Erfüllung des Bruttoproduktionsplanes abhängig gemacht wird. Es wurde von ihnen richtig darauf hingewiesen, daß auf diese Weise die Betriebe veranlaßt wären, um möglichst „weiche" Pläne zu kämpfen, d. h. Pläne, die ihre Kapazitäten möglichst nicht voll ausschöpfen, um dann einen hohen Grad der Planerfüllung melden zu können. Es wurde ferner darauf hingewiesen, daß diejenigen Betriebsleiter, die ernstlich versuchten, die betrieblichen Reserven voll einzusetzen, auf diese Weise in Nachteil kämen gegenüber den Betrieben, denen es durch geschicktes Verhandeln gelänge, für sich einen möglichst leicht zu erfüllenden Plan herauszuholen. Aber die Vorschläge Libermans gingen weiter, und ich möchte deshalb auch auf die speziellen Probleme der Prämien-gestaltung hier nicht näher eingehen, obwohl sie in dem ursprünglichen Aufsatz Libermans in der „Prawda" eine ziemlich große'Rolle spielen. Andere Gegenstände dieser Diskussion scheinen mir grundsätzlich wichtiger zu sein.

Im weiteren Verlauf der Ausführungen Libermans selbst und der sich daran anknüpfenden Diskussionen wurde nämlich von dieser Richtung immer mehr die Forderung gestellt, den Betrieben ein größeres Maß von Entscheidungsfreiheit zu geben. Allerdings hielt auch Liberman selbst — das muß gegenüber manchen westlichen Mißverständnissen klar herausgestellt werden — an den wesentlichsten Grundsätzen des sowjetischen Planungssystems fest, nämlich an der Festlegung der Bruttoproduktion durch die staatlichen Planungsstellen, an der Bestimmung der Detaillierung dieser Bruttoproduktion, soweit diese nicht ohnehin schon im Wege des Vertrags-systems den Betriebsleitern überlassen ist, ferner an den staatlich geregelten Preisen. Mit anderen Worten: die entscheidenden Elemente eines Systems zentraler Planung werden auch bei Verwirklichung der Libermanschen Vorschläge nicht verändert. Er will aber innerhalb dieses Rahmens den Betriebsleitern ein wesentlich größeres Maß von Selbständigkeit geben, etwa in der Bestimmung über den Material-verbrauch, über den Einsatz von Arbeitskräften und ähnliches mehr, und er kommt dabei zu dem Vorschlag, die Rentabilität zu einer der Hauptkennziffern der Betriebe zu machen.

Die westlichen Mißverständnisse über den Charakter und die Bedeutung der Liberman-Diskussion, von denen ich oben gesprochen habe, sind nicht zuletzt in der Meinung begründet, mit dem Begriff der Rentabilität wäre ein völlig neuer Gedanke in die sowjetische Diskussion eingeführt worden. Das ist ein Irrtum.

Man kann bereits vor 40 Jahren bei Lenin nachlesen, daß schon er den Staatsbetrieben die Aufgabe stellte, rentabel zu wirtschaften; Rentabilität ist also nicht eine neue Entdekkung Libermans. Aber der Begriff der Rentabilität wurde bisher im Sowjetsystem anders aufgefaßt, als ihn Liberman interpretiert sehen möchte; bisher galt als Rentabilität das Verhältnis des Gewinns zu den Selbstkosten der Betriebe. In diesen Selbstkosten wurden aber auf Grund der vorhin schon von mir erwähnten marxistischen Ideologie die Kapitalkosten nur ganz unzureichend berücksichtigt, im wesentlichen nur mit in minimaler Höhe normierten Abschreibungssätzen, die häufig nicht einmal den technischen Verschleiß der sachlichen Produktionsmittel deckten. Liberman dagegen will die Rentabilität auffassen als das Verhältnis des Betriebsgewinns zu den im Betrieb eingesetzten Grundfonds und betrieblichen Umlauffonds, d. h. praktisch zu dem im Betrieb eingesetzten Kapital. Denn das, was in der sowjetischen Terminologie als Grundfonds bezeichnet wird, ist nach unserer Begriffsbestimmung das Sachkapital, die Umlauffonds sind das umlaufende Kapital, also insbesondere auch das für Lohnzahlungen, für Bezahlung von Material usw. erforderliche Kapital. Wenn man sich den ideologischen Zusammenhang des Sowjetsystems vergegenwärtigt, dann handelt es sich bei einer solchen Neu-interpretation des Begriffs Rentabilität allerdings wirklich um eine Neuerung von großer und grundsätzlicher Bedeutung; wenn diese Vorschläge verwirklicht würden, dann wäre damit die Grenze der ideologischen Gebundenheit, der ideologischen Tabus, die bisher gelten, überschritten worden.

Nun ist in der Diskussion über die Vorschläge Libermans von einigen Teilnehmern, die im Prinzip mit einer solchen Reform einverstanden waren, mit Recht eingewendet worden, daß der sowjetische Betrieb in dem jetzigen System der Wirtschaftsplanung einen sehr geringen Einfluß auf die Rentabilität hat. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil dem Betrieb ja die Preise vorgegeben sind, sowohl die Preise der Güter, die er selbst herstellt, als auch die Preise der Güter und der Produktionsfaktoren, die er in seinem Produktionsprozeß einsetzen muß. Infolgedessen bleibt dem Betrieb also nur eine ziemlich geringe Chance, die Rentabilität durch eigenes Handeln, durch eigene Entscheidungen zu verbessern. Es wurde deshalb in der Diskussion immer wieder darauf hingewiesen, daß eine solche Abstellung auf die Rentabilität als „Hauptkennziffer" der Betriebe, wie der offizielle Terminus lautet, nur dann möglich wäre, wenn man ein ökonomisch richtiges Preissystem hätte. Ein solches ökonomisch richtiges Preissystem müßte die relativen Knappheiten der Güter richtig wiedergeben; diese Forderung aber wird von den jetzt geltenden manipulierten Preisen in der Sowjetunion nicht erfüllt.

Die so begründete Kritik an den Vorschlägen Libermans erscheint deshalb berechtigt. Die Verwirklichung dieser Vorschläge müßte also im Grunde genommen zu einem völligen Systemwandel führen; man müßte damit nämlich im echten Sinne marktwirtschaftliche Elemente einführen, und dann entsteht die große Frage, die hier weiter zu erörtern mir nicht möglich ist: kann es eine „halbe Planwirtschaft" in diesem Sinne überhaupt geben? Läßt sich ein System der zentralen Planung noch realisieren, wenn man eine in irgendeiner Weise markt-mäßige Preisbildung haben will, müßte man nicht dann eben zu einem System übergehen, wie es in Jugoslawien versucht wird, nämlich einem System der sogenannten „Sozialistischen Marktwirtschaft" mit sogenanntem „gesellschaftlichem" Eigentum an den Produktionsmitteln, aber marktmäßigem Steuerungsmechanismus der Wirtschaft? Das sind sehr grundsätzliche Probleme, die auch in der Liberman-Diskussion z. T. richtig erkannt worden sind.

Diese Erkenntnis kam z, B. einem der fortgeschrittensten sowjetischen Wirtschaftswissenschaftler, Prof. Nemtschinow, der zu den besonders entschiedenen Verfechtern der Libermanschen Vorschläge gehörte und mit seinen eigenen Diskussionsbeiträgen sogar noch darüber hinausging; er ist der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Rates der sowjetischen Akademie der Wissenschaften für die wissenschaftlichen Grundlagen der Planung und die Organisation der gesellschaftlichen Produktion. Ich möchte aber ausdrücklich bemerken, daß viele Teilnehmer an dieser Diskussion sich gegen die Libermanschen Vorschläge ausgesprochen haben. Sie begründeten ihre Ablehnung entweder mit den eben genannten oder verwandten Begründungen; eine solche Reform könne nur dann durchgeführt werden, wenn auch wesentliche andere Elemente der zentralen Planung geändert würden. Eine andere Gruppe dagegen brachte Begründungen, die noch ganz aus den alten ideologischen Tabus herrührten; so machte z. B. etwa der langjährige Finanzminister der Stalinära, Swerew, es den Vorschlägen Libermans zum Vorwurf, daß, wenn sie verwirklicht würden, nunmehr „das Mehrprodukt" — ich zitiere wörtlich — „angeblich nicht durch die Mehrarbeit, sondern durch die Grundfonds" -— d. h. also durch das Kapital — „geschaffen würde".

Es waren also sehr viele und verschiedene Aspekte bei dieser Diskussion im Spiel. Deshalb war es eine Frage von größter Bedeutung, wie die politische Führung der Sowjetunion darauf reagieren würde, die ja offenbar diese Diskussion bewußt vonstatten gehen ließ, ja vielleicht sogar angeregt hat. Als das ZK der KPdSU zu einer Sitzung vom 19. bis 23. November 1962 einberufen wurde, deren Tagesordnung ausschließlich Fragen der Entwicklung der Wirtschaft der Sowjetunion und der Leitung der Volkswirtschaft durch die Partei gewidmet war, war man allgemein der Meinung, daß diese Sitzung des ZK in irgendeiner Weise zu Maßnahmen führen würde, die Konsequenzen aus der Liberman-Diskussion zögen. Es war deshalb eine beträchtliche Überraschung, daß das, was an wirklichen Reformmaßnahmen oder besser gesagt Umgestaltungsmaßnahmen herauskam, mit dem Inhalt der Liberman-Diskussion kaum etwas zu tun hatte. Zum ganzen Problemkreis wurde in der Hauptrede Chruschtschows auf dieser Tagung des ZK nur folgendes gesagt: „Bei der Charakterisierung des sozialistischen Wirtschaftssystems darf man den Begriff Gewinn, angewandt auf die ganze Volkswirtschaft und angewandt auf den einzelnen Betrieb, nicht durcheinanderwerfen. In jüngster Zeit hat sich in der . Prawda’, in der . Iswestija’ und in der , Ekonomitscheskaja Gaseta’ eine gründliche Diskussion über einen ganzen Kreis ökonomischer Fragen entwickelt. An dieser Diskussion haben sich zahlreiche Spezialisten der Industrie und des Bauwesens, Wirtschaftsfachleute und Wirtschaftswissenschaftler beteiligt.

Im Verlaufe der Diskussion wurden viele wertvolle Vorschläge gemacht. Die Planungsorgane und das Wirtschaftsinstitut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR sollten beauftragt werden, diese Vorschläge aufmerksam zu studieren und jede sachliche und vernünftige Anregung auswerten, um die Planung zu verbessern. Auf Grund der Analyse dieser Vorschläge sind Empfehlungen wirtschaftlichen Charakters auszuarbeiten, die auf die Verbesserung der Produktionsplanung und auf die wissenschaftliche Organisation der Arbeit gerichtet sind."

Man kann freilich aus einigen Stellen der Chruschtschow-Rede entnehmen, daß die Liberman-Diskussion bei ihm nicht ohne Wirkungen geblieben ist, daß er über ihren Inhalt nachgedacht hat; aber er hat keine Entscheidungen getroffen. Die Dinge sind bisher in der Schwebe geblieben, unmittelbare Konsequenzen wurden nicht gezogen, es ist aber auch nicht — oder, vorsichtiger gesagt, noch nicht — die Diskussion als solche abgebrochen worden. Sie wird weitergeführt, es wird ein Institut der Akademie mit der Weiterführung beauftragt, dessen Leiter allerdings, wie sich aus der Diskussion ergab, zu den Gegnern der Libermanschen Vorschläge gehört; auch das ist vielleicht nicht ohne Bedeutung.

Es scheint mir auch von Bedeutung zu sein, daß zwei Monate später, im Januar 1963, Wal-10 ter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED zwar auch kaum konkrete Maßnahmen verkündet hat, die wirkliche Konsequenzen aus der Liberman-Diskussion zögen, aber immerhin doch offensichtlich sich ebenfalls sehr genau mit dem Inhalt dieser Diskussion beschäftigt hat.

Tatsächlich hat Chruschtschow auf der genannten Tagung des Zentralkomitees recht einschneidende Änderungen verkündet, vor allem hinsichtlich der Stellung der Kommunistischen Partei in der Lenkung und Kontrolle der Wirtschaft. Aber so gut wie alle von ihm angekündigten Maßnahmen haben mit dem Inhalt der Liberman-Diskussion recht wenig zu tun.

Wieder einmal werden die obersten Planungsorgane umgestaltet. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des sowjetischen Wirtschaftssystems, daß immer wieder von Zeit zu Zeit die obersten Organe umbenannt und ihre Aufgaben neu verteilt werden. Bisher war GOSPLAN, das staatliche Plankomitee, verantwortlich für die laufende Planung; daneben gab es beim Ministerrat der UdSSR für die langfristige Perspektivplanung einen Staatlichen Wissenschaftlich-Ökonomischen Rat, abgekürzt GOSEKONOMSOWJET.

Bei der Reorganisation im November 1962 wurde der GOSEKONOMSOWJET aufgelöst, dagegen ein Volkswirtschaftsrat der UdSSR neu geschaffen. Ursprünglich hatte es den Anschein, daß die Funktionsteilung zwischen den beiden obersten Organen dem Staatlichen Plankomitee die langfristige Perspektivplanung, dem Volkswirtschaftsrat die laufende Planung zuwies. Jetzt ist es aber offenbar so, daß bei GOSPLAN sowohl die langfristige als auch die laufende Planung zusammengefaßt sind, während dem Volkswirtschaftsrat die Aufgabe zufällt, die Verwirklichung der Pläne ständig zu überwachen und zu koordinieren und bei auftretenden Schwierigkeiten und besonderen Engpässen so rasch und wirksam wie möglich einzugreifen.

Besondere Bedeutung kommt im Rahmen der Reorganisation vom November 1962 jenen Maßnahmen zu, die eine neue Zentralisationstendenz in der Wirtschaftsverwaltung erkennen lassen. Das betrifft einmal die regionale Dezentralisation. Ich wies oben darauf hin, daß der Aufgliederung der Sowjetunion in über 100 Wirtschaftsbezirke eine Diskussion über die daraus entstehenden Probleme der Koordinierung der regionalen Pläne und der Beseitigung der regionalen Egoismen gefolgt war. Schon in der Folgezeit hatten sich gewisse Tendenzen herausgebildet, neue regional übergeordnete Instanzen zu schaffen; diese Tendenz wurde durch die Reorganisation weiter fortgeführt. Die bisher bestehenden über 100 Wirtschaftsbezirke wurden auf weniger als die Hälfte, also zu größeren regionalen Einheiten zusammengelegt.

Eine weitere Zentralisation vollzog sich auf dem sehr wichtigen Gebiete der Bauwirtschaft und im Zusammenhang damit auch der Investitionen. Die Bauwirtschaft wurde aus der Zuständigkeit der regionalen Volkswirtschaftsräte herausgenommen und einem neuen staatlichen Komitee für das Bauwesen der gesamten Sowjetunion, GOSSTROJ/SSSR, unterstellt. Diesem wurden damit faktisch weitgehende Befugnisse über die Investitionspolitik gegeben, denn die Finanzierung neuer Projekte darf nur mit Zustimmung dieses staatlichen Komitees erfolgen. Ferner wurde für die Planung des technischen Fortschritts, dessen Einbeziehung in die Planung sich immer als ein besonders kritischer Punkt des Planungssystems erwiesen hatte, beim staatlichen Plan-komitee ein Technisch-wirtschaftlicher Rat gegründet, und die Staatskomitees, die für einige Industriezweige bereits beim Ministerrat der UdSSR bestanden, wurden nun für alle entscheidenden Zweige der Volkswirtschaft geschaffen. Insbesondere aber wurden die Rechte dieser Staatskomitees wesentlich erweitert; sie hatten bisher keine Entscheidungsrechte, solche wurden ihnen jetzt im Bereiche der Investitionen übertragen. Sie sollen, wie es wörtlich heißt, „die Gesetzgeber der neuen Technik werden", und es wird ihnen die Verteilung der finanziellen und materiellen Mittel übertragen, die für die Erfüllung der Pläne der neuen Technik bereitgestellt werden. Durch diese Maßnahmen erhalten also die Staats-komitees eine Schlüsselstellung im gesamten Gebiet der Investitionen, soweit es sich dabei um die Anwendung neuer technischer Methoden handelt. Auch darin zeigt sich erneut die Tendenz der Zentralisierung.

Ferner werden kleinere und mittlere Industriebetriebe zu sogenannten Produktionsvereinigungen zusammengefaßt; es vollzieht sich also eine unternehmensmäßige Konzentration. Die Betriebe der sogenannten örtlichen Industrie, d. h. also Betriebe mit im wesentlichen lokaler Bedeutung und beschränktem Absatz-radius, die bisher den örtlichen Verwaltungen, den örtlichen Sowjets unterstanden, wurden nunmehr den Volkswirtschaftsräten unterstellt. Deren Zahl aber wurde, wie oben ge-sagt wurde, wesentlich verringert. Auch diese beiden Maßnahmen lassen also deutlich die verstärkte Tendenz zur Zentralisierung erkennen. Auch für die Betriebsverfassung wurden — wenn auch in recht engen Grenzen — Reformen angekündigt. Um das Interesse der Belegschaften an der Planerfüllung und Produktionssteigerung zu stärken, sollen in den Betrieben und auf den Baustellen „Werksproduktionskomitees" bzw. „Fabriksproduktionskomitees" gebildet werden, in Großbetrieben auch „Abteilungsproduktionskomitees". Die Mitglieder dieser Produktionskomitees sollen durch die Gesamtheit der im Betrieb Beschäftigten gewählt werden; sie sollen sich aus Arbeitern, Ingenieuren, Angestellten sowie aus Vertretern der Betriebsorganisationen von Partei, Gewerkschaft und Komsomol zusammensetzen. Gerade dieser Teil der Chruschtschow-Rede hat im Westen Anlaß zu teilweise ziemlich phantastischen Ausdeutungen gegeben; man wollte darin eine Entwicklung zum jugoslawischen System der Arbeiterselbstverwaltung sehen. Bei etwas genauerer Analyse erweist sich jedoch eine solche Ausdeutung als eine typische Form des Wunschdenkens. Denn erstens einmal kündigte Chruschtschow diese Einführung von Produktionskomitees lediglich als Experiment für eine ausgewählte Zahl von Betrieben an. Wie dieses Experiment ausgeht, wissen wir noch nicht. 1956, nach den Ereignissen in Polen und Ungarn, hatte auch Ulbricht für die deutsche Sowjetzone eine experimentierende Einführung ähnlicher Organe in den Staatsbetrieben angekündigt; damit war es aber sehr bald zu Ende. Zweitens wird diesen Produktionskomitees in keiner Weise das Recht einer Mitbestimmung übertragen. Chruschtschow hat ausdrücklich in seiner Rede betont, daß das Prinzip des Jedinonatschalije, der Einzelleitung der Betriebe durch den staatlich eingesetzten Betriebsleiter, keineswegs durch diese Betriebsproduktionskomitees eingeschränkt werden soll. Man kann also wohl auch dieses angekündigte Experiment zu jenen Methoden rechnen, von denen ich in anderem Zusammenhang gesagt habe, daß sie eine Illusion der Mitbestimmung bei den Belegschaften herbeiführen sollen. Auch die Organisation der Gewerkschaften wird entsprechend der Umgestaltung der Parteiorganisation im Hinblick auf die neuen Zielsetzungen verändert.

Die überraschendste und gleichzeitig einschneidenste Änderung, die die November-reform brachte, ist die verstärkte Einschaltung der Kommunistischen Partei in die Lenkung und Überwachung des wirtschaftlichen Geschehens. Bisher wirkten die Parteiorgane so unmittelbar nur bei der Aufstellung der Pläne mit. Natürlich war der Einfluß der Parteifunktionäre auch darüber hinaus groß; aber sie waren nicht unmittelbar verantwortlich für wirtschaftliche Mißerfolge, und die Partei konnte infolgedessen die Schuld an solchen Mißerfolgen auf die Funktionäre des Staatsapparates oder auf die Wirtschaftsmanager abschieben. Wie oben erwähnt, wurden bereits durch die im März 1962 begonnene Reform der Agrarverwaltung den Parteifunktionären Aufgaben von erheblicher Bedeutung im Bereich der Agrarwirtschaft zugewiesen. Mit dem Novemberplenum wurden diese neuen Aufgaben für die Partei auf die nichtagrarische Wirtschaft, vor allem natürlich die Industrie, ausgedehnt.

Die Beschlüsse des Novemberplenums sollen eine „konkretere Leitung der Wirtschaft durch die Partei" herbeiführen. Zu diesem Zwecke wird die KPdSU völlig umorganisiert, und zwar wird sie in zwei Säulen, für die Landwirtschaft einerseits, die Industrie andererseits, aufgegliedert. Beim Präsidium des Zentral-komitees der Kommunistischen Partei für die gesamte Sowjetunion wurde je ein Büro für die Industrie und das Bauwesen sowie für die Chemie-und Leichtindustrie geschaffen. Bei den Präsidien der Zentralkomitees für die einzelnen Sowjetrepubliken wurden Büros zur Leitung der Industrieproduktion eingerichtet. Auf allen unteren Ebenen der Parteiorganisation sind die Parteiorgane für die Leitung der Industrie und der Landwirtschaft voneinander getrennt. Durch diese Neuorganisation soll es den Organen der Partei ermöglicht werden, entscheidend an der unmittelbaren Leitung der industriellen und agrarischen Produktion mitzuwirken. Chruschtschow erklärte auch, daß in Zukunft die Lösung der wirtschaftlichen Probleme die Hauptaufgabe der Parteiarbeit sein müßte, der sich alle anderen Formen dieser Arbeit, sogar diejenigen ideologischer Art, unterzuordnen hätten.

Der Entschluß Chruschtschows zu einer so weittragenden Umorganisation der Partei läßt deutlich erkennen, daß er mit den bisherigen Ergebnissen der wirtschaftlichen Leistungstätigkeit recht unzufrieden ist. Eine solche direkte Einschaltung der Partei in die Leitung der Wirtschaft bedeutet ja auch, daß deren Autorität in viel stärkerem Maße als vorher der Gefahr der Abnutzung im täglichen wirtschaftlichen Geschehen ausgesetzt ist. Merkwürdig mutet es an, daß diese Zuweisung von Aufgaben, die bisher bei staatlichen Instanzen lagen, an die Kommunistische Partei nicht ideologisch als ein weiterer Schritt zum „Absterben des Staates" deklariert wurde. Bekanntermaßen stellt das auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 angenommene Parteiprogramm den Übergang zum „Vollkommunismus" sehr stark in den Mittelpunkt. Nach der Marxschen Staatslehre gehört zu diesem Übergang zum Vollkommunismus eben auch das „Absterben des Staates". In einigen anderen Fällen, wie z. B.der Übertragung von Aufgaben staatlicher Gerichte an die sogenannten „Kameradschaftsgerichte" ist eine ideologische Begründung dieser Art gegeben worden, während diesmal — aus bisher nicht klar zu erkennenden Gründen — auf eine solche Rechtfertigung dieser Entschlüsse verzichtet wurde, die sicherlich viele Parteifunktionäre sehr schockiert haben.

Auch die im November 1962 beschlossene Reorganisation ist noch kein Endstadium. Kaum mehr als ein Vierteljahr später wurde durch 11 Gesetze, die das Präsidium des Obersten Sowjets am 13. März 1963 erließ, eine neue Phase der Umorganisation eingeleitet. Obwohl erst wenige Monate zuvor die Funktionen der obersten Organe für die Leitung der verstaatlichten Wirtschaft neu geordnet worden waren, wurde jetzt durch die Schaffung eines „Obersten Volkswirtschaftsrates der UdSSR" eine neue alleroberste Spitze geschaffen, die das „höchste staatliche Organ zur Leitung von Industrie und Bauwesen" sein soll. Ihr wurden das Staatliche Plankomitee, der Volkswirtschaftsrat der UdSSR, das Staatliche Komitee für Bauwesen sowie eine Reihe der für einzelne Wirtschaftszweige geschaffenen Produktionskomitees unterstellt; gleichzeitig wurden einige der noch bestehenden wirtschaftlichen Ministerien in Staatliche Produktionskomitees umgewandelt. Die Aufgabe des Obersten Volkswirtschaftsrates soll es vor allem sein, die Tätigkeit der ihm unterstellten Leitungsorgane besser als bisher zu koordinieren. Das Gewicht, das diesem Obersten Volkswirtschaftsrat beigelegt wird, ist auch daran erkennbar, daß der zum Vorsitzenden dieser neuen obersten Instanz ernannte D. F. Ustinow Erster Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates wurde. Er ist damit gleichberechtigt mit Mikojan und Kossygin, während die jetzigen Vorsitzenden des Staatlichen Plankomitees, Lomako, und des Volkswirtschaftsrates der UdSSR, Dymschiz, nur Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates sind.

Zu den im März 1963 beschlossenen Maßnahmen gehört ferner auch die Umwandlung des Staatlichen Plankomitees und des Volkswirtschaftsrates aus allunionistischen in unionsrepublikanische Organe, wie das bei dem Staats-komitee für Bauwesen schon im November 1962 geschehen war. Das bedeutet: es werden jetzt auch auf der Ebene der Unionsrepubliken Plankomitees und Volkswirtschaftsräte geschaffen, die den Weisungen der Organe in der Unionsspitze unterstellt sind. Damit ist — ebenso wie durch die schon oben behandelte Zusammenlegung von Wirtschaftsbezirken — die räumliche Dekonzentration, die die Verwaltungsreform vom Mai 1957 gebracht hatte, zum Teil wieder rückgängig gemacht worden.

Die deutsche Sowjetzone ist wie immer auch diesmal dem sowjetischen Vorbild ziemlich genau gefolgt. Zwei Monate später, im Januar 1963, fand in der Sowjetzone der VI. Parteitag der SED statt, auf dem Ulbricht das Hauptreferat hielt. Auch in diesem wurde der Name Liberman nicht erwähnt, wohl aber die Sache, und die Ankündigungen Ulbrichts über die jetzt im Gange befindlichen Umgestaltungen in der Zone bedeuten hinsichtlich ihres konkreten Gehaltes im wesentlichen eine direkte Übernahme des sowjetischen Vorbildes. So werden z. B. alle örtlich geleiteten Betriebe den Bezirkswirtschaftsräten unterstellt, die in der Zone die Parallele zu den sowjetischen Sownarchosen bilden. Die sogenannten „Vereinigungen Volkseigener Betriebe“ („WB“) sollen nach einer Formulierung Ulbrichts „in eine Art Konzern sozialistischen Charakters" umgewandelt werden. Kleinere „Volkseigene Betriebe" sollen zu Kombinaten vereinigt werden. Das ist also im wesentlichen genau das gleiche, was in der Sowjetunion geschieht.

Wenn man das Wesen der Reformen in der Sowjetunion, soweit es sich um ihren ökonomischen Aspekt handelt, charakterisieren will, ist es zweckmäßig, den Inhalt der Liberman-Diskussion und den tatsächlichen Inhalt der Reformen gegenüberzustellen. Dabei kommt man erstens zu dem Ergebnis, daß in ihnen die Vorschläge Libermans bzw. die in der an seinen Prawda-Artikel anschließenden Diskussion gemachten Vorschläge so gut wie keinen Niederschlag finden. Die Reformen sind im wesentlichen organisatorischer und administrativer Natur; dabei scheint mir von größter Bedeutung vor allem die verstärkte Einschaltung der Partei in die Lenkung und Kontrolle des Wirtschaftsablaufs zu sein. Aber am Wirtschaftssystem als solchem wird durch diese Maßnahme nichts geändert.

Zweitens ist es immerhin auch nicht ohne Bedeutung, daß die Vorschläge Libermans auch nicht expressis verbis abgelehnt worden sind. Sie bleiben in der Schwebe, -es ist also noch offen, ob sich zu einem späteren Zeitpunkt daraus Reformen ergeben könnten, die grundsätzlichere Bedeutung für die Umgestaltung des sowjetischen Wirtschaftssystems haben.

Drittens: Die Wirkungen der jetzt durchgeführten Reformen gehen wesentlich mehr in die Richtung der Zentralisation als der Dezentralisation. Es scheint also, daß die Sowjetunion in jenem Hin-und Herschwanken zwischen den Prinzipien, von dem ich am Anfang sprach, jetzt wieder in eine Phase der Zentralisation eingetreten ist. Dabei scheint es mir auch charakteristisch zu sein, daß die Phasen-länge der Umorganisationen im Verhältnis zu früher immer kürzer wird.

Viertens: Es sind keinerlei Anzeichen für eine Entwicklung in der Richtung auf das jugoslawische System einer sozialistischen Marktwirtschaft und einer Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe festzustellen. Man kann es nur bedauern, wenn in Zeitschriften von Rang, die für die Meinungsbildung in Deutschland von Bedeutung sind, derartige völlig unfundierte Anschauungen vertreten werden. Als Kronzeugen für die Richtigkeit meiner gegenteiligen Auffassung kann ich Ulbricht anführen, der das noch etwas deutlicher gesagt hat als Chruschtschow. Auf dem VI. Parteitag der SED sagte er, nachdem er die beschlossenen Maßnahmen dargestellt hatte, wörtlich folgendes:

„Gleichzeitig entziehen diese Maßnahmen dem Revisionismus den Boden, weil sie auf die Stärkung und Entwicklung der Planung und damit auf die Stärkung der Autorität des sozialistischen Staates und nicht auf den Abbau der Planung hinwirken." („Revisionismus" bedeutet ja in der jetzigen Parteisprache das jugoslawische System, den jugoslawischen „Reformkommunismus“.) Eine zweite Stelle der Ulbricht-Rede scheint genau so charakteristisch zu sein: „Wir streben also genau das Gegenteil dessen an, worauf seinerzeit gewisse revisionistische Elemente hinauswollten. Sie hätten eine Schwächung und Untergrabung der sozialistischen Staatsmacht durch eine fragwürdige Selbstverwaltung der Wirtschaft und der Betriebe zur Folge gehabt. Unser Planungsund Leitungssystem wird in Übereinstimmung mit dem Entwicklungsstand der Produktiv-kräfte gebracht und so gestaltet, daß die ökonomischen Gesetze in der Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus besser als bisher genutzt werden können. Exaktere Leitung von oben ohne kleinliche Bevormundung bei gleichzeitiger Entfaltung der demokratischen Mitarbeit der Werktätigen."

Die Kritik an der „kleinlichen Bevormundung* ist eine jener wohllautenden Phrasen, die wir aus dem Lager des Sowjetkommunismus immer wieder zu hören bekommen; entscheidend ist jedoch die deutliche Absage an jede Form der Arbeiterselbstverwaltung und der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente. Sicherlich hat Ulbricht damit nicht nur seine eigene Meinung, sondern auch die der sowjetischen Parteiführung wiedergegeben.

Aus dem Gesagten dürfte deutlich geworden sein, daß es sich bei dieser zweifellos sehr umfassenden und tiefgreifenden Verwaltungsreform abermals nur um Reformen innerhalb des Systems, aber nicht um Reformen am System selbst handelt. Am bisherigen Wesen des sowjetischen Planungssystems ändert sich dadurch nichts Entscheidendes. Ich bin infolgedessen auch fest überzeugt, daß diese Reformen genauso wenig wie alle vorhergegangenen Versuche, mit administrativen Mitteln die Probleme der unzureichenden Effizienz des sowjetischen Wirtschaftssystems zu lösen, dazu imstande sind, genauso wenig imstande sind, die Schwierigkeiten zu bewältigen, mit denen das Sowjetsystem zu kämpfen hat.

Dabei stellt sich fast unausweichlich die Frage:

Warum hat sich Chruschtschow nicht zu wirklichen Reformen am System entschlossen? Offenbar ist dafür wohl die Befürchtung entscheidend gewesen, daß mit der Verwirklichung der von Liberman, in der Liberman-Diskussion sowie auch schon vorher in den Fachdiskussionen vorgeschlagenen Reformen ein Weg beschritten würde, dessen Ende und dessen Konsequenz sowohl in ökonomischer wie in politisch-gesellschaftlicher Beziehung nicht abzusehen sind. Ich glaube, daß die Befürchtungen der Sowjetführung in doppelter Richtung gehen: einmal, daß dadurch noch immer zum Kernglauben gerechnete ideologische Tabus gefährdet werden — ich erinnere an das, was ich über die Frage der Produktivität des Kapitals gesagt habe —; zweitens, daß durch solche Reformen das ganze bisherige Planungssystem aus den Angeln gehoben wird, wenn man sich z. B. entschließen würde, zu einer marktmäßigen Preisbildung überzugehen. Die Überlegenheit des Systems der zentralen Planung ist aber gegenwärtig immer noch Bestandteil des Kernglaubens.

Zu erwägen wäre freilich auch eine andere Möglichkeit: daß Chruschtschow durch den Parteiumbau eine solche Verstärkung der Parteikontrolle gegenüber der Wirtschaft erreichen will, daß spätere Reformen im Sinne der Auflockerung ohne Schaden für den Macht-apparat durchgeführt werden können. Ob diese Auffassung zutrifft, das scheint mir freilich eine sehr offene Frage zu sein, deren Beantwortung keineswegs nur von der ökonomischen Rationalität, sondern auch von einer ganzen Reihe anderer Aspekte bestimmt wird. Die Aufgabe der Wissenschaft muß es sein, die Weiterentwicklung aufmerksam zu beobachten, Tatbestände so exakt und sauber wie möglich festzustellen und sich um eine Aufhellung der Kräfte zu bemühen, die hinter diesen Tatbeständen stehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl C. T h a 1 h e i m , Dr. rer. pol., o. Universitätsprofessor und Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Mitglied des Direktoriums des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung, geb. 26. Mai 1900 in Reval.