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Die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik | APuZ 42/1963 | bpb.de

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APuZ 42/1963 Die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik Die dritte Entspannungsrunde

Die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik

Walt W. Rostow

Wir veröffentlichen in dieser Ausgabe zwei bedeutsame Äußerungen des Chefs des Planungsstabes im amerikanischen Außenministerium, Walt W. Rostow, der zu den wichtigsten Beratern Präsident Kennedys zählt. Die Übersetzung seines Vortrags über „Die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik", den er am 18. September 1963 an der Universität Dayton gehalten hat, stellte der Amerika Dienst zur Verfügung. Der zweite Artikel über die gegenwärtige Phase der west-östlichen Beziehungen wird mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers aus dem Oktoberheft der New Yorker Vierteljahreszeitschrift FOREIGN AFFAIRS übernommen.

Eine der größten Leistungen der Nachkriegszeit

Wenn man das heutige Deutschland betrachtet und in der Geschichte dieses Jahrhunderts zurückdenkt, dann wird klar, daß die inneren Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland und ihre Rolle im Weltgeschehen eine außerordentliche Leistung darstellen — sicherlich eine der größten Leistungen der Nachkriegs-generation. Ich denke hier nicht einfach an das Wunder des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs Deutschlands, durch das ein verwüstetes Land, dem ein bedeutender Teil seines Territoriums zeitweilig entzogen wurde, etwa elf Millionen Flüchtlinge aufnahm und dann an den Wiederaufbau ging und ein neues Niveau des wirtschaftlichen und sozialen Lebens für seine ganze Bevölkerung schuf. Ich denke vielmehr an das Entstehen einer stabilen, demokratischen Regierung, getragen von einer weitgehenden nationalen Übereinstimmung in außen-und innenpolitischen Angelegenheiten, die selbst über die großen Parteien hinweg-geht und nahezu frei von der Bitterkeit und Zersplitterung ist, die in der Vergangenheit die demokratische Politik in Teilen Europas gekennzeichnet haben. Ich denke da an die unerschütterliche Loyalität der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Konzeptionen der europäischen Integration und der atlantischen Partnerschaft. Ich denke an die zunehmende Rolle Deutschlands als einer konstruktiven Kraft in vielen Teilen der Welt außerhalb Europas. Und ich denke auch an die Verbindung von innerer Ausgeglichenheit und Entschlossenheit, mit der das deutsche Volk — angesichts der ständigen kommunistischen Provokationen und der kommunistischen Versuche, seine berechtigte Sorge um seine Mitbrüder und seinen berechtigten Anspruch auf nationale Selbstbestimmung als einen Wunsch nach blutiger Rache für die Niederlage im Zweiten Weltkrieg darzustellen — seiner letztlichen Wiedervereinigung mit friedlichen Mitteln entgegenblickt.

Rückblick auf die deutsche Geschichte

Um das Ausmaß dieser Leistung zu verstehen, muß man auf die Geschichte des modernen Deutschland und auf die vier Hauptelemente zurückblicken, die zusammenwirkend diese Geschichte schwierig gestalteten — schwierig für Deutschland, für seine Nachbarn und für die Welt.

Erstens, Deutschland wurde, gemessen an den Staaten der Neuzeit, spät geeint. Frankreich, Großbritannien, Rußland und selbst die Vereinigten Staaten hatten ein klares Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit und der nationalen Einheit entwickelt, als die deutschen Stämme noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts um die Bildung einer wirksamen Einheit kämpften. Diese Zufälligkeit der Geschichte mochte dazu führen, Deutschland das Gefühl zu geben, daß es sehr rasch sehr viel aufzuholen hatte, bevor es seinen ihm zustehenden Platz in Europa und im Weltgeschehen einnehmen konnte. Sie machte Deutschland bei der Bestimmung seines nationalen Geschickes in einem Zuge unsicherer und selbstbewußter.

Zweitens, in ihrer ersten Phase wurde die deutsche Einheit durch das Land Preußen beherrscht. Diese nordöstliche Region blickte auf eine lange Geschichte als Militärmacht zurück und stand den liberalen Strömungen des Denkens und Fühlens ziemlich fern, die sich Ende des achtzehnten Jahrhunderts und insbesondere während der französischen Revolution und ihren Nachwehen über Westeuropa einschließlich Westdeutschlands ausbreiteten. In einem gewissenSinneverkörpert das heutige Deutschland den Sieg — und wie ich überzeugt bin, den endgültigen Sieg — jener Männer, die im Jahre 1848 das liberale Frankfurter Parlament hervorbrachten, obwohl die 48er Revolution damals von Preußen und den deutschen Nationalisten zunichte gemacht wurde.

Das dritte ist die einfache Tatsache der Energie, der Befähigung und des Willens der Deutschen, ihr Nationalgefühl und ihr nationales Sein im Weltgeschehen in starkem Maße zum Ausdruck zu bringen. In dem Ringen der europäischen Machtpolitik etwa zwischen 1860 und 1945 schuf dieses Vordrängen immer wieder die größten Probleme, da die deutschen Ansprüche direkt auf die Lebensinteressen anderer Nationen prallten. Dennoch gab es lange Zeiträume, in denen Deutschland friedliche Kanäle für den Ausdruck seines Talents und seiner nationalen Ambitionen fand und das internationale Leben in vieler Hinsicht bereicherte — zum Beispiel in der Wissenschaft, im Erziehungswesen, in der Literatur und in allen Sphären des westlichen Kulturlebens.

Das vierte schließlich ist die geographische Lage: Deutschland liegt im Schwerpunkt des Kräfteverhältnisses in Europa. Es ist entsprechend seinem Gebiet, seiner Bevölkerung und seiner Konzentration an natürlichen Hilfsquellen von entscheidender Bedeutung zwischen dem Osten und dem Westen. In der Vergangenheit träumten manche Deutsche davon, diese Position dazu zu benutzen, um Europa zu beherrschen. Vom kommunistischen Standpunkt aus gesehen bleibt Deutschland im Ringen nach Weltherrschaft der erstrebenswerteste Besitz. Im Zusammenwirken sind diese Elemente der Geschichte, der nationalen Kämpfe und der Geographie die Ursache ernster Schwierigkeiten gewesen. Aber in den Nachkriegsjahren haben das deutsche Volk selbst, seine westlichen Nachbarn und bis zu einem gewissen Grad auch wir selbst diesen schmerzlichen Erfahrungen eine konstruktive Wendung gegeben.

Fehler der Amerikaner zwischen den Kriegen Denn wir in den Vereinigten Staaten machten zwischen den beiden Weltkriegen in unserer Europapolitik schwere Fehler, und auch wir mußten schmerzliche Lehren erfahren und anwenden. Dadurch daß wir dem Völkerbund nicht beitraten und dadurch daß wir unsere Anwesenheit und unser militärisches Potential nicht zu einem festen Faktor in den europäischen Sicherheitskalkulationen machten, trugen wir dazu bei, eine Situation zu schaffen, die es Hiller ermöglichte, von einer deutschen Herrschaft über Europa und einer europäischen Herrschaft über die Welt zu träumen Wie ich mich erinnere, enthielten die Tagebücher des Grafen Ciano mit ihren detaillierten Aufzeichnungen über die Achsenpolilik in den dreißiger Jahren praktisch keine Hinweise auf die Vereinigten Staaten. Hitler und Mussolini träumten ihre Träume und machten ihre Pläne, als ob die Vereinigten Staaten als Faktor im europäischen Kräftespiel nicht existierten Unser Isolationismus zwischen den Kriegen trug zur Ermutigung dieser tragischen Kirchturmspolitik bei.

In der Erkenntnis dieser Lehren suchte die amerikanische Regierung unmittelbar nach dem Kriege gegenüber dem europäischen Kontinent eine Politik zu treiben, die die Fehler früherer Zeiten vermeiden wollte. Als es im Winter und Frühjahr 1946 klar wurde, daß die Sowjetunion die Einigung Deutschlands und Europas auf der Basis der politischen Freiheit nicht zulassen würde, begannen wir eine Politik zu entwickeln, die heute noch Gültigkeit hat. Es ist dies die Politik der Unterstützung beim Aufbau eines blühenden und vereinigten Westeuropa, das in militärischen und anderen wichtigen Angelegenheiten eng mit den Vereinigten Staaten und Kanada verbunden sein und das in enger Übereinstimmung mit Nordamerika wieder als Großmacht in das Weltgeschehen eintreten sollte.

Elemente einer neuen Politik gegenüber Deutschland Vier Faktoren wirkten bei der Gestaltung dieser Politik zusammen. Erstens war da einmal Deutschland selbst. Man hielt es für entscheidend, ein starkes, integriertes europäisches Gefüge zu schaffen, das ein wahrscheinlich noch für einige Zeit gespaltenes Deutschland als einen gleichberechtigten Partner aufnehmen konnte, ein Gefüge, das den Deutschen die Möglichkeit geben würde, ihre große Energie und ihre Hilfsquellen zu mobilisieren und diese angesichts der unumgänglichen Belastungen, die die Geschichte und geographische Lage ihnen auferlegt haben, in positive Bahnen zu lenken. Bundeskanzler Adenauer hat sehr richtig gesagt, daß die Mitgliedschaft Deutschlands in einer integrierten europäischen Gemeinschaft die beste Gewähr gegen ein Wiederaufleben nationalistischer Tendenzen in Deutschland biete.

Zweitens war da Moskau. Europa sah sich einem geschlossenen Gegner gegenüber, der im Begriff war, sein Imperium bis zur Elbe zu konsolidieren und der jede Spaltung oder Schwäche, die er beim Westen entdecken konnte, füi sich auszunutzen suchte. Ein vereintes, mit den Vereinigten Staaten verbundenes Europa schien das einzig leidlich sichere Organisationsgefüge zu sein, das mit diesem zentralisierten und immer mächtiger werdenden Herd aktiver Feindseligkeit fertig zu werden vermochte.

Drittens gab es jene Erkenntnis, zu der viele Menschen beiderseits des Atlantik als der eigentlichen Lehre des Zweiten Weltkriegs gekommen waren, daß nämlich in der Welt der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die einzelnen Nationalstaaten Europas nur dann wirklich eine bedeutende Rolle im Weltgeschehen spielen könnten, wenn sie sich vereinten und wenn diese Einigung in der Form eines echten Zusammenschlusses, nicht aber einer lockeren Gruppierung völlig souveräner Staaten erfolgte. Der Schauplatz der Weltpolitik hatte sich derart erweitert, daß er den gesamten Planeten umfaßte; und die technischen Voraussetzungen wirksamer Macht waren weit über die Möglichkeiten der europäischen Einzelstaaten hinausgewachsen. Der geschichtliche Wettstreit um Macht und Ansehen unter ihnen ließ sich nur auf Kosten ihrer gemeinsamen Bedeutung als einer Stimme in der Weltpolitik und unter Gefahren für ihre gemeinsame Sicherheit weiterverfolgen.

Und schließlich gab es auf wirtschaftlichem Gebiet das Argument: Die volle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Europas konnte nur auf der Grundlage eines weiträumigen und äußerst konkurrenzfähigen gesamteuropäischen Marktes entwickelt werden.

Ich kann mich noch sehr lebhaft daran erinnern, daß Anfang 1946, als diese Fragen zum erstenmal erörtert wurden — ich bekleidete damals eine untergeordnete Stellung im US-Außenministerium —, die Gefahren dieser Politik für die Vereinigten Staaten offen dargelegt wurden: Wie könnten wir gewiß sein, daß ein vereintes Europa tatsächlich eine mit den amerikanischen Interessen in Einklang stehende Politik verfolgen würde? Würde es nicht sicherer sein, mit Europa ein bilaterales Beziehungsverhältnis einzugehen, das es uns — bei Berücksichtigung der uns durch unsere Verhandlungsposition gegebenen Möglichkeiten — erlauben würde, den Einfluß der Vereinigten Staaten auf die europäischen Angelegenheiten über einen längeren Zeitraum zu sichern?

Wir entschieden uns dafür, die umfassenderen Interessen obsiegen zu lassen, und wir schritten in der Unterstützung der europäischen Integration voran. Hinter dieser Entscheidung stand ein Akt des Vertrauens — des Vertrauens darin, daß die elementare Logik der atlantischen Verbindung, die bereits in zwei Weltkriegen auf die Probe gestellt worden war und unter Stalin einer dritten Prüfung unterzogen wurde, die Oberhand behalten würde, und daß ein vereintes Europa seine Politik auf der grundlegenden Übereinstimmung mit unseren jeweiligen Interessen, nicht aber auf den möglichen Divergenzen und Antagonismen aufbauen würde — die offenkundig genug waren und sind. Von dieser Einstellung dem Problem Europas und Deutschlands gegenüber gingen wir an den Ausbau des Marshallplans. Wir trugen unsern Teil zum Aufbau der NATO bei, wir setzen uns für die Montanunion und das EURATOM ein und unterstützten den Gemeinsamen Markt. Im Rahmen dieser Politik — auf die die deutsche Führung positiv reagierte — hat die Bundesrepublik ihren Weg zu einer Rolle der Würde, der Gleichberechtigung und Führung innerhalb Westeuropas selbst, in den Gremien der atlantischen Gemeinschaft und im Weltgeschehen zurückgefunden.

Die Deutschen stehen loyal zum Westen Ich glaube, das deutsche Volk und seine politischen Führer verstehen besser als die meisten anderen, daß die wirklichen Probleme, denen sie und wir im Westen gegenüberstehen, nur durch eine geschlossene europäische Aktion und atlantische Partnerschaft gelöst werden können. In geschichtlicher Hinsicht haben sie — in einer echten Einsicht und Aufrichtigkeit — die alte Rivalität mit Frankreich aus der Welt geschafft und die französisch-deutsche Wiederannäherung zu einem der Hauptziele einer Politik auf lange Sicht gemacht, die im Rahmen einer integrierten europäischen Gemeinschaft und gesunden atlantischen Partnerschaft erreicht werden sollen.

In militärischer Hinsicht leben die Deutschen immerhin an einer exponierten Grenze der freien Welt. Sie verstehen, daß der Schutz dieser Grenze und West-Berlins nicht durch bloße Gesten oder selbstauferlegte Zurückhaltung der Kommunisten erreicht worden ist, sondern durch eine gewaltige Mobilisierung der militärischen Hilfsmittel und den eindeutigen Willen, diese zu nutzen. Sie verstehen ferner, daß die militärische Stärke der Vereinigten Staaten — in Form der unterirdischen Raketenabschußrampen, der Polarisunterseeboote unter der Meeresoberfläche, der Flugzeugträger, der alarmbereiten Flugzeuge auf den über die ganze Welt verstreuten Flug-stützpunkten und in einsatzbereiter Reserve in den Vereinigten Staaten — ein entscheidend wichtiger und unersetzlicher Bestandteil ihrer Sicherheit ist, zusammen mit den Truppen der amerikanischen Garnison in Berlin und den amerikanischen Soldaten, die aut deutschem Boden Seite an Seite mit ihren eigenen stehen, und zusammen mit all den anderen Kontingenten und Verpflichtungen der NATO.

Da ihr Wirtschaftsleben eng mit dem der anderen Teile Europas verflochten ist, wissen sie, daß ihr Wohlstand von einer über die Grenze blickenden Handelspolitik abhängt — von einer Politik, die auf eine Ausweitung und nicht auf eine Einengung der Gebiete ausgerichtet ist, die in einem auf niedrigen Zöllen basierenden Handelssystem zusammengefaßt sind. Sie haben die Konzeption einer echten wirtschaftlichen Integration in Europa unterstützt — mit gemeinsamen Gremien mit beträchtlichen Entscheidungsbefugnissen — und sie waren bereit, bedeutende Opfer zu bringen, um sie funktionsfähig zu machen. Sie haben ferner die wirtschaftliche Integration als eine Station auf dem Wege zu anderen Formen der europäischen Einheit betrachtet, die sowohl die politischen wie auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den übrigen europäischen Ländern einschließen.

Deutschland war — durch die Geschichte seiner Kolonien beraubt und daher in dieser Generation frei von der Verflichtung und der Belastung, zu der großen Überleitung vom Kolonialismus beizutragen — in der Lage, den Problemen der Entwicklungsländer auf einer weltweiten Basis und mit neuen Vorstellungen von den Aufgaben und Möglichkeiten gegenüberzutreten. Da nun rund eine Viertelmillion amerikanischer Soldaten in Deutschland zur Verteidigung einer notwendigerweise gemeinsamen Grenze stationiert sind, hat die deutsche Bundesregierung Verständnis für die Belastung unserer Zahlungsbilanz, die sich aus unserer Verpflichtung zur gemeinsamen Verteidigung der freien Welt ergibt, und zeigte sich aufgeschlossen und hilfreich, wenn es darum ging, einige ihrer Auswirkungen zu mildern.

Und schließlich haben die Deutschen — nach Osten auf jene achtzehn Millionen blickend, die immer noch gegen ihren Willen von einem Besatzungsregime regiert werden — zugleich auch das Wesen des Atomzeitalters erkannt und daher den Kampf um Selbstbestimmung und nationale Einheit mit friedlichen Mitteln und im Rahmen des westlichen Bündnisses geführt. Kurz gesagt, die Deutschen ziehen aus ihren sowie den gemeinsamen Erfahrungen dieses Jahrhunderts ihre Lehren, sie betrachten nüchtern ihre Probleme als Nation, sie studieren die moderne Militärtechnik und die Formen moderner Nachrichtenübermittlung und haben daher erkannt, daß keiner von uns im Westen — und dies gilt natürlich auch für die Vereinigten Staaten — unsere Probleme lösen kann, es sei denn, daß wir gemeinsame Sache machen, es sei denn, daß wir die Politik auf einer gemeinsamen Loyalität gegenüber den Werten und der großen Tradition des Westens, an denen wir alle teilhaben, aufbauen. Sie haben erkannt, daß die Aufgabe, der wir seit 1945 gegenüberstanden und immer noch gegenüberstehen, zwar die früheren Ideen des Nationalen, der nationalen Verteidigung und des nationalen Schicksals einschließt, aber auch über sie hinausführt.

Verpflichtungen der Amerikaner Wir haben allen Grund zur Annahme, daß Form und Art der deutschen Politik in allen großen politischen Parteien und im Denken und Fühlen des deutschen Volkes fest verankert sind — die jetzt heranwachsende jüngere Generation, die die Tage Hitlers nicht mehr richtig erlebt hat, eingeschlossen. Aber die moderne Welt ist so eng miteinander verflochten, daß auch wir in den Vereinigten Staaten einen Teil der Verantwortung für die Erhaltung der Kontinuität der deutschen Politik tragen.

Erstens: Wir müssen Deutschland weiterhin nicht, nur ein zuverlässiger Verbündeter sein, sondern ihm auch als treuer Partner dabei helfen, innerhalb der NATO die Verteidigung der östlichen Grenze einschließlich West-Berlins aufrechtzuerhalten. Der deutsche Beitrag zu seiner eigenen wie auch zur Verteidigung des Westens ist erweitert und ausgebaut worden. Wir stehen beide im Begriff, zusammen mit einigen unserer NATO-Verbündeten die Errichtung einer multilateralen Atomstreitmacht innerhalb der NATO zu prüfen, die den europäischen Ländern eine annehmbare Beteiligung an der atomaren Abschreckung bietet, ohne zui Entstehung weiterer nationaler Atommächte zu führen. Wir stehen beide im Begriff, gemeinsam mit allen unseren NATO-Verbündeten unsere strategische Konzeption zu durchdenken, eine gemeinsame Verteidigungspolitik der NATO für das Atomzeitalter auszuarbeiten und den Kurs abzustecken, um dieser Konzeption dauerhafte Geltung zu verleihen.

Die Stabilität der deutschen Politik hängt von dem weiteren Erfolg der kollektiven Verteidigung Westeuropas sowie von der Rolle Deutschlands als einem geachteten Senior-Partner bei diesen Bemühungen ab.

Wir haben in den vergangenen zwei Jahren in Berlin und während der Kuba-Krise bewiesen, daß die Verpflichtung der Vereinigten Staaten zur kollektiven Verteidigung auch weiterhin Bestand gehabt hat, obwohl die Sowjetunion Kernwaffen entwickelt hat und damit in die Lage gekommen war, den Vereinigten Staaten in einem Atomkrieg schweren Schaden zuzufügen. Die sowjetische Taktik der atomaren Erpressung, die 1958 in Berlin anfing und bis 1962 fortgesetzt wurde, schlug fehl. Die erste Voraussetzung für die Stabilität des Westens ist, daß solche Taktiken auch künftig fehlschlagen, sollten sie jemals wieder angewandt werden.

Zweitens: In einer Zeit, in der wir die Gefahren und die Spannungen des Kalten Krieges zu verringern und zu ergründen suchen, wie weit wir ohne Gefahr in Richtung auf eine Rüstungskontrolle gehen können, ist es unerläßlich, daß wir unsere Verbündeten so eingehend wie nur möglich dort konsultieren, wo ihre Interessen auf dem Spiele stehen könnten. Aus diesem Grund haben wir in Moskau allem Drängen widerstanden, das Atomversuchsverbot mit einem Nichtangriffspakt zwischen der NATO und den Staaten des Warschauer Paktes zu koppeln Die atlantische Partnerschaft ist mehr als lediglich ein Verteidigungsbündnis. Sie ist eine Gruppe von Nationen mit einem gemeinsamen Erbe und wichtigen bleibenden gemeinsamen Interessen. Wir sind ganz offensichtlich bereit, gemeinsam zu kämpfen. Wir müssen jedoch auch lernen, genauso eng zusammenzuarbeiten, um die Möglichkeiten zu sondieren, wie wir ganz allmählich in Richtung auf eine friedlichere Welt vorankommen können.

Wir haben während der Berlin-Krise der Jahre 1961/62 einander fast täglich bis ins kleinste Detail konsultiert. Wir beabsichtigen, genauso enge Konsultationen zu führen, wenn wir die Möglichkeiten prüfen, die sich uns vielleicht in den kommenden Monaten für eine Verringerung der Gefahren und der Spannungen des Kalten Krieges bieten werden. Bei diesen Konsultationen muß die Frage des immer noch gespaltenen Deutschlands, dessen Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung immer noch verwehrt wird, von Deutschland und den Verbündeten Deutschlands mit größter Sorgfalt und Ernsthaftigkeit behandelt werden Drittens: Wir müssen Deutschland dabei unterstützen, im Rahmen der Einheit Europas, so weit sie gediehen sein mag, eine möglichst bedeutende Rolle bei all den großen Aufgaben der freien Welt zu spielen, die bereits sehr umfassend sind, die jedoch noch immer stärker ausgeweitet werden: Bei der kühnen Aufgabe der Hilfe für die Entwicklungsländer; bei der Formulierung der Handelspolitik, nicht nur innerhalb Europas und zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, sondern auch auf einer weltweiten Basis, wo alle von uns Wege zur Schaffung eines Handelssystems finden müssen, das sowohl den fortgeschrittenen wie auch den weniger entwickelten Ländern der Völkergemeinschaft der freien Welt Nutzen bringt; in Währungsfragen, wo wir in den sechziger Jahren neue Wege zur Stützung eines Warenflusses und eines Kapitalverkehrs finden müssen, die weit rascher anwachsen als die Geldvorräte der Welt.

Ein Zukunftsbild Obwohl unsere bilateralen Beziehungen zu Deutschland sehr eng und umfassend sind — und sie sollten dies auch sein, da wir zusammen einen sehr großen Teil der Lasten der europäischen Verteidigung tragen —, sind wir letztlich doch durch die Loyalität gegenüber einem umfassenden Zukunftsbild miteinander verbunden. Dieses Zukunftsbild gliedert sich in drei Teile: Die Einheit Europas, der Aufbau der Atlantischen Gemeinschaft und die systematische Ausnutzung der Energien und Hilfsquellen der Atlantischen Gemeinschaft für die größeren Ziele des Friedens und des Wohlstandes auf der Welt.

Dieses Zukunftsbild ist aber augenscheinlich noch unvollendet. Die europäische Einheit befindet sich gegenwärtig in einem Zwischenstadium des Innehaltens und der Erörterung — keineswegs dem ersten derartigen Zwischenstadium seit 1945. Mit hinein in diese Debatte spielen natürlich die langfristigen Beziehungen Grobritanniens zum europäischen Kontinent Daß die europäische Debatte auch die langfristigen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und einem geeinten Europa berührt, ist mit ein Grund dafür, daß bestimmte Fragen der transatlantischen Partnerschaft weiterhin in der Schwebe gehalten werden, -trotzdem ist hier mehr Fortschritt im stillen zu verzeichnen, als in den Zeitungen berichtet wird.

Es sollte uns weder überraschen noch enttäuschen. wenn die Fortschritte in Richtung auf diese Ziele — die von allen unseren drei Nachkriegspräsidenten in gleicher Weise unterstützt worden sind — langsam sein sollten. Dies ist das größte Werk internationaler Zusammenarbeit, das jemals in Friedenszeiten von souveränen Nationen in Angriff genommen worden ist. Für jedes einzelne Land stehen bedeutende Interessen auf dem Spiele, die weit sowohl in seine Geschichte wie auch seine derzeitige Politik hineingreifen.

Wie jedoch Präsident Kennedy auf seiner Europareise im Juni dieses Jahres eindeutig klargestellt hat, stehen wir auch weiterhin fest zu unserer Zusage, das Höchstmaß an europäischer Einheit zu unterstützen, das die Europäer selbst innerhalb des größeren Rahmens der atlantischen Partnerschaft schaffen können. Wir bleiben diesem Zukunftsbild gegenüber loyal, das nunmehr seit fast einer Generation fest in die amerikanische Politik eingefügt ist, nicht aus Trägheit oder weil wir die sich hierbei ergebenden Schwierigkeiten nicht erkennen. Wir bleiben diesem Zukunftsbild fest verpflichtet, weil es den Interessen der Vereinigten Staaten, den Interessen Europas und den Interessen der Freiheit überall auf der Welt am besten dient.

Minderung der Spannungen darf nicht zur Spaltung des Westens führen Obwohl diese Politik als Antwort auf den von Stalin unmittelbar nach dem Kriege unternommenen Versuch, ein verarmtes und entmutigtes Westeuropa an sich zu reißen, feste Formen annahm, ist sie unseres Erachtens keineswegs abhängig davon, daß die aktiven sowjetischen Vorstöße gegen den Westen, wie wir sie zum Beispiel in Berlin in den Jahren von 1958 bis 1962 erlebt haben, fortdauern. Wir brauchen ein geeintes Europa, das mit uns über den Atlantik hinweg als Partner zusammenarbeitet, aus Gründen, die über die Zeit, in der wir leben, und die Probleme, denen wir gegenüberstehen, hinausreichen.

Das Wesen der militärischen Technik — und das atomare Potential der Kommunisten — bedingen es, daß die Atlantische Gemeinschaft wohl die kleinste Einheit ist, die eine zweckmäßige und wirksame Verteidigung aufbauen kann. Das Pi oblem, eine Gemeinschaft unabhängiger Staaten zu organisieren, der sowohl die fortschrittlichen Länder des nördlichen Teils der freien Welt wie auch die schnell aufstrebenden Länder Asiens, des Mittleren Ostens, Afrikas und Lateinamerikas angehoren, erfordert es, daß wir über den Atlantik hinweg zusammenarbeiten Die uns in den aut die Kontrolle der Atomwaffen abzielenden Verhandlungen mit Moskau gestellten Probleme berühren lebenswichtige Interessen jeder einzelnen Nation der Atlantischen Gemeinschaft, die Entschlossenheit innerhalb dieser Völkerfamilie erfordern; und das gleiche gilt letztlich auch für das Problem des kommunistischen China mit seiner gegenwärtigen aggressiven Haltung wie auch seiner künftigen, besonders wenn das kommunistische China erst ein atomares Potential aufbaut.

Wenn wir mit aller Vorstellungskraft, deren wir fähig sind, in die Zukunft blicken, können wir uns keinen den gegenwärtigen Planungen entsprechenden Zeitraum vorstellen, in dem Europa ein Zusammenschluß und eine Zusammenarbeit mit Nordamerika nicht zum Vorteil gereichen würde. Oder anders gesagt, wir können nichts als Gefahren für uns alle sehen, wenn Europa sich von den Vereinigten Staaten trennen oder wenn es seinen hohen Wohlstand und die jüngste Milderung der Spannungen zu Moskau zum Anlaß nehmen sollte, um dem überholten Nationalismus erneut freien Lauf zu lassen.

Die kommunistischen Machthaber haben über die jüngste Periode der verminderten Spannungen zwei Dinge gesagt, die beachtenswert sind. Erstens, daß es keine ideologische Koexistenz geben darf. Das bedeutet, daß sie die gegenwärtigen Verhandlungen als eine begrenzte Phase — eine wichtige Phase — des Kalten Krieges betrachten, nämlich als einen Versuch, die Gefahr zu verringern, daß es zu einem Atomkrieg kommen könnte, der weder in ihrem noch in unserem Interesse wäre. Das bedeutet ferner, daß die Kommunisten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln darauf beharren wollen, die Expansion ihrer Macht und ihres Einflusses voranzutreiben.

Alle der amerikanischen Regierung — die das Verhalten der Kommunisten in allen Teilen des Erdballs beobachtet — zur Verfügung stehenden Informationen lassen darauf schließen, daß die Kommunisten in keiner Weise in ihren Bemühungen nachgelassen haben, ihre Macht und ihren Einfluß auf Kosten des Westens auszudehnen.

Sie haben dann zweitens gesagt, daß sie in einer Periode der verminderten Spannung hoffen und erwarten, die — wie sie es nennen — dem Wesen des Westens immanenten Widersprüche würden sich in zunehmendem Maße geltend machen. Sie hoffen und erwarten, daß wir im Westen, wenn die Krisen in Berlin und sonstwo etwas weniger akut sind, nicht klug genug sein werden, zusammenzuhalten; und sie haben offensichtlich die Absicht, jede Spaltung, die sich unter uns zeigen könnte, auszunutzen. Wir sollten diese Warnungen ernst nehmen; und sie stehen in einer Beziehung zu der Aufrechterhaltung jenes politischen Denkens und Handels in Deutschland, das, wie ich bereits erwähnt habe, eine der größten Gemeinschaftsleistungen der Nachkriegszeit darstellt Ich bin überzeugt, daß die Deutschen und die deutsche Politik loyal an den Konzeptionen der euiopäischen Einheit und der atlantischen Partnerschaft und an der kollektiven Verteidigung der Werte der westlichen Kultur festhalten werden, die dieser Politik zugrunde liegen. Dies bedeutet aber, daß Deutschlands Verbündete in Europa und Nordamerika ebenfalls dieser Politik aktiv verschrieben bleiben müssen.

Westliche Politik hat viele Krisen überstanden Die Probleme auf unserer gemeinsamen Tagesordnung im Westen haben sich in den letzten Monaten geändert, wie sie sich in der Zeit spanne seit etwa 1947, als die gegenwärtige Politik konzipiert wurde, schließlich oft geändert haben Die Politik der atlantischen Natio nen hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine große Elastizität bewiesen. Wir haben vielerlei Probleme und Krisen überlebt, die Kernstruktur der NATO aber ist immer noch intakt und die Impulse für die europäische Einheit sind immer noch lebendig. Wir sind mit Problemen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der Auslandshilfe in den Entwicklungsländern fertig geworden und mit einem weiten Kreis von Problemen auf dem Gebiet des Handels und der Währungen. Wir sind mit Vorstößen gegen die Türkei und Griechenland und zweimal mit größeren Vorstößen gegen Berlin fertig geworden. Wir haben unsere gemeinsame Strategie aus einer Zeit, da die Hauptbedrohung die Rote Armee zu Lande war, der zunehmenden Kompliziertheit einer Zeit angepaßt, da die Sowjetunion über ein Arsenal von Atomwaffen und die Mittel zur Anwendung dieser Waffen mit Hilfe von Raketen verfügt. Wir stehen im Begriff, aus einer Zeit des Atom-Monopols der USA in eine Zeit zu wechseln, da die Lasten und die Verantwortung der atomaren Verteidigung in zunehmendem Maße geteilt werden. Wir haben Augenblicke erlebt, da ein Krieg dicht bevorzustehen schien, und wir haben dazwischen längere Zeiten relativer Minderung der Spannungen zwischen Moskau und dem Westen erlebt Wir haben erlebt, wie die Beziehungen zwischen West-und Osteuropa aus der düsteren Hoffnungslosigkeit der Stalinära in eine Periode eintraten, da Männer auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs mit größerer Hoffnung auf ein zunehmendes Maß an nationaler Unabhängigkeit und menschlicher Freiheit im Osten und die Wiederherstellung alter Verbindungen rechnen dürfen, die sich aus den gemeinsamen Religionen und der gemeinsamen kulturellen Basis Ost-und Westeuropas ergeben Wir haben erlebt, wie Westeuropa eine Reihe schwerer Krisen in den alten Kolonialgebieten überlebte und neue Beziehungen der Assoziation und Partnerschaft mit den früheren Kolonien und mit anderen Nationen fand, die unter dem Banner der nationalen Unabhängigkeit und der Modernisierung heute in die Welt treten.

All diese Anpassungen sind nicht leicht vonstatten gegangen; und da es sich um demokratische Gesellschaften handelte, waren die Schwierigkeiten für alle zu sehen. Unsere Debatten finden vor aller Ohren statt. Aber wir haben allen Grund zu der Überzeugung, daß die Politik, die Institutionen und die Geisteshaltung, die sich in der vergangenen Generation entwickelten, sich auf Wegen weiterbewegen werden, die die Einheit des Westens fördern — nicht seine Aufspaltung.

Fähigkeiten und Möglichkeiten Deutschlands In diesem Sinne hat Deutschland heute eine große Rolle zu spielen. Für keine Nation steht mit dem Erfolg oder Mißerfolg einer gemeinsamen Politik im Westen mehr auf dem Spiele, und keine Nation hat ein größeres Vermögen, einer solchen Politik Kraft zu verleihen. Deutschlands Sicherheit seit Kriegsende, sein Wohlstand, seine Ruhe im Inneren und sein zunehmendes Gewicht im Weltgeschehen beruhen aul dieser Politik; und was die Deutschen und Deutschland heute bereits erreicht haben, ermöglicht es ihnen, aktiv voranzugehen, wenn es gilt, diese Politik in der nächsten Phase der westlichen Geschichte fortzusetzen. Die Welt, in der wii heute leben, ist jedoch so miteinander verbunden, daß die Festigkeit des einen von Festigkeit aller abhängt. Insbesondere wir in den Vereinigten Staaten — die wir, ob wir es sollen oder nicht, immer noch die Führer des Westens sind — müssen standhaft Kurs halten.

Wenn wir als Nation gegenüber den großen Zielsetzungen der europäischen Einheit und der atlantischen Partnerschaft unsere Loyalität bewahren — die der Präsident auf seiner Europareise im Juni so nachhaltig bekräftigt hat —, dann dürfen wir nicht nur auf die Stabilität der deutschen Politik, sondern auch auf den stetigen Fortschritt der Sache der Freiheit überall in der Welt vertrauen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Walt W. Rostow, Ph. D., ehern. Professor für Wirtschaftsgeschichte am Massachusetts Institute oi Technology, Vorsitzender des Planungsstabes im US-Außenministerium, Mitglied des Center of International Studies, geb. 7. Oktober 1916 in New York. Veröffentlichungen u a.: A Proposal: Key to an Effective Foreign Policy (mit M. F. Millikan), 1957; The United States in World Arena, 1960; The Stages ot Economic Growth, 1960.