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Adolf Hitlers „Mein Kampf" als Spießerspiegel. Ein Beitrag zur politischen Anthropologie der Deutschen | APuZ 30/1963 | bpb.de

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APuZ 30/1963 Artikel 1 Die Kontroverse über die sowjetische Wirtschaftspolitik Adolf Hitlers „Mein Kampf" als Spießerspiegel. Ein Beitrag zur politischen Anthropologie der Deutschen

Adolf Hitlers „Mein Kampf" als Spießerspiegel. Ein Beitrag zur politischen Anthropologie der Deutschen

Hermann Glaser

Der Beitrag von Hermann Glaser gibt an einem exemplarischen Beispiel (Mein Kampf, 5. Kap.) Gedanken und Argumente wieder, die in einer größeren Arbeit über Wesen und Werden des deutschen Kleinbürgers im 19. und 20. Jahrhundert (mit besonderer Berücksichtigung von Hitlers „Mein Kampf") ausführlicher begründet werden.

Vorbemerkung:

Ein Kommentar zu Hitlers „Mein Kampf" sieht sich zunächst vor große Schwierigkeiten gestellt: die erläuternde Sternchenmethode, d. h. die Bereitstellung von historischem, biographischem oder sonstigem Tatsachenmaterial, welches das Verständnis des Werkes erleichtern könnte, erübrigt sich weitgehend, da das Buch kaum Fakten bringt, also nicht einmal dort greifbar ist, wo es die nationalsozialistische Bewegung und ihre Geschichte beschreibt — sieht man von ein paar beiläufig erwähnten Namen ab, zu deren Verständnis kein besonderer wissenschaftlicher Apparat notwendig ist. Faßt man jedoch eine Kommentierung auf als eine Interpretation des dem Bande immanenten Geistes (Ungeistes), als eine Analyse seines anthropologischen, soziologischen sowie psychologischen Gehalts, so ergeben sich interessante und ergiebige Bezüge: „Mein Kampf" erweist sich als ein Sammelbecken von Strömungen, die im 19. Jahrhundert aus der epigonalen Romantik und Klassik aufsteigen, das deutsche Verhängnis seit langem vorbereiten und schließlich in der Zerstörung deutscher Kultur, Gesittung und Politik gipfeln. Typologisch siegt der Spießer über den Bürger (der Volksgenosse über den Staatsbürger). Man hat die Meinung vertreten, Bedeutung und Einfluß von Hitlers „Mein Kampf" dürften nicht hoch eingeschätzt werden, da das Buch Buch zwar viel verbreitet, aber kaum gelesen wurde. Das mag stimmen; doch sollte man daraus eine zunächst paradox klingende Folgerung ziehen: das Buch war so erfolgreich, ohne daß es überhaupt noch gelesen werden mußte! Lebensgefühl und Weltanschauung eines Großteils der deutsch n Bevölkerung stimmten mit dem überein, was in „Mein Kampf" dargeboten und propagiert wurde. Der Inhalt des Buches (zudem in Tausenden von Broschüren, Zeitungen, Zeitschriften sowie Reden unters Volk gebracht) enthielt all das, was des „Spießers Wunderhorn“, (die Pandorabüchse kleinbügerlicher Traktätchenverfasser) bereit hielt: abgründige Gemeinheiten, breitgetretener Wortquark, in schiefe Metaphern geschlagene Ressentiments, endlose Tiraden und rhetorisch aufgeschminkte Platitüden. Ein Kommentar zu Hitlers „Mein Kampf“ ergibt somit einen Spießerspiegel par excellence. Hitler besaß die Genialität des Mittelmäßigen: seine Durchschnittlichkeit war überdurchschnittlich; so wurde seine Mediokrität zum Schicksal eines Volkes, das sich Schritt um Schritt von Theorie und Praxis der Humanität hatte abbringen lassen.

Das 5. Kapitel Das 5. Kapitel von „Mein Kampf" beschreibt die „unvergeßlichste und größte Zeit" von Hitlers „irdischem Leben". Für die politisch-anthropologische Betrachtungsweise erscheint hier als besonderer Aspekt der deutsche Hang zur „Monumentalität": das Heroische nahm seit langem in der Wertepyramide des deutschen Bürger-und Kleinbürgertums die Spitze ein wobei zur Repräsentation des Heldischen die verschiedensten Symbolgestalten herangezogen wurden, z. B. Hutten, Luther, Rembrandt, Siegfried, Faust, der Bamberger Reiter, der Ritter aus Dürers „Ritter, Tod und Teufel" usw. — Gestalten, die von den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis ins Dritte Reich hinein solchem Zwecke dienstbar gemacht (d. h. entsprechend uminterpretiert) wurden Der Staat — so war die vorherrschende Meinung — basiere auf dem Ruhm seiner „großen Menschen", wobei Größe vor allem kriegerisch verstanden wurde; er war Ruhmestempel, Pantheon — diese Klischeevorstellungen fanden jahrzehntelang immer wieder dichterischen, ge - entsprechenden danklichen, bildnerischen und architektonischen Niederschlag Der Erziehung des jungen Menschen zum Heldischen („mit Mark in den Röhren", wie es in einem vielgebrauchten Geographiebuch vom deutschen Jüngling heißt — der welschen Weichlichkeit ent-gegengesetzt) entsprach eine Abwertung des „Händlerischen", der „Krämerseelen", die im friedlichen Wettstreit um bestmöglichen Profit, nicht aber um Ehre sich bemühten, die „feilschten", statt tüchtig dreinzuschlagen. Die Antipathie Hitlers dem Handel und der Wirtschaft gegenüber ist nicht nur als sozialpathologische Abreaktion des zu kurz gekommenen Habenichts, des besitzlosen Deklassierten, des aus dem Elendsmilieu nach oben drängenden Asozialen zu verstehen (damit hätte Hitler nicht genügend Resonanz beim Bürgertum finden können), sondern sie entsprang einer anachronistischen Physiokraten-Romantik, der Vorstellung von einer autarken, auf „Boden und Blut" (d. h. auf ein „mythosnahes Bauerntum") gegründeten Staatsordnung; geopolitische Vorstellungen vom „Lebensraum" als der Grundlage staatlichen Erfolges beherrschten gerade die Vorstellungswelt der sogenannten gebildeten Kreise.

Der „junge Wildfang", den das „Mädel" mit hingebungsvoll-unterwürfiger Liebe anhimmelte war für eine martialische Zukunft bestimmt; der Bildungsweg der Elite, das Humanistische Gymnasium, war zumindest gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch jene „Allianz von Athen und Agadir" bestimmt, wie sie u. a. Ludwig Marcuse in seinen Lebenserin-

a) mit ihrer Sittlichkeit und strengen Ordnung, die sich zeigt in der Verteilung der Beschäftigung (Hermann: Feld und Stallung; Vater:

Gastwirtschaft; Mutter: Hauswesen) und im Gegensatz zum welschen Nachbar (dem Sitte, Zucht und Achtung vor der Ehe abgehen).

b) überhaupt alle Hauptpersonen sind Deutsche:

der Löwenwirt (sorgt hausväterlich für die Stadt und die Seinen), die Wirtin (fleißig, gemütvoll, liebevoll), Hermann (Anhänglichkeit an den deutschen Boden, Zartheit seines Benehmens gegen Dorothea), Dorothea (Reinheit bei der Verteidigung der Unschuld ihrer Gespielinnen; Zurückhaltung gegen Hermann, dem sie notgedrungen ihre Liebe verrät). nerungen so trefflich beschrieben hat Lediglich die Realschulen bewahrten auf Grund ihrer pragmatischen und praktischen Zielsetzung noch am ehesten Weltoffenheit und so Zurückhaltung bei der Verkündigung eines charismatischen Sendungsbewußtseins.

„AIs jungen Wildfang hatte mich in meinen ausgelassenen Jahren nichts so sehr betrübt, als gerade in einer Zeit geboren zu sein, die ersichtlich ihre Ruhmestempel nur mehr Krämern oder Staatsbeamten errichten würde. Die Wogen der geschichtlichen Ereignisse schienen sich schon so gelegt zu haben, daß wirklich nur dem friedlichen Wettbewerb der Völker, das heißt also einer geruhsamen gegenseitigen Begaunerung unter Ausschaltung gewaltsamer Methoden der Abwehr, die Zukunft zu gehören schien."

Hitler nennt nicht die Ahnen seines Heroenkultes; sie mögen ihm, dem sehr oberflächlich und häufig abstrus Belesenen auch gar nicht die Philosophien bewußt gewesen sein:

vom Willensmenschen (von Carlyle bis Stefan George), den vitalistischen Mystizismus eines Bergson und Nietzsche, die Gewaltlehre Sorels, die Psychologie eines Klages und seiner Vorläufer Das Idol des heldischen Menschen hat er in deren Sinne (natürlich in der Vereinfachung des terrible simplificateur) stets und lautstark verkündet. „Wer ein Volk retten will, kann nur heroisch denken. Der heroische Gedanke aber muß stets bereit sein, auf die Zustimmung der Gegenwart Verzicht zu leisten, wenn die Wahrhaftigkeit und Wahrheit es erfordern. So wie der Held auf sein Leben Verzicht leistet, um im Pantheon der Geschichte weiterzuleben, so muß eine wirklich große Bewegung in der

Richtigkeit ihrer Idee, in der Wahrhaftigkeit ihres Handelns den Talisman sehen, der sie sicherlich hinüberführt aus einer vergeblichen Gegenwart in eine unsterbliche Zukunft" Die mit viel Rhetorik „aufgeladenen" Hitlersehen Platitüden („ ... zu spät angetretene irdische Wanderschaft... ") beziehen sich auf der Suche nach dem verloren gegangenen Heldentum zunächst auf die Zeit der Befreiungskriege, da „im Kriege der Mann noch etwas wert war" und „Gott Eisen wachsen ließ". Diese epigonale Romantik spielt überhaupt im Metaphern„schatz" des Kapitels eine große Rolle, wie noch zu zeigen sein wird. Die Kriegsgesänge eines Arndt, die rhapsodische Deutschtümelei eines Jahn und Fichte durchziehen als Stilvorbilder „Mein Kampf"; bei dem Einfluß, den diese Autoren gerade auch auf die Geschichtsbücher des 19. Jahrhunderts genommen haben dürfte teilweise sogar eine direkte Genealogie in Frage kommen

„Warum konnte man denn nicht hundert Jahre früher geboren sein? Etwa zur Zeit der Befreiungskriege, da der Mann wirklich auch ohne Geschäft noch etwas wert war?! Ich hatte mir so über meine, wie mir vorkam, zu spät angetretene irdische Wanderschaft oft ärgerliche Gedanken gemacht und die mir bevorstehende Zeit , der Ruhe und Ordnung" als eine unverdiente Niedertracht des Schicksals angesehen. Ich war eben schon als Junge kein . Pazifist" und alle erzieherischen Versuche in dieser Richtung wurden zu Nieten."

Die nachfolgenden Passagen handeln von dem „Wetterleuchten" der Kriege und Krisen, die dem ersten Weltkrieg vorausgingen. Die „ewige Sorge" habe das Gefühl der herannahenden Katastrophe zur Sehnsucht werden lassen; die Interpretation, die Hitler hier von der Vorkriegszeit gibt, deckt sich auch mit seriösen Quellen; „dieser Frieden", meinte etwa Georg Heym, „ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln" Das Jahr 1914 erfährt bei Hitler eine Stilisierung, die dem gängigen Vokabular entspricht, mit der man z. B. in der Gartenlaube anläßlich des Jahres 1870 den Kriegsausbruch zu metaphorisieren pflegte. Wie viele der Hitlerschen Gleichnisse ist auch das hier verwendete („Das Wetter brach los, und in den Donner des Himmels mengte sich das Dröhnen der Batterien des Weltkrieges" ungenau, schief angelegt — es genügt Hitler, wenn die gängigen Klischees in möglichst spektakulärer Häufung in Erscheinung treten: als ob der Weltkrieg mit einer wirklichen Naturkatastrophe begonnen hätte, in die sich Batterien einmischen konnten. Der Habsburg-Komplex Hitlers, dem das österreichische „Völkergemisch" mit der fehlenden „Rassenreinheit"

ein Greuel war, reagiert sich anschließend wieder einmal ab Beim Ausbruch des Krieges dankt Hitler dem Himmel für die Gnade, dabei sein zu dürfen; man erinnere sich, welche Sorge er beim Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte, daß „im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlege"

„Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen"

Einer verhältnismäßig häufig anzutreffenden psychologischen Erfahrung gemäß tritt gerade beim labilen, anämischen Typ, bei einem Menschen, dem nichts gelingt und der sich kaum zu Arbeit und Handeln aufraffen kann leicht der Umschlag in den Furor ein. Der Furor Teutonicus des 19. und Jahrhunderts, eben Kompensation häufig physiologisch bestimmter Minderwertigkeitskomplexe, erwies sich von besonderer Geschichtsmächtigkeit. Man erinnere sich etwa der „edlen Jünglinge" des Hainbundes, auf der einen Seite in Milde und Sentimentalität zerfließend, auf der anderen kriegerischer Barbarei huldigend, wobei ihnen ihr verehrter Mentor Klopstock mit den Ton angab 20). Heinrich von Kleist, einer unserer subtilsten Dichter, von selbstzerstörerischer Hypersensibilität, gebärdete sich zugleich als handfester Barde.

Alle Triften, alle Stätten färbt mit ihren Knochen weiß, welchen Rab'und Fuchs verschmähten, gebt ihn den Fischen preis;

dämmt den Rhein mit ihren Leichen;

laßt, gestäuft von ihrem Bein, schäumend um die Pfalz ihn weichen, und ihn dann die Grenze sein!"

— selbst solche Verse gab ihm sein Napoleonund Franzosenhaß ein. — Von einem Besuch beim Komponisten der „Wacht am Rhein"

berichtet die „Gartenlaube" („Ich mußte ihn aufsuchen, den Komponisten des Liedes, das der nationalen Begeisterung dieser Tage Flügel geliehen, des ersten wahrhaft kernigen Volksliedes seit Jahrzehnten"), daß dieser wegen verschiedener körperlicher Gebrechen sehr mutlos und ohne jeden Lebenselan erscheine, immer wieder in Tränen ausbreche, also kaum soldatische Tugend an den Tag lege — was natürlich vom Gartenlauben-Autor nur sehr verhüllt dargestellt, d. h. mit mit nationalistischem Pathos verdeckt wird

— Nietzsches Ruf nach der „blonden Bestie", einem „Gefährlich leben!", nach „Wohnungen am Vesuv" entsprang einer bis zum Wahnsinn sich steigernden seelischen Labilität. — Wilhelms II. bramarbasierenden Reden müssen auf dem Hintergrund seines angeborenen körperlichen Gebrechens gesehen werden, das er psychologisch nie überwand — Als Thomas Mann seine aggressiven antiwestlichen Gefühle in den „Betrachtungen eines Unpolitischen" sich vom Herzen schrieb, scheute er sich nicht, dies als Kriegsdienst auszugeben („habe es mir sauer werden lassen, habe gekämpft und entsagt"); während er selbst nur mit der Feder focht, spöttelte er: „Solange die Menschheit nicht, dachte ich, in weißen Gewändern, Palmzeigen in den Händen und literarische Stirnküsse tauschend umherwallt, wird es wohl dann und wann Kriege geben auf Erden; solange sie Blut in den Adern hat, dachte ich, und nicht lindes 0’ 1, wird sie es wohl vergießen wollen dann und wann. Also, nicht Pazifist hatte ich mich nennen dürfen" Moeller van den Bruck, Künder eines „Dritten Reiches" antidemokratischer, antiliberaler Prägung, vom Mythos des Heldischen fasziniert, wurde als Landsturmmann im ersten Weltkrieg einberufen, zeigte sich aber „den Anforderungen des Kasernenlebens nicht gewachsen und wurde nach einem längeren Genesungsurlaub in Berlin , dank der Bemühungen seines alten Freundes Franz Evers, in die von Ludendorff errichtete Ausländsabteilung der Obersten Heeresleitung beordert"! Ähnlich lag der Fall bei Oswald Spengler, der trotz oder gerade wegen seiner schwächlichen leib-seelischen Konstitution immer wieder den „Lockruf der Barberei" ausstieß: „Das uralte Barbarentum, das jahrhundertelang unter der Formenstrenge einer hohen Kultur verborgen und gefesselt lag, wacht wieder auf, jetzt wo die Kultur vollendet ist und die Zivilisation begonnen hat, jene kriegerische gesunde Freude an der eigenen Kraft, welche das mit Literatur gesättigte Zeitalter des rationalistischen Denkens verachtet, jener ungebrochene Instinkt der Rasse, der anders leben will als unter dem Druck der gelesenen Büchermasse und Bücherideale." — Hans Blüher hatte „beide Kriege in einer durchaus kriegerischen Gesinnung durchlebt“, die nur wegen seiner „körperlichen Schwäche sich nicht soldatisch äußern konnte" „Jedenfalls: pazifistische Gesinnung liegt mir völlig fern." — Was Hitler betrifft, auf den dieser andeutende typologische Exkurs zurückbezogen werden soll, so hatte er zwar den ersten Weltkrieg an der Front erlebt; doch war er dann bei zunehmender weltanschaulicher Kampfesverherrlichung zum „Etappenhelden" geworden — man vergleiche sein Verhalten beim November-Putsch 1923 die Art seiner Front-besuche während des zweiten Weltkrieges, sein Leben im Führerhauptquartier, sein erbärmliches Ende im Bunker der Reichskanzlei Entsprechend verhielt sich der allergrößte Teil der NS-Führer„elite", deren rhetorischer Kampfesmut und großsprecherische Kampfesverherrlichung mit der Wirklichkeit in keiner Übereinstimmung stand.

Warum gerade dem Deutschen der Krieg als der große Lehrmeister der Nation erschien, läßt sich wohl nicht eindeutig erklären. Sicher ist, daß die seit 1815 zurückgestauten, weder außenpolitisch noch innenpolitisch zur Entfaltung gekommenen natürlichen menschlichen Aktivbestrebungen — abgedrängt in die „deutsche Innerlichkeit" (des Biedermeier, des poetischen Realismus, epigonaler Klassik und Romantik und anderer traditionalistischer Strömungen) — mit dem Jahr 1870/71 plötzlich zum Durchbruch kamen. Dies äußerte sich, den Zeitläufen entsprechend, in einem übersteigerten Expansiv-und Imperialwillen, der zunächst um so mehr rhetorischer Art war, als es Bismarck verstand, ihn außenpolitisch zu zügeln. Angesichts der aufwuchernden nationalistischen Demagogie, die mit Hitler ihren Höhepunkt erreichte mußte das Gefühl für eine freiheitliche Staatsordnung verkümmern. Mommsen, einer der „letzten Mohikaner" des Liberalismus im Wilhelminischen Staat, hat zu diesem Zustand eines völlig unterentwickelten Staatsbürgerbewußtseins in seinem „Testament" geäußert, daß es ihm selbst, der er sich stets als animal politicum gefühlt hätte, nicht möglich gewesen wäre, ein „Bürger zu werden. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt." Das Sedanlächeln, schreibt Benedetto Croce, sei nach 1870 nicht mehr vom Angesicht des deutschen Bürgertums gewichen.

„Bismarcks Werk mußte sich nun schlagen;

was die Väter einst mit ihrem Heldenblute in den Schlachten von Weißenburg bis Sedan und Paris erstritten hatten, mußte nun das junge Deutschland sich aufs neue verdienen."

In den nachfolgenden Abschnitten erreicht Hitlers Pathetik einen Höhepunkt: Vokabular, Topik und Syntax sind die der patriotischen Festredner des 19. Jahrhunderts; Analogien zum „Liedgut", wie es seit Jahrzehnten die Kommersbücher, Singfibeln, Gesangvereinsbücher und Schulliederbücher in abgründiger Harmlosigkeit geziert hatten, stellten sich ein; wohin Hitler auch greift, es gelingt ihm immer, ein Klischee in die Feder zu bekommen — und gerade diese stilistische Mediokrität mußte „ankommen": so sprach man bei Fahnenweihfesten, bei Kriegsveteranentreffen, am Sedanstag, an Kaisers Geburtstag, so schrieben die Völkischen so las man es in den Familienzeitschriften und den Blättern fürs „gebildete Haus".

„Ich hatte einst als Junge und junger Mensch so oft den Wunsch gehabt, doch wenigstens einmal auch durch Taten bezeugen zu können, daß mir die nationale Begeisterung kein leerer Wahn sei. Mir kam es oft fast als Sünde vor, Hurra zu schreien, ohne vielleicht auch nur das innere Recht hierzu zu besitzen; denn wer durfte dieses Wort gebrauchen, ohne es einmal dort erprobt zu haben, wo alle Spielerei zu Ende ist, und die unerbittliche Hand der Schicksalsgöttin Völker und Menschen zu wägen beginnt auf Wahrheit und Bestand ihrer Gesinnung?

So quoll mir, wie Millionen anderen, denn auch das Herz über vor stolzem Glück, mich nun endlich von dieser lähmenden Empfindung erlösen zu können. Ich hatte so oft . Deutschland über alles" gesungen und aus voller Kehle Heil gerufen, daß es mir fast wie eine nachträglich gewährte Gnade erschien, nun im Gottesgericht des ewigen Richters als Zeuge antreten zu dürfen zur Bekundung der Wahrhaftigkeit dieser Gesinnung ... So wie wohl für jeden Deutschen, begann nun auch für mich die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens. Gegenüber den Ereignissen dieses gewaltigsten Ringens fiel alles Vergangene in ein schales Nichts zurück. Mit stolzer Wehmut denke ich gerade in diesen Tagen, da sich zum zehnten Male das gewaltige Geschehen jährt, zurück an diese Wochen des beginnenden Heldenkampfes unseres Volkes, den mitzumachen mir das Schicksal gnädig erlaubte."

Der Ursprung dieser Pathetik ist leicht zurückzuverfolgen, d. h. ihre strukturelle Übereinstimmung mit Redefiguren der epigonalen Romantik und Klassik festzustellen. Vor allem bekundet sich der Einfluß jener politischen Hochsprache des 19. Jahrhunderts, die an Schiller anzuknüpfen glaubte, während sie in Wirklichkeit die Schillersche Sprache pervertierte und mißbrauchte. Die Sprache Schillers war Ausdruck eines leidenschaftlichen Bemühens um „Erziehung des Menschengeschlechts". Der ihm eigene idealistische Schwung war kein Verschließen vor der Wirklichkeit; im Gegenteil: sein Weltbild war durch einen strengen Dualismus gekennzeichnet: Idee und Leben, Hoffnung und Angst, Leben und Tod, Freiheit und Zwang, Glück und Leid, Frieden und Krieg, Form und Stoff, Kunst und Wirklichkeit waren Gegensätze, die sich dem Dichter ständig aufdrängten und in seiner dialektischen Sprache Eingang und Widerspiegelung fanden; exakte, wenn auch häufig etwas farblose Methaphorik (Gedankenlyrik), tiefgründige Problematik (Dramen)

und eine klare, kluge Ausdrucksweise (Philosophische Schriften) sind besondere Kennzeichen von Schillers Werk. Dieser luzide Denker und Dichter, der nach 1945 für eine breitere Öffentlichkeit erst wieder durch die Festrede Thomas Manns zum 150. Todestag aus dem nationalen Gitterkäfig befreit und ihr in seiner echten Menschlichkeit nahegebracht wurde, hatte im 19. Jahrhundert das Schicksal erlitten, zum Idol des nationalen Bürgertums erkürt zu werden: er war zum „Moraltrompeter" und zum Vorkämpfer nationaler Einheit geworden. Die „Glocke" fürs Jungmädchenzimmer, der „Teil" für die Freilichtbühne, der Dichter selbst in der Gestalt eines Bur-schenschaftlers — das waren Teilaspekte dieser Fehldeutung. Der arme tapfere Mann, der seinem von ständiger Krankheit bedrängtem Körper und seinem von ständigen Zweifeln und leidvollem Pessimismus heimgesuchten Geist ein Werk der Humanität abgerungen hatte, wurde auf das Piedestal der nationalen Beweihräucherung gestellt, von wo herab er als strahlender Jüngling und „hehre, hochgemute Gestalt" das Pathos seiner kleinbürgerlichen Festredner jahrzehntelang entzündete. Dieses Pathos hatte sich „emanzipiert“:

war nun es nicht mehr Gewand des Gedankens, die des Gedachten, Gesehenen, Erhöhung Erlebten, Erfühlten, sondern — sich selbst überlassen — unverbindlicher, willkürlicher Wortrausch. Gestalt und Gehalt stehen nicht mehr in echter, unauswechselbarer Verbindung; das Klischee dominiert; der Mensch bewegt sich im Gehäuse der Worte: sinnlos und im Kreise sich drehend; ein Wort gibt das andere, ein Phrase die andere. Die Reden des Schillerjahres 1859 markieren die erste Etappe dieser Entwicklung. Die Festrede Gabriel Rießers etwa umfaßt rund 5000 Worte, darunter etwa 150 Steigerungsformen, meist (grammatikalische) Superlative. Völlig unberücksichtigt sind bei dieser Zahl die inhaltlichen Superlative wie: mächtiges Rauschen, hohes Tönen, gewaltiger Genius und dergleichen mehr. Um deutlich genug aufzuzeigen, daß Schiller edel, erhaben, mächtig, herrlich und unerreicht wäre, wurden die entsprechenden Worte zu rhetorischen Gipfeln aufgetürmt; allein das Wort „hoh" (zusammen mit „hoch", „höchst") taucht sechzigmal auf; ähnlich „edel" etc. Für Rießer und seine enthusiastisch andächtigen Zuhörer war in Schiller „die höchste und edelste Bildung erschienen", die „reine Entwicklung des Natürlichen, die schönste Blüte, die süßeste Frucht; in ihm lebten die zartesten und tiefsten Empfindungen, das reinste Geistigste, die höchsten Mächte und die ursprünglichsten und kindlichsten Gefühle" (und dies alles in einem Satz). -

In diesem Sinne ist das „leere Pathos" auch zum Kennzeichen der politischen offiziellen Reden des konservativen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Lagers bis herauf zu Hitler geworden — die deutsche geschichtliche Verirrung verhängnisvoll vorbereitend, fördernd und begleitend. Man vergleiche zur Illustration einmal ein paar Beispiele solcher politischer Rhetorik — den Schwulst der Bilder, die Betäubung des Logos durch mythifizierendes Geraune, die Zerstörung der Begriffskerne, so daß leere Worthülsen allein verbleiben, die Fülle der falschen oder schiefen Genitive, die um hochtrabende Feierlichkeit bemühten Inversionen und all die anderen Stil-und Sprachfigurationen:

„Heute vor sieben Jahren ward auf diesen Feldern des Vaterlandes herrlichster Sieg erkämpft, und die Tausende, welche des Sieges Opfer wurden, gingen fröhlich hinüber zu den freien Vätern, denn sie starben im Gefühl zu bluten für heilige Dinge, für des Vaterlandes Zukunft über ihren Gräbern."

„Seine erste Frage an die ihm zunächst liegenden Verwundeten war gewesen, ob der Feind geschlagen? Und als hierauf ein beseligendes Ja erfolgte, wohin er geflüchtet? „Auf Paris zu'hatte ein Unglücklicher ohne Beine geantwortet: und jetzt hatte er, dem Ewigen dank-bar, bemerkt, daß ihm beide Beine noch waren; vor ihm Paris, hinter ihm Deutschland und die Lazarette, links die Schweiz. Die rechte Hand vom Sturz gelähmt, in der Brust eine Kugel, im Kopfe eine Hiebwunde, im Her-zen Mimili." — „Wenn die Todesnachrichten aus dem Westen einliefen, dann sagten die Väter und die Brüder: viel Trauer, viel Ehr'; und auch den Müttern, den Frauen, den Schwestern blieb im schweren Herzeleid doch der Trost, daß ihrem kleinen Hause ein Blatt gehöre in dem schwellenden Kranze des deutschen Ruhmes.“ — „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich eirE 2 Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so muß der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen. Wahrt Manneszucht, der Segen Gottes sei mit euch, die Gebete eines ganzen Volkes, meine Wünsche begleiten euch, jeden einzelnen, öffnet der Kultur den Weg ein für allemal!" — „Doch wenn der Morgen kommt mit Schimmerfarben,

zähl ich die Kämpfer nimmer, die verdarben, zähl nur das Leben, segne diesen Krieg, nenn heilig ihn und glaube wieder an der Menschheit Sieg.“ — „Der Geist der Materialschlacht und des Grabenkampfes, der rücksichtsloser, wilder, bru-taler ausgefochten wurde als je ein anderer, erzeugt Männer, wie sie bisher die Welt nie gesehen hatte. Es war eine ganz neue Rasse, verkörperte Energie mit höchster Wucht geladen. Geschmeidig hagere, sehnige Körper, markante Gesichter, Augen in tausend Schrekken unterm Helm versteinert. Sie waren Überwinder, Stahlnaturen, eingestellt auf den Kampf in seiner gräßlichsten Form . . . Ein Bild: der höchste Alpengipfel, ausgehauen zu einem Gesicht unter wuchtendem Stahlhelm, das still und ernst über die deutschen Lande schaut, den Rhein hinunter bis aufs freie Meer."

Die Texte bieten sich in Fülle an; die angeführten exemplarischen Proben sollten auf die immer wieder anzutreffende soziologische und literarsoziologische Herkunft dieser Sprache verweisen: burschenschaftliches Schrifttum (Karl Hase in seiner Festrede auf die Schlacht bei Leipzig, 1820), Trivialliteratür (Heinrich Clauren: „Mimili"), nationale Historie (Heinrich von Treitschke: Zum Gedächtnis des großen Kriegs, 1880), monarchische Verlautbarungen (Wilhelm II. an die 1900 zur Niederwerfung des Boxeraufstandes von Bremerhaven in See gehenden Truppen), patriotische Lyrik (Ludwig Ganghofer: „Eiserne Zither", Kriegslieder 1914), „hohe" Literatur (Ernst Jünger: „Der Kampf als inneres Erlebnis", 1929, und „In Stahlgewittern", 1920). Hitlers Stil fügt sich hier geradezu nahtlos ein.

„Mögen Jahrtausende vergehen, so wird man nie von Heldentum reden und sagen dürfen, ohne des deutschen Heeres des Weltkrieges zu gedenken. Dann wird aus dem Schleier der Vergangenheit heraus die eiserne Front des grauen Stahlhelms sichtbar werden, nicht wankend und nicht weichend, ein Mahnmal der Unsterblichkeit.

Solange aber Deutsche leben, werden sie bedenken, daß dies einst Söhne ihres Volkes waren."

Selbstverständlich steht neben solchem „saueren" auch süßlicher Kitsch: etwa die Kameradschaftsromantik des Soldatenlebens schildernd — im Stil der vergilbten Photographien, die (neben dem Hochzeitsbild hinter die Glasscheibe der Vitrine geklemmt) zu den Utensilien kleinbürgerlicher Idyllik gehörten:

„Wie gestern erst zieht an mir Bild um Bild vorbei, sehe ich mich im Kreise meiner lie-ben Kameraden eingekleidet, dann zum ersten Male ausrücken, exerzieren usw., bis endlich der Tag des Ausmarsches kam."

Auch die Naturromantik kommt nicht zu kurz;

wo könnte sie besser eingeschoben werden als bei der Schilderung der ersten Fahrt zum Rhein, dem „deutschen Schicksalsstrom", des-sen imperialistische Mythologisierung aus der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts hinreichend bekannt ist! Wieder zeigt sich als hervorstechendes Merkmal des Hitlerschen Stils die nachtwandlerische Sicherheit, mit der Hitler jede Platitüde ergreift: „stille Wellen", „Strom der Ströme", „alter Feind", „zarte Schleier des Frühnebels", „milde Strahlen der ersten Sonne", „quoll mir das Herz über" . . .

Die Gestalt der Germania (hier das Denkmal auf dem Niederwald) gehört zu den vielen nationalen Symbolen, die das Bewußtsein des deutschen Menschen im 19. Jahrhundert mitprägen halfen. Man wird dem Germania-Gedicht des Grafen Moritz von Strachwitz dabei besondere Bedeutung zumessen dürfen, weil in ihm die Vielzahl der Assoziationen, die sich für den gebildeten Patrioten dann später bei der „Beschwörung dieser edlen Figur" einzustellen pflegten, vorbereitet wurde: „Land des Rechtes, Land des Lichtes, Land des Schwertes und Gedichtes, Land der Freien und Getreuen, Land der Adler und der Leuen . . ." Was man alles in Deutschland deutsch nenne, — darüber hatte sich J. Fröbel schon 1858 aufgehalten („Deutsche Kraft", .deutsche Treue", .deutsche Liebe", .deutscher Ernst", .deutscher Gesang", deutscher Wein", .deutsche Tiefe", , deutsche Gründlichkeit", .deutscher Fleiß', .deutsche Frauen", — Deutsche Jungfrauen", .deutsche Männer", — welches Volk braucht solche Bezeichnungen außer das deutsche?" — Mommsen meinte, daß Treitschke für die Jungfrau Germania die Pickelhaube in Kurs gebracht habe; und in der Tat ist die Zeit nach 1870 besonders fruchtbar für das „Aufblühen" dieser „zutiefst deutschen" Symbolgestalt gewesen. Sie durchzieht die Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren, die Traktätchenliteratur und die gymnasialen Festschriften, die Jugendlust und die Werbe-hefte der Milchversorgung. Sie sah aus wie die Figur, die man mit großer Mühe („. . im Innern ihres Unterkörpers können zehn Paare tanzen. Das gewaltige Schwert wiegt fünf bis acht Centner und ist acht Meter lang") 1883 über den Niederwald gehievt hatte und von der die „Gartenlaube" schrieb: „Wie zur Wacht am Rhein das Idealbild der Jungfrau Germania die Völker führte, wie sie mit Schild und Schwert in Bildern und Liedern voran in die Schlachten zog, so tritt sie heute, die hehre Belohnerin der großen Taten, mit der Reichskrone auf dem Haupt und dem Lorbeer und Eichenkranz in der Hand, den heimkehrenden Helden entgegen und begrüßt sie an den Marken der Länder, an den Toren der Städte und beim Siegesfest vor den Königsburgen." „Brausend erklang die Nationalhymne in das Tal, jubelnd ertönte der Weihegesang: , Lieb'Vaterland magst ruhig sein’ vom Eichwald herab, von tausend Kehlen angestimmt, mächtiger wirkend als je zuvor. Da trat der Kaiser an Moltke heran und reichte dem treuen Kampfgenossen die Rechte, ihn mit seinen gewinnenden Augen fest anblickend — in diesem kaiserlichen Gruße den Dank aussprechend allen jenen, die da mitgeholfen, seien sie noch unter den Lebenden, seien sie dahingerafft im Kampfe um das heiß errungene Ziel." Es ist für die deutsche politische Anthropologie wie für das Verständnis des Nationalsozialismus sehr aufschlußreich, sich in diesem Zusammenhang Hitler als Gartenlauben-Autor oder -Berichterstatter vorzustellen: „Und so kam endlich der Tag, an dem wir München verließen, um anzutreten zur Erfüllung unserer Pflicht. Zum ersten Male sah ich so den Rhein, als wir an seinen stillen Wellen entlang dem Westen entgegenfuhren, um ihn, den deutschen Strom der Ströme, zu schirmen vor der Habgier des alten Feindes. Als durch den zarten Schleier des Frühnebels die milden Strahlen der ersten Sonne das Niederwalddenkmal auf uns herabschimmern ließen, da brauste aus dem endlos langen Transportzuge die alte Wacht am Rhein in den Morgenhimmel hinaus, und mir wollte die Brust zu enge werden."

Nach der Schilderung der Stimmung des ersten Gefechts („. . . zischt plötzlich ein eiserner Gruß über unsere Köpfe . . . dröhnt aus zweihundert Kehlen dem ersten Boten des Todes das erste Hurra entgegen ... als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: . Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Weltl'") — nach diesen Stellen eines z. B. aus Beumelburg oder Zöberlein millionenfach bekannten Morgenrot-und Morgenritt-Bardiets wendet sich Hitler im zweiten Teil dieses Kapitels der Lage in der Heimat zu. Damit ist auch stilistisch eine Zäsur gegeben. Es folgt nun — wie so oft in diesem Werk — das, was Goebbels im „Reich" den „Stuhlgang der Seele" nannte: das Schimpfen, ein hemmungsloses Wüten auf Parlamentarier, Juden, Marxisten, auf all jene, die den Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Front geführt hätten (eine Lüge, die zwar Hitler nicht erfand, aber geschickt demagogisch ausnützte) — Das sind die Stammtischtiraden eines leicht angetrunkenen Spießers, der sich beim Bramarbasieren immer mehr ins Gröhlen hineinsteigert (im Bierkeller, etwa bei der Ansprache vor den alten Kämpfern in München, fühlte sich Hitler besonders in seinem Element). Je unsinniger und unbegründeter die Behauptungen sind, desto breiter werden sie ausgesponnen.

Der „betrügerischen Genossenschaft der jüdischen Volksvergifter" hätte der Garaus gemacht, sie hätte unbarmherzig ausgerottet werden sollen. „Wenn an der Front die Besten fielen, dann konnte man zu Hause wenigstens das Ungeziefer vertilgen." — Das Programm der Ausrottung wird hier — wie dann später bei seiner Verwirklichung im zweiten Weltkrieg — mit der Proklamation eines allgemeinen Notstandes verbunden und damit „gerechtfertigt". Die Phrase vom Kampf um Sein oder Nichtsein der Nation, die bereits vorher verwendet worden war, dient dazu, die Herrschaft der Bajonette zu verkünden. Was Hitler anschließend über die Unbeugsamkeit des menschlichen Freiheitswillens sagt („. . wächst die Zahl der inneren Anhänger in eben dem Maße, in dem die Verfolgung zunimmt") wird egozentrisch nur auf die eigene Bewegung bezogen. — Große Bedeutung wird der „nackten Gewalt" zugemessen und die Koppelung von „Idee" (was die Nationalsozialisten unter Idee verstanden) und Brutalität als das sicherste Mittel zum Erfolg gepriesen. Wie hier Beharrlichkeit im Terror mit der Beharrlichkeit im Geiste widerspruchslos zusammengefügt, ja geradezu als beste Verbindung herausgestellt werden, braucht nicht zu überraschen: auch dies gehörte zum Propagandaarsenal der vorfaschistischen Strömungen. Das war nur möglich, wenn man den Gehalt der Worte Geist, Idee etc. überhaupt nicht mehr verstand. Die schon bei den Hinweisen auf die Genealogie des politischen Pathos erwähnte Diskrepanz zwischen Wort und Begriff, wie sie etwa bei Wilhelms II. Hunnenrede zutage trat, hat das Unrecht-tun vorbereitet; im Weltanschauungsnebel verloren sich die klaren Konturen ethischer Gebote und Gesetze; Bildung wurde makabrer Ästhetizismus: „. . . gibt es unter uns Frontsoldaten Männer, die in einen französischen Graben brechen, Stahl und Sprengstoff in der Faust, und die im eroberten Unterstände Rabelais, Moliere und Baudelaire lesen" Das Volk der Dichter und Denker war zugleich ein Volk der Stahlnaturen, be-reit, Ideen mit der nackten Gewalt durchzusetzen;

barbarischer Trieb wurde mit edelstem Geist garniert — Hölderlin im Tournister. Was bleibt, stiften die Dichter — und die Soldaten.

„Krieg und Kunst ist eine griechische, eine deutsche, eine arische Losung . . . Der Liniensoldat hat seinen Namen von den großen und einheitlichen Linien, in welche sich die Truppen unter normalen Verhältnissen formieren;

das klassische Kunstwerk führt seinen Na-men mit Recht, wenn es seinen individuellen Charakter zur großen und einheitlichen Linienführung, in materieller und geistiger Hinsicht erweitert." _— Was Hitler verkündete, war somit auch in dieser Hinsicht dem deutschen Bewußtsein seit langem eingeprägt.

„In der ewig gleichmäßigen Anwendung der Gewalt allein liegt die allererste Voraussetzung zum Erfolg. Diese Beharrlichkeit jedoch ist immer nur das Ergebnis einer bestimmten geistigen Überzeugung ... Im Ringen zweier Weltanschauungen miteinander vermag die Waffe der brutalen Ge-walt, beharrlich und rücksichtslos eingesetzt, die Entscheidung für die von ihr unterstützte Seite herbeizuführen."

Politik und Terror waren in der für den Nationalsozialismus typischen Form miteinander verknüpft. Das 5. Kapitel endet mit der Bemerkung, daß schon während des Krieges Hitler im Kreis seiner Freunde versichert habe, „nach dem Kriege als Redner neben meinem Berufe wirken zu wollen."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für Nietzsche dient die monumentale Historie „dem Tätigen und Mächtigen", indem sie ihm heroische Vorbilder vor Augen stellt: großes, monumentales Leben, „das doch einmal möglich war" und dessen Anschauung den Willen des Handelnden beflügelt. (Vgl. G. Ritter: Historie und Leben. Eine Auseinandersetzung mit Nietzsche und der modernen Lebensphilosophie. In: Vom sittlichen Problem der Macht, Bem und München o. J., S. 98 ff.) Daß ein monumentales Bedürfnis auch heute -och dem Konservatismus zu eigen ist, darüber A. Mohler in Der Monat, Heft 163.

  2. Es wird Aufgabe der politisch-anthropologischen Forschung sein, gerade auch in dieser Hinsicht systematische Untersuchungen anzustellen. Gelegentlich ist dies schon geschehen — mit sehr aufschlußreichen Ergebnissen. Vgl. H. Schwertes (von der literaturhistorischen Fragestellung ausgehende)

  3. Die Kunstbetrachtung hat sich diesen Fragen bislang viel zu wenig gewidmet. Eine rühmliche Ausnahme macht W. Hofmann: Das irdische Para-dies, Kunst im neunzehnten Jahrhundert, München o. J. In diesem Zusammenhang bes. S. 122 ff., 182 ff.

  4. „Der deutsche Mann voll Biederkeit und Treue, der Jüngling, im äußeren Auftreten oft eckig und verschlossen, aber mit Mark in den Röhren und den Kopf voll Ideale, das Herz auf dem rechten Flecke; die deutsche Hausfrau, das Juwel aller Frauen auf Erden, die deutsche Jungfrau, wie eine Blume so hold und schön und rein — das deutsche Haus, ein Haus voll Zucht und Ernst und zugleich eine Stätte traulicher Gemütlichkeit." H. A. Daniel: Handbuch der Geographie, Leipzig 1859— 1862; zit. nach Weymar a. a. O., S. 171.

  5. Die Verbindung des „Monumentalen", des Heroenkults mit einer ganz bestimmten Form der Sexualität und Erotik bedarf einer besonderen Analyse. Vgl. H. Glaser: Das Mädel und sein Held. In: Vom Wesen und Werden des deutschen Kleinbürgers (Arbeitstitel), demnächst im Rombach-Verlag. Von der Trivialliteratu’ her gibt W. Killy in seinem „Versuch mit Bei ielen": Deutscher Kitsch (Göttingen o. J.) instruktive Proben.

  6. L. Marcuse: Mein Zwanzigstes Jahrhundert, München o. J., S. 140 ff. Systematische Untersuchungen hierüber bei Weymar a. a. O.

  7. Weymar a. a. O., u. a. S. 157.

  8. A. Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, 85. — 94. Auflage, München 1934, S. 172. Im folgenden als MK zitiert.

  9. Vgl. K. D. Bracher-W. Sauer-G. Schulz: Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln und Opladen 1960, S. 264.

  10. „Proklamation des Führers" auf dem Reichsparteitag 1933. In: Nürnberg 1933, Der erste Reichstag der geeinten deutschen Nation, Berlin o. J., S. 74.

  11. Weymar a. a. O., bes. S. 41 ff., 45 ff.

  12. Uber Hitlers Geschichtsunterricht MK S. 12 ff.

  13. MK S. 173.

  14. G. Heym: Dichtungen und Schriften, Band III — Eintrag vom 6. 7. 1910. Hamburg-München 1959.

  15. MK S. 173.

  16. MK S. 174.

  17. Ansprache des Führers vor den Oberbefehlshabern am 22. August 1939; zit. nach Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933— 1945, hg. von H. A. Jacobsen und W. Joch-mann, II. Bielefeld 1961 ff.

  18. MK S. 177.

  19. Vgl. A. Kubizek: Adolf Hitler, mein Jugendfreund, Graz 1953. F. Jetzinger: Hitlers Jugend, Stuttgart o. J. — Ferner A. Bullock: Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf o. J., S. 17 ff.

  20. Hierzu ausführlich H. H. Muchow: Jugend und Zeitgeist. Morphologie der Kulturpubertät, Hamburg o. J., z. B. S. 39 ff. — Ferner H. Pross: Vor und nach Hitler — Zur deutschen Sozialpathologie. Olten und Freiburg o. J., S. 41.

  21. „Die Gartenlaube", Jahrgang 1871, S. 543.

  22. Vgl. auch W. Schüssler: Kaiser Wilhelm II. Schicksal und Schuld, Berlin-Frankfurt-Zürich 1962.

  23. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918); vgl. auch K. Sontheimer: Thomas Mann und die Deutschen, München 1961.

  24. H. J. Schierskott: Arthur Moeller van den Bruck, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1962, S. 19.

  25. O. Spengler: Jahre der Entscheidung (1933). Zit. nach der Taschenbuchausgabe von 1961, S. 35. Es muß sehr eigenartig berühren, daß der Band für einen breiten Leserkreis neu aufgelegt wurde, ohne daß man ihm einen Kommentar oder ein zureichendes Vorwort mitgegeben hat.

  26. H. Blüher: Werke und Tage. Geschichte eines Denkers. Neuauflage München 1953, S. 132. Die Gestalt Blühers ist ein exemplarisches Beispiel für die Perversion des deutschen Geistes vor 1933. Hierzu ausführlich demnächst der Verfasser in einer Studie über Hans Blüher.

  27. H. Blüher a. a. O., S. 432.

  28. A. Bullock a. a. O., S. 109. — H. H. Hofmann: Der Hitler-Putsch, München 1961.

  29. H. Trevor-Roper: Hitlers letzte Tage, Zürich 1948. — Uber das „heldische" Verhalten der NS-Führer vgl. H. Glaser: Das Dritte Reich, Anspruch und Wirklichkeit, Freiburg 1961, S. 45.

  30. Aus den vielen Sonderstudien zu dieser Frage seien erwähnt: J. F. Neurohr: Der Mythos vom Dritten Reich, Stuttgart 1957. — F. Glum: Philosophen im Spiegel und Zerrspiegel. Deutschlands Weg in den Nationalismus und Nationalsozialismus, München 1954 — F. Glum: Der Nationalsozialismus, München 1962. — K. Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962. — H. Pross: Die Zerstörung der deutschen Politik, Dokumente 1871— 1933, Frankfurt/M. 1959.

  31. Ich übernehme hier ein Wort von G. Lukäcs: „In der Bismarckschen Periode leben nur isoliert absterbende letzte Mohikaner der deutschen Demokratie." (Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus, in: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin 1953, S. 102.)

  32. Mitgeteilt bei A. Wucher: Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik, Göttingen-Berlin-Frankfurt o. J.

  33. B. Croce: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, Stuttgart 1950, S. 303; vgl. auch S. 356 ff.

  34. MK S. 178.

  35. Vgl. hierzu auch H. Kohn: Wege und Irrwege. Vom Geist des deutschen Bürgertums, Düsseldorf o. J.

  36. MK S. 179/80.

  37. Gabriel Rießer: Zu Schillers 100. Geburtstage. Hamburg, 10. November 1859. In Deutsche Reden. Hg. von Th. Flathe, Band I, Leipzig 1894, S. 440 ff.

  38. K. Hase zit. nach Weltgeschichte im Aufriß. Arbeits-und Quellenbuch III, Frankfurt 1957, S. 55. — H. Clauien: nach W. Killy: Deutscher Kitsch, Göttingen 1961, S. 78. — H. v. Treitschke: Ein Wort über unser Judentum, Berlin 1880, S. 225. — Wilhelm II. zit. nach J. Hohlfeld: Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte, Berlin und München o. J., 2. Band, S. 114. — L. Ganghofer: Eiserne Zither, Kriegslieder, Stuttgart 1914, S. 79. — E. Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1929, S. 8. In Stahlgewittern, 1920, Vorwort.

  39. MK S. 182.

  40. MK S. 180.

  41. Zit. nach H. Pross: Die Zerstörung der deutschen Politik, a. a. O., S. 11.

  42. „Die Gartenlaube", Jahrgang 1871, S. 440 und Jahrgang 1883, S. 553.

  43. MK S. 180.

  44. Vgl. L. Ritter von Rudolph: Die Lüge, die nicht stirbt. Die Dolchstoßlegende von 1918. Nürnberg o. J.

  45. MK S. 186, 185.

  46. MK S. 187.

  47. E. Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1929, S. 63. Zu E. Jünger als exemplarischer Figur der deutschen Geistesgeschichte („Landkarte der Epoche"): H. P. Schwarz: Der konservative Anarchist — Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg 1962.

  48. Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (= J. Langbehn), Leipzig, 1891, S. 215.

  49. MK S. 189.

Weitere Inhalte

Hermann Glaser, Dr. phil., geb. 28. August 1928 in Nürnberg; Veröffentlichungen: Weltliteratur der Gegenwart, Darmstadt 1956 (19624); Wege zur modernen Kunst, Bamberg 1956; Kleine Kulturgeschichte der Gegenwart, Frankfurt/Main 1959; Das Dritte Reich, Anspruch und Wirklichkeit, Freiburg 1961; Wege der deutschen Literatur (Mitautor) 2 Bde., Darmstadt 1961.