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Der Beitrag der Geographie zur politischen Bildung. Die Volksrepublik China als Unterrichtsgegenstand | APuZ 48/1963 | bpb.de

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APuZ 48/1963 Der Beitrag der Geographie zur politischen Bildung. Die Volksrepublik China als Unterrichtsgegenstand

Der Beitrag der Geographie zur politischen Bildung. Die Volksrepublik China als Unterrichtsgegenstand

Gregor Böttcher

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat in Zusammenarbeit mit der Ständigen Konferenz der Kultusminister bereits eine Reihe von Tagungen über Probleme der politischen Bildung in der Höheren Schule durchgeführt. Nachdem bisher vornehmlich Fragen des Beitrags der Historie erörtert worden sind, galt die letzte Arbeitstagung vom 14. bis 19. Oktober 1963 in Freudenstadt dem Anteil der Geographie an der politischen Bildung in der Oberstufe der Höheren Schule. Ein Teil der Referate dieser Tagung wird in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ veröffentlicht. Bei allen diesen Beiträgen handelt es sich um die Meinungsäußerungen der Referenten und nicht der herausgebenden Stelle.

Einführung in das Unterrichtsobjekt

Abbildung 1

China kann sowohl von seiner Bedeutung als Kulturraum als auch wegen seines politischen Gewichtes in der Gegenwart einen größeren Raum im Unterricht beanspruchen, als man ihm bislang zugestehen wollte. Es erweist sich von der Sache her als ein ausgezeichnetes Objekt der politischen Erziehung und damit der Gemeinschaftskunde.

Dieser Beitrag, in dem es an Hand der Darstellung von zwei Unterrichtsreihen zunächst um die Praxis geht, soll zugleich auch eine Untersuchung über die Wertigkeit und den Rang der Geographie unter den die politische Weltkunde gemeinsam tragenden Fächern sein. Nach einer kurzen Einführung in das Unterrichtsobjekt folgen in einem ersten Teil einige grundsätzliche Bemerkungen zur Einordnung des Gegenstandes in die Bildungsaufgabe. Der zweite Teil konzentriert sich auf die unterrichtspraktische Seite mit methodischen Hinweisen und Darstellungen didaktischer Gegebenheiten an der Sache selbst, die auch ihrerseits durchaus interessant ist.

Das „Reich der Mitte" ist der menschenreichste einheitliche Kulturraum der Erde. Er umfaßt nahezu das gesamte festländische Ostasien und hat etwa die Fläche Europas bis zum Ural. Er reicht in einer Erstreckung von jeweils über 4000 km vom Bodeneisgebiet am Amur bis zum subtropischen Hainan und von den monsunfeuchten Küstenländern am Ostchinesischen Meer bis zum wüstenhaften Tarimbecken am Pamir. Es ist der einzige Staat diese) Erde, der in ungebrochener Kulturtradition aus dem hohen Altertum bis in die Gegenwart hineinragt und dessen Bevölkerung durch Jahrtausende keine bedeutsamen gesellschaftlichen Umschichtungen erfahren hat. Nirgendwo bestand bisher eine gemeinsame Front dieses Dichtezentrums mit einem benachbarten Kulturerdteil. Die außerordentliche Isolierung in der Ökumene durch Hochgebirge, Wüsten und das größte Weltmeer sowie die Vielseitigkeit der natürlichen Ausstattung des Raumes begünstigten die ungestörte Entwicklung einer auf sich selbst gestellten, aber auch sich selbst genügenden konservativen Bauernkultur, die uns Westeuropäern so fremd erscheint. Unter Aufnahme zahlreicher exogener Kulturanregungen hat der Kampf gegen und um das Wasser zur staatlichen Organisation großer Menschenmassen und ihrem gelenkten Einsatz geführt. Von der Zusammenfassung von Menschen zu Arbeiten, die das Gemeinwohl erforderte, bis zum Mißbrauch dieser Macht war es nicht weit. Der einzelne gehorchte oder wurde mit Gewalt in diese namenlose Gemeinschaft gepreßt. Die Zelle allen Lebens war bis an die Schwelle der Gegenwart die Familie, die dem Individualismus des einzelnen keinen Platz ließ. Die religiösen Vorstellungen sind pragmatisch auf das Diesseits gerichtet; einen allmächtigen, gnädigen, schaffenden Gott gab es nicht; auch keine Philosophie in unserem Sinne. Die Höhe der materiellen und geistigen Kultur und ihr Abstand gegenüber den Nachbarn hat in diesen ostasiatischen Menschen schon früh ein Gefühl der Überlegenheit entstehen lassen. Im Fremden sieht man den Barbaren, den man einzufügen oder zu verdrängen trachtet. Erst im Laufe des letzten Jahrhunderts sind durch den Einbruch europäischer Mächte mit ihrer Wissenschaft und Technik und ihrem rationalen Denken und vor allem durch den Einbruch des Kommunismus, auch eines Produktes Europas, Umwälzungen in Gang gekommen, die das Ende alter Traditionen bedeuten. Das „Volkreich des blühenden Landes der Mitte", wie China im Ostblockjargon heute heißt, schickt sich an, nach jahrtausendelanger Abgeschiedenheit zu einem weltpolitischen Machtfaktor ersten Ranges zu werden. Der revolutionäre Marxismus, der ja eine Entwicklungstheorie ist, hat hier ein ausgezeichnetes Anwendungsgebiet gefunden. — Mit dieser Übersicht ist die Spannweite der Problematik aufgerissen, der sich der Geograph zu stellen hat.

I. Bildungsaufgabe und Bildungsmöglichkeiten der Geographie

Die Geographie, die hier stets unter dem Aspekt ihrer Wertigkeit für die Bildungsaufgabe der Schule gesehen wird, ist ihrem Wesen nach Natur-und Geisteswissenschaft zugleich, überblickt man aber die bisher geleistete Arbeit, so wird man erkennen, daß sich ihre Vertreter im Sog des naturwissenschaftlichen Zeitalters überwiegend der Erforschung der Natur der Erdoberfläche hingegeben haben. Der Mensch und die von ihm geschaffene Kulturlandschaft wurden mit den hier nicht angebrachten Methoden der naturwissenschaftlichen Analyse auf der Suche nach Kausal-beziehungen rein beschreibend behandelt. Der Weg endete nicht selten in einem unhaltbaren Determinismus. Es gilt jedoch, mehr als bisher die Geographie des Menschen mit ihren komplizierten Erscheinungen zu fördern. Die Aufhellung der in den einzelnen Räumen ein Ganzes bildenden und in historischer Schau zu sehenden natur-und kulturgeographischen Schichten gibt auch der Geographie ein Recht zur Stellungnahme zu vielen Problemen der Gegenwart, die anscheinend ausschließlich in andere Fachbereiche gehören.

In diesem Sinne sieht der Geograph in China einen Raum subkontinentalen Ausmaßes, dessen Einheit auf dem inidividuellen Ursprung der Kultur, auf der einmaligen Verbindung der landschaftsgestaltenden Natur-und Kultur-elemente, auf der eigenständigen geistigen und gesellschaftlichen Ordnung und dem Zusammenhang des historischen Ablaufs beruht.

Ein solcher Kulturerdteil ist außer Ostasien z. B. auch das Abendland.

Aus dieser von Kolb im Vorwort zu seinem soeben erschienenen Werk „Ostasien" gegebenen Definition wird deutlich, daß es die Geographie eben auch mit den Motivationen eigengesetzlicher menschlicher Handlungen zu tun hat — worauf seinerzeit schon Ritter hinwies — und nicht nur mit einem vom Optischen her faßbaren Landschaftsbegriff. Wie Huizinga die Geschichte die geistige Form nennt, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt, so könnte man sinngemäß die Geographie als die geistige Form verstehen, in der sich eine Kultur über ihre gegenwärtige räumliche Struktur und deren Ursachen und Triebkräfte Rechenschaft gibt. Diese Haltung gilt natürlich ebenso für die Interpretation fremder Kulturen sowohl aus historischer wie geographischer Sicht. Erinnert sei an dieser Stelle an den Hinweis Herders auf die Geschwisterrolle von Geschichte und Geographie. Die Geschichte hat es zunächst anscheinend unmittelbarer mit der Problematik der menschlichen Existenzbewältigung zu tun. Sie mündet auch unmittelbarer als die Geographie in eine vergleichbare Disziplin, in die Geschichtsphilosophie ein, die ihrerseits eine begründete Deutung vom Wesen und Sinn des Geschehens im ganzen zu geben bemüht ist. Die Erdkunde scheint von dieser Problematik durch die Seite der Wissenschaft abgelenkt zu sein, die es mit der Natur zu tun hat, die Physiogeographie. Abgesehen von der hier nicht zu untersuchenden Frage, ob diese Seite weniger existenz-bedeutsam ist, bleibt aber doch die andere Frage offen, ob die Geographie nicht auch aus der Interpretation raumgebundener Phänomene zumindest Probleme von einer solchen wissenschaftstheoretischen Wertigkeit auf-wirft bzw. an diese heranführt, wie sie die Geschichte in der Geschichtsphilosophie untersucht. Es geht bei dieser Frage um den Rang der Geographie innerhalb des Systems der Wissenschaften, wodurch u. a. die Stellung der Erdkunde auch in der Schule bedingt wird. Es muß hier an manche Träger der wissenschaftlichen Forschung die Frage gerichtet werden, warum im Zuge der Interpretation chorologischer Erscheinungen so wenig das frei Bewegliche des Geistes, die Welt menschlicher Ideen und Vorstellungen, das Philosophische eines Kulturraumes gesehen wurden. Statt den Sinn einer Erscheinung von daher zu deuten, wurden Phänomene rein deskriptiv behandelt, d. h. man blieb bestenfalls im Raum des Sozial-und Wirtschaftsgeographischen stecken. Die Tatsache, daß man sich bis in die Gegenwart hinein scheute, moderne Länderkunden zu schreiben, scheint das zu beweisen. Selbst die weitgehende Definition von Schmithüsen, Ziel der Geographie sei es, die Geosphäre in ihrer räumlichen Differenzierung zu beschreiben und zu erklären, weist zwar auf die im Begriff „erklären" liegenden Möglichkeiten hin, scheint aber im wesentlichen auf das „Beschreiben" und die „räumliche Differenzierung" zu zielen. Auch die im Vordergrund der Diskussion um das Objekt ihrer Wissenschaft stehenden Geographen Bobek und Troll nennen „soziologische", „betriebswirtschaftliche“ und „psychologische" Funktionen oder sprechen von „Brücke zwischen der sinnlich wahrnehmbaren Raumstruktur und den lebenden Kräften", aber diese „lebenden Kräfte" erweisen sich im Sinne des Zitierten dann eben doch nur als sekundär-geistige Potenzen — etwa des Betriebswirtschaftlichen — und gehören nicht in den primären Bereich der freien Entscheidung des menschlichen Geistes über seinen Daseinsvollzug. So bestimmt etwa im Marxismus das von der materialistischen Grundauffassung deduzierte Leitbild vom Menschen alle politischen Maßnahmen und damit das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben und sogar die landschaftliche Raumstruktur. Genau so wenig, wie die Geschichte eine Sammlung chronologischer Fakten ist oder sein will, genau so wenig darf die Geographie sich in der Darstellung chorologischer Fakten erschöpfen. Die gelegentlich entwickelten Raumschemata mit der Darstellung aller in einer Landschaft wirkenden Kräfte und der ihnen zugeordneten geographischen Teildisziplinen — am bekanntesten ist das alte von Ratzel, weit verbreitet das länderkundliche Schema von Hettner — stellen alle Faktoren gleichwertig nebeneinander. Diese Gleichwertigkeit aber übersieht die überragende Stellung des Menschen in der Welt, der nicht Faktor neben anderen Faktoren ist, sondern in zunehmendem Maße aus seinen Vorstellungen heraus die Welt überragt und sie in seinen Griff bekommt.

Sind zwar akademische und schuleigene Wissenschaftlichkeit durchaus eigenständige Größen, und mag auch die wissenschaftliche Diskussion um das Objekt der Geographie wegen ihrer eben dargestellten Vorläufigkeit auf dem Wege ihrer Entwicklung als Wissenschaft eine der Ursachen für die augenblickliche Misere der Geographie sein, so eröffnet doch generell die Besinnung auf den Menschen in seinen vielfältigen Bezügen als Objekt der neueren Forschung auch der Schulerdkunde neue Wege.

Der Bogen der Raumwirksamkeit von Ideen, aber auch der Raum-bestimmtheit menschlichen Denkens, um die es legitimerweise in der Geographie geht, läßt sich an einem Teilproblem der Eigenständigkeit des chinesischen Kommunismus aufzeigen: Eines der zentralen Anliegen des chinesischen Kommunismus ist z. B. die Volkskommune, die der Geographielehrer, nachdem ihm bei einer thematischen Aufteilung der Sachgebiete in der politischen Welt-kunde China zugefallen ist, behandeln muß. Im Komplex der Volkskommune trifft nämlich eine Ideologie — deren historische Entstehung im fernen Europa zunächst belanglos ist, da es sich hier nur um ihre Lehrinhalte, ihre Prinzipien handelt — mit einer in einem bestimmten Raum, nämlich Ostasien, entstandenen Wirtschafts-, Gesellschafts-und Geistesverfassung zusammen. Bis ins Geistige hineinwirkende Raumfaktoren lenken hier die Ideologie des Marxismus in eine bestimmte Richtung, umgekehrt löst die Ideologie in ihrem Sinne ein jahrtausendealtes Problem Chinas.

An der Volkskommune zeigt sich in großen Linien dieser Doppelbezug folgendermaßen: Die natürliche Raumungunst — infolge ungünstiger Höhenlage und der Extremität des Klimas lassen sich von der gesamten Landes-fläche nur 15 °/o als Pflugland nutzen, dazu kommen der große Verkehrswiderstand durch die Weite des Raumes und die Abgeschieden-heit der Lage des Reiches — und das Wachstum einer zahlenmäßig schon immer starken, rein agrar orientierten Bevölkerung führten zusammen zu einer Überbesetzung des Bodens, die sich in Besitzzersplitterung und stetig absinkendem Lebensstandard äußerte. Das aus dem Verhältnis von agrarem Lebensraum zu Bevölkerungszahl resultierende Problem der Agrarverfassung durchzieht die ganze Geschichte Chinas, ist aber als Raumproblem nur geographisch zu fassen. An der Lösung dieses Raumproblems, d. h.der Agrarfrage, sind alle Regierungen Chinas gescheitert einschließlich der Kuomintang. Die verarmten und mit Massenarbeitseinsätzen vertrauten Bauern Chinas, als seit jeher revolutionäres Element des Volkes, boten sich sozusagen „von Natur aus" als die Proletarier und damit Träger der kommunistischen Revolution an. Wirksam im Sinne des „Gelben" Kommunismus wurden diese Massen aber als sie von -erst, der Ideo logie des Marxismus wurden, die ihrer -erfaßt durch einen nicht geringen Teil heutigen der Führer der VR China aus Europa importiert wurde. Diese Ideologie fand also ein spezifisch chinesisches Proletariat vor, wurde aber auch von anderen Eigenheiten der Tradition gefördert, so von der konfuzianischen Staats-ethik, worauf später noch einzugehen ist. Der Marxismus vertritt aber ein bestimmtes Menschenbild, d. h. er sieht im einzelnen lediglich das Glied einer totalen Gesellschaft. Das Zusammentreffen dieses ideologisch bestimmten Menschenbildes mit den aus den Raumbedingungen heraus zu verstehenden Gegebenheiten der Agrarverfassung führte gleichsam zwangsläufig zur Bildung der Volkskommune als chinesischer Ausdruck des Kommunismus und damit zu einer Abweichung von der sowjetischen Tradition und Linie. Das aus der Abgeschiedenheit der Lage und der alleinigen Nachbarschaft kulturell, niedriger stehender Volker resultierende Bewußtsein der Kulturüberlegenheit und der damit zusammenhängende Glaube, Mitte der Welt zu sein, schufen ihrerseits die Voraussetzung für die Behauptung und zugleich Forderung, die „orthodoxe" Linie zu vertreten und Zentrum der neuen Lehre zu sein, wobei man mit der Volkskommune ein neues Modell vorbildhaft zu setzen suchte. In dieser, nur wenige wesentliche Linien der Entstehung der Volkskommune zeichnenden Deutung umfaßt der bildhaft von oben nach unten gerichtete Aspekt „Raumwirksamkeit von Ideen" die Prägekraft einer Ideologie auf Sozialstruktur, Wirtschaft und sogar Landschaftsbild, der umgekehrte Aspekt „Raumbestimmtheit von Ideen", die aus den primär räumlich bedingten Gegebenheiten hervortretende Kraft der Ablenkung von Vorstellungen in eine bestimmte, hier „chinesische" Richtung.

Wird nun die Volkskommune Objekt eines in der Hand eines Geographen liegenden Unterrichts, so ist auch dieser gehalten, die pädagogische Relevanz dieses Gegenstandes erzieherisch fruchtbar zu machen, also von den vorliegenden Fakten ausgehend die Frage nach dem marxistisch-chinesischen Menschenbild im Vergleich zu dem des Abendlandes aufzuwerfen und im Rahmen der in der Schule gegebenen Möglichkeiten zu beantworten. An diesem Beispiel zeigt sich, daß es auch in der Geographie um existentielle Fragen nach dem Sinn der Welt geht, die sich mit der Sache selbst von vornherein stellen. Sie sind natürlich nicht mit den Faches Möglichkeiten des allein zu beantworten, sondern fordern ein Hinübergreifen in andere Wissenschaftsbereiche, in diesem Falle in die Philosophie. Das gilt selbstverständlich für alle Fächer, auch für die Geschichte, die z. B. bei der Behandlung von Staatsformen Anleihen bei der Staatsrechtslehre, also bei juristischen Disziplinen, machen muß. Es sind dies Fragen, die der Lehrer nicht mehr als Träger eines Faches allein beantworten kann, sondern die ihm als Erzieher gestellt sind, der mit seinem Fachbeitrag Anteil hat an der Bildung des ganzen Menschen. In diesem Punkt, wo es um das „Humanum“ geht, nach dessen Erreichbarkeit die Fächer in der politischen Weltkunde möglicherweise bewertet werden, muß die Schulgeographie allerdings etwas über die wissenschaftliche Geographie hinausgehen.

Was soll damit gesagt sein?

1) Politische Bildung ist von allgemeiner Menschenbildung nicht zu trennen, sondern spiegelt nur einen heute wichtigen Teilaspekt wider.

2) Der Beitrag der Geographie zur politischen Bildung liegt auf den Gebieten, die dem Historiker nicht oder weniger zugänglich sind, weil dieser sich bewußt auf den Ablauf des letzten Teiles der abendländischen Geschichte beschränkt. Auf diesen Gebieten, z. B. in der Interpretation der gegenwärtigen Struktur außereuropäischer politischer oder kultureller Großräume, aber auch in der Deutung individueller raumbezogener Phänomene, ist der Geograph dem Historiker durchaus ebenbürtig, auch wenn er das „Humanum" nicht ganz so häufig in den Griff bekommt wie jener. Der wirtschaftliche, soziale und politisch-ideologische Antagonismus der gegenwärtigen Welt ist auch ein Thema der Geographie! Politische Geographie ist in diesem Sinne Problemgeographie (Hinrichs). Seien wir uns aber klar darüber, daß kein Schulfach Probleme lösen kann. Wir alle — selbst der Philosophielehrer — können nur an Probleme heranführen.

II. Die VR China als Unterrichtsobjekt

An den folgenden zwei Unterrichtsbeispielen 1) soll die Leistungsfähigkeit der Geographie für die politische Weltkunde dargestellt werden, und zwar an didaktisch aufbereiteten Sachgebieten, wobei Didaktik als Lehre von der Auswahl und der Struktur der Bildungsgüter verstanden wird. 1. Die Behandlung der VR China im exemplarisch-thematischen Unterrichtsverfahren

Die Stoffülle und Vielschichtigkeit des Unterrichtsobjekts VR China erfordert gleichsam ein von der Sache her exemplarisches Arbeiten, das in der thematischen Auslese des Stoffes gipfelt. Durch die Wahl der Themen, die sich an bekannte Schlagworte anlehnen, werden Schwerpunkte gelegt. Sie kennzeichnen solche für das neue China wesentlichen und charakteristischen Probleme, die zugleich typisch für in ähnlicher Situation stehende Länder sind und zudem ursprüngliche Menschheitsanliegen berühren. So ist etwa die Sorge um die Ernährung einer rapide wachsenden Bevölkerung für China ein wesentliches und charakteristisches Problem, das als typisch für fast alle Entwicklungsländer gelten kann, und das in der VR China in einer für den Ostblock typischen Weise gelöst wird und damit existentielle Anliegen des Menschen berührt. Die aktuellen Formulierungen der Themen sollen das Interesse der Schüler wekken, zur Stellungnahme herausfordern und so der fruchtbare Einstieg in die Sache sein. Das induktive Unterrichtsverfahren stützt sich auf Statistiken, Texte und Karten.

Zu Vergleichszwecken verwertbares Kartenmaterial enthalten u. a. die dankenswerterweise von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen „Informationen" über China (Folge 96 und 99), die neben dem Atlas in die Hand jedes Schülers gehören und Ausgangsbasis für weiterführende Betrachtungen sein können. Zum Verständnis der Größenordnung der Entwicklung des fremden Raumes müssen die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland als bekannte Vergleichsebene herangezogen werden. Die Vielseitigkeit und Undurchschaubarkeit vieler Sachverhalte fordert gelegentlich den Lehrervortrag als tragendes Element des Unterrichts. Auch hier wird vom Schüler Aktivität gefordert, und zwar die des Zuhörens, eine oberstufengerechte Arbeitsweise, die dem Vorgang der inneren Aneignung etwa einer Vorlesung oder eines Seminars der Universität entspricht. Die erste, kürzere Unterrichtsreihe hat folgende neun thematischen Schwerpunkte: a) „Das Reich der Mitte"

Lage, Größe und Naturausstattung; siedlungs-und anbaugünstige Räume; natürliche Entwicklungsmöglichkeiten.

b) „Die Gelbe Gefahr"

Ballungsräume und Bevölkerungsdruck;

Ausweichmöglichkeiten.

c) „Wird der gelbe Mann rot?"

Soziale, politische und geistige Struktur des Alten China; Versuch der Umformung durch den Kommunismus; Volkskommunen. d) „Das Volk bezwingt den Gelben Fluß"

Ziele und Methoden der chinesischen Kommunisten bei der Ausführung von Entwicklungsprojekten. e) „Eine Handvoll Reis"

Agrarstruktur Chinas; Möglichkeiten und Grenzen der Produktionssteigerung; die Landwirtschaft als Kapitalquelle für die Industrie.

f) „Jeder macht Stahl"

Voraussetzungen und Erfolge der Industrialisierung. g) „Der große Sprung nach vorn"

Lebensstandard des einzelnen in China und bei uns.

h) „Schulterstange und Trampelpfad"

Politische und wirtschaftliche Ziele der Verkehrserschließung.

i) „Der große Bruder"

Verhältnis Peking—Moskau; Rolle der VR China im Ostblock und in der Welt.

Die didaktische Interpretation eines Textes aus einem der oben genannten Sachgebiete zeigt, daß auch der Geograph eine Arbeitsweise zu übernehmen in der Lage ist, die als spezifisch für die Geschichte gilt. „Der Gelbe Fluß wird bezwungen Genau wie die meisten anderen wichtigen Unternehmungen in China in dieser Zeit wird der Kampf gegen die Erosion in den Lößgegenden von den Geschäftsführern der Ortsausschüsse der chinesischen kommunistischen Partei unter massierter Unterstützung des Volkes geführt. So geht es auch im Kreise Huhsien westlich von Siking, wo das Volk in einer gigantischen gemeinschaftlichen Anstrengung zu Beginn des Jahres 1958 in nur sieben Wochen in dem gesamten, 225 000 Morgen umfassenden Gebiet des verkarsteten Hügellandes die Erosion zum Stillstand brachte. Diese Aktion fand zum größten Teil in Gebirgsgebieten statt. Wenn es nicht Jahrzehnte dauern sollte, konnte dies aber nicht den sechstausend dort lebenden Menschen allein überlassen bleiben, und so kamen zehntausend Bauern aus dem Tiefland zur Hilfe, die ihre eigene Nahrung und Geräte mit sich brachten. Während die Arbeit durchgeführt wurde, errichteten die Geschäftsführer des Kreisausschusses der kommunistischen Partei ihr Hauptquartier in den Beigen und übernahmen die Leitung an Ort und Stelle. Auch die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung des Kreises folgte dem Ruf der Partei und bot freiwillig ihre Hilfe an. Ärzte kamen aus den Städten in organisierten Gruppen, und Friseure stellten sich ein, um kostenlos die Haare zu schneiden. Ladenbesitzer erschienen mit fahrbaren Verkaufsständen, und Schmiede entsandten immer neue Leute, um abgenutzte Werkzeuge zu reparieren. Schauspielertruppen reisten von Ort zu Ort, um Vorstellungen zu geben für die . Bergheiler', wie die Anti-Erosions-Kämpfer dort genannt weiden Als die Aktion . Bäumepflanzen'des Programms im Gange war und es sich herausstellte daß zu wenig Schößlinge vorhanden waren, machten sich 30 000 Grundschulkinder freiwillig zu einem , Baumsammelfeldzug'auf. Innerhalb einer Woche brachten sie alle jungen Bäume, die benötigt wurden.

Die Bodenerosion in diesem Kreisgebiet ist damit zum Stillstand gebracht. Regenwasser wird jetzt aufgespeichert für das Gedeihen der Ernten, und das Tiefland ist frei von Überschwemmungen. Als Ergebnis all dieser Anstrengungen wird erwartet, daß die Ernte des Kreises im Jahre 1959 mehr als das Dreifache des Jahres 1957 betragen wird. Es ist in diesem Geiste und unter allseitiger Unterstützung der Bevölkerung, daß gemeinsame Anstrengungen Namen und Charakter des Hwangho, des ungebärdigsten Flusses der Welt, ändern."

Zwei Gegebenheiten sind an diesem Text zu betrachten.

Zunächst ist es die physiogeographische Tatsache, daß die Sommerregenfluten im vegetationsarmen Bergland des Hwangho den Löß erodieren und ihn im Unterlauf wieder absetzen, so daß sich das von Deichen gehaltene, bereits hoch über der Ebene liegende Flußbett um jährlich bis zu zehn Zentimeter hebt. Deich-durchbrüche mit riesigen Ernte-und Menschen-verlusten sind die Folgen. Die Erosion im Bergland soll nun durch Terrassierung und Bepflanzung der Hänge, durch die Anlage der „Großen Grünen Mauer", verhindert werden; die Hochwasser will man durch Stauanlagen auffangen und zur Bewässerung, Energie-gewinnung und Schiffbarmachung nutzen, außerdem werden die Deiche am Unterlauf erhöht. Die Darstellung dieses zentralen Entwicklungsvorhabens wird politisch relevant aber erst durch die Betrachtung der ideologischen Aussagen des Textes. Hier erscheint die Partei als Antreiberin der Massen; hier wird die rigorose Ausnutzung des Menschenpotentials bei der Bezwingung der Natur deutlich; hier ist der kommunistische Begriff der „Freiwilligkeit" zu untersuchen, der darin besteht, das von sich aus zu tun, was man ohnehin tun muß; hier zeigt sich der visionäre Planoptimismus des Systems mit seiner propagandistischen Grundtendenz — alles steht im Dienste des Aufbaus einer besseren Welt, die der Kommunismus schafft. Da sich hier ideologische Grundsätze an konkreten Fällen realisieren, ist dieser Aspekt besonders eindrucksvoll. Es bleibt dem Lehrer dann überlassen, sie in das Gesamtbild der marxistischen Entwicklungstheorie einzuordnen.

2. Die Behandlung der VR China im fächerübergreifenden Unterrichtsverfahren Der zweiten, ausführlicheren Unterrichtsreihe liegt ein Arbeitsbuch für den Unterricht zugrunde („China als kommunistisches Entwicklungsland"). Hier werden in drei Kapiteln der Lebensraum und die Geschichte des chinesischen Volkes, das Wirtschaftspotential der VR China und die VR China als weltpolitischer Machtfaktor behandelt. Der Text enthält ausführliches statistisches Material mit Vergleichs-angaben für die Bundesrepublik Deutschland, Japan, die UdSSR, Indien und die USA. Als Fußnoten sind Themen für Kurzreferate angegeben, so etwa „Flußlandkulturen außerhalb Chinas" oder „Die religiösen Vorstellungen Ostasiens". Ein Anhang enthält weitere Themen zur Wiederholung und Einprägung des besprochenen Stoffes, z. B. „Ist das Problem der Überbevölkerung eines Landes im Sinne des Schlagwortes „Volk ohne Raum'nur durch räumliche Expansion zu lösen?" oder „Wo liegen die Grenzen der Kapitalgewinnung aus der Landwirtschaft" oder „Beschreiben Sie die historische Entwicklung und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur der Volkskommunen Welche Vorstellung des Marxismus bringen sie zum Ausdruck?".

Eine Literatursammlung enthält Hinweise für die private Weiterarbeit interessierter Schüler bzw. für schriftliche Jahresarbeiten.

Die folgende Auswahl von Sachgebieten in etwas geänderter Fassung soll zeigen, welche didaktischen Beziehungen zu anderen Unterrichtsfächern bzw. wissenschaftlichen Disziplinen die Geographie herstellen kann und muß, um ein Unterrichtsobjekt wie die VR China wesensgerecht zu erarbeiten. Diese didaktischen Gesichtspunkte sind durch kurze Überschriften gekennzeichnet, was natürlich nicht bedeutet, daß ihre Gegenstände nicht auch aus anderer Sicht zu fassen sind.

a) Die Wurzeln des chinesischen Volkes und seiner Gesellschaftsordnung — Geographisch-genetischer Aspekt — Die Keimzellen des Bauernvolkes der Chinesen liegt in der fruchtbaren Lößlandschaft des Tales des Weiho, eines Nebenflusses des Hwangho. Schon im dritten vorchristlichen Jahrtausend entwickelten sich hier die materiellen und geistigen Grundlagen der chinesischen Kultur mit Getreidebau, Handwerk und städtischen Siedlungen. Sie ist jünger als die Hochkulturen in den Strom-Oasen Mesopotamiens, Ägyptens und Indiens, aber sie ist die älteste aller noch lebenden Hochkulturen der Erde. Sie wurde weder von einem ähnlichen Schicksal wie Mesopotamien oder Ägypten ereilt noch von Steppenkriegern zerschlagen wie die indische Harappa-Kultur. Sie weist auch keine Kulturzäsuren auf wie das Abendland. Die ersten Anfänge wurden vermutlich nicht von autochthonen Siedlern, sondern von Einwanderern gelegt, die als Hirten und Jäger vom Westen entlang der Oasenreihe Zentral-asiens nach Nordchina eingedrungen und dort zur Seßhaftigkeit gekommen waren. Von diesem Kern breitete sich die Ackerbau-und Gartenkultur flächenhaft zunächst über das nordchinesische Bergland und über die große Ebene am Unterlauf des Hwangho aus. Sie drang aus diesem winterkalten Raum weiter in das subtropische Südchina vor, wobei frühere Bewohner in den chinesischen Volks-körper einverleibt wurden. Diese waldarme Lößlandschaft am Rande des zentralasiatischen Trockengebietes ist von unerschöpflicher Fruchtbarkeit. Winterliche Kontinentalwinde setzen seit dem Diluvium aus der Wüste Gobi immer neuen Staub wie eine Schneedecke ab. Auch der Flußschlamm in den Überschwemmungsgebieten düngt die Felder immer wieder. Angesichts dieser reizlosen Landschaft sind hier Generationen nüchtern denkender Menschen herangewachsen. Diese Bauern-kultur im Schluchtenlabyrinth des Lößlandes konnte durch keinen der seit dem Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends auftretenden Reiternomadeneinbrüche aus dem Westen vernichtet werden. Diese Tatsache hat mitgeholfen, das Gefühl der Überlegenheit ihrer Menschen zu etablieren. Der Chinese des Nordens ist vor allem Hirse-und Weizen-bauer auf Trockenfeldern. Seit der Chou-Zeit kennt man den Pflug und verwandte vornehmlich Rinder als Zugtiere. Von den Tai-Völkern im Süden übernahm man die Reiskultur mit Bambus und Pfahlhütte, mit Elfenbein, Gold und Silber, Seide und Brokat, Porzellan und Tee. Der Südländer ist temperamentvoller und revolutionärer. Bezeichnenderweise stammen Sun Yat-sen, Tschiang Kai-schek und Mao Tsetung aus dem Süden.

Die chinesische Gesellschaftsordnung verdankt ihre Entstehung in ihrer äußeren Gestalt zunächst der Notwendigkeit einer Wasser-regulierung. Wegen des unzureichenden und unregelmäßigen Regenfalles war es nur durch intensive Bodenbewässerung im Flußgebiet des Hwangho den Chinesen der Frühzeit möglich, die damals schon dichte Bevölkerung zu ernähren. Schon das als erstes eingeführte Brunnenfeldsystem zeigte in der Wasserverteilung und in der gemeinsamen Bewirtschaftung eines Teils der Felder kollektive Ansätze. Bewässerung und Flutkontrolle durch Deiche gingen über die Kraft kleiner Gruppen hinaus und forderten zentral gelenkte Massenarbeitseinsätze. Infolgedessen entwickelten sich ein staatlicher Organisationsapparat und damit sozial verschiedene Schichten: den in Gemeinschaft arbeitenden Bauern standen leitende Beamte gegenüber, die mit steuerbelastetem Dienst-land als Gehalt bezahlt wurden. Sie mußten später ihre Qualifikationen durch Prüfungen nachweisen. Diese Beamtenschicht rekrutierte sich anfänglich aus Mitgliedern und Nachkommen der im Zuge der Reichsvereinheitlichung und der territorialen Umschichtungen seit der Shang-Zeit ausgeschalteten Lehnsherren. Der Anteil der Bauern an der Gesamtbevölkerung betrug mehr als 80 Prozent. Die Zentralgewalt dieser zumeist recht milden orientalischen Despotie konnte natürlich die große Masse des einfachen Volkes auch für andere Großprojekte mobilisieren, so für den Bau der Großen Mauer oder des Kaiserkanals. Unterhalb des autokratischen Überbaus bestand die chinesische Gesellschaft aus vielen kleinen Zellen mit einer gewissen Autonomie. Es waren dies die Familien als Arbeits-und Besitzgemeinschaften und die Dörfer, in denen oft nur eine, manchmal auch mehrere, durch Heirat verbundene Sippen wohnten. Da die Kontrollfunktion des Herrschers über die Kanäle des Beamtenapparates nicht bis in diese letzten Lebensbereiche hineinwirken konnte, war das Familienoberhaupt das Zentrum dieser patriarchalischen Selbstverwaltung. — Philosophisch-geistesgeschichtlicher Aspekt — Das geistige Fundament des chinesischen Staates war vor allem die Lehre des Staatsmannes und Philosophen Konfutse (551— 478) Etwa gleichzeitig wirkten in Palästina die Propheten, in Griechenland Heraklit und Platon (427— 347), im Iran Zarathustra und in Indien Buddha. Seit dieser Zeit gibt es Philosophen und eine geistige Haltung, die unser Menschsein bis heute trägt. Jaspers spricht von dieser Zeit als der Achsenzeit der Menschheit. Die Lehre des Konfuzius war ursprünglich eine Sittenlehre, die die Familien-, Gesellschafts-und Staatsmoral auf Ehrfurcht, Liebe und Gehorsam gegenüber Eltern, Ahnen und der Obrigkeit zu gründen suchte.

Sie entwickelte sich noch vor Christi Geburt zu einer Staatsreligion mit Tempeln und Opfern.

Der konfuzianische Staat war eine politisch-kultische Einheit, in der der Kaiser als „Sohn des Himmels" gleichsam Sachwalter des Erdkreises war. Der Ahnenkult ist wohl die ursprüngliche Quelle des Kaiser-und Staats-kultes. Die anfängliche Vorstellung von einem persönlichen Gott wandelte sich in eine Vorstellung von einer lebend wirkenden Kraft im Menschen, wirkend durch den Kaiser als „Sohn des Himmels", der mit seinem Lebenswandel verantwortlich war für das Gedeihen des Reiches. Der Kaiser galt als Herrscher der gesamten zivilisierten Welt, denn im Chinesischen sind die Begriffe „Reich" und „Welt"

Synonyme. Die Gesellschaftsordnung wurde spiegelbildlich zur kosmischen Ordnung verstanden. Es ging im Konfuzianismus nicht um die Wahrheitsfrage wie etwa im Christentum oder im Buddhismus, sondern um die richtige Ordnung von Gesellschaft und Staat im Diesseits.

Diese von der konfuzianischen Tradition bestimmte Neigung zur Ordnung des Diesseits ist eines der wesentlichen Kennzeichen auch des chinesischen Kommunismus. Die Wahrheitsfrage, also die Frage nach dem letzten Grund des Seins und des Menschen, gilt als „europäisches Erbe", das angesichts der Ordnung des Diesseits wenig bedeutsam ist. Lio Tschao Tschi sagte einmal, ein guter Kommunist sei im Herzen gut, er handele verantwortlich, auch wenn er nicht beobachtet werde.

Dies ist beste konfuzianische Tradition! Wenn China nicht wie Indien zu den klassischen Geburtsländern der Religion gehört, wie Griechenland zu denen der Philosophie oder Rom zu denen des Rechts, so ist es sicher ein klassisches Land der Moral. Der äußere Grund für die Einführung einer festen Moral ist die Grenzenlosigkeit des Raumes. Wer ohne ständige Bedrohung durch andere lebt und zugleich wenig von einer staatlichen oder religiösen Gewalt behelligt wird, braucht ein inneres Gesetz, das das Leben in der Gemeinschaft reguliert. Die moralischen Gesetzgeber Chinas bemühten sich unablässig darum, die rechte Mitte zwischen Ideal und Wirklichkeit zu treffen, die Dinge natürlich wachsen zu lassen. Diese Moral hat die chinesische Gesellschaft durch mehrere Jahrtausende bewahrt und getragen.

Die Chinesen haben zudem auch eine uns lange Zeit ungewohnte Form des Denkens entwickelt, nämlich das der Polarität, das sich von unserem antithetischen Denken prinzipiell unterscheidet. Man denkt dort nicht in Gegensätzen, im Entweder-Oder, in Über-und Unterordnungen. So bezeichnet der Chinese Dunkelheit als geringste Helligkeit, Ruhe als suspendierte Bewegung. Alles enthält sein Korrelat in sich, so das Leben den Tod und der Mann die Weiblichkeit — alles wechselnde Erscheinungsformen des Gleichen, die dem Tao des Werdens und Vergehens unterliegen. Im Bereich des abendländisch-antithetischen Denkens stehen Hell und Dunkel im Kampf miteinander, hier ist der Tod der ewige Feind des Lebens. Der Europäer kennt zwar auch die Tugend des Maßes der Mitte, aber für ihn standen andere Tugenden im Vordergrund, so der Mut, der vor Schwierigkeiten nicht verzagt, sondern sie als Ansporn zu aktivem Handeln sieht. Dazu gehört auch der Mut, zu phantasieren und zu träumen und dieses dann in die Wirklichkeit zu übertragen. Dazu bedurfte er der Zucht, aber nicht so sehr der der Haltung, sondern der des Denkens, die vor das Ausführen das Berechnen der Phantasien setzt. Weiter sind es die planmäßige Arbeit, die Kooperation aktiv als einzelner eingesetzter Mitarbeiter. Dann unterscheidet den Europäer auch der Glaube vom Chinesen, der Glaube an einen tätigen, schaffenden Gott, der die Welt nach Gesetzen lenkt und von den Menschen verlangt, daß sie aktiv mittätig am Schöpfungswerk werden, die Natur-und Welt-gesetze finden und sich ihrer bedienen. Das Leben ist kurz, und man muß sich eilen, es zu nutzen. In all dem spricht sich die Liebe des Europäers zum Sein aus, das also dem Nichtsein vorgezogen wird. — Historisch-ideologischer Aspekt — Das Problem der Agrarreform und die Auslösungswirkung der japanischen Angriffe waren der Schlüssel zur kommunistischen Revolution. Abweichend vom sowjetischen Vorbild Lenin erkannte Mao Tse-tung die verarmte Bauernschaft als das Proletariat Chinas. Er baute in Nord-Shensi schon 1936 eine Sowjetrepublik auf, von der aus nach dem Zusammenbruch Japans seine gut disziplinierten Truppen das ganze zerrüttete Kuomintang-China eroberten. Das Alte und das Neue China sind also in demselben Raum geboren. Die kommunistische Revolution füllte mit ihrer Ideologie das geistige Vakuum, das der Zusammenbruch des konfuzianischen Reiches hinterlassen hatte. In dessen langer Geschichte gab es jedoch für fast alle Maßnahmen der Kommunisten schon Präzedenzfälle. Läßt sich die kommunistische Funktionärsherrschaft nicht mit der milden Despotie des kaiserlichen China vergleichen, so ist doch ihre Erscheinungsform dem Bewußtsein des Chinesen keineswegs fremd. Schon früh war aus den Projekten der Bewässerungskultur am Hwangho eine zentralistische Beamtenhierarchie entstanden, die Massenarbeitseinsätze lenkte. Auch die konfuzianischen Normen der Familiensolidarität, der patriarchalischen Stellung des Familienoberhauptes und die ethische Unterstützung des Staates kamen den neuen Herren indirekt zugute. Da eine der marxistischen Ideologie Widerstand leistende gleichwertige Religion — wie das Christentum in Europa — und auch ein Beispiel für das Funktionieren einer nichtkommunistischen Ordnung aus jüngster Zeit fehlen, erscheint es zweifelhaft, ob der Kommunismus hier von innen heraus überwunden werden kann.

Der totalitäre Machtanspruch des dirigistischen Staatsapparates anstelle der konfuzianischen inneren Bindung an den Nächsten und den Staat, die Auflösung der Familie über die Emanzipation der Frau anstelle der früheren Familienautonomie, die totale Vergemeinschaftung in bezug auf Leben und Eigentum, die Arbeitssklaverei auch der „vom Joch der Familie befreiten" Frau, der Kolonialismus gegenüber nationalen Minderheiten, so gegen die Tibeter, das Bildungswesen als Mittel zur politischen . Infiltration sind jedoch wesentliche Unterschiede auch qualitativer Art.

Die Erhöhung der Produktion als wirtschaftliche Seite und die Umformung der Gesellschaft als politische Seite der Entwicklung werden als ein einheitlicher Prozeß betrachtet, der in der Bildung der Volkskommunen seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Er setzte nach der Machtübernahme 1949, die weder von Moskau gefördert wurde noch der sowjetischen Arbeiterrevolution entsprach, zunächst als Verstärkung der alten kleinbäuerlichen Nachbarschaftshilfen ein und führte über die dörflichen Produktionsgemeinschaften auf dem Wege vom Sozialismus zum Kommunismus zum Aufbau dieser untersten Zellen des Staates. Sie sind über die agrare Produktion hinaus zugleich handwerkliche, industrielle, kommerzielle, administrative und kulturelle Kollektive. b) Die Naturausstattung Chinas — Physiogeographischer Aspekt — Der durch unwegsame Randlandschaften abgeschlossene, in sich vielfach gegliederte Raum, von dem zwei Drittel über 1000 m hoch liegen und damit landwirtschaftlich so gut wie nicht nutzbar sind, läßt sich durch eine Linie, die zugleich Ost-von Zentralasien trennt, und die von der Wasserscheide des Große Chingan quer durch den Hwangho-Bogen über die hochalpine Talfurche des oberen Jangtsekiang zum Roten Fluß führt, in das eigentliche China im Osten und die Außengebiete im Westen (Tibet, Sinkiang, Innere Mongolei) teilen. Hier lag die Westgrenze des chinesischen Alt-reiches. Sie war auf weiten Strecken geschützt durch die Große Mauer. Bis hierhin ermöglichte die Monsunfeuchtigkeit Ackerbau. Jenseits begann das zentralasiatische Nomadentum. Im eigentlichen China folgen auf die winter-kalte, riesige Beckenlandschaft der Mandschurei das lößbedeckte Nordchinesische Bergland und die anschließende, von Lößlehm ausgefüllte und von der Halbinsel Schantung zweigeteilte Ebene am mittleren und unteren Hwangho. Jenseits des Tsinlingschan, den schon Richthofen als Scheidegebirge für Natur, Siedlung und Verkehr erkannte — die chinesische Main-Linie —, folgt das subtropische, durch ein Gittersystem von Bergzügen in viele Becken und Talschaften gekammerte Süd-china mit den Flußgebieten des Jangtsekiang und Sikiang. Den großen Anbauflächen des Nordens stehen im Süden mehrere gesonderte, durch Flußtäler verbundene Lebensräume gegenüber. Der staubfeine, fruchtbare Löß, das Ausblasungsprodukt eiszeitlicher und auch winterlicher Winde aus der Wüste Gobi, hat die ursprünglichen Landschaftsformen Nordchinas in etwa 30 bis 80 m Mächtigkeit überdeckt. Bodensalze steigen in ihm mit dem verdunstenden Wasser durch Kapillarröhrchen, die durch Verwesung von Grashälmchen und Wurzeln entstanden sind, zur Oberfläche. Er ist leicht bearbeitbar, in Terrassen zu gliedern und wegen seiner Standfestigkeit auszuhöhlen und sogar der Siedlung dienstbar zu machen. Wegen der Fruchtbarkeit und weiten Verbreitung dieses gelben Bodens wurde Gelb die heilige Farbe Chinas.

Das für Siedlung und Anbau geeignete lagennd klimagünstige Areal der Schwemmland-ebenen, Flußtäler, Becken des Ostens macht nur etwa 40 Prozent der Gesamtfläche Chinas aus. c) Entwicklung und Struktur der Bevölkerung in Relation zum Raum — Anthropogeographisch-volkswirtschaftlicher Aspekt — In diesem siedlungsgünstigen Kernraum ballt sich mit 94 Prozent einer Gesamtbevölkerung von fast 700 Millionen Menschen — das ist ungefähr ein Viertel der Weltbevölkerung — die Masse der Chinesen zusammen.

Die riesigen Außengebiete werden dagegen von einer sehr geringen Zahl von Nichtchinesen bewohnt. Siedlungsbewegungen sind allerdings in Richtung Sinkiang im Gange.

Die Durchschnittsdichte liegt im Osten mit 165 Einw. /km 2 aber noch unter der der Bundesrepublik Deutschland mit 220 Einw. /km 2. Es finden sich jedoch Konzentrationen bis zu 1500 Einw. /km 2 im Roten Becken und an den Unterläufen der großen Ströme. Da aber diese Bevölkerung fast ausschließlich vom Ackerbau lebt, bedeutet jeder Zuwachs eine weitere Senkung des ohnehin minimalen Lebensstandards.

Selbst bei einer jährlichen Zunahme von nur 2 Prozent ist alle vier Jahre eine Menschen-zahl zusätzlich zu ernähren, die der Westdeutschlands entspricht.

Trotz der gewaltigen Bevölkerungszunahme einerseits und den durch Klima und Oberflächenbeschaffenheit weiter Teile dieses Riesenreiches beschränkten Ausdehnungsmöglichkeiten andererseits kann hier nicht von einem „Volk ohne Raum" gesprochen werden.

Ein Land ist noch nicht übervölkert, wenn die agrare Ernährungsbasis nicht ausreicht. Die entscheidende Relation zur Beurteilung des Bevölkerungsdruckes ist die der Bevölkerungszahl zur Kapitalbildung. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, die Erschließung von Bodenschätzen und die Industrialisierung, die die Existenzmöglichkeiten vergrößern, sind im wesentlichen Kapitalfragen. Neben der Geldkapitalbildung durch Sparen und Konsumverzicht können Kapitalwerte unmittelbar durch den Arbeitseinsatz der Massen geschaffen werden. Diese Form ist in China seit Jahrtausenden im Wasserbau üblich. Kapitalbildung ist so nicht nur eine Funktion von Einkommen und Sparneigung, sondern des Fleißes und der Leidensfähigkeit eines Volkes. Die erste Phase der Industrialisierung hat sowohl im Frühkapitalismus als auch im Bolschewismus einen gemeinsamen Zug: den Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft. Mao Tse-tung sieht seine Menschenmassen daher weniger als Verbraucher, sondern als Erzeuger an. Sie ersetzen auf dem Wege zur Kollektivierung, die nach marxistischer Theorie erst die Folge der Mechanisierung sein soll, die Maschinen. So sind seine „Blauen Ameisen" ein Symbol des „chinesischen Weges" zum Kommunismus. Die Ursache der Rückständigkeit wird nicht in der großen Zahl, sondern in der bisherigen Verwendung der Menschenmassen gesehen. Angetrieben werden diese Massen von Parteifunktionären durch Vorgaukelung herrlicher Zukunftsaussichten, durch Appelle an die Opferbereitschaft für das Wohl der Kinder, an den Stolz und das Nationalbewußtsein sowie durch psychologische Nötigung, die sogenannte „Gehirnwäsche".

d) Die Ursachen der sozial-ökonomischen Rückständigkeit Chinas

— Sozialgeographischer Aspekt — Als der Zusammenstoß Chinas mit Europa im Opiumkrieg (1840/42) erfolgte, lag im „Reich der Mitte" bereits der Keim zum Niedergang. Das Zurückbleiben im 18. und 19. Jahrhundert hat vor allem soziale und ökonomische Gründe. Bis 1600 war die Bevölkerung, durch blutige Kriege und Überschwemmungsund Hungerkatastrophen dezimiert, auf einem Stand von etwa 60 bis 70 Millionen stehen-geblieben. Dem starken Wachstum seit 1700 stand jedoch kein entsprechender Zuwachs der Nahrungsmittelproduktion gegenüber. Die Ackerfläche pro Kopf der Bevölkerung ging erheblich zurück. Trotz Steigerung der Land-nutzung durch verstärkten Anbau ertragreicherer Pflanzen wie des amerikanischen Maises, der Erdnuß, der Süßkartoffel und intensiverer Bodenbearbeitung in der seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Beetkultur begann der Lebensstandard schon vor dem Einbruch Europas zu sinken. Der geringe Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche am Gesamtareal des Reiches, die Bodenzersplitterung, die Uberbesetzung des Bodens sowie die von der Unberechenbarkeit des Monsuneintritts und seiner Niederschlagsmenge hervorgerufenen Naturkatastrophen verhinderten jegliche Kapitalansammlung über die Landwirtschaft, die einzig mögliche Kapitalquelle Chinas. Die aus dieser Misere herrührenden Unruhen, so der Taiping-Aufstand im vorigen Jahrhundert, aber auch der permanente Bürgerkrieg der Warlords in diesem Jahrhundert taten das ihre dazu. In dieser Zeit nahm die wirtschaftliche und territoriale Expansion Europas und Amerikas immer größere Ausmaße an. Europa blickte nach draußen, China dagegen lebte weitgehend abgeschlossen in in Selbstgenügsamkeit. Die Entstehung einer Industrie und des sogenannten „Kapitalismus" wurden zudem vom traditionellen chinesischen Sozialsystem verhindert. Der Wohlstand der Stände der Großgrundbesitzer, Beamten und Gelehrten, die sich weitgehend deckten, basierte nämlich auf dem Grundeigentum. Ihr Einkommen bezogen sie hauptsächlich aus der Verpachtung ihres Landes. Ein Interesse, den Lebensunterhalt aus anderen Quellen zu bestreiten, gab es nicht. Da zudem auch der Kaufmann verachtet war, fehlte es an einem unternehmerischen Mittelstand. In Europa war es dem sozial höher eingestuften Handwerkertum in Verbindung mit dem freien, über flüssiges Kapital verfügenden Kaufmannsstand gelungen, durch technische Verwertung von zum Teil auch in China gemachten Erfindungen neue Produktionsmethoden zu entwickeln. Aus Manufakturen wurden Fabriken. Ein freies Unternehmertum begann mit kapitalistischen Methoden Bodenschätze zu nutzen und Märkte zu erschließen und dadurch zusätzliche Lebens-möglichkeiten für die anschwellende Bevölkerung zu schaffen. Gleichzeitig öffneten sich europäischen Siedlern riesige überseeische Gebiete mit ausgezeichneten Lebensbedingungen in Amerika, Afrika, Australien.

Weitere Gründe für das Zurückbleiben Chinas neben diesem antimerkantilen Denken sind das Mißtrauen gegenüber Ausländern und der Fremdenhaß, die seit der Mongolenzeit mit ihrem Plünderungssystem herrschen und durch die „Ungleichen Verträge" und andere Machenschaften europäischer Mächte in der Neuzeit noch verstärkt wurden. Man wandte sich aus dieser Haltung heraus, unterstützt noch durch das uralte Gefühl der Kulturüberlegenheit, auch gegen Wissenschaft und Technik des Auslandes. Man fürchtete nämlich, seine sozialen Berechtigungen dadurch zu verlieren, daß das alte Prüflings-und Erziehungssystem, das einseitig auf der Kenntnis der konfuzianischen Klassiker beruhte, durch das Eindringen neuer Wissensbereiche beseitigt werden würde. Das hatte u. a. zur Folge, das China bei seiner Größe kein geschlossener Wirtschaftsraum wurde, weil mangels technischer Entwicklung der Fernverkehr als integrierender Faktor fehlte. Außer mit Salz hat es in China nie Fernhandel gegeben. Im Jahre 1925 besaß China nur je zwei Nord/Süd-und Ost/West-Bahnen, die von Europäern in Küstennähe gebaut waren. Fast der gesamte Gütertransport spielte sich auf Karren, auf Booten oder an Schulterstangen ab. Der Kuli war das Symbol des Transport-mittels. China durchlief in seiner Geschichte eigentlich immer nur den gleichen Zyklus: Starke Herrscher gründeten eine Dynastie; Korruption brach ein — Korruption und Räuber gehörten schon immer zum System —; es kam in Verbindung mit Mißernten und Naturkatastrophen zu Unruhen; Reformversuche brachten nur teilweise Abhilfe; schließlich kam es zu Verfall und Sturz, und zum Neubeginn unter neuen Herren. Dieser dynastische Zyklus wurde erst durch den Zusammenstoß mit der westlichen Welt durchbrochen, der China nicht gewachsen war.

e) Peking und Moskau als Zentren im Ostblock

— Politisch-ideologischer Aspekt — Die Sozialrevolutionären Vorstellungen des Kommunismus sind keineswegs allein ein Produkt Europas. Etwa um die Zeit, als Karl Marx und Friedrich Engels 1849 das kommunistische Manifest verfaßten, brach in Südchina der Taiping-Aufstand los, hervorgerufen durch übergroße Pachtabgaben und Steuern der Grundbesitzer und der Mandschus und durch eine Reihe von Mißernten. Das Programm seines christlich — und nicht marxistisch — beeinflußten Führers Hung Hsiu-Chuan sah eine Art Kolchosenbildung vor, wobei jeweils 25 Bauernwirtschaften zusammengefaßt werden und auch Mann und Frau gleichberechtigt nebeneinander stehen sollten.

Ein Gelehrter, K’ang Yu-wei, versuchte ebenfalls kurz vor dem Zusammenbruch der Mandschu-Dynastie und damit des Alten China aus dem Gefühl der Verantwortlichkeit des Konfuzianertums für die Zukunft des Staates ein neues Gesellschaftssystem zu entwickeln. Der Eckpfeiler seines Systems war die Abschaffung der Familie als Träger allen Unheils, als Keim-zelle des Egoismus. Es fallen damit die Klassenunterschiede, die sich nur auf Grund von vererbbarem Familienbesitz und -macht bilden konnten. Die soziale Funktion der Sippe wird durch ein großzügiges System von Sozialversicherungen ersetzt. Wohnstätten und Speise-hallen sind öffentlich, jeder genießt soviel, wie es seiner Arbeitsleistung entspricht. Die Kindererziehung ist den Eltern abgenommen, Schulen sind öffentlich. Als letzte Konsequenz der Abschaffung der Familie stirbt dann der Staat, die Verkörperung des Massenegoismus. An seine Stelle tritt die von Verwaltungsfunktionären geleitete Weftgemeinschaft. K’ang sah interessanterweise die Totenverbrennung vor; neben den Krematorien sollten dann Dünger-fabriken errichtet werden. K’ang kannte den europäischen Sozialismus nicht. Viele makabre Züge seines zunächst geheimgehaltenen Gesellschaftssystems sind im chinesischen Kommunismus Wirklichkeit geworden.

Die alte gebundene chinesische Gesellschaft konnte keine Kräfte zur Neuordnung freisetzen wie in Europa. Erst die Kommunisten haben seit 1949 den Umbruch folgerichtig erzwungen. Sie standen weder durch die Art der Machtübernahme noch durch ihren Anspruch, als neue Elite zu gelten, weder durch die erste Agrarreform noch durch die Abrechnung mit ihren Gegnern im Gegensatz zur Tradition. Dieser beginnt erst mit dem Aufbrechen der Großtamilie, der Ausrichtung des einzelnen auf die Nation, der Gleichstellung von Mann und Frau. Die Maßnahmen der chinesischen Kommunisten sind nicht eine Kopie sowjetrussischer Verhältnisse, sondern in der eigenen Geschichte vorgezeichnet. China ist deutlich auf dem Wege zur Großmacht: anstelle der einstigen Tributgesandtschaften reisen heute Delegationen aus aller Herren Länder nach Peking, an die Stelle des Kaiserkults ist der Parteistaat getreten, an die Stelle der einstigen Weltreichsidee die Superiorität der kommunistischen Ideologie chinesischer Prägung.

Die ideologischen Differenzen um die marxistisch-leninistische Revolutionsund Entwicklungstheorie zeigen die Grund-spannungen dieses Systems zwischen den Realisten des Staatskapitalismus einerseits, die sich an der Wirklichkeit orientieren und damit das marxistische Weltbild relativieren, und den revolutionären Dogmatikern andererseits, die sich an der utopischen Vision der End Verheißung berauschen, ohne durch Analyse der Wirklichkeit die Richtigkeit der Weissagung dauernd zu überprüfen. Es geht bei dieser Grundspannung um die Interpretation der Endverheißung und des Weges dorthin. Dieser Endzustand, der Abschluß einer nach Marx notwendigen geschichtlichen Entwicklung, wird als Güterüberfluß in einer klassenlosen Gesellschaft definiert. In dieser gibt es absolute Gerechtigkeit und ewigen Frieden, weil die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehört hat und die Natur unterworfen ist. Der durch die Entwicklung der Produktivkräfte bedingte Güterüberfluß ist zugleich Voraussetzung und Folge der Änderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Der Weg zu diesem mythischen Endzustand ist seinerseits durch zwei Phasen gekennzeichnet, durch die Vorphase des Sozialismus, in der jedem nach seiner Leistung zugeteilt wird, und durch die Hauptphase des Kommunismus, in der jeder nach seinen „Bedürfnissen" bekommt. Der Streit zwischen Peking und Moskau geht zur Zeit um das Problem des Überganges vom Sozialismus zum Kommunismus. Dem „Wohlfahrtskommunismus" Chruschtschows, der durch Förderung des Gewinnstrebens eine Steigerung der Arbeitsproduktivität und damit die Erreichung des Warenüberflusses als wichtigste Voraussetzung zum Eintritt in den kommunistischen Endzustand erstrebt, stellen die Chinesen ihre Volkskommunen gegenüber. Hier soll unter Ausmerzung allen bürgerlichen Gewinnstrebens ein kämpferisch-revolutionärer Menschen-typ herangezogen werden. Die einen betonen stärker den Güterüberfluß, die anderen die klassenlose Gesellschaft als Kriterien des verheißenden Endzustandes. Die Ursachen für diese ideologischen Divergenzen liegen vermutlich darin, daß Chruschtschow bereits über eine weit entwickelte Industrie mit großem Güterausstoß verfügt und dem Ziel, nämlich zunächst die USA zu erreichen und zu überholen, näher ist als Mao Tse-tung. Dieser kann wegen der Rückständigkeit seines Agrarstaates nur den Aspekt der klassenlosen Gesellschaft hervorkehren. Aber auch«an seiner Volkskommunen-Konzeption hat er bereits erhebliche Abstriche vornehmen müssen. Die Chinesen sehen nicht den Endzustand des Uberflusses, sondern den neuen Menschen als Ausdruck des Kommunismus an. Von daher gelten die Sowjets aus der Sicht der Chinesen als im kapitalistischen Sinne „verbürgerlicht“, die Chinesen umgekehrt als „Dogmatiker“ und „Linksabweichler". Der Volkskommunenkonzeption liegt noch ein anderes Motiv zugrunde. Sie sollte sich auch aus außenpolitischen Gründen als ideologische Unabhängigkeitserklärung Pekings erweisen gegenüber den Völkern der farbigen Welt.

Weitere Punkte der Auseinandersetzung, auch machtpolitischer und wirtschaftlicher Art, sind das Koexistenzproblem, dann der Wunsch nach mehr Unterstützung bei der UNO und auf Gipfelkonferenzen, das Atommonopol der UdSSR im Ostblock, der Anspruch auf Hegemonie in der Äußeren Mongolei, in Nordkorea, Nordvietnam, Sinkiang, ja in ganz Asien und in den Entwicklungsländern sowie nicht zuletzt die Forderung nach zumindest gleichberechtigter Führerstellung im Ostblock. Die Unterschiede im Charakter des Kommunismus in den verschiedenen Ländern sind anscheinend so groß wie das Ausmaß, in dem die Kommunisten wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen in diesen Ländern unabhängig von Moskau an die Macht kamen. Der chinesische Kommunismus gilt als Modellfall für den Umsturz in halbfeudalen und -kolonialen Gebieten.

Sehr aktuell ist das Verhältnis Indiens zu China. Auf längere Sicht ist eine chinesische Expansion nur nach Süden und Südwesten möglich. Während Wilhelm Starlinger („Grenzen der Sowjetmacht") auf Sibirien wies, das den chinesischen Bevölkerungsdruck nach Norden lenken könnte, vertritt Klaus Mehnert („Peking und Moskau") die Ansicht, daß sich Peking eher nach Süden wenden werde. Die Ernährungsbasis ist trotz der dort schon vorhandenen dichten Bevölkerung in den wärmeren Zonen leichter zu vergrößern. Politisch und militärisch stößt man in Indien, Hinter-indien und Indonesien nicht auf den ideologisch verwandten und vor allem militärisch starken Russen, sondern in den weichen Unterleib Asiens, dessen Massen schon aus den Ressentiments der Hautfarbe geneigt sind, Maos asiatischen Vereinigungsparolen und Vormachtansprüchen zu folgen. Hier stößt man nur auf anglo-amerikanische Interessen, die sich durch Stützung wenig geachteter Regierungen selbst kompromittieren. Da aber Moskau Chinas Drang nach Süden und damit nach Vormachtstellung in Asien aus machtpolitischen Gründen nicht dulden kann, obgleich es ihn aus ideologischen Gründen unterstützen müßte, so hat sich hier eine besonders prekäre Reibungsfläche in den inneren Auseinandersetzungen gebildet.

Die Rivalität Chinas und Indiens beim wirtschaftlichen Aufbau jedoch stellt sozusagen ein Schauspiel für die asiatischen Völker dar, auf dessen Ausgang diese gebannt harren. Mao Tse-tung kann sich mit seinen „Blauen Ameisen" aber dabei ganz andere Sprünge leisten als Nehru, der auf viele volkspsychologische und kultische Faktoren Indiens Rücksicht zu nehmen hat. Wenn die Sowjetunion nicht fürchten müßte, in China sich einen Rivalen heranzuziehen, so wäre der Wettlauf zwischen Ost und West an diesen beiden Modellfällen der Entwicklungshilfe noch viel schärfer. Sind zwar die Entwicklungsprobleme beider Länder verwandt — beide haben eine rapide wachsende, wenig produktive Bauern-bevölkerung, beide stecken noch in den Anfängen der Industrialisierung, beide ringen mit importierten fremden Weltanschauungen und Lebensstilen —, so sind Indien und China aber doch nicht einfach kapitalistisch-kommunistische Antagonisten. Indien ist nicht ohne weite-15 res ein Schaufenster des Westens, sondern ein asiatisches Land mit eigenem Gesicht, das jahrzehntelang mit ihm eigenen Methoden gegen den westlichen Kolonialismus Englands angekämpft hat, der seinerseits allerdings manches Erbe hinterließ. Ebenso ist die VR China nicht schlechthin marxistisch, son-dern das klassische Erbe seiner Geschichte steht in Auseinandersetzung mit der westlichen Ideologie des Kommunismus. Die Problematik ist durchaus vielschichtig und läßt sich nicht vorschnell in das Schwarz-Weiß-Klischee der Ost-West-Auseinandersetzungen pressen.

III. Zusammenfassung: Die Notwendigkeit der Einführung der VR China als Objekt der politischen Weltkunde (Gemeinschaftskunde)

Neben anderen wichtigen Objekten muß auch die VR China einen zentraleren Platz in der politischen Weltkunde bekommen 3).

a) Zu einer Behandlung Chinas in der Gemeinschaftskunde zwingen:

1. die Tatsache, daß in diesem Raum das größte Volk der Erde lebt, 2. daß dieses Volk weltpolitisch ein wachsendes Gewicht erhält, 3. daß der Raum diesem Volk außerordentliche wirtschaftliche Möglichkeiten bietet, die von einem selbstbewußten, expansi3) Nach der Zusammenfassung der Tagungsergebnisse der Tagung „Der chinesische Kommunismus" des Instituts für schulpädagogische Bildung in Volmarstein/NRW v. 8. bis 12. VII. 63 (Vers, als Mitarb.). ven Kommunismus eigener Prägung entwickelt werden, 4. daß schließlich diese Entwicklung als Modell für die Farbigen Völker propagandistisch herausgestellt und weltpolitisch durchgesetzt werden soll.

b) Als Bildungswerte ergeben sich:

1.der aus den Gegebenheiten des Raumes und der Geschichte entstandene Ordnungsgedanke,

2. die Überprüfung der eigenen Wertordnung an der chinesischen und die Erkenntnis der Herausforderung unserer Lebensordnung durch den universalen Geltungsanspruch einer neuen Form des Kommunismus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Huang Lung, Peking: Der Gelbe Fluß wird bezwungen In: Übersee-Rundschau. H 1, Hbg 1, 959.

Weitere Inhalte

Gregor Böttcher, Dr. phil., Studienrat, geb. 21. März 1927 in Bromberg. Veröffentlichungen u. a.: Die agrargeographische Struktur Westfalens 1890— 1950, Münster 1959; China als kommunistisches Entwicklungsland, Paderborn/München 1963.