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Versuch oder Versuchung einer Gegenideologie | APuZ 34-35/1963 | bpb.de

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APuZ 34-35/1963 Versuch oder Versuchung einer Gegenideologie Politische Wissenschaft und Gemeinschaftskunde

Versuch oder Versuchung einer Gegenideologie

Siegfried Müller-Markus

Immer wieder wird die Frage nach einer Gegenideologie aufgeworfen. Wenn wir von geistiger Verteidigung sprechen, so ist dieses Problem natürlicherweise eingeschlossen. Ich möchte es zunächst vom analytischen Standpunkt aus behandeln, um anschließend eine Synthese zu versuchen.

Die Herausforderung

Es wurde inzwischen allen einsichtig, daß die Herausforderung des Kommunismus primär eine geistige ist. Wir können dazu Chruschtschows Rede auf der Sitzung des ZK am 21. Juni 1963 zitieren:

„Ich denke, alle werden es verstehen, daß man ungeschwächte Aufmerksamkeit und Widerstand jenen gegenüber an den Tag legen muß, welche auf einer uns fremden Haltung der friedlichen Koexistenz auf dem Gebiet der Ideologie bestehen."

Einige Minuten vorher sagte er:

„Genossen! Die kommunistische Ideologie, die marxistisch-leninistische Lehre, ist bildlich gesprochen der Zement, der den Willen und die Aktivität von Millionen, von Partei und Volk, zu einem einzigen monolithen Block bindet ... Die Partei, die Ideologie, ihre marxistisch-leninistische Lehre, ihre organisatorische Kompaktheit — dies ist jenes zementierende Material, das Millionen und Millionen ihrer Einzelteilchen, der einzelnen Individuen, in ein mächtiges monolithes Gefüge verwandelt. Die Kraft der Partei und ihrer marxistisch-leninistischen Ideologie ist durch das Leben verifiziert;

schon seit über 60 Jahren kämpft die Partei für die Sache des Volkes und siegt, geführt von der unsterblichen Lehre des Marxismus-Leninismus ... Die Kraft unserer Partei kennen sowohl unsere Freunde wie Feinde ...

Sie haben wahrscheinlich mehrfach gelesen, daß die Ideologen der kapitalistischen Welt mit Bedauern davon sprechen, daß der Kapitalismus keine für die Volksmassen so attraktiven Ideen besitzt, welche das ganze Volk zusammenschweißen, wie der große Glaube an den Kommunismus, der Glaube an die Unausweichlichkeit des Triumphes der Ideale des Kommunismus die Werktätigen zusammenschweißt. „Wir besitzen keine Ideologie, welche die Menschen vereint, wir müssen etwas ausdenken', gestehen die prominentesten Politiker des Monopol-kapitals ..." (Prawda 29. 6. 1963).

Das Phänomen des Kommunismus zeigt in der Tat die Macht von Ideen. Lenin vollbrachte die größte gewaltsame Umwälzung der Geschichte ausschließlich durch das Wort. Unaufhörlich hämmerte er den Menschen gewisse Grundgedanken ein, bis sie bereit waren, dafür zu Kurt Sontheimer:

Politische Wissenschaft und Gemeinschaftskunde (s. Seite 11) sterben. Es wäre ein Irrtum, darin nur die politisch-strategische Relevanz zu sehen. Lenin war zynisch gegenüber seinen Gegnern, aber er meinte es todernst, sobald die Reinheit der Lehre auf dem Spiel stand. Seine Nachfolger, wie sehr sie auch neuen Situationen gegenüberstehen und sich nach Temperament und Bildung unterscheiden, bestehen alle auf der Unüberwindlichkeit der Lehre.

Nicht ohne Grund, denn nach dem Scheitern der reinen Gewaltstrategie, wie sie in Korea, Berlin und Kuba angewandt wurde, verlegt sich die kommunistische Führung mehr und mehr auf das Werben um die Entwicklungsvölker. Dort glaubt man eine reiche Ernte zu finden. In den Industrieländern hingegen hofft man, das Erbe von Pessimismus, Uneinigkeit und moralischem Zerfall anzutreten, wenn die Stunde des wirtschaftlichen Niedergangs eintreten sollte. Die nicht-kommunistische Welt ist in dieser Sicht unheilbar krank; aber statt einer Therapie verspricht der Kommunismus nur den Tod unseres gesellschaftlichen Systems.

Die Schuld f Diese Verzerrung der Wirklichkeit wäre zu grotesk, um ernst genommen zu werden, wenn nicht zwei Faktoren uns zwängen, die geistige Herausforderung zu parieren: Einmal weil sie durch das Verstärkersystem von Atombomben und der kommunistischen Parteien in der Freien Welt vorgetragen wird, zum anderen, weil ihre geschichtlichen Wurzeln in unserer eigenen Vergangenheit liegen. Materialismus und soziale Ungerechtigkeit sind Produkte unseres vorgeblich christlichen Abendlandes. Das Mißtrauen der früheren Kolonialvölker gegen die Politik des Westens ist die Frucht einer imperialen Politik der klassischen Großmächte. Der Haß gegen die Religion, den wir heute wie je bei den Kommunisten antreffen, hat eine seiner Wurzeln in der Duldung sozialen und politischen Unrechts durch die christlichen Kirchen. Die Heraufkunft des Materialismus knüpft an Namen wie Hobbes, Voltaire, Diderot, Holbach, Helvetius, Büchner, Vogt, Mole-schott, Ostwald, Haeckel, Nietzsche, von denen kein einziger ein Russe war.

Die Tragik unserer Situation liegt darin, daß wir seit dem Ende des letzten Weltkriegs mehr Menschen die nationale Selbständigkeit gaben, als je zuvor in der Geschichte befreit wurden. Daß wir eine wirtschaftliche Blüte in den Industriestaaten der freien Welt entwickelten, von der sich die europäischen Völker noch 1945 nichts träumen ließen. Daß wir in diesen Ländern eine hochentwickelte soziale Gesetzgebung entfalteten, die der sozialen Problematik ihre Giftigkeit nahm, wie sie noch Marx — zu Recht — in sie einströmen ließ. Daß wir in der Naturwissenschaft und Technik eine kulturelle Leistung ersten Ranges hervorbrachten, welche die ganze bisherige Menschheitsentwicklung auf diesem Sektor nur als Vorspiel erscheinen läßt. Daß wir dabei sind, uns wirtschaftlich, politisch und religiös zu einigen — ein Werk, das in seiner Kühnheit ans Utopische grenzt und dennoch in aller Nüchternheit Schritt für Schritt vollzogen wird. Warum, so fragen wir, muß in dieser Stunde der Verwirklichung großer Ideale uns der Stoß aus dem Hinterhalt treffen, der Angriff aus einer scheinbar überwundenen Schuld gegen die Unterdrückten von gestern, warum muß uns ein antiquierter, ganz und gar dem 19. Jahrhundert verhafteter Kommunismus das Recht auf Bewältigung der Zukunft absprechen? Die Faszination Hier geht etwas in der Tiefe vor, das dem äußeren Bild widerspricht. Fassen wir die Faszinationsmomente zusammen, die dem Kommunismus bisher zum Siege verhalfen. Versuchen wir einmal, das Lot der Analyse so tief wie möglich zu werfen: Man hat oft gesagt, der Kommunismus sei ein pseudoreligiöses System. Dies ist richtig. Aber er kann es nur sein, weil er verborgene Quellen der Seele anspricht, die bei uns am Versiegen sind. Die Konfrontierung der Kommunisten mit westlichen Haltungen scheint über sie das Urteil zu sprechen: Wo der westliche Menschentyp den Gedanken des Opfers als atavistisch zurückweist, ist der Kommunist bereit, sein Glück, seine Familie, seine Entscheidungsfreiheit, ja sein intellektuelles Gewissen zu opfern, um der Partei zu dienen. Sie verheißt ihm dafür seelische Geborgenheit, ja die Allmacht der allein wahren Heilslehre, während der hoch-gezüchtete Intellekt westlicher Menschen den Gipfel totaler Freiheit erkämpfte, um in das totale Nichts zu blicken. Kein Himmel der Heiligen mehr über ihm, kein Land der Verheißung vor ihm. Ein Verharren am Rand des Daseins, ins Extrem geschleudert, ein Sieg ohne Glück, ein Kampf ohne Lohn, eine Mühe ohne Sinn. Nietzsche ahnte die Heraufkunft des europäischen Nihilismus; die von Nietzsche geprägten „Übermenschen" Hitler und Mussolini konnten ihn durch den Zusammenbruch ihrer Pseudoideale nur beschleunigen. Wenn man dieses Bild für verzeichnet hält, so möge man einen Augenblick bei einem Gedankenexperiment verweilen: Stellen wir uns vor, der Kommunismus würde über Nacht ganz Europa beherrschen — ohne Gewalt, lautlos, einfach eine Tatsache beim Erwachen von langem Schlaf. Die erste Proklamation der neuen Gewalt wäre: Keine Repressalien gegen wen auch immer, keine Änderung der gesellschaftlichen Struktur, alle Träger irgendwelcher Funktionen blieben in ihren Ämtern, volle Gedankenfreiheit. Eines änderte sich allerdings: Alle Angehörigen der „Intelligenz", also Wissenschaftler, Künstler, Manager und Techniker, erhielten das Doppelte ihres bisherigen Einkommens. Nur ein einziges, ein gänzlich belangloses Opfer würde verlangt: Keine Kirchenglocken dürften mehr läuten. Wer dieses Gebot verletzte, würde mit dem Tode bestraft. In der Tat, ein einziger alter Priester in einem miserablen Gebirgsdorf hätte das Gebot übertreten und würde öffentlich hingerichtet. Nicht blutig wie in den Zeiten der Inquisition, sondern indem er durch Einwirkung neuartiger Strahlen sich beim Durch-schreiten eines Tores in Licht auflöste. Völlig schmerzlos, momentan, unerwartet, ein Schauspiel für Millionen von Fernsehzuschauern. Wer würde dann noch die Glocke läuten? Wer würde protestieren?

Es gibt eine Darstellung des Antichrist, wo er als einfacher Mann aus dem Volke plötzlich unter uns allen ist, vor allem momentan gespürt, aber nicht als Unhold und Teufelsfratze, sondern als gütiger, helfender, von allem Leid des Lebens erlösender Mensch. Statt eines Bocksgesichtes ein sanfter, selbstbeherrschter und menschlicher Geist, Freund der Unterdrückten, Arzt der Bedrängten, Diener der Armen. Ist dies nicht das Bild, das die kommunistischen Führer von sich selbst entwerfen? Mit eben jenen Zügen wird Lenin umgeben, hat sich Stalin während seiner Schreckensherrschaft ausgestattet. Jeschow, Chef der GPU während der Stalinschen Säuberungen, wurde von seinen Helfershelfern als Heiliger bezeichnet, Dzerschinskij galt als Asket. Der Tschekist versteht sich als Priester, der den Gefangenen nicht so sehr der Bestrafung als der inneren Reinigung zuführt, mit dem ganzen Instrumentarium der Beichte, Reue, Lossprechung durch die Buße, der Wiedergeburt. Der Kommunist ist nicht gewissenlos — er erhält nur ein neues Gewissen als Bannerträger der Weltrevolution.

Die Herausforderung an uns ist also im Tiefsten eine moralische. Unser Gewissen ist aufgerufen. Und ehe wir hier zu antworten vermögen, muß uns erst klar sein, was Wahrheit und Recht ist.

Die Umkehr des Westens Wer den Kommunisten nur Skepsis, Pessimismus und moralischen Zerfall anzubieten hat, bestätigt ihre Theorie von der Unausweichlichkeit ihres Triumphs. Das Wohlstands-gefälle ist ein wichtiges, aber kein entscheidendes Argument. Prometheus, der eine neue Menschheit gründet, bringt seinen Völkern Feuer, die Welt in Brand zu setzen, und nicht Streichhölzer, um ein ? neue Zigarette zu kosten. Es ist ganz 1 wahrscheinlich, wenngleich nicht ausgesci ssen, daß das enorme kosmische Gewitter, aas seit einem halben Jahrhundert über der Menschheit hängt, von selbst einem Regenbogen des Friedens weicht. Sollte es so kommen, dann wäre es nur dem Wirken einer übernatürlichen Gnade zuzuschreiben. Gilt hingegen auch für geschichtliche Abläufe das Gesetz der Energiebilanz, so bedarf es unsererseits einer Anstrengung ohnegleichen, den Weltkommunismus zum Rückzug zu zwingen.

Diese Aufgabe wird aber in unserer Welt nicht einmal gestellt. Wir haben uns mit einer Lage abgefunden, die man als Status quo bezeichnet. Nach den Normen des Völkerrechts mag sie hingehen, für einen Gegner, der damit die permanente Unterdrückung seiner Unterworfenen legalisiert, ist sie das Eingeständnis unserer moralischen und politischen Ohnmacht. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir einem Weltkrieg oder der kalten Niederlage nur entgehen, wenn wir erreichen, daß Rußland, daß die sowjetischen Menschen, daß die kommunistischen Führer selbst sich bekehren. Nach natürlichen Kategorien beurteilt, gibt es keine andere Alternative. Die Bekehrung Rußlands setzt aber — wiederum natürlich gesprochen —• unsere eigene Bekehrung voraus. Solange die Kommunisten nur unsere Defensive verspüren, ohne vor der Macht unserer Ideen zu zittern, geben wir ihnen keinen Anlaß, an der Unbesiegbarkeit ihrer Lehre zu zweifeln.

Die innere Dialektik

Aber ist diese Lehre überhaupt besiegbar? Urteilen wir wiederum nach dem Phänomen. Es gibt kaum eine These der Naturlehre des Diamat, die nicht von der Wissenschaft dieser Natur selbst widerlegt oder zum mindesten in Zweifel gezogen wird. Die kommunistische Gesellschaftslehre schlägt der natürlichen Bestimmung und dem natürlichen Verhalten des Menschen ins Gesicht, sie setzt eine soziale, ökonomische und künstlerische Wirklichkeit, die von der Mehrheit der Menschen als Unterdrückung und Schande empfunden wird. Das heißt nicht, daß nicht zahlreiche hochentwikkelte Individuen sie als gerecht und sinnvoll empfinden — nur liegt eben hier eine Verkümmerung ihres intellektuellen und moralischen Gewissens vor. Es gab kaum eine Utopie, die nicht ihre Adepten gefunden hätte. Aber der gesunde Instinkt für das Natürliche pendelte sich im Lauf der Geschichte immer wieder ein. Spätestens mit dem Anruf der existentialen Fragen an das Gewissen tritt die Ernüchterung ein: Mit der Wahl des Berufs, des Lebenspartners, der Kindererziehung, mit Krankheit, Unglück und Tod. Der Kommunismus gibt darauf nur die eine Antwort: Gehorche der Partei, sie ist das Orakel der historischen Notwendigkeit. Welch immense Vereinfachung der Natur des Menschen, welche Verkürzung aller transökonomischen Dimensionen unserer Existenz, welche Verstümmelung des personhaften Geistes durch den unpersönlichen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung! Und diese Entwicklung selbst? Sie hört mit Erreichen der kommunistischen Endphase auf, wird zum konfliktlosen Drama der Rund-Um-Überproduktion, der ewigen Plan-erfüllung, der Beherrschung der Natur durch einen naturlos gewordenen abstrakten Menschen, ein Wesen ohne Fleisch und Blut, ohne Aufbäumen gegen die totale Herrschaft eines abstrakten Ganzen, manipuliert von den äußerst konkreten Führerpersonen, die sich dem Zugriff des Ganzen entziehen konnten, um sich an seine Spitze zu setzen. In Wahrheit das schrecklichste Drama der Geschichte, die permanente Entmenschung des Menschen, die Tötung der Seele. Es gibt makabre Visionen dieser Zukunft, Orwell, Kafka, Dostojewskis „Dämonen". Aber das alles ist nicht Zukunft, sondern Gegenwart.

Die Natur des Menschen wird sich jedoch widersetzen. Und sie hat sich widersetzt, solange es totalitäre Herrschaft gab. Wer in sowjetischen Lagern zur Stalinzeit weilte, kennt diesen Aufstand des Gewissens, der bis zum Exzeß gehen kann, bis zum freiwilligen Martyrium um der Bekehrung Rußlands willen.

Aber nicht nur die Natur des Menschen, die Natur selbst widerlegt den Kommunismus: Die Sputniks und Megatonnenbomben gehorchen nicht den Gesetzen von Engels und Lenin, sondern von Newton, Leibnitz und Einstein. Es ist eine geistesgeschichtliche Tatsache ersten Ranges, daß der Materialismus durch die Kenntnis der Materie aus den Angeln gehoben wird. Mußte es nicht so kommen, damit auch der Blindeste eines Tages sehend wird? Sonst hätte manch einer diese Entwicklung dem bewußten Streben der Philosophen oder Physiker zur Last gelegt. Aber gerade die Physiker wissen, daß sie die Natur oft einen Weg gehen heißt, den sie nicht gehen wollen.

Wenn wir also dennoch mutlos sind, ja uns nach der Rechtmäßigkeit unseres Widerstands fragen, so belehren uns personale Natur des Menschen und physische Natur des Universums eines Besseren, überall dort, wo Freiheit zertreten wird, wird uns spontan das Gesetz des Handelns bewußt. Aber sobald diese Spontaneität ins grelle Licht des Bewußtseins gehoben wird, zerredet man sie. Sobald die Natur der Dinge aus dem mathematischen und experimentellen Bereich mit dem Scheinwerferlicht der Philosophie konfrontiert wird, zerfließen die Konturen, und wir haben nichts mehr in der Hand. So kommt es, daß wir mit Atombomben manipulieren, aber nicht wissen, was eigentlich die Teilchen sind, aus denen das Atom besteht. Wir meistern die Klaviatur der psychologischen Beeinflussung, aber zur Seele des Menschen selbst haben wir weniger Zugang denn je.

Die Manipulation hier und dort

Und hier kommen wir zum einen Kernproblem: Es gibt Gemeinsames zwischen Kommunismus und westlichen Industriegesellschaften, was wir an dem vorhin erwähnten Gedanken-experiment ablesen können. Hier wie dort ist der Mensch, der einzelne, sorgende, sich bewährende, kämpfende und einmalige Mensch, nur Objekt der Manipulation. Dort mißbraucht man ihn zum Werkzeug der politischen Macht, indem alle seine Hoffnun(n und seine Hingabebereitschaft von der Ideologie absorbiert werden; hier wird er zum Objekt eines ungehemmten kommerziellen Drangs, der den Wert eines Buchs, eines Kunstwerks, einer Idee nur nach dem Absatz beurteilt und damit den Menschen zum kaufenden Gegenstand herab-würdigt. Es scheint zuweilen, als brauchten die Methoden hier wie dort nur ihre Vorzeichen zu wechseln, um ihre Kongruenz zu erweisen. Es geht um den Menschen, den einzelnen, den konkreten Menschen, Träger und Ziel der Geschichte, alles ökonomischen, politischen und zivilisatorischen Handelns, den Herrn aller Institutionen, das einzig erlaubte Bezugssystem für die Beurteilung unseres Verhaltens.

Ideologie oder Wahrheit?

Und hier kommen wir zu einer ersten Antwort auf die Fragestellung unseres Themas. Ideologie hat immer ein Bezugssystem, von dem aus sie auf ihren Wert beurteilt wird. Sie ist nicht sich selbst tragende, instrumental invariante Erkenntnis, sondern etwas Gemachtes, ein Artefakt zur geistigen Untermauerung politischer Macht. Erkenntnis trägt ihren Wert in sich selbst, die Wahrheit ist ein Gut, das keines Bezugssystems bedarf, um als ein Gutes beurteilt zu werden. Ideologie ist nur „gut", wenn sie brauchbar ist, sie gehört nicht zur Kategorie des Guten, sondern der Güter, der Ware, die man verkauft, um Gewinn zu erzielen. Die kommunistische Ideologie wird angeboten, um als Zement der Partei zu dienen, so ausdrücklich der eingangs zitierte Chruschtschow. Ideologie ist — wie Marx lehrt — der überbau über der ökonomischen Basis und von dieser determiniert. Umgekehrt wirkt sie in der Sicht der heutigen Sowjetphilosophie auf die Basis zurück und determiniert das politische Verhalten des Menschen. Sie ist also manipuliert von der Wirtschaft und manipuliert ihrerseits den Menschen. Es gibt daher kein Streben zur Ideologie, wie es ein Streben zur Wahrheit gibt. Was sie vermittelt, ist nicht Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern eine Anleitung zu menschlichem Verhalten, gestützt auf vorgebliche. Einsicht in Mensch und Natur.

Können wir auf dieser Ebene uns überhaupt mit den Kommunisten messen? Die Versuchung dazu ist bedeutend. Wir wissen, daß die psychologische Vorbereitung der Menschen für den friedlichen wie militärischen Einsatz entscheidend ist. Wir wissen aus den Worten von Chruschtschow und Iljitschow, daß die sowjetische Führung einen ideologischen Einbruch westlicher Ideen in das eigene Lager befürchtet. Es liegt nahe, eine psychologische

Strategie zu entwickeln, um die Periode der sogenannten Koexistenz für eine geistige Niederwerfung des Gegners und eine Zementierung der eigenen Front zu nutzen.

Und doch wäre solches Unterfangen völlig wirkungslos. Jedermann in der freien Welt wüßte, daß hier ein Schema entworfen würde, um eine Schar von Menschen ohne die Barriere der Kritik psychologisch zu drillen. Damit wäre auch die Wirksamkeit in der sowjetischen Bevölkerung gleich Null. Marx, Engels und Lenin haben ihre Lehre nicht in diesem Sinne „gemacht". Sie waren samt und sonders militante Gottesleugner und suchten ehrlich nach einem Ausweg, um eine reine Weltimmanenz philosophisch zu begründen. Damit verbanden sie zugleich das Pathos der Revolution. Wir sind weitgehend Skeptiker und jedem Pathos entfremdet; nur der Kommunismus zwingt uns, nach einer einigenden und heilenden Weitsicht zu suchen.

Es wäre aber auch unrecht, eine Gegenideologie zu entwickeln. Beurteilen wir eine philosophische Lehre nach ihrer Effektivität, so haben wir bereits die Wahrheitsfrage ausgeklammert. Damit sind wir den Kommunisten moralisch gleichwertig, ja unterlegen, denn sie glauben zum mindesten an ihre eigene Theorie. Wir könnten dies nicht mehr guten Gewissens tun, sondern würden Geführte suchen, um sie durch eine fabrizierte Doktrin zu verführen, unsere Hilfstruppen zu werden.

Das Problem stellt sich ungleich schwieriger. Unsere Situation gestattet keinen Ausweg als in die Wahrheit. Diese aber muß erst entdeckt werden oder zum mindesten neu entdeckt, denn hätten wir sie, so wäre unser Gewissen gegenüber den Kommunisten unversehrt und unsere Einheit gesichert. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt, was zu tun bleibt.

Das Programm der neuen Welt

Es gibt aber auch kein Ausweichen in die Un-verbindlichkeit der Pluralität. Schon oft wurde die These vertreten, eine pluralistische Gesellschaft verbiete die Einheit der Lehre, ja die Allgemeinverbindlichkeit einer Antwort auf jene Fragen, die der Kommunismus aufwirft. Würden wir dieser These folgen, so hätte jeder seine eigene Überzeugung oder auch den Mangel einer solchen zu verteidigen und die Front verliefe nicht zwischen Kommunismus und freier Welt, sondern mitten durch unsere Welt wie ein Netzwerk von Gräben.

Wir haben also zunächst nach dem Maximal-schema einer gemeinsamen Haltung zu fragen. Wir können es wohl ohne Bedenken formulieren: (1) Persönliche Entscheidungsfreiheit in den Grundanliegen der menschlichen Existenz, wie Bekenntnis, Beruf, Ehe, Erziehung und politische Meinungsbildung.

(2) Fixierung und Einhaltung einer rechtlichen Norm für persönliches wie staatliches Verhalten, deren Ziel nicht irgend-ein Abstraktum, sondern der konkrete Einzelmensch ist.

(3) Freiheit der Forschung und der Publikations-Resultate. Dieser Katalog läßt sich erweitern. Wir sehen, daß er eigentlich nur die Grundforderungen der modernen Demokratie enthält. Wir fühlen indes, daß diese Forderungen nicht zureichen, um daraus ein philosophisches Bekenntnis zu bilden. Sie genügen wohl zur Defensive gegen die Gewaltherrschaft, bilden aber nicht mehr die treibende Kraft, wenn es um den Aufbau der eigenen Welt geht, unabhängig von deren Bedrohung.

Und hier stehen wir an einem entscheidenden Punkt. Wir müssen die Struktur dieser Welt finden, auch wenn keine kommunistische Herausforderung bestünde. Denken wir uns ein zweites Gedankenexperiment: Der Eiserne Vorhang geht auf oder erhält genügend Löcher zu einer geistigen Osmose zwischen West und Ost. Wir können Austauschprofessoren in großer Zahl in die Sowjetunion entsenden, und Tausende von sowjetischen Studenten hören bei uns. Die Frage, was wir dann an geistigen Werten anzubieten haben, wird über das Schicksal des Westens entscheiden.

Vermutlich liegt die Zukunft zwischen den beiden hypothetischen Extremen. Sie sollten nur zeigen, wie wir etwa die Lösung für das gestellte Problem zu suchen haben. Es geht uns dabei vielleicht ähnlich wie der modernen Physik: Nur eine ganz verrückte Idee, etwas Unerwartetes, Geniales bringt die Lösung. Aber ebenso wie in der Physik die Lösung durch die Problemstellung bis zu einem gewissen Grad vorgezeichnet ist, so können wir die geschichtliche Lösung durch die Herausforderung des Kommunismus vorausskizzieren.

Die Provokation erfolgt genau dort, wo wir versagten. Nur aus unserer persönlichen, geschäftlichen und politischen Egozentrik nährt sich die geistige Wurzel des Kommunismus.

Wir haben zwar Freiheit wovon, aber nicht mehr die Freiheit wozu. In der Selbst-Verhaftetheit stirbt der Mensch. Nur im Aufbrechen der Egozentrik zur eigentlichen Ek-Stasis, im Hinübertreten zum anderen, ebenfalls aufbrechenden Selbst des je Anderen, Einmaligen, unveräußerlich Werthaften gewinnen wir uns selbst — eine Erkenntnis, die Jahrtausende religiöser Weisheit aller Hoch-religionen uns vermitteln. Es ist eine unverkennbare Tatsache, daß die menschliche Natur ihre Erfüllung erst in der Hingabe an den je anderen Menschen findet, ja in das je Andere als schöpferisches Werk. Die große Schöpfung des Menschen liegt nicht in der prometheischen Manipulation von Mensch und Natur, sondern im heiligen Schöpfertum der Freundschaft, der ehelichen Gemeinschaft, dem liebenden Erkennen der Natur, in der schöpferischen Gestaltung von Recht, gesellschaftlicher Struktur, ökonomischer Leistung und Technik. Das Werk, das wir faktisch vollbringen, entfremdet uns nur solange uns selbst, als wir nicht darin einen schöpferischen Auftrag erkennen. In der Selbsthingabe an den je Anderen und das je Andere gewinnen wir uns selbst. Dies ist das Gesetz des Lebendigen und des Geistigen. Ja schon das Gesetz der unbelebten Natur: Kein Elementarteilchen besitzt Eigen-Existenz, ist von dem Universum isoliert, jedes ist eingebettet in ein Beziehungsgefüge zu allen anderen Teilchen des Alls. Wir nennen das „Feld“. Ja wir gehen so weit, die Teilchen nur als Manifestationen von Feldern anzusehen, so daß die uns so gesichert anmutenden Körper einschließlich unseres eigenen in Wirklichkeit nur Epiphänomene von Feldern sind. Anders formuliert: Die physische Existenz ist eine Folge der Kommunikation, ja sie ist nichts anderes als Kommunikation. Das physische Eigensein ist nur im Anders-Sein, das Selbst erzeugt sich nur im Nicht-Selbst. Wir sehen an diesen Paradoxien, wo das Geheimnis der naturhaften Existenz beginnt. Ist dies im Be-reich des Lebendigen nicht noch manifester? Assimilation und Fortpflanzung sind die Konstituanten des Lebens, das sich im letzten als Kommunikation und Transformation bekundet. Hört diese auf, so stirbt der Organismus. Ebenso im Menschentum: Nur im Recht, also im Opfer des Eigen-Seins, gewinnt menschliche Existenz sich selbst. Denken wir allein an die Verkehrsregeln und das Vertragsrecht. Hier liegt eine Denkmöglichkeit, die Dimension des Sollens in die des Daseins einzubetten.

Wir können diesem Gesetz nicht entrinnen. All unser Mißbehagen, die Malaise unserer Zivilisation rührt aus dem Versuch, es zu leugnen. Das Perverse des Kommunismus liegt darin, es anzuwenden und zugleich seinen Sinn zu zerstören: Das Opfer, die Selbsthingabe der Menschen erfolgt nicht zur Neuschaffung von Werten, von Familie, lebender Gemeinschaft, schöpferischer Erkenntnis, sondern als Motivation der Sklaverei. Aus dem Nachvollzug übermenschlichen Schöpfertums wird die industrielle Produktion als Höchstwert des Kollektivs. Die Pervertierung der Selbsthingabe im Kommunismus liegt darin, daß der Mensch sich nicht mehr zurückgewinnt, sondern hin-geopfert bleibt am blutigen Altar der Macht. Wenn es je eine Selbstentäußerung des Menschen gab, eine Selbstentfremdung im Sinne von Marx, so im Kommunismus.

Wie konnte dies kommen? Die Selbsthingabe des Menschen hat für den Kommunismus keinen eigentlichen logischen Grund. Sie wird bewußt vollzogen um eines Abstraktums willen, des Kollektivs, der noch nicht existenten sozialistischen Menschheit. Sie endet daher im totalen Verlust des personalen Selbst, im Verlust des natürlichen Gewissens, der natürlichen Reaktionsformen, der natürlichen Ichheit. Mit einem Wort, ihr fehlt der alleinige Grund, der die Hingabe des Selbst legitimiert, der überhaupt ein so gewaltiges Heraustreten aus der Ich-Geborgenheit rechtfertigt, nämlich die Liebe. Seine Heilmittel sind daher Haß, Zwang und Zerstörung. Der Weg zum Guten kann aber nie selbst böse sein. Der natürliche Grund für das Opfer ist hingegen die Liebe zu den einzelnen Menschen oder dem konkreten Werk, für das wir unser Selbst einsetzen. Hier scheiden sich im letzten die Geister. Auf der einen Seite steht nicht Romantik und auf der anderen nicht Realismus. Die Liebe ist das Realste in Natur und Menschentum. Sie vollbringt die Erhaltung des Lebens und die großen Werke des Geistes. Dante sagt von ihr, sie treibe die Sonne und die Sterne. Haß und Zwang haben auch ihre Realität, aber nur im Verneinen des Schöpfertums, als Zerstörung des Selbst, des Personhaften. Das Versprechen der Kommunisten, auf den Knochen der Gesellschaft oder des Einzelmenschen eine neue Welt zu gründen, endete seit je in einer blutigen Farce und wird damit von der Realität selbst widerlegt.

Die letzte Entscheidung

Die Entscheidungen der Geschichte fallen immer im stillen, dort, wo der Zeiger sich lautlos wieder um eine Ewigkeitssekunde weiterdreht. Es sind die stillsten Stunden, die den Sturm bringen, Gedanken, die auf Tauben-füßen kommen, heißt es im Zarathustra. Diese Entscheidung kann der einzelne treffen, für sich allein, im letzten seiner Existenz, das ihm niemand tragen hilft als Gott. Die Entscheidung für Gott ist immer eine Entscheidung für die Tat. Ist diese Entscheidung aber einmal gefällt, so haben wir auch jene Waffe, um dem Kommunismus in seinem innersten Anliegen entgegenzutreten.

Daraus ergibt sich ein Programm sowohl für jeden einzelnen als auch für die freie Welt als ganzes. Es läßt sich in folgende Punkte zusammenfassen: 1. Totale Solidarität mit jedem zu Unrecht Unterdrückten, wo immer auch dieses Unrecht geschieht. Die Solidarität verpflichtet zum Einsatz des Maximums an konkreter und moralischer Hilfeleistung. Es gibt kein Glück für die Menschen der freien Welt, solange ein Drittel der Menschheit in Unterdrückung lebt. Wo in unserer eigenen Welt Unrecht geschieht, ist das Unrecht wieder gutzumachen. Nur wenn wir bereit sind, alles für die Befreiung unserer Brüder einzusetzen, werden wir unsere eigene Freiheit erhalten.

2. Die Überwindung des Bruchs zwischen Glaube und Naturwissenschaft. Der Materialismus wird im letzten durch die Durchdenkung der materiellen Wirklichkeit überwunden. Zugleich werden wir unsere technisierte Menschenwelt erst moralisch legitimieren, wenn wir sie als Werk eines schöpferischen Auftrags erkennen.

3. Die Einigung der freien Völker durch freie Partnerschaft ohne Hegemonie. Erst dann können wir von einer Familie der Völker sprechen. Die Tür zum Beitritt für alle bisher unterdrückten Nationen soll dabei ausdrücklich offengehalten werden. In dem Souveränitätsverzicht gewinnen wir Friede und Sicherheit — die höchsten politischen Güter.

4. Die Einigung der Christen auf der Grundlage der Liebe und gegenseitigen Achtung. Dieses Werk ist vielleicht das schwierigste, aber es ist unerläßlich, um Kommunisten und Entwicklungsvölker von der Gerechtigkeit unserer Sache zu überzeugen.

Kein konfliktloses Drama

Es wäre ein Widerspruch mit der unvollkommenen menschlichen Natur, in der Verwirklichung dieses Programms die Heraufkunft eines Paradieses zu sehen. Das Programm enthält nichts als eine Weiterführung bereits eingeschlagener Wege — nur mit dem Unterschied, daß wir uns ihrer metaphysischen Gründe bewußt werden. Wir müßten es auch erfüllen, wenn keine kommunistische Herausforderung bestünde. Diese hat ihre Mission erfüllt, wenn sie uns half, in der Antithetik den Weg zur Wahrheit zu finden.

Das Drama des natürlichen Menschen wird auf dieser Erde nie konfliktlos sein. Wir mögen die metaphysischen Gründe dieses Phänomens verschieden beurteilen, aber das Phänomen ist unbezweifelbar. Wir werden indes, wenn wir nur mutig und geeint dieses Programm verwirklichen, einen Fortschritt zur Verminderung menschlicher Konfliktstoffe erzielen. Unsere Zeit ist gekennzeichnet durch die Vereinigung von Größe der Aufgaben und Nüchternheit des Vollzugs. Gefälschtes Pathos brachte uns nur Katastrophen. Auch eine sachlich denkende Generation ist zu höchster Leistung berufen, wie das Werk der Wissenschaft, der politischen, ökonomischen und religiösen Einigungsbewegungen zeigt. Es geht um die ganze Welt — sei es in der Zerstörung, sei es in der schöpferischen Umgestaltung. Nicht weniger als der ganze Mensch ist dabei angerufen. Im Gegensatz zum Kommunismus geben wir dabei nicht vor, die Zukunft zu kennen und zu manipulieren. Wir wissen nicht, wohin uns der Weg führt, aber es genügt zu wissen, daß es der richtige ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Siegfried Müller-Markus, Dr. scienc. pol., Professor am Osteuropa-Institut der Universität Freiburg/Schweiz, Leiter der Abteilung Philosophie der Physik des Osteuropa-Instituts und des Physikalischen Sonder-Studiums; Gastdozent des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung; geb. 15. September 1916 in Stuttgart. Veröffentlichung u. a.: Einstein und die Sowjetphilosophie, 1. Bd., Dordrecht 1960; 2. Bd. in Druck.