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Gelenkte Justiz Zerstörung der Rechtsprechung im Dritten Reich. Richterbriefe zur einheitlichen Ausrichtung der Rechtsprechung im nationalsozialistischen Sinne | APuZ 49/1963 | bpb.de

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APuZ 49/1963 Gelenkte Justiz Zerstörung der Rechtsprechung im Dritten Reich. Richterbriefe zur einheitlichen Ausrichtung der Rechtsprechung im nationalsozialistischen Sinne

Gelenkte Justiz Zerstörung der Rechtsprechung im Dritten Reich. Richterbriefe zur einheitlichen Ausrichtung der Rechtsprechung im nationalsozialistischen Sinne

Ilse Staff

Grundsätzlich war der deutsche Richter an die Gesetze, die von den Nationalsozialisten erlassen wurden, gebunden. In § 1 Gerichtsverfassungsgesetz heißt es:

„Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt."

Natürlich konnte der deutsche Richter erklären: Gesetze anzuwenden wie das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 oder die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 verstößt gegen mein Gewissen; ich scheide aus der richterlichen Laufbahn aus. Blieb er Richter, so war er an die Gesetze gebunden. Das Reichsgericht erklärt in seiner Entscheidung vom 6. Juli 1934 „. . . Nach wie vor gilt der die allgemeine Rechtssicherheit verbürgende, an der Spitze des Gerichtsverfassungsgesetzes stehende Grundsatz, daß der Richter dem Gesetz unterworfen ist..." Und damals wie heute besteht die Strafbestimmung des § 336 Strafgesetzbuch, in der es heißt:

„Ein Beamter oder Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache vorsätzlich zu Gunsten oder zum Nachteile seiner Partei einer Beugung des Rechtes schuldig macht, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft."

Aber auch in der nationalsozialistischen Zeit hatte der Richter einen Spielraum für sein persönliches richterliches Ermessen. Er konnte frei darüber entscheiden, ob „nach gesundem Volksempfinden" ein Täter eine Bestrafung verdiente (§ 2 des Strafgesetzbuches), ob ein Sittlichkeitsverbrecher statt einer Freiheitsstrafe der Todesstrafe verfiel, weil „der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne" es erforderte oder ob „nach der Berücksichtigung des gesamten Ergebnisses der Verhandlung und Beweisaufnahme" die Unfruchtbarmachung eines Menschen zu erfolgen hatte Der Richter konnte in all diesen und vielen entsprechenden Fällen nach den Maßstäben nationalsozialistischer Rechtsauflassung entscheiden — er konnte aber auch innerhalb des gesetzlichen Rahmens nach seinem persönlichen Gewissen entscheiden.

Eine Rechtsprechung im Sinne der nationalsozialistischen Justizpolitik war aber nur garantiert, wenn die Maßstäbe des persönlichen Gewissens zugunsten der Maßstäbe des Nationalsozialismus ausgeschlossen wurden. Entscheidend für die Nationalsozialisten war es daher, zu versuchen, den einzelnen Richter in seiner richterlichen Entscheidung zu beeinflussen, ihn zu „lenken". Daß eine solche „Lenkung" der Richter dem § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes ausdrücklich widersprach, übersah die nationalsozialistische Regierung geflissentlich. Am 7. September 1942 erging folgendes Rundschreiben:

„Der Reichsminister der Justiz 3110/2 —IVa 1— 1902 An die Berlin W 8, d. 7. September 1942 Herren Präsidenten des Reichsgerichts und des Volksgerichtshofs, die Herren Oberlandesgerichtspräsidenten, außer Prag, die Herren Landesgerichtspräsidenten (mit Überstücken für die Amtsgerichte) Nachrichtlich den Herren Oberreichsanwälten beim Reichsgericht und beim Volksgerichtshof, den Herren Generalstaatsanwälten, den Herren Oberstaatsanwälten.

Betr.: Richterbriefe Ich will, kann und darf nicht den Richter, der zur rechtlichen Ordnung eines Vorganges be-rufen ist, anweisen, wie er im Einzelfall zu entscheiden hat. Der Richter muß weisungsfrei bleiben, damit er seine Entscheidungen mit eigener innerer Verantwortung tragen kann. Ich kann ihm daher eine bestimmte Rechtsauffassung nicht befehlen, sondern ihn lediglich davon überzeugen, wie ein Richter der Volksgemeinschaft helfen muß, um einen in Unordnung geratenen oder zur Ordnung reifen Lebensvorgang mit Hilfe des Gesetzes zu ordnen oder zu regeln.

Insoweit ist der Beruf des Richters dem des Arztes verwandt, der dem Volksgenossen, der ihn Hilfe wendet, Hilfe zu sich an um auch bringen oder Gemeinschaft vor die Schäden zu bewahren hat. Ebenso muß der Richter wie ein Arzt einen Krankheitsherd im Volke ausbrennen oder die Eingriffe eines Chirurgen machen können.

Diese Auffassung von der Aufgabenstellung der Rechtspflege hat sich zwar heute unter den deutschen Rechtswahrern weitgehend durch-gesetz. Ihre praktischen Auswirkungen auf die Rechtspflege sind aber noch nicht restlos verwirklicht. Um dem Richter zu helfen, seine hohe Aufgabe im Leben unseres Volkes zu erfüllen, habe ich mich daher zur Herausgabe von Richterbriefen entschlossen, die allen deutschen Richtern und Staatsanwälten zugehen sollen. Diese Richterbriete werden Entscheidungen enthalten, die mir nach Ergebnis oder Begründung besonders hervorhebenswert erscheinen. An diesen Entscheidungen möchte ich autzeigen, wie eine bessere Entscheidung hätte gefunden werden können und müssen; andererseits sollten gute, für die Volksgemeinschaft wesentliche Entscheidungen als beispielhaft hervorgehoben werden.

Die Richterbriefe sind nicht dazu bestimmt, eine neue Kasuistik zu schaffen, die zu einer weiteren Erstarrung der Rechtspflege und zu einer Bevormundung der Richter führen würde. Sie sollen vielmehr nur eine Anschauung davon geben, wie sich die Justiztührung nationalsozialistische Rechtsanwendung denkt und auf diese Weise dem Richter die innere Sicherheit und Freiheit geben, die richtige Entscheidung zu finden.

Der Inhalt der Briefe ist vertraulich; der Behördenleiter persönlich soll sie verwahren und jedem Richter oder Staatsanwalt gegen Empfangsbescheinigung von ihnen Kenntnis geben.

Für die Herausgabe der Richterbriefe bedarf es der Mitarbeit aller Richter und Staatsanwälte. Ich erwarte, daß mir aus allen Rechts-gebieten zur Bekanntgabe geeignete Entscheidungen vorgelegt werden. Bei ihrer Verwertung wird weder der Richter noch das erkennende Gericht namentlich genannt werden.

Ich bin überzeugt, daß die Richterbriefe wesentlich zu einer einheitlichen Ausrichtung der Rechtsprechung im nationalsozialistischen Sinne beitragen werden.

gez Dr. Thierack."

Ein Schreiben voller Widersprüche! Man wußte, daß durch die Herausgabe der Richter-briefe gegen den Grundsatz der Weisungsfreiheit, Unabhängigkeit der versto Richter -

ßen wurde. Darum die vorsichtige Einleitung:

„Ich will, kann und darf nicht den Richter, der zur rechtlichen Ordnung eines Vorgangs berufen ist, anweisen, wie er im Einzelfall zu entscheiden hat. Der Richter muß weisungsfrei bleiben . .." Darum auch die ängstliche Geheimhaltung der Existenz der Richterbriefe:

„Der Inhalt der Briefe ist vertraulich; der Behördenleiter persönlich soll sie verwahren und jedem Richter oder Staatsanwalt gegen Empfangsbescheinigung von ihnen Kenntnis geben ... ” Andererseits möchte man im Reichs-justizministerium „aufzeigen, wie eine bessere Entscheidung hätte gefunden werden können und müssen" und man ist überzeugt, „daß die Richterbriefe wesentlich zu einer einheitlichen Ausrichtung der Rechtsprechung im nationalsozialistischen Sinne beitragen werden". Diese Sätze sind ein eindeutiger, bewußter Gesetzesverstoß gegen den § 1 Gerichtsverfassungsgesetz. Die Nationalsozialisten kümmerten sich nicht um gesetzlich verankerte Rechte des Richtertums. Sie wollten ihren Zweck erreichen: Eine im nationalsozialistischen Sinne gelenkte Rechtsprechung. Um diesen Zweck zu erreichen, war ihnen jedes Mittel recht, auch ein Gesetzesbruch von Seiten der „Wahrer" des Rechts, des Reichsjustizministeriums.

Der Ankündigung von Thierack folgten alsbald die ersten Richterbriefe. Sie enthielten jeweils eine bestimmte Entscheidung eines Gerichts. Daran schloß sich eine „Stellungnahme des Reichsministers der Justiz" an, in der die Entscheidung entweder kritisiert oder gelobt wurde. Zwar wurde weder das Aktenzeichen der Entscheidung noch das Gericht, das sie getroffen hatte, angegeben. Jedes Gericht vermochte aber selbstverständlich die von ihm getroffenen und dann veröffentlichten Entscheidungen wiederzuerkennen und konnte gewahr werden, welche Kritik an ihm und damit vor allem an den Richtern geübt wurde. Jeder Richter mußte damit rechnen, daß eine Entscheidung, in der er nicht im nationalsozialistischen Sinne Recht sprach, öffentlich gerügt wurde und, was schlimmer war, daß er, der Richter, dem Reichsjustizministerium als „politisch unzuverlässig" auffiel. Es läßt sich nicht nachprüfen, inwieweit nach Herausgabe der Richterbriefe Entscheidungen ergingen, die nicht allein auf Grund der freien richterlichen Urteilsbildung zustande kamen, sondern durch die Stellungnahme des Reichsministers der Justiz in den Richterbriefen beeinflußt waren. Wenn man aber die Zahl der im nationalsozialistischen Sinn „gleichgeschalteten" Urteile und Beschlüsse ansieht, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, daß die Richterbriefe ihren Zweck erreichten, zumal die „Stellungnahmen des Reichsministers der Justiz" kaum an Deutlichkeit darüber, wie die Rechtsprechung der nationalsozialistischen Zeit aussehen sollte, zu wünschen übrig ließ.

Ein „Richterbrief" zur Jugenderziehung im NS-Staat

Im Richterbrief Nr. 14 handelt es sich zum Beispiel um einen Beschluß eines Vormundschaftsgerichts vom 21. September 1940:

„ 14. Verweigerung des Deutschen Grußes durch ein Schulkind Beschluß eines Vormundschaftsgerichts vom 21. September 1940 Ein elfjähriges Mädchen fällt in der Schule dadurch auf, daß es fortgesetzt den Deutschen Gruß verweigert. Es begründet dies mit seiner religiösen Überzeugung und führt dazu selbst einige Stellen aus der Bibel an. Bei Fragen, die den Führer betreffen, zeigt es sich in der Schule völlig uninteressiert.

Die Eltern, die außerdem noch eine sechsjährige Tochter haben, billigen dieses Verhalten des Kindes und lehnen es hartnäckig ab, auf das Kind im gegenteiligen Sinne einzuwirken. Auch sie verweigern den Deutschen Gruß mit dem Hinweis auf die Bibelstelle „Tue nichts mit erhobener Hand, denn dies mißfällt dem Herrn". Daran halten sie trotz Belehrung durch das Gericht und den Leiter der Schule fest. Die Mutter lehnt es überhaupt ab, mit dem Kind darüber zu sprechen. Der Vater will dies zwar tun, das Kind solle aber selbst entscheiden. Auch sonst zeigen sich die Eltern als Gegner des nationalsozialistischen Staates. Sie besitzen keine Hakenkreuziahne. Sie haben ihr Kind nicht zur HJ angemeldet, aus der NSV sind sie ausgeschlossen, weil sie sich trotz ausreichenden Einkommens des Mannes nicht an den Spenden beteiligen. Dennoch bestreiten sie, Gegner der Bewegung zu sein.

Das Jugendamt hat beantragt, den Eltern wegen dieses Verhaltens das Sorgerecht für ihre beiden Kinder zu entziehen.

Das Vormundschaftsgericht hat dies abgelehnt und hat lediglich die Schutzaufsicht angeordnet. In der Begründung wird ausgeführt, es sei nicht erwiesen, daß die Eltern Gegner der nationalsozialistischen Bewegung seien oder diese sogar bekämpfen; sie stünden der Bewegung nur . nicht sympathisch gegenüber und seien auch nicht gesonnen, sie zu fördern’. Sodann heißt es wörtlich: , Die Eltern sind für ihre Person hinsichtlich ihrer Einstellung zur nationalsozialistischen Bewegung nur insoweit verantwortlich, als sie gegen diesbezügliche Strafgesetze verstoßen.'Die Eltern müßten einsehen, daß die Kinder im nationalsozialistischen Sinne erzogen werden müssen und daß diese Erziehung der Schule vorgeschrieben sei. Wenn die Eltern ihre Kinder nicht von sich aus in diesem Sinne erziehen wollen oder aus religiöser Überzeugung glauben, sie nicht so erziehen zu können, so müsse von ihnen verlangt werden, daß sie der nationalsozialistischen Erziehung durch die Schule wenigstens nicht entgegenwirken. Da das Kind sonst gut erzogen sei und die Eltern nach ihrem persönlichen Eindruck . charakterlich durchaus zuverlässige Menschen’ seien, sei anzunehmen, daß sie der Schule in Zukunft bei der Erziehung keine Schwierigkeiten mehr machen werden. Das Beschwerdegericht hat den Beschluß des Vormundschaftsgerichts aufgehoben und den Eltern das Sorgerecht über die Kinder entzogen, weil sie zur Erziehung der Kinder nicht geeignet sind."

Stellungnahme des Reichsministers der Justiz „Der Vormundschaftsrichter hat bei seiner Entscheidung die Grundsätze nationalsozialistischer Jugenderziehung verkannt.

Träger der Erziehung der deutschen Jugend sind heute Elternhaus, Schule und Hitler-Jugend (Gesetz über die Hitler-Jugend vom 1. Dezember 1936). Sie haben in gemeinsamer Arbeit, jeder zu seinem Anteil, den ihnen er-teilten Erziehungsauftrag der Volksgemeinschaft zu erfüllen. Das Ziel der gemeinsamen Erziehungsarbeit besteht darin, die Jugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen. Dieses Ziel kann nur in gemeinsamer Zusammenarbeit von Elternhaus, Schule und Hitler-Jugend erreicht werden. Jeder Gegensatz und jede Abweichung in der Erziehung gefährden das gemeinsame Ziel. Den Eltern ist an der Erziehung ein entscheidender Anteil und eine besondere Verantwortung übertragen worden. Sie sind mit dem Kind blutmäßig verbunden. Das Kind lebt in ihrer Nähe und sieht fortgesetzt auf die Gewohnheiten und das Beispiel der Eltern. Erziehen heißt führen. Führen heißt vorleben. Das Kind gestaltet sein Leben nach dem Vorbild der Eltern. Was es dort, insbesondere in der frühen Jugend, hört und sieht, nimmt es allmählich als Gewohnheit und eigenes Lebensgesetz an. Das Erziehungsziel des nationalsozialistischen Staates kann daher nur erreicht werden, wenn die Eltern gewissenhaft und verantwortungsbewußt in all ihrem Denken und Handeln dem Kind ein vorbildliches Beispiel dafür geben, wie man sich in dem Gemeinschaftsleben unseres Volkes zu verhalten hat. Zu dieser Erziehung zum deutschen Menschen gehört auch die rechtzeitige Vermittlung der Achtung und Ehrfurcht vor den Symbolen des Staates und der Bewegung. Die Gemeinschaft erwartet auch hier von den Eltern eine aktive Mitarbeit. Zurückhaltende Neutralität ist hier ebenso schädlich wie eine Bekämpfung der nationalsozialistischen Idee. Gleichgültigkeit bei der Erziehung zum vaterlandsbewußten Volksgenossen bedeutet daher eine Pflichtverletzung der Eltern und gefährdet das Erziehungsziel des Kindes, auch wenn dies im Einzelfall noch nicht sogleich sichtbar in die Erscheinung tritt. Es genügt daher nicht, daß die Eltern im vorliegenden Fall der Erziehung der Schule künftig nicht entgegentreten, sie sollen aktiv an der Gesamterziehung mitarbeiten. Die Verantwortung der Eltern für die Erziehung beginnt daher auch nicht erst dort, wo ihre Verletzung unter Strafe gestellt ist. Die Gefährdung des Kindes tritt offen zutage, wenn die Eltern sich bewußt in Gegensatz zu der Erziehungsarbeit der Gemeinschaft stellen. Dies war hier der Fall. Wer aus religiösem Irrglauben beharrlich den Deutschen Gruß verweigert, wer sich ohne Grund von dem großen sozialen Aufbauwerk der NSV ausschließt und seine Kinder absichtlich der HJ vorenthält und allen Belehrungen unzugänglich ist, von dem kann nicht mehr gesagt werden, daß er der Bewegung nur , nicht sympathisch'gegenüberstehe und sie nicht fördere. Er bekämpft sie durch seinen Widerstand und ist ihr Gegner. Dies zeigt seine Gesinnung und innere Einstellung.

Der Vormundschaftsrichter hätte daher das Sorgerecht mit der einfachen Erwägung entziehen müssen, daß Eltern, die sich offen zu den Ideen der Bibelforscher’ bekennen, zur Erziehung ihrer Kinder im nationalsozialistischen Sinne nicht geeignet sind."

Ein Richterbrief, der in eindeutiger Weise aufzeigt, daß es nach nationalsozialistischer Rechtsauffassung eine vom Staat unbeeinflußte Privatsphäre nicht mehr geben sollte. In § 1631 Abs. I BGB heißt es: „Die Sorge für die Person des Kindes umfaßt das Recht und die Pflicht, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen." Das Sorge-recht für ein Kind steht grundsätzlich den Eltern zu. Zwar waren durch das Gesetz über die Hitler-Jugend vom 1. Dezember 1936 Schule und Hitler-Jugend gleichgeordnet mit den Eltern zum „Träger" der Erziehung gemacht.

Der Grundsatz des § 1631 BGB bestand jedoch weiter. Dementsprechend hatte das Vormundschaftsgericht in seinem Beschluß auch erklärt, wenn die Eltern von sich aus eine Erziehung im nationalsozialistischen Sinne aus religiöser Überzeugung nicht vornehmen wollten, so müsse doch von ihnen verlangt werden, daß sie der nationalsozialistischen Erziehung durch die Schule nicht entgegenwirkten — ein nach § 1631 Abs. I BGB und dem Gesetz über die Hitler-Jugend durchaus gesetzestreuer Rechts-standpunkt. Aber korrekte Gesetzesanwendung war im Dritten Reich nicht ausreichend. Die Regierung wünschte eine vom nationalsozialistischen Gedankengut getragene Entscheidung. Daher in der Stellungnahme des Reichsministers der Justiz die Richtlinie: „Der Vormundschaftsrichter hätte das Sorgerecht mit der einfachen Erwägung entziehen müssen, daß Eltern, die sich offen zu den Ideen der . Bibelforscher'bekennen, zur Erziehung ihrer Kinder im nationalsozialistischen Sinne nicht geeignet sind." Mit anderen Worten: Eltern, die weltanschaulich dem Nationalsozialismus fern standen, verwirkten ihre elterlichen Rechte.

Reichsgerichtsentscheid bejaht Erziehungsaufgabe der Hitlerjugend

Nun enthielt allerdings dieser Richterbrief in seiner Stellungnahme durch den Reichsminister der Justiz insofern nichts Neues, als bereits das Reichsgericht, Deutschlands höchstes Gericht, in einer Entscheidung vom 18. Januar 1934 also ein knappes Jahr nach der soge-nannten Machtübernahme, ausführlich erklärt hatte, dem nationalsozialistischen Staat obliege die Erziehung der Jugendlichen in vollem Umfang. In der Entscheidung heißt es: „Bis zur Übernahme der Staatsführung durch Adolf Hitler wurden die Jugendlichen im allgemeinen in der Familie erzogen und durch die Schule in den Wissensfächern belehrt. Der Staat griff damals in die Erziehung der Jugend nur in beschränktem Maße ein; er überließ sie in weitem Umfange dem Elternhaus, den Pflegeeltern und Vormündern, der Kirche, den Lehrherren und anderen Einzelpersonen . .. Im Gegensatz zu dem früheren Zustand erfaßt der nationalsozialistische Staat entsprechend dem Ganzheitsgrundsatz der nationalsozialistischen Weltanschauung die Erziehung der Jugendlichen von einem gewissen Alter ab in vollem Umfange. Nach dem Willen des Staates tritt die Hitlerjugend als zumindest gleichwertige Erziehungseinrichtung neben die Eltern, die Lehrer und die sonstigen Erzieher. Durch die Führer der Hitlerjugend soll die gesamte Lebensführung der deutschen Jugendlichen im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung beeinflußt und die Jugend im Geiste des neuen Staates erzogen werden; daneben ist eine der Hauptaufgaben der Hitlerjugend, in weitestem Umfange die körperliche und sittliche Ertüchtigung und die Charakterbildung des heranwachsenden Geschlechts zu fördern.

Zugleich haben die Führer der Hitlerjugend eine Lehrtätigkeit auszuüben, die sich neben Körperkultur, Staatsbürgerkunde und anderen Gebieten vor allem darauf erstreckt, das gesamte, der Jugend durch die Schule vermittelte Wissen mit den Gedanken des neuen Staates in Einklang zu bringen . ..

Staat und nationalsozialistische Bewegung hängen seit der Machtübernahme durch den Führer der Bewegung auf das engste zusammen; mit ihrer Tätigkeit als Erzieher und Lehrer erfüllen die Führer der Hitlerjugend daher staatliche Aufgaben, die sie aus der Staatsgewalt herleiten und die der Verwirklichung staatlicher Zwecke dienen ...

Die Führer der Hitlerjugend sind somit nach ihrem Aufgabenkreise und nach ihrer Betätigung als Erzieher, Lehrer und zugleich als Beamte im strafrechtlichen Sinne, das heißt im Sinne der §§ 174 Abs. I Nr. 1 und 2, 359 StGB anzusehen, falls im Einzelfalle die oben dargelegten Voraussetzungen auf sie Anwendung finden. Das ergibt sich aus den Grundgedanken, die Adolf Hitler in seinem Buch . Mein Kampf niedergelegt hat, ferner auch aus zahlreichen richtunggebenden Erklärungen der Führer der Bewegung in Wort und Schrift, deren Inhalt Gemeingut des deutschen Volkes geworden ist, und wird bestätigt durch das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933 (RGBl. I, S. 1016), dessen Grundgedanken für die Angehörigen der nationalsozialistischen Bewegung auch schon vor dem Erlaß dieses Gesetzes, insbesondere zur Zeit der hier zu beurteilenden Straftaten, maßgebend gewesen sind.“

Bei dieser Entscheidung muß allerdings zugunsten des Reichsgerichts eines berücksichtigt werden: Der Angeklagte war Bannführer der Hitlerjugend und hatte mit sechs minderjährigen Knaben unzüchtige Handlungen vorgenommen. Gemäß § 174 Abs. I, Nr. 1 Strafgesetzbuch wird mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter 6 Monaten bestraft, „wer einen seiner Erziehung, Ausbildung, Aufsicht oder Betreuung anvertrauten Menschen unter einundzwanzig Jahren" zur Unzucht mißbraucht. Der Bannführer der Hitlerjugend und überhaupt jeder Führer einer nationalsozialistischen Gruppe konnte also nur gemäß § 174 Strafgesetzbuch bestraft werden, wenn ihm eine Erziehungs-, Ausbildungs-oder Betreuungsaufgabe oblag. Hätte das Reichsgericht es abgelehnt, die Erziehungsaufgabe der Nationalsozialisten zu bejahen, so wäre jeder Führer einer nationalsozialistischen Gruppe, der sich an ihm unterstellten Minderjährigen verging, straffrei ausgegangen. Insofern war es vom Reichsgericht durchaus überlegt, die Erziehungsaufgabe der Hitlerjugend zu bejahen. Man fragt sich allerdings, ob es das Reichsgericht nötig hatte, mit einer solchen Intensität die Erziehungsaufgaben der Nationalsozialisten in der Vordergrund zu stellen, wie es in der Entscheidung (Band 68, S. 20) geschah. Man sollte meinen, ein Gericht mit der Tradition des Reichsgerichts hätte eine rechtlich haltbare Entscheidung fällen können, ohne auszusprechen: . Durch die Führer der Hitlerjugend soll die gesamte Lebensführung der deutschen Jugendlichen im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung beeinflußt und die Jugend im Geiste des neuen Staates erzogen werden.. Es ist für die deutsche Justiz kein Ruhmesblatt, daß eine Entscheidung wie die des Reichsgerichts vom 18. Januar 1934 der Stellungnahme des Reichsministers der Justiz im Richterbrief Nr. 14 sachlich zuvorkam und in der Tendenz einer nationalsozialistischen Justizpolitik nicht im mindesten nachstand.

„Völkische Treuepflicht" vor ehelicher Treuepflicht. Richterbrief heißt Denunziation eines Ehegatten gut.

Der nationalsozialistische Staat maßte sich das Recht an, die Jugendlichen ausschließlich in seinem Sinne zu erziehen. Der Machtanspruch des Staates erstreckte sich aber darüber hinaus auf das gesamte Familienleben. Die sogenannten „völkischen Belange" sollten den Vorrang haben vor jeglicher familiärer Bindung. Die Rechtsprechung in diesem Sinne zu beeinflussen, beabsichtigte der Richterbrief Nr. 45. Bereits ein Ausschnitt dieses Richterbriefes kennzeichnet die Stellungnahme des Staates zur Frage des persönlichen Zusammenlebens von Eheleuten. „ 45. Anzeige eines Ehegatten gegen den anderen bei Behörden und Parteidienststellen als Scheidungsgrund 1. Ein 46jähriger Gewerbeschullehrer, 70 Prozent kriegsbeschädigt aus dem ersten Weltkrieg, lebte mit seiner 34jährigen Frau, die er 1926 geheiratet und von der er zwei Jungen im Alter von 9 und 11 Jahren hatte, seit Jahren in zerrütteter Ehe. Das ich an diesem Zustand einen großen Teil Schuld habe'— erklärte er selber später — , gebe ich zu.'Er warf seiner Ehefrau vor, daß sie für seine Krankheit nicht das nötige Verständnis aufbringe. Die Frau machte ihm zum Vorwurf, daß er sie in unerträglicher Weise quäle, ihr kein ausreichendes Wirtschaftsgeld gebe, keine Kleidung für die Kinder besorge und sogar früher aus Geiz an sie das Ansinnen gestellt habe, ihr zweites Kind abzutreiben. Mehrfache Versuche, die Eheleute durch Vermittlung des Pfarrers wieder zusammenzuführen, waren vergeblich. Der Mann entwickelte sich insbesondere nach der Geburt des zweiten Kindes und der danach einsetzenden fortschreitenden Entfremdung der Eheleute immer mehr zum Sonderling, Einzelgänger und Geizhals. Nach außen hin war er friedlich und zuvorkommend, in der Familie galt er als Haustyrann. Politisch steht er der Bewegung ablehnend gegenüber. Die Frau gilt als robust, lebensbejahend, zum Teil gegenüber den durch die Kriegsverletzung des Mannes bedingten Absonderlichkeiten rücksichtslos. Politisch ist sie aktiv und positiv zur Bewegung eingestellt.

Im Mai 1940 wandte sich die Frau mit einem Schreiben an den Stellvertreter des Führers und bat unter Schilderung ihrer Verhältnisse um Rat. Ich bin 34 Jahre'— so heißt es darin — . habe noch den großen Wunsch, mehr Kinder zu bekommen. Daß dies in dieser Ehe nicht sein durfte, war mir schon lunge klar. Darunter litt ich schon viele Jahre . . .', Steht es in Ihrer Macht, mir zu helfen? Wenn ich aus diesen drückenden Verhältnissen herauskomme, wäre mir und den Kindern der Lebensmut um vieles gehoben.'

Mitten in diesem Schreiben findet sich der Satz: . Mein Mann ist Beamter, er sollte am besten wissen, wie man sich, zumal als Pädagoge, im heutigen Staat zu verhalten hat. Er unterläßt es nicht, systematisch die Nachrichten fremder Sender abzuhören . ..'

Diese Angaben führten zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Mann wegen Rundfunkverbrechens. Auf Grund seines nach anfänglichem Leugnen abgelegten Geständnisses wurde er im Juli 1940 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, was den Verlust seiner Stellung nach sich zog. In dem Urteil des Sondergerichts wurde festgestellt, daß er seit Kriegsbeginn bis April/Mai 1940 fortgesetzt in Gegenwart seiner Frau und seiner Kinder Auslandsender eines neutralen Staates abgehört hatte. Das Gericht nahm einen leichteren Fall an, hielt ihm dabei u. a.seine Kriegsbeschädigung strafmildernd zugute und ging davon aus, daß er die Tat nicht aus staatsfeindlicher Gesinnung begangen habe.

Im Anschluß daran erhob die Frau die Ehescheidungsklage, die sie u. a. auf diese strafgerichtliche Verurteilung des Mannes stützte. Der Mann erhob Widerklage und stützte diese vor allem auf die Strafanzeige seiner Frau. Die Ehe wurde auf die Klage und Widerklage geschieden. Beide Eheleute wurden für schuldig erklärt. Als Scheidungsgrund der Frau wurde die Verurteilung des Mannes anerkannt. Der Widerklage wurde u. a. mit folgender Begründung stattgegeben:

„Die Frau hat dadurch, daß sie den Mann an parteiamtlicher Stelle denunzierte, in hohem Grade ehewidrig gehandelt, denn sie hat ihn bewußt und in voller Absicht in das allerdings von ihm verschuldete Unglück gebracht . .

Sie hat es sich sicher reiflich überlegt, als sie den folgenschweren Schritt tat. Es war ihr der willkommene Anlaß, aus der schon lange lästig gewordenen Ehe herauszukommen . . .'„Ihr Verhalten muß als schwere Verletzung des Treuegedankens und Verneinung wahrer ehelicher Gesinnung angesehen werden. Auch sie hat an der Ehezerrüttung schuldhaften Anteil. Daß es für den Mann eine Unmöglichkeit ist, angesichts dieser Einstellung der Frau die Lebensgemeinschaft mit ihr fortzusetzen, bedarf keiner Darlegung.'

Die Kinder blieben nach der Scheidung zunächst bei der Mutter, die zu ihrem Vater übersiedelte. Auf Anregung eines Bruders des Vaters übertrug das Vormundschaftsgericht später das Sorgerecht für die Kinder einem Pfleger, der die Kinder nach der Entlassung des Vaters aus der Strafhaft bei einer Witwe in ihrer Heimatstadt unterbrachte.

Mehrere Versuche der Mutter, die Umschulung der Kinder zu verhindern, den Pfleger abzusetzen und das Sorgerecht ihr zu übertragen, waren vergeblich. Ihre mehrfachen Beschwerden und weiteren Beschwerden wurden vom Landgericht und Oberlandesgericht zurückgewiesen.

Der Vormundschaftsrichter erklärte auf den Antrag der Mutter, den Pfleger seines Amtes zu entheben:

, Die Mutter ist zur des Ausübung Sorgerechts über die charakterlich völlig -Kinder ungeeig net. Denn sie hat es fertig gebracht, ihren Mann zu denunzieren und dadurch nicht nur diesen um seine Stellung gebracht, sondern auch das Fortkommen und Wohl der Kinder erheblich gefährdet. Es dient nicht dem Wohl der Kinder, wenn diese bei der Mutter bleiben und mit zunehmendem Alter eines Tages nachforschen und erfahren werden, wer den Vater angezeigt und ins Gefängnis gebracht hat. Einer so starken seelischen Belastung dürfen die Kinder nicht ausgesetzt werden.'

Die Beschwerde der Mutter gegen die Ablehnung der Rückübertragung des Sorgerechts lehnte das Landgericht u. a. mit folgender Begründung ab, Wenn die Beschwerdeführerin es fertig gebracht hat, ihren Mann, den Vater ihrer Kinder, zu denunzieren, ins Gefängnis und um Amt und Stellung zu bringen, wobei natürlich auch die Interessen der Kinder schwer mit-getroffen wurden, so war erst recht zu erwarten, daß sie, wenn ihr das Sorgerecht gegeben würde, alles tun würde, die Kinder dem Vater völlig zu entfremden. Unter diesen Umständen war es durchaus gerechtfertigt und dem Wohl der Kinder dienlich, das Sorge-recht einem Pfleger zu übertragen.'

Das Oberlandesgericht hielt sich auf die weitere Beschwerde der Mutter zu einer Über-prüfung der früher getroffenen Sorgerechtsregelung nicht für befugt, weil damals kein Rechtsmittel eingelegt worden war. Eine Neuregelung des Sorgerechts könne nur dann eintreten (§ 81 Abs. 5 EheG.), wenn für die Kinder andernfalls erhebliche Nachteile entstehen würden. Dafür komme es jedoch nicht darauf an, ob der gegenwärtige Pfleger unter Umständen unrichtige Maßnahmen ergriffen habe, die dann der Vormundschaftsrichter im Einzelfall durch entsprechende Weisungen berichtigen müsse, sondern ob die Anordnung der Pflegschaft als solche Nachteile für die Kinder in sich berge. Das sei jedoch nicht festgestellt, zumal auch — wie es weiter heißt — die Auffassung der Vorinstanzen, daß beide Eltern zur Ausübung der Sorge ungeeignet seien, rechtlich bedenkenfrei sei."

Soweit die Gerichtsentscheidungen, die sich nach einhelliger Rechtsprechung auf den Standpunkt stellen, daß die eheliche Pflicht zur Treue durch die Denunziation eines Ehepartners bei einer Behörde gröblich verletzt worden war. Der familiären Bindung wurde der eingeräumt vor der staatsbürgerlichen Vorrang Pflicht, Straftaten zur Anzeige zu bringen. Eine Einstellung, die sich der Gesetzgeber zum Beispiel im Strafprozeß selbst zu eigen gemacht hat, wenn er in § 52 Strafprozeßordnung dem Ehegatten ein Zeugnisverweigerungsrecht zugesteht. Die Nationalsozialisten waren jedoch anderer Ansicht. In der Stellungnahme des Reichsministers der Justiz heißt es:.......... Andererseits gibt es jedoch auch Fälle, in denen die Gemeinschaft im Interesse aller Volks-genossen auch bei Beachtung des grundsätzlichen Wertes der ehelichen Treuepflicht nicht auf die Erfüllung der völkischen Treuepflicht verzichten kann und sogar verlangen muß, daß ein Ehegatte eine Strafanzeige erstattet ..." Und auf den konkreten Fall der im Richter-brief Nr. 45 zitierten Gerichtsentscheidungen angewandt, wird in der Stellungnahme des Reichsministers der Justiz ausgeführt: „Wenn das Gericht in diesem Falle die Ehe aus beiderseitigem Verschulden nur deshalb geschieden hat, weil der Mann Auslandsender hörte und seine Frau dies anzeigte, so hat es sich die Ehescheidung zu leicht gemacht. Der Mann hatte allerdings durch seine Tat die Ehe schuldhaft zerstört. Die Frau durfte jedoch nicht allein wegen ihrer Anzeige ohne weiteres für mitschuldig erklärt werden. Bei der Würdigung ihres Verhaltens hätte zunächst eingehend die allgemeine Entwicklung der ehelichen Verhältnisse näher aufgeklärt und geprüft werden müssen. War es zutreffend, daß der Mann, der selbst zugegeben hatte, an der Zerrüttung seiner Ehe einen großen Teil Schuld zu haben, sich, wie seine Frau behauptete, zum Sonderling und Haustyrann entwikkelt hatte, daß er ihr kein Wirtschaftsgeld gab, keine Kleidung für die Kinder besorgte, von seiner Frau sogar früher verlangt hatte, das zweite Kind abzutreiben, und ihr gegenüber auch in seiner politischen Einstellung keinerlei Rücksicht genommen hatte, so erschien der Schritt der Frau, der dann schließlich nur die Folge des Verhaltens des Mannes war, doch in anderem Licht. In diesem Falle konnte er von seiner Frau kein besonderes Maß ehelicher Treue mehr verlangen, die er selbst zerstört hatte. Abgesehen davon hätte das Gericht aber auch dem Motiv und der Gesinnung der Frau, aus denen sie zur Anzeige schritt, größere Aufmerksamkeit schenken sollen. Dabei durfte auch nicht übersehen werden, daß sie sich nicht mit einer echten Strafanzeige an die dafür zuständige Behörde gewendet hatte, um ihren Mann durch die Einleitung eines Strafverfahrens ins Unglück zu stürzen, sondern daß sie mit ihrem Schreiben in erster Linie bei der höchsten Parteidienststelle Rat und Hilfe suchte. Ihre Angaben über das Abhören der Auslandsender sind dann auch keineswegs in den Vordergrund gestellt, sondern finden sich erst mitten in dem Schreiben. Die Frau suchte daher in erster Linie Rat in der Frage, wie sie aus der durch die Schuld des Mannes zerrütteten Ehe herauskommen könne, um als junge Frau von 34 Jahren noch in einer anderen Ehe Kinder zu bekommen, die sie in ihrer jetzigen Ehe nicht mehr haben konnte. Hätte das Gericht diese ganzen Umstände eingehender gewürdigt und den Beweggründen der Frau mehr Beachtung geschenkt, und hätte es ihr Verhalten auch nicht, losgelöst von dem allgemeinen Verlauf der Ehe, betrachtet, sondern gewissenhaft zwischen Ursache und Wirkung unterschieden, so wäre es vermutlich zu einer anderen Bewertung des Verhaltens der Frau gekommen.

Welch weittragende Bedeutung aber diese voreilige Mitschuldfeststellung der Frau hatte, zeigt das anschließende Verfahren über die Regelung des Sorgerechts für die gemeinsamen Kinder. Durch dieses Verfahren zieht sich die gegen die Frau in der Ehescheidungssache getroffene Schuldfeststellung gleichsam wie ein roter Faden. Der Vormundschaftsrichter sah nur eine Denunzierung und erblickte in diesem Verhalten der Frau eine dauernde Gefährdung des Wohls der Kinder, wenn diese insbesondere mit zunehmendem Alter erfahren, wer den Vater angezeigt und ins Gefängnis gebracht hat. Das Landgericht, das dieser Begründung nicht entgegentrat, schließt daraus sogar, daß die Mutter vermutlich auch sonst alles tun würde, um die Kinder dem Vater völlig zu entfremden.

Diese Begründungen werden den wirklichen Lebensverhältnissen nicht gerecht.

Wie so oft bei Entscheidungen über das Sorge-recht an Kindern aus geschiedenen Ehen läßt sich auch hier zunächst der Eindruck nicht unterdrücken, daß die Entscheidung, die nach dem Gesetz ausschließlich nach dem Wohl der Kinder erfolgen soll, zu sehr von dem gegenseitigen Verhältnis der geschiedenen Ehegatten beeinflußt war. Hätten sich die Richter zunächst einmal unabhängig von diesem gegenseitigen Verhältnis der Eheleute die Frage vorgelegt, wer von beiden für die Erziehung der Kinder besser geeignet ist, und hätten sie erst dann die weitere Frage entschieden, ob die Mitschuldfeststellung der Frau an diesem Ergebnis etwas ändert, so wären sie wahrscheinlich gleich zu einer besseren und richtigeren Entscheidung gelangt. Gegenüber der Begründung, daß das Wohl der Kinder bei der Mutter deshalb nicht gewährleistet sei, weil die Kinder unter Umständen später starken seelischen Belastungen ausgesetzt seien, wenn sie erfahren, wer den Vater ins Gefängnis gebracht hat, drängt sich geradezu die Frage auf, ob denn die Mutter oder der Vater die Straftat begangen hatte. Der Vater hatte durch das Abhören der Auslandsender, auch wenn dies nach der Feststellung des Strafurteils nicht aus staatsfeindlicher Gesinnung geschah, doch deutlich genug bewiesen, daß er bei seiner auch sonst ablehnenden politischen Haltung zur Erziehung der Kinder völlig ungeeignet war. Der Schaden, den die Kinder genommen hätten, wenn sie noch weiter dem ungünstigen Einfluß ihres Vaters aus-gesetzt wären, der sie der Volksgemeinschaft vielleicht gänzlich entfremdet hätte, war jedenfalls ungleich viel größer als der Schaden, den die Richter — im übrigen auch zu Unrecht — durch eine spätere Aufklärung über das Verhalten ihrer Mutter befürchteten. Für die Kinder — und darauf kam es bei der Entscheidung allein an — war es jedenfalls besser, wenn sie möglichst bald dem Einfluß des Vaters entzogen wurden.

Im übrigen war es auch verfehlt, die Mutter als . Denunziantin'hinzustellen. Denunziant ist nach dem richtigen Sprachgebrauch nur derjenige, der eine falsche Anzeige, sei es wider besseres Wissen, sei es wenigstens fahrlässig oder leichtfertig, erhebt. Wenn mitunter entgegen diesem Sprachgebrauch auch derjenige als Denunziant bezeichnet wird, der eine begründete Anzeige erstattet, die von ihm erwartet wird oder zu der er sogar verpflichtet ist oder wenigstens zu sein glaubt, so ist es nicht angebracht, daß die Gerichte diesen falschen Sprachgebrauch unterstützen oder gar übernehmen. Sie haben vielmehr die Aufgabe, den wirklichen Denunzianten, dessen Handlung stets ehrenrührig ist, von dem anständigen Volksgenossen, der eine Anzeige erstattet, deutlich zu unterscheiden.

Bei dieser Sachlage konnte der Mutter, die sich sonst nichts hatte zuschulden kommen lassen, die Erziehungsfähigkeit der Kinder nicht ohne weiteres abgesprochen werden. Für die Übertragung des Sorgerechts auf einen Pfleger, die nach dem Gesetz nur ganz ausnahmsweise erfolgen soll (§ 81 Abs. 4 EheG.), bestand danach jedenfalls keine Veranlassung. Das Oberlandesgericht, das die weitere Beschwerde der Mutter gegen die Ablehnung der Rückübertragung des Sorgerechts zurückwies, weil etwa unrichtige Maßnahmen des Pflegers nur durch entsprechende Weisungen des Vormundschaftsrichters berichtigt werden können, hätte darüber hinaus prüfen sollen, ob sich die Beschwerde der Mutter nicht auch allgemein auf die Einsetzung eines Pflegers bezog. In diesem Falle hätte es dazu beitragen können, der Mutter am Ende doch zu ihrem Recht zu verhelfen."

Der Mutter, die ihren Ehemann denunziert hatte, hätte „zum Recht" verhülfen werden können! Zu einem Recht, das ihr nicht auf Grund des Gesetzes zustand, sondern lediglich auf Grund einer nationalsozialistischen Zweckmäßigkeitsbetrachtung: Sie hatte als Denunziantin ihres Ehemannes die Belange des nationalsozialistischen Staatswesens in den Vordergrund gestellt. Allein diese Tatsache sollte ausreichen, um ihr ein Erziehungsrecht über ihre Kinder zuzusprechen. Daß die Ehefrau im Zweifel den Ehemann denunziert hatte, um aus der ihr unbequemen Ehe auszubrechen, interessierte die Nationalsozialisten wenig. Die Dokumentierung eines „echten Volksbewußtseins" nach außen galt bei den Nationalsozialisten mehr als jede innere Haltung.

Im Zweifelsfall nicht ,, vollarisch“. Reichsjustizminister gegen mitleidige Richter

Daß die Richterbriefe sich vor allem mit der Rechtsprechung in Fragen jüdischer Rechtsangelegenheiten befaßten, war nach Zustande-kommen der ausgedehnten Ausnahme-Gesetzgebung für Juden fast selbstverständlich. Dabei standen nicht einmal die Urteile im Vordergrund, die sich mit der großen Anzahl der Verordnungen zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 oder mit dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre befaßten. Viel entscheidender als die Urteile in der Strafrechtspflege waren oft die Zivilurteile, zum Beispiel die Abstammungsfeststellungen bei Juden und vor allem bei den sogenannten Mischlingen. Ein unehe-liches Kind konnte auf Feststellung seiner blutsmäßigen Abstammung klagen. Wenn in Frage stand, ob der Vater des Kindes Jude oder Arier war, entschied sich im angestrengten Zivilprozeß, ob das Kind jüdischer Abstammung war und damit, ob es zur Verfolgung und zum Tode verurteilt war oder nicht. Mit der Frage derartiger Feststellungsklagen beschäftigt sich der Richterbrief Nr. 19. „ 19. Abstammungsfeststellung bei Juden und jüdischen Mischlingen Urteile mehrerer Gerichte aus den Jahren 1941 und 1942 1. Im Jahre 1926 wurde ein uneheliches Kind geboren. Als Vater wurde durch Urteil vom Jahre 1927 ein Jude festgestellt und zur Unter-haltszahlung verurteilt. Nach dem Tode des Juden trat die Mutter des Kindes im Jahre 1936 mit der Behauptung hervor, daß das Kind nicht von dem Juden, sondern von einem Studenten aus Südtirol stamme, mit dem sie damals in der Empfängniszeit ebenfalls verkehrt und von dem sie seitdem nichts mehr gehört habe. Diese Behauptungen bestätigte sie in dem nachfolgenden Rechtsstreit auf Feststellung der blutmäßigen Abstammung eidlich als Zeugin.

Das Amtsgericht holte, ohne weitere Ermittlungen nach dem angeblichen Erzeuger des Kindes anzustellen, ein erbbiologisches Gutachten ein, welches zu dem Ergebnis kam, daß bei dem Kinde typische jüdische Rassenmerkmale fehlten und nichts dafür spreche, daß der Jude — von dem lediglich 2 Lichtbilder vorlagen — der Erzeuger gewesen sei. Daraufhin stellte der Richter im Urteil fest, daß der Jude nicht als Erzeuger anzusehen sei. Das Urteil wurde rechtskräftig, weil der . Kurator zur Verteidigung der blutmäßigen Abstammung', gegen den nach dem anzuwendenden ehemals österreichischen Recht die Klage zu richten war, kein Rechtsmittel einlegte. 2. Ein Mann erhob im Jahre 1941 gegen einen Juden, der im Jahre 1911 als sein Erzeuger zur Unterhaltszahlung verurteilt war und den Unterhalt auch ohne Anerkennung der Vaterschaft 16 Jahre gezahlt hatte, Klage auf Feststellung, daß er nicht von dem Juden abstamme. Er behauptete, seine Mutter habe mit dem Juden überhaupt niemals Geschlechtsverkehr gehabt. Die Mutter bestätigte diese Behauptung mit ihrem Eid und gab an, daß sie zu der Zeit, als sie den Juden damals kennenlernte, bereits von einem anderen, ihr unbekannten Mann schwanger gewesen sei. Der Jude beteiligte sich nicht an dem Verfahren und erklärte lediglich in einem Schreiben an das Gericht, er habe sich seinerzeit zur Unterhaltszahlung nur deshalb verpflichtet, um keine Unannehmlichkeiten mit der Familie zu haben. Das erbbiologische Gutachten stellte weitgehende Ähnlichkeiten zwischen dem Kläger und dem Juden fest und kam zu dem Ergebnis, daß der Kläger blutmäßig von ihm abstammen könne und daß diese Abstammung sogar sehr wahrscheinlich sei. Bei dieser Stellungnahme blieb der Sachverständige auch nach Vorhalt der entgegenstehenden eidlichen Aussage der Mutter des Klägers und faßte sein Gutachten sogar noch bestimmter dahin zusammen, daß die übereinstimmenden Merkmale zwischen dem Kläger und dem Juden so zahlreich seien, daß sie nicht mehr als zufällig angesehen werden könnten. Der Kläger stamme danach von dem Juden ab.

Das Landgericht gab dennoch der Klage statt und stellte fest, daß der Kläger nicht von dem Juden abstamme. Es stützte seine Entscheidung trotz des entgegenstehenden Gutachtens auf das , Verhalten des Beklagten im Rechtsstreit und die eidlich glaubwürdige Aussage der Mutter des Klägers.'

Das Urteil wurde rechtskräftig, später aber im Wiederaufnahmeverfahren nach § 2 des Gesetzes vom 15. Juli 1941 vom Reichsgericht aufgehoben. Das Reichsgericht verwies in seiner Entscheidung auf den geringen Beweiswert der Angaben des Juden und der Aussage der Mutter des Klägers und führte aus, daß bei Widersprüchen zwischen dem Ergebnis des Gutachtens und den Zeugenaussagen in derartigen Fällen regelmäßig nicht das wissenschaftliche Gutachten durch die Zeugenaussagen, sondern diese durch das Gutachten entkräftet werden. 3. Die Ehefrau eines Studienrats war im Jahre 1895 als eheliche Tochter ihrer Mutter und eines Juden geboren.

Im Jahre 1941 klagte sie auf Feststellung, daß sie nicht von dem jüdischen Ehemann ihrer Mutter abstamme. Bei ihr seien nicht die geringsten äußeren Merkmale einer jüdischen Abstammung vorhanden. Sie stamme von einem deutschblütigen Mann ab, über den sie allerdings keine näheren Angaben mehr machen könne. Ihre Mutter und der jüdische Ehemann sind verstorben.

Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß die Klägerin in ihrem Erscheinungsbild nicht aus dem Bereich der Merkmale einer mitteleuropäischen Bevölkerung herausfalle und keine Merkmale des das jüdische Volk kennzeichnenden vorderasiatisch-orientalischen Rassen-gemischs'zeige. Es sei daher möglich, daß ihr Erzeuger deutschen oder artverwandten Blutes gewesen sei. Das rassische Erscheinungsbild und der Vergleich mit Bildern des jüdischen Ehemannes der Mutter mache es eher wahrscheinlich, daß ein deutscher Mann als ein Jude der Vater sei. Zwei Zeugen erklärten, daß die Mutter der Klägerin früher sehr lebenslustig und temperamentvoll gewesen sei und häufig in Offizierskreisen verkehrt habe.

Das Landgericht stellte daraufhin auf Grund des . einwandfreien Gutachtens des Sachverständigen’ und nach dem persönlichen Ein-druck, den die Klägerin auf das Gericht gemacht habe und der keinen jüdischen Einschlag zeige, fest, daß die Klägerin nicht von dem jüdischen Ehemann ihrer Mutter, sondern von einem deutschblütigen Mann abstamme.

Auch dieses Urteil wurde rechtskräftig, weil der Kurator zur Verteidigung der blutmäßigen Abstammung kein Rechtsmittel einlegte."

Stellungnahme des Reichsministers der Justiz „Die rassische Reinerhaltung unseres Volkes gehört zu den Grundgesetzen unseres Staates. Die nationalsozialistische Rassengesetzgebung hat insbesondere eine strenge Trennung zwischen dem deutschen Blut und dem Blut des jüdischen Völkergemisches vorgenommen.

In Zukunft wird eine Verseuchung des deutschen Blutes durch das Judentum verhindert werden. Für die Nachprüfung der Abstammungsverhältnisse aus der Vergangenheit ist jedoch nicht minder große Vorsicht geboten.

Die Sorge um die Reinerhaltung des deutschen Blutes erfordert, daß Abstammungsklagen, mit denen Juden oder jüdische Mischlinge die Feststellung ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volk erreichen wollen, vom Gericht ganz besonders gewissenhaft behandelt werden. Das Interesse der Volksgemeinschaft an der Feststellung der wahren Abstammungsverhältnisse erfordert zwar, daß wirklich zu Unrecht als Juden oder Mischlinge geltende Volksgenossen bereitwillig in die Gemeinschaft ausgenommen werden. Es gebietet aber andererseits, den Eindringlingen, deren Deutschblütigkeit nicht völlig einwandfrei nachgewiesen ist, diese Aufnahme in die deutsche Volksgemeinschaft energisch zu verweigern. Feststellungsklagen — für die die Rechtsprechung in der richtigen Erkenntnis ihrer hohen Bedeutung für die Volksgemeinschaft ohne besondere gesetzliche Änderungen die Grundsätze des Amtsverfahrens (§§ 640 ff. ZPO.) beachtet — kann regelmäßig nur stattgegeben werden, wenn die behauptete deutschblütige Abstammung durch völlig zuverlässige und einwandfreie Beweismittel auch bei strengster und sorgfältigster Prüfung des Beweisergebnisses mit einer nach unseren heutigen Erkenntnissen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit als erwiesen angesehen werden kann. Zweifel in der Feststellbarkeit der deutschblütigen Abstammung müssen stets zu Lasten der Antragsteller gehen. Die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer deutschblütigen Abstammung reicht nicht aus, insbesondere wenn diese oft nur auf dem persönlichen Eindruck beruhen, der nur zu leicht täuschen kann. Das deutsche Volk muß auch schon vor der bloßen Möglichkeit des Eindringens jüdischen Blutes geschützt werden. Der Richter darf sich bei der Behandlung des Rechtsstreits und der Würdigung des Beweisergebnisses nicht vom Gefühl des Mitleids für den einzelnen beeinflussen lassen, der bei Abweisung seiner Klage weiter als Jude oder Mischling gilt, obwohl für seine deutschblütige Abstammung eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht.

Das Wohl des Volkes geht auch hier dem Wohl des einzelnen vor.

Andererseits ist es aber ebenso Pflicht des Richters, wirklich alles zu tun, um die wahre Abstammung aufzuklären. Dazu gehört, daß alle nur möglichen Erkenntnisquellen zur Feststellung des wahren Sachverhalts von Amts wegen ausgeschöpft werden und daß die im Gesetz vorgesehene Mitwirkung des Staatsanwalts, die dem Richter eine wertvolle Unterstützung bei seiner verantwortungsvollen Aufgabe sein kann, rechtzeitig ermöglicht wird. Die Herbeiführung dieser Mitwirkung des Staatsanwalts wird auch im Geltungsbereich des ehemals österreichischen Rechts besonders dann erforderlich sein, wenn sich — wie in den mitgeteilten Fällen — zeigt, daß die Kuratoren zur Verteidigung der blutmäßigen Abstammung ihre Aufgabe nicht mit der erforderlichen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit erfüllen. Daß die Aussagen der Zeugen, insbesondere der Mutter des Juden odei Mischlings, stets mit größter Vorsicht ausgenommen werden müssen, weil sich diese nur zu leicht von dem Bestreben leiten lassen, den ihnen nahestehenden Kläger von dem Nachteil der jüdischen Abstammung zu befreien, liegt auf der Hand. Daß demgegenüber der Beweiswert der auf einwandfreier wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Gutachten meist wesentlich höher zu werten ist, muß stets erneut hervorgehoben werden. (Vgl. auch AV vom 24. Mai 1941 Dt. Just. S. 629 und vom 15. Juli 1942 Dt. Just. S. 489.)

Diese Grundsätze sind in keinem der mitgeteilten Fälle richtig beachtet worden. In keinem der Fälle rechtfertigt das Beweisergebnis die getroffene Entscheidung, überall waren weitere Erhebungen erforderlich. Hätten auch diese die Lage nicht weiter geklärt, so hätten die Klagen abgewiesen werden müssen.

Im ersten Falle hat das Amtsgericht schon seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen. Zuständig war das Landgericht. Sodann hätten insbesondere Nachforschungen nach dem an-geblichen deutschblütigen Erzeuger angestellt werden müssen. Die Angaben der Mutter des Klägers über den Namen und den damaligen Aufenthalt des Studenten aus Südtirol an ihrem Wohnort hätten zunächst durch eine einfache Anfrage bei der polizeilichen Melde-behörde nachgeprüft werden können. Daraus hätten sich vielleicht nähere Anhaltspunkte ergeben. Eine völlige Ergebnislosigkeit dieser Nachfrage hätte die Zuverlässigkeit der Zeugenaussage unter Umständen erheblich beeinträchtigen können. Die Glaubwürdigkeit der Zeugin hätte ferner auch durch eine nähere Erforschung der Zeit, Art, Umstände und Dauer des Geschlechtsverkehrs mit jenem angeblicken Studenten geprüft werden müssen.

Im zweiten Falle tritt das Mißverhältnis zwischen dem Richterspruch und dem Beweis-ergebnis besonders deutlich hervor. Gegenüber dem Gutachten, das die jüdische Abstammung ausdrücklich feststellt, konnte der Zeugenaussage der Mutter keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Dem Verhalten de's Juden, dem es nur recht sein konnte, daß sein Blut unerkannt in die deutsche Volksgemeinschaft eindrang, durfte keinerlei Bedeutung beigemessen werden.

Die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer deutschblütigen Abstammung im dritten Falle, die nur durch ganz allgemein gehaltene Zeugenaussagen unterstützt wurden, reichten zu der Feststellung des Urteils überhaupt nicht aus."

Die Stellungnahme des Reichsministers der Justiz zeigt, wie weit man in der Furcht ging, es könne auch nur ein Tropfen jüdischen Blutes die wertvolle „deutsche Blutsgemeinschaft" verseuchen. Schon vor der Möglichkeit des Eindringens jüdischen Blutes sollte das deutsche Volk geschützt werden. Deshalb wird der Grundsatz aufgestellt, daß jeder Zweifel in der Feststellbarkeit der deutschblütigen Abstammung zu Lasten des Antragstellers gehen müsse. In der bisherigen Rechtsprechung bei Abstammungsklagen hatte die bloße Möglichkeit, daß der Erzeuger „fremdrassig" sein konnte, zur Feststellung nicht „vollarischer" Abstammung keineswegs ausgereicht. So heißt es in einem Urteil vom 3. Mai 1939

„Wegen der Tragweite der Entscheidung über die Einholung erbbiologischer Gutachten in Fallen der vorliegenden Art mag darauf hingewiesen werden, daß das Gericht das Gut-achten eingezogen hat, um sich von sachverständiger Seite über die überhaupt erzielbaren Ergebnisse rassen-und erbbiologischer Untersuchungen in bezug auf die Feststellbarkeit fremdrassiger Blutsbeimischungen bei unehelich erzeugten Personen, deren väterlicher Erzeuger nicht feststeht, zu verschaffen. Nur aus praktischen, reinen Zweckmäßigkeitserwägungen heraus hat das Gericht in dem vorliegenden Falle den Gutachter gleichzeitig beauftragt, eine rassen-und erbbiologische Untersuchung der Zeugin selbst vorzunehmen. Es erscheint deshalb angebracht, die grundsätzliche Einstellung des Gerichts wie folgt festzuhalten:

Nach dem Gutachten des Sachverständigen steht fest, daß die Möglichkeit des Besitzes fremdrassigen Blutes für unehelich erzeugte Personen mit deutschblütiger Mutter, aber unbekanntem Erzeuger durch eine rassen-und erbbiologische Untersuchung niemals ausgeschlossen werden kann. Durch ein solches rassen-und erbbiologisches Gutachten kann nur mit mehr oder weniger starker Wahrscheinlichkeit der Verdacht eines fremdrassigen Einschlages bejaht oder verneint werden.

Das Gericht ist nun der Meinung, daß zwischen dieser allgemeinen, nicht ausschließbaren Möglichkeit des Besitzers fremdrassiger Blutsbeimischung und einem Verdacht solcher Beimischung streng zu unterscheiden ist. Eine Gleichsetzung zwischen objektiv nicht aus-schließbarer Möglichkeit einerseits und Verdacht andererseits würde das als vollkommen unerträglich zu bezeichnende Ergebnis haben, daß der nicht unerhebliche Prozentsatz deutscher Volksgenossen unehelicher Geburt mit rein deutschblütiger Mutter, aber unbekanntem Vater als mischblutverdächtig bezeichnet werden müßte. Davon kann schon in Anbetracht des verhältnismäßig sehr geringen Prozentsatzes fremdrassiger, insbesondere jüdischer Menschen im Großdeutschen Reich schlechterdings nicht die Rede sein. Von jedem unehelich geborenen deutschen Volksgenossen kann deshalb grundsätzlich ohne Bedenken angenommen werden, daß er von einem deutschblütigen Vater erzeugt ist. Nach dem Erlaß des RMdJ vom 8. Dezember 1933 (I 6071/22, 10) ist deshalb auch jedes uneheliche Kind einer arischen Mutter, dessen Erzeuger unbekannt ist, als arisch anzusehen, wenn nicht besondere Umstände gegen eine solche arische Abstammung sprechen. Solche besonderen Umstände müssen jedoch nach dem Gesamtergebnis der Hauptverhandlung erkennbar sein, um überhaupt einen Verdacht auf eine nicht vollarische Abstammung zu rechtfertigen. Der bloße Hinweis des Angeklagten oder seines Verteidigers auf die Möglichkeit fremdrassiger Blutsbeimischung begründet einen solchen Verdacht noch nicht. Ob jedoch solche besonderen Umstände gegeben sind, unterliegt ausschließlich der freien Beweiswürdigung des Gerichts. Sie würden zu bejahen sein, wenn beispielsweise das Gericht selbst auf Grund seiner eigenen Kenntnisse der Rassenkunde und praktischen Erfahrungen bei der äußeren Erscheinung der zu beurteilenden Person erhebliche Bedenken gegen die vollarische Abstammung gewinnen sollte, oder wenn auf Grund eines näher begründeten Vortrages des Angeklagten oder auch von Zeugen Anhaltspunkte hervortreten sollten, die einen über die nie ausschließbare Möglichkeit nicht vollarischer Abstammung hinausgehenden Verdacht einer fremdrassigen Blutsbeimischung ergeben würden. Nur in solchen Fällen erscheint die Einholung eines rassen-und erbbiologischen Gutachtens erforderlich, um die nach menschlichem Erkenntnisvermögen überhaupt mögliche Feststellung treffen zu können, ob ein solcher Verdacht mit einer mehr oder weniger bestimmten Wahrscheinlichkeit berechtigt oder unberechtigt ist. Das Ergebnis eines solchen rassen-und erbbiologischen Gutachtens müßte alsdann im Zusammenhang mit dem übrigen Ergebnis der Hauptverhandlung über die Frage der Abstammung nach dem Grundsatz freier Beweis-würdigung gewertet werden, um die Feststellung zu treffen, ob die betreffende Person unehelicher Herkunft von arischer Mutter bei unbekanntem Erzeuger arisch ist oder nicht. In allen anderen Fällen, in denen sich auf Grund des gesamten Ergebnisses der Hauptverhandlung ein Verdacht fremdrassiger Blutsbeimischung nicht ergibt, wird ohne Verstoß gegen die Wahrheitsermittlungspflicht des Gerichts die deutschblütige Abstammung solcher Personen auch ohne ein rassen-und erbbiologisches Gutachten festgestellt werden können und müssen."

Dieser Rechtsprechung, die an sich schon weit genug ging, sollte durch den Richterbrief Nr. 19 ein Ende gesetzt werden: jeder noch so geringe Zweifel sollte die Feststellung einer „vollarischen" Abstammung ausschließen.

Interessant ist dabei, daß in der Stellungnahme des Reichsministers der Justiz gesagt wird, der Richter dürfe sich bei der Behandlung des Rechtsstreits und der Würdigung des Beweisergebnisses nicht vom Gefühl des Mitleids für den einzelnen beeinflussen lassen, der bei Abweisung seiner Klage weiter als Jude oder Mischling gelte, obwohl für seine deutschblütige Abstammung eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehe. Man wußte genau, warum oft mehr als Mitleid am Platz war, wenn es einem Menschen im Wege der Abstammungsklage nicht gelang, als Arier zu gelten: weil er dann ein zu Qualen und zum Tode Verurteilter war. Der Reichsminister der Justiz hätte in seiner Stellungnahme die Erwähnung des „Gefühls des Mitleids" besser unterlassen — die Erwähnung allein war ein Schuldbekenntnis.

Nachlaßrichter stellt Fortbestand des Dritten Reiches in Frage

Eine weitere zivilrechtliche Frage, die die Ausnahmegesetzgebung für Juden betraf, war die der jüdischen Erbfolge. Die Nationalsozialisten wollten einerseits die Juden vernichten, andererseits wollten sie von ihnen profitieren. Möglichst viel jüdisches Vermögen sollte der deutschen Volksgemeinschaft zukommen, und eine große Anzahl Gesetze wurde nur erlassen, um diesen Zweck zu erreichen. Es gab die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938 nach der jeder Jude sein gesamtes in-und ausländisches Vermögen anzumelden hatte; ferner die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 die im Gesetzessammelwerk Pfundtner-Neubert mit den Worten eingeleitet wird: „ ... Außerdem schafft sie (die Verordnung) eine wichtige Voraussetzung für eine künftige Entjudung des deutschen Grundbesitzes dadurch, daß sie den Juden jeden Neuerwerb von Grundstücken und Rechten an Grundstücken untersagt ..." Nach der Dritten Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 21. Februar 1939 mußten alle Juden die in ihrem Eigentum befindlichen Gegenstände aus Gold, Platin oder Silber sowie Edelsteine und Perlen abliefern. Ging ein Jude ins Ausland, so verfiel nach der 11. Verordnung zum Reichs-bürgergesetz sein gesamtes Vermögen dem Deutschen Reich. Nach der gleichen Verordnung vom 25. November 1941 konnten Juden keine Erbschaft innerhalb des Deutschen Reichsgebietes antreten.

Diese Bestimmung wird in einem Aufsatz von Dr. Schmidt-Klevenow erörtert, in dem es heißt: „Zur Lösung steht die Frage: Kann ein Jude einen Deutschen beerben? Das AG. Freien-walde (Oder) hat zu dem Aktenzeichen 4 VI 76/39 einer Jüdin einen Erbschein nach einer deutschblütigen Erblasserin erteilt. Die Erblasserin hatte keine gesetzlichen Erben.

Eine solche Entscheidung, das mag vorausgeschickt werden, wird bei den deutschen Volksgenossen auf wenig Verständnis stoßen. Und das mit Recht. Eine Jüdin beerbt im Jahre 1940 eine Deutsche! Ist das der kompromißlose Kampf?

In der Präambel zum Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen vom 31. Juli 1938 (RGBl. 973) heißt es:

Ziel des Erbrechts ist es, überkommenes wie gewonnenes Gut des Erblassers weiterzuleiten und über seinen Tod hinaus wirken zu lassen zum Wohle von Familie, Sippe und Volk. In der Hand eines verantwortungsbewußten Erblassers dienen diesem Zweck auch Testament und Erbvertrag.'

Wie kann ein Gut eines verstorbenen Deutschen zum Wohle von Familie, Sippe und Volk wirken, wenn es in die Hand eines Juden gelangt? Nach dem klaren Sinn und Zweck des neuen nationalsozialistischen Erbrechts und Testamentsgesetzes ist die Erbeinsetzung eines Juden durch einen Deutschblütigen unmöglich. Eine solche Erbeinsetzung ist bereits unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Präambel zum Testamentsgesetz nach § 138 BGB nichtig, weil sie gegen die guten Sitten verstößt. Diese Auffassung ist heute bei allen verantwortungsbewußten Volksgenossen selbstverständliches Gemeingut!

Aber davon abgesehen hat das Testaments-gesetz in Ausführung dieses Gedankens ausdrücklich im § 48 Abs. 2 eine Bestimmung getroffen, die es dem Richter ermöglicht, in solchen Fällen den Erbschein zu versagen. Es heißt in der Bestimmung:

. Eine Verfügung von Todes wegen ist nichtig, soweit sie in einer gesundem Volksempfinden gröblich widersprechenden Weise gegen die Rücksichten verstößt, die ein verantwortungsbewußter Erblasser gegen Familie und Volks-gemeinschaft zu nehmen hat. ’

Es unterliegt nun gar keinem Zweifel, daß die Erbeinsetzung eines Juden durch einen Deutschen schlechthin gegen die Rücksichten verstößt, die ein verantwortungsbewußter Erblasser gegen Familie und Volksgemeinschaft zu nehmen hat. Das gilt naturgemäß insbesondere dann, wenn deutsche gesetzliche Erben oder deutsche Verwandte übergangen werden.

Aber auch wenn, wie im vorliegenden Fall, gesetzliche Erben nicht vorhanden sind, ist die Erbeinsetzung eines Juden durch einen Deutschen nichtig, denn sie verstößt gegen die Rücksichten, die der Erblasser gegen die Volks-gemeinschaft zu nehmen hat. Ich kann mich insoweit der Auffassung Vogels (DJ. 1938, 1273: Das neue Testamentsgesetz) nicht anschließen, wenn er dort zu der Bestimmung des § 48 Abs. 2 ausführt:

. Hierher gehört ferner ... die Einsetzung eines Juden zum Erben eines deutschblütigen Erblassers unter Übergehung arischer Verwandter. 1 Diese Einschränkung ist nicht gerechtfertigt. Das Gesetz selbst beschränkt die Rücksichtnahme nicht nur auf die Familie, sondern fordert die Rücksichtnahme auch auf die Volks-gemeinschaft. Das Gesetz über erbrechtliche Beschränkungen wegen gemeinschaftswidrigen Verhaltens vom 5. November 1937 ist mit seinem § 1 zwar auf diesen Fall nicht anwendbar (Ausschluß ausgebürgerter Personen vom Erwerb von Todes wegen und vom Erwerb durch Schenkung). Aber die Bestimmung des § 2 (Entziehung des Pflichtteils wegen Mischehe) beruht auf einem ähnlichen Gedankengang, wie oben dargelegt. Nach § 2 kann ein Erblasser einem Abkömmling den Pflichtteil entziehen, wenn dieser mit einem Juden oder ohne die erforderliche Genehmigung mit einem jüdischen Mischling die Ehe eingeht.

Soll dieser gleiche Erblasser angesichts dieser Bestimmung einen Juden zum Erben einsetzen können? über die Marschrichtung muß man sich klar sein!

Ich halte nach alledem die Erbeinsetzung eines Juden durch einen deutschen Erblasser schlechthin für nichtig. Der Erbschein darf nicht erteilt werden. Die Erbschaft fällt, wenn gesetzliche Erben nicht vorhanden sind, dem Staate, also der Volksgemeinschaft zu." Aber es gab auch andere Ansichten zu diesem Thema. In Gerichtsbeschlüssen aus den Jahren 1942/43 wurde von einzelnen Nachlaßgerichten keineswegs der Standpunkt von Herrn Schmidt-Klevenow geteilt. Grund genug, um diese Gerichtsbeschlüsse zum Anlaß eines Richterbriefes zu machen. Im Richterbrief Nr. 26 wird unter der Überschrift „Testament einer Jüdin" die Frage der Erbfolge bei Juden eingehend erörtert. „ 26. Testament einer Jüdin Gerichtsbeschlüsse aus den Jahren 1942/43

Eine Jüdin D., Witwe eines verstorbenen Voll-juden, starb im Februar 1942 und hinterließ folgendes im Januar 1942 errichtetes eigenhändiges Testament:

Da mein verstorbener Mann mir durch letzt-willige Verfügung vollständig freie Hand über unseren beiderseitigen Nachlaß gelassen hat, bestimme ich für den Fall meines Todes folgendes: 1. Unser gesamter Nachlaß soll von meinem Todestage ab zehn Jahre lang ungeteilt bleiben und von einem Testamentsvollstrecker verwaltet werden. 2. Zu meinen Erben setze ich meine Verwandten und diejenigen meines Mannes — je zur Hälfte — ein, und zwar nach der gesetzlichen Erbfolge. 3. Sollten bis zum Ablauf der Frist irgendwelche Erben ersten Grades in der Lage sein, die Erbschaft anzutreten, so sollen diese berechtigt sein, von dem Testamentsvollstrecker die Herausgabe des Nachlasses zu verlangen, und zwar unter Zugrundelegung der gesetzlichen Erbfolge. 4. Zum Testamentsvollstrecker bestimme ich Herrn Konsulenten I. F.'

Die einzigen Kinder der D., ein Sohn und eine verheiratete Tochter, lebten zur Zeit des Todes ihrer Mutter bereits längere Zeit im Ausland.

Durch gerichtlichen Beschluß wurde die Erteilung des Testamentsvollstreckerzeugnisses an den Rechtskonsulenten I. F. angeordnet, und zwar mit folgender Begründung:

Das Testament der Jüdin D.sei, da ihr die gesetzliche Erbunfähigkeit ihrer beiden im Ausland lebenden Kinder bei der Testaments-errichtung bekannt gewesen sei, dahin auszulegen, daß sie in erster Linie ihre und ihres Ehemannes Verwandten zu Erben berufen habe und daß zu Gunsten ihrer gegenwärtig erbunfähigen Kinder eine Nacherbfolge für den Fall angeordnet sei, daß diese ihre Erbfähigkeit innerhalb zehn Jahren wiedererlangen sollten. Die Anordnung einer solchen bedingten Nacherbfolge sei nach dem Gesetz nicht ausgeschlossen. Denn, da nach dem Gesetz zu Nacherben auch Personen eingesetzt werden können, die zur Zeit des Erbfalles noch nicht erzeugt waren, so könne Entsprechendes auch für Personen gelten, die zur Zeit des Erbfalles aus anderen Gründen erbunfähig sind, deren Erbeinsetzung aber unter der Bedingung gesehen sei, daß sie zur Zeit des Eintritts der Nacherbfolge die Erbfähigkeit wiedererlangt haben würden. Die Einsetzung erbunfähiger Juden zu Nacherben für den Fall, daß sie innerhalb bestimmter Frist wieder erbfähig würden, sei auch keine Umgehung des Gesetzes. Denn nach dem Willen des Erblassers solle der Erbunfähige nichts aus dem Nachlaß erwerben, solange die Erbunfähigkeit dauere. Daß er aber auch noch nach der Wiedererlangung der Erbfähigkeit von dem Nachlaß ausgeschlossen bleibe, erfordere das Gesetz nicht. Aus diesen Gründen sei das Testament nicht zu beanstanden.

Diese Entscheidung hat der Große Zivilsenat des Reichsgerichts auf den Wiederaufnahme-antrag des Oberreichsanwalts aufgehoben. *

Stellungnahme des Reichsministers der Justiz „Die Entscheidung des Gerichts, das die Erteilung des Testamentsvollstreckerzeugnisses anordnete, widerspricht sowohl dem gesunden Volksempfinden wie dem geschriebenen Gesetz und ist mit Recht aufgehoben worden.

Der Beschluß stellt die rechtlich-konstruktiven Erwägungen des Falles derart in den Vordergrund, daß die Richter sich damit selbst den Weg und den klaren Blick für die richtige Beachtung der Judenfrage, die im Mittelpunkt der Entscheidung steht, versprechen.

Gerade dieser Fall zeigt besonders deutlich, wie wichtig es ist, daß der Richter bei jeder Entscheidung vor und nach dem Blick in das Gesetz sein Rechtsgewissen und sein Rechtsgefühl, die beide einer ständigen, gewissenhaften rechtspolitischen Schulung und Selbstkontrolle bedürfen, fragt, ob sein Urteil dem gesunden Volksempfinden entspricht, das heißt, ob die aus dem Gesetz abgeleitete Entscheidung auch vor dem Rechtsgefühl der Volksgemeinschaft bestehen kann.

Werden diese Fragen gestellt und sorgfältig geprüft, so werden nicht nur Entscheidungen vermieden werden, die dem Gesetz zu entspre-chen scheinen, seinem wahren Sinn und Zweck aber zuwiderlaufen, der Richter wird auch den wahren Inhalt des Gesetzes selbst leichter und besser erkennen. Es wird sich zeigen, daß in vielen Fällen nicht ein schlechtes Gesetz, sondern sein mißverstandener Inhalt die Ursache einer unrichtigen Entscheidung ist. Die Einstellung des nationalsozialistischen Staates zur Judenfrage ist heute jedermann bekannt. Die Gesetzgebung hat die Rechtsstellung der Juden Schritt für Schritt in die Schranken gewiesen, die ihnen als Feinden des deutschen Volkes gezogen werden müssen. Juden, die im Ausland leben, haben die deutsche Staatsangehörigkeit verloren, ihr Vermögen ist dem Reich verfallen. Sie können deshalb auch einen deutschen Staatsangehörigen — auch wenn er Jude ist — nicht beerben (Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941, RGBl. I S. 722). Ein Testament, das gegenteilige Verfügungen von Todes wegen enthält, ist nichtig (§ 48 Abs. 1 Testamentsgesetz).

Dies war die klare Rechtslage, vor der der Richter vor der Beurteilung des Testaments der Jüdin stand.

Ein Blick auf den Aufbau und Inhalt des Testaments genügte, um zu erkennen, daß die Jüdin versuchte, die klaren gesetzlichen Bestimmungen des geltenden Erbrechts zu umgehen. Es handelt sich um ein echt jüdisches Testament. Die Erblasserin spricht bei der Erbeinsetzung vorsichtigerweise nicht von ihren beiden jüdischen Kindern, deren Erbunfähigkeit sie kannte, sondern kleidet ihren Willen in Ziffer 3 des Testaments dadurch in eine unverfänglichere Form, daß sie von . irgendwelchen Erben ersten Grades'spricht, obwohl zur Zeit der Testamentserrichtung andere Erbberechtigte überhaupt nicht vorhanden waren und nur der Testamentsvollstrecker den Nachlaß verwalten sollte. Hätte die Erblasserin auch entferntere Abkömmlinge bedenken wollen, so hätte sie in ihrem Testament, das deutlich eine rechtskundige Beratung verriet, nicht von . Erben ersten Grades sondern . Erben erster Ordnung’ gesprochen. Sie hätte dann auch sicher für etwaige spätere Abkömmlinge die im Gesetz (§ 2109 BGB.) für die Wirksamkeit einer Nacherbeneinsetzung zugelassene äußerste Frist von 30 Jahren ausgenutzt und sich nicht auf eine Frist von 10 Jahren beschränkt.

Aus alledem wird klar, daß sie versuchen wollte, ihren erbunfähigen jüdischen Kindern den Nachlaß in getarnter Weise zu erhalten, bis — nach ihrer Spekulation — vielleicht einmal für sie und die Juden bessere Zeiten kommen würden.

Dieser Tatsache stand der Richter gegenüber, ihrer ohne sie allerdings in Bedeutung und Tragweite richtig zu erkennen; denn andernfalls wäre er der Täuschung nicht zum Opfer gefallen.

Daß er die wahre Lage nicht richtig durchschaut hat, erhellt daraus, daß der Beschluß geradezu nach einem Weg suchte, um die Wirksamkeit des Testaments Juristisch'zu retten.

Dafür wird die Einrichtung der Nacherbfolge herangezogen. Dabei wird rechtlich zunächst übersehen, daß auch der Nacherbe bereits im Zeitpunkt des Erbfalls ein Anwartschaftsrecht auf den Nachlaß erwirbt, der einen Vermögenswert darstellt. Schon dieser Erwerb ist den ausländischen Juden verwehrt.

Noch verfehlter ist die weitere rechtliche Konstruktion. Weil sogar noch nicht erzeugte Personen nacherbberechtigt sind, müsse Entsprechendes auch für gegenwärtig erbunfähige Personen für den Fall gelten, daß sie ihr Erbrecht innerhalb einer bestimmten Frist wiedererlangen würden. In dieser Folgerung lag der entscheidende Denkfehler, ein Fehler sowohl in der rechtlichen Konstruktion als vor allem in der rechtspolitischen Erkenntnis des Lebensvorgangs, der zu beurteilen war. Wenn das Gesetz ein Nacherbrecht für noch nicht erzeugte Personen zuläßt, so gilt diese Regelung nach dem Sinn des Gesetzes nur für solche Personen, die an sich erbberechtigt sein können, das heißt, denen ein erbrechtlicher Rechtsschutz im Interesse ihrer künftigen Lebenshaltung möglichst frühzeitig zutejl werden soll. Dieser Grundgedanke des Gesetzes kann niemals für Juden gelten, denen die deutschen Gesetze gerade erst die Erbfähigkeit abgesprochen haben, weil sie das Erbrecht und die Vermögensinteressen ausländischer Juden nicht schützen wollen. Daß diese Regelung endgültig und unabänderlich ist und im Rechtsleben entsprechend behandelt werden muß, entspricht — wie das Reichsgericht in seinem Beschluß zutreffend ausgesprochen hat — der Bedeutung der vom nationalsozialistischen Deutschland in der Judenfrage verfolgten Ziele.

Der Richter hätte niemals zu dieser Entscheidung kommen können, wenn er diesen Grundgedanken erkannt hätte.

Ein Gesetz, das den Bestand der nationalsozialistischen Rechtsordnung schützen will und den Juden gegenüber nach auf dem Gebiet des Erbrechts eine klare Sprache spricht, kann die Wirksamkeit seiner Anordnungen nicht von dem Vorbehalt des Bestands des nationalsozialistischen Staates und der Fortgeltung seiner rassisch-völkischen Grundgesetze abhängig machen."

Der Nachlaßrichter, der den in diesem Richter-brief kritisierten Gerichtsbeschluß verfaßt hat, muß Mut gehabt haben: Er hatte es gewagt, den Bestand des Dritten Reiches in Frage zu stellen! Er hatte folgendermaßen argumentiert: Im nationalsozialistischen Staat können die Kinder der Jüdin D. diese nicht beerben. Gegen dieses Verbot wird aber im Testament der D. auch nicht verstoßen, denn die Erblasserin setzt ihre Kinder nur unter der Bedingung als Erben ein, daß die Erben „in der Lage sind, die Erbschaft anzutreten", mit anderen Worten, daß dem Erbantritt kein gesetzliches Verbot mehr entgegensteht. Die Anordnung einer solchen Erbschaft unter einer Bedingung ist gesetzlich nicht verboten, folglich ist das Testament gültig.

Worin bestand aber bei dieser Argumentation die Bedingung? Darin, daß das gesetzliche Verbot der Nationalsozialisten fortfiel. Das aber konnte nur geschehen, wenn das nationalsozialistische Regime wegfiel. Der Nachlaßrichter hatte es also gewagt, den eventuellen Zusammenbruch des Dritten Reiches in den Bereich der Möglichkeiten zu ziehen. Wir würden sagen: in den Jahren 1942/43, in denen dieser Gerichtsbeschluß abgefaßt wurde, eine Reaktion der gesunden Vernunft. Aber gerade die gesunde Vernunft wird dem Richter in der Stellungnahme des Reichsministers der Justiz abgesprochen: „ .. . Gerade dieser Fall zeigt besonders deutlich" — so heißt es in der Stellungnahme — „wie wichtig es ist, daß der Richter bei jeder Entscheidung vor und nach dem Blick in das Gesetz sein Rechtsgewissen und sein Rechtsgefühl, die beide einer ständigen, gewissenhaften rechtspolitischen Schulung und Selbstkontrolle bedürfen, fragt, ob sein Urteil dem gesunden Volksempfinden entspricht, das heißt, ob die aus dem Gesetz abgeleitete Entscheidung auch vor dem Rechtsgefühl der Volksgemeinschaft bestehenkann..." Mit anderen Worten: eine korrekte Gesetzes-anwendung hatte dann zu unterbleiben, wenn sie den Zwecken der Nationalsozialisten nicht entsprach. Der Grundsatz des § 1 Gerichtsverfassungsgesetz, dem eigentlichen Grundgesetz eines jeden Richters, nach dem die Richter allein dem Gesetz unterworfen waren, wurde damit aufgehoben.

Hitler droht Richtern mit Amtsenthebung

Hitler machte in seiner Reichstagsrede vom 26. April 1942 den Richtern deutlich klar, daß ihre Rechte hinfällig seien und er ohne Rücksicht auf das Gesetz jeden Richter des Amtes entheben würde, „der das Gebot der Stunde nicht erkenne":

Pflichten statt „wohlerworbener Rechte" „Ich erwarte dazu allerdings einiges: Daß mir die Nation das Recht gibt, überall dort, wo nicht bedingungslos im Dienste der größeren Aufgabe, bei der es um Sein oder Nichtsein geht, gehorcht und gehandelt wird, sofort einzugreifen und dementsprechend selbst handeln zu dürfen. Front und Heimat, Transportwesen, Verwaltung und Justiz haben nur einem einzigen Gedanken zu gehorchen, nämlich dem der Erringung des Sieges. Es kann in dieser Zeit keiner auf seine wohlerworbenen Rechte pochen, sondern jeder muß wissen, daß es heute nur Pflichten gibt. Ich bitte deshalb den Deutschen Reichstag um die ausdrückliche Bestätigung, daß ich das gesetzliche Recht besitze, jeden zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten beziehungsweise denjenigen, der seine Pflichten nach meiner gewissenhaften Einsicht nicht erfüllt, entweder zur gemeinen Kassation zu verurteilen oder ihn aus Amt und Stellung zu entfernen ohne Rücksicht, wer es auch sei oder welche erworbenen Rechte er besitze. Und zwar gerade deshalb, weil es sich unter Millionen Anständiger nur um ganz wenige einzelne Ausnahmen handelt. Denn über allen Rechten, auch dieser Ausnahmen, steht heute eine einzige gemeinsame Pflicht. Es interessiert mich daher nicht, ob während der jetzigen Notzeit in jedem einzelnen Fall bei Beamten oder auch bei Angestellten Urlaub und so weiter gewährt werden kann oder nicht, und ich verbitte mir auch, daß dieser Urlaub, der nicht gegeben werden kann, etwa aufgerechnet wird für spätere Zeiten. Wenn überhaupt jemand das Recht besäße, Urlaub zu verlangen, dann wäre das in erster Linie nur unser Frontsoldat und in zweiter Linie der Arbeiter oder die Arbeite-rin für die Front. Und wenn ich nun nicht in der Lage war, seit Monaten der Front im Osten im ganzen diesen Urlaub zu geben, dann komme mir keiner zu Hause mit einem sogenannten . wohlerworbenen Recht'auf Urlaub in irgendeinem Amt. Ich selbst bin berechtigt, das abzulehnen, weil ich — was diesen Persönlichkeiten vielleicht nicht bekannt sein wird — selbst seit dem Jahre 1933 noch keine drei freien Tage als Urlaub für mich in Anspruch genommen habe. Ebenso erwarte ich, daß die deutsche Justiz versteht, daß nicht die Nation ihretwegen, sondern daß sie der Nation wegen da ist, das heißt, daß nicht die Welt zugrunde gehen darf, in der auch Deutschland eingeschlossen ist, damit ein formales Recht lebt, sondern daß Deutschland leben muß, ganz gleich, wie immer auch formale Auffassungen der Justiz dem widersprechen mögen. Ich habe — um nur ein Beispiel zu erwähnen — kein Verständnis dafür, daß ein Verbrecher, der im Jahre 1937 heiratet und dann seine Frau so lange mißhandelt, bis sie endlich geistesgestört wird und an den Folgen einer letzten Mißhandlung stirbt, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wird in einem Augenblick, in dem Zehntausende brave deutsche Männer sterben müssen, um der Heimat die Vernichtung durch den Bolschewismus zu ersparen, das heißt also, um ihre Frauen und Kinder zu schützen. Ich werde von jetzt ab in diesen Fällen eingreifen und Richter, die ersichtlich das Gebot der Stunde nicht erkennen, Was deutsche ihres Amtes -entheben.der Sol dat, der deutsche Arbeiter, der Bauer, unsere Frauen in Stadt und Land, was Millionen unseres Mittelstandes und so weiter leisten und an Opfer bringen, alle nur in dem einen Gedanken an den Sieg, fordert eine kongeniale Einstellung auch bei denjenigen, die vom Volke selbst berufen sind, seine Interessen wahrzunehmen. In dieser Zeit gibt es keine selbstheiligen Erscheinungen mit wohlerworbenen Rechten, sondern wir alle sind nur gehorsame Diener an den Interessen unseres Volkes."

Damit war Hitler als „oberster Gerichtsherr" offiziell bestätigt. Sein Wort galt als Befehl und es war untersagt, auch nur anzunehmen, er könne sich irren. Es ist nicht ohne Komik, wenn es in einem Schreiben des Reichsministers der Justiz vom Mai 1938 heißt: „Der Reichsminister der Justiz I a 9 848 Berlin W 8, d. 14. Mai 1938 Wilhelmstraße 65 A 1 Jäger 0044 An den Herrn Präsidenten des Reichsgerichts, den Herrn Präsidenten des Volksgerichtshofs, den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, den Herrn Präsidenten des Reichspatentamts, den Herrn Präsidenten des Landeserbhofgerichts in Celle, die Herren Oberlandesgerichtspräsidenten, die Herren Generalstaatsanwälte bei den Oberlandesgerichten.

Betr.: Erledigung von Ersuchen an den Führer und Reichskanzler.

Wie mir der Herr Reichsminister und Chef der Reichskanzlei mitteilt, haben Verwaltungsbehörden und Gerichte bei der Erledigung von Eingaben an den Führer und Reichs-kanzler, die ihnen zur Erledigung zugefertigt waren, ihre eigene ausschließliche Zuständigkeit auch im Verhältnis zum Führer und Reichskanzler — u. a. mit den Worten , Der Führer ist nicht befugt', oder mit der Bemerkung , Es ist nicht Sache des Führers'— in einer Form betont, die den Eindruck erwecken mußte, als wollten sie dem Führer das Recht bestreiten, sich um Angelegenheiten zu bekümmern, die in ihre eigene Zuständigkeit fallen.

Dieser Eindruck muß unter allen Umständen vermieden werden. Die Justizbehörden haben sich daher solcher der bei Erledigung Eingaben wie auch sonst jeder Wendung zu enthalten, die in dem beanstandeten Sinne gedeutet werden könnte. Allgemein ist peinlich darauf zu achten, daß Verwaltungsbescheide sich ebenso wie gerichtliche Entscheidungen auf die zu ihrer Begründung notwendigen Erwägungen beschränken. Ich ersuche, dafür Sorge zu tragen, daß innerhalb Ihres Geschäftsbereichs ausnahmslos demgemäß verfahren wird. gez. Dr. Gürtner“

Daß die angeschriebenen Präsidenten den Forderungen des Reichsjustizministers wörtlich nachkamen, geht aus den angeführten Aktenstücken hervor. In der dort protokollierten Präsidentenbesprechung vom 23. Oktober 1943 heißt es:

„ ... Der Chefpräsident berichtet weiter, daß frühere Äußerungen des Führers und leitender Persönlichkeiten von Partei und Staat, wie zum Beispiel , Stalingrad werde unter allen Umständen gehalten werden" als Heimtücke strafbar seien, wenn sie unter Umständen wiederholt würden, die darauf schließen ließen, daß sie in hetzerischer Absicht gemacht worden sind. Es käme eben entscheidend auf die Umstände an, unter denen diese früheren Äußerungen des Führers zitiert würden. Auf diese besonderen Umstände müsse natürlich auch die Urteilsbegründung abgestellt werden. Es sei selbstverständlich zu vermeiden, daß in der Begründung gesagt werde, der Führer habe sich geirrt..."

Aber auch sonst bestimmten die Weisungen des „obersten Gerichtsherrn" Hitler die Rechtspflege. Der Reichsjustizminister hatte die so-genannten „Führerinformationen 1'eingeführt,

,, Nachdrückliche Einwirkung" auf die Richter

In der Tat wurde die „Steuerung" der einzelnen Verfahren mit aller Macht versucht. Bereits 1936 wurde folgendes Schreiben des Reichs-justizministers in Umlauf gesetzt:

„Der Reichsminister der Justiz 1120 — Illa 28031/36 Berlin W 8, den 1. September 1936 Wilhelmstraße 65 A 1 Jäger 0044 An sämtliche Herren Oberlandesgerichtspräsidenten. Nachrichtlich:

An sämtliche Herren Generalstaatsanwälte. Betrifft: Handhabung des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom September 1935.

Bei der Überwachung der Rechtsprechung in den Verfahren wegen Zuwiderhandlung gegen die §§ 2, 5 Abs. 2 des Blutschutzgesetzes ist es aufgefallen, daß die von den Gerichten verhängten Strafen auch bei gleichgelagerten Fällen im Strafmaß außerordentliche Unterschiede aufweisen, und daß weiter einzelne Strafkammern es trotz der Ausführungen in der RV. v. 2. März (April) 1936 — 1121 Ila 18501/36 — anscheinend grundsätzlich vermeiden, auch in schweren Fällen auf die angebrachte Zuchthausstrafe zu erkennen. Es ist z. B. unverständlich, wenn ein Gericht gegen einen Volljuden, der einem ihm vertrauenden durch die Hitler von bestimmten Vorgängen in der Justiz regelmäßig unterrichtet wurde. In der Führerinformation Nr. 14 vom 21. Mai 1942 15) wird vom Reichsjustizminister an den „Führer" berichtet: „Auf Grund der Weisung an die Rechtspflege, die Sie, mein Führer, in Ihrer letzten Reichstagsrede erteilt haben, habe ich alle Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte zu mir berufen und ihnen erneut die entschiedene und harte Verfolgung vor allem jedes Kriegsverbrechers zur Pflicht gemacht. Ich habe meine Behördenchefs persönlich für die Steuerung auch der einzelnen Verfahren in ihren Bezirken verantwortlich gemacht und zugleich meine laufende Unterrichtung in allen wichtigen Einzelfällen sichergestellt."

Mädchen sich als Arier ausdrücklich ausgibt und es dadurch zum Beischlaf verleitet, entgegen dem zutreffenden Zuchthausantrag des Staatsanwalts nur auf 8 Monate Gefängnis erkennt.

Um diesem Mißstand abzuhelfen und zu einer einheitlichen sachentsprechenden Rechtsprechung zu gelangen, ersuche ich im Benehmen mit den Landgerichtspräsidenten auf die ihnen unterstellten Richter in geeigneter Weise nachdrücklich einzuwirken, damit einem Rasseverfall des deutschen Volkes auch von den deutschen Gerichten durch strenge Strafen entgegengewirkt wird. Eine solche Rechtsprechung wird sich unter anderem auch dadurch gewährleisten lassen, daß sofort die Verfahren wegen Verbrechens gegen das Gesetz vom 15. September 1935 einer einzigen Strafkammer (etwa einer bereits mit der Aburteilung von Sittlichkeitsverbrechen befaßten) zugeteilt werden. Ich ersuche auch insoweit, das Erforderliche beschleunigt zu veranlassen.

In Vertretung gez. Dr. Freisler."

Man ist in diesem Schreiben sozusagen „unter sich" — nur das kann die erstaunliche Offenheit erklären, mit der von der „Überwachung der Rechtsprechung" gesprochen wird. Nur das läßt auch verstehen, daß das Reichsjustizministerium es wagt, zu sagen: „ ... ersuche ich im Benehmen mit den Landgerichtspräsidenten auf die ihnen unterstellten Richter in geeigneter Weise nachdrücklich einzuwirken...“ Es wurde nicht einmal mehr ein Hehl daraus gemacht, daß die in § 1 Gerichtsverfassungsgesetz verankerte Unabhängigkeit der Richter nur noch auf dem Papier stand. Offenbar um sicherzugehen, daß hinsichtlich der Rechtsprechung in Verfahren wegen Rassenschande auch wirklich so vorgegangen wurde, wie es offiziell gewünscht war, erging zwei Monate nach dem Schreiben vom 1. September 1936 ein erneutes Rundschreiben des Reichsjustizministeriums, das zu einer Besprechung über die Blutschutzrechtsprechung einlud.

„Der Reichsminister der Justiz 1120 Illa 28312/36 Berlin W 8, den 3. November 1936 Wilhelmstraße 65 A 1 Jäger 0044 An die Herren Oberlandesgerichtspräsidenten und die Herren Generalstaatsanwälte. Betrifft: Besprechung über Blutschutzrechtsprechung. Am Freitag, den 13. November 1936, 10 Uhr, findet im Festsaal des Reichsjustizministeriums, Berlin W, Voßstraße 5, eine Besprechung über Blutschutzrechtsprechung statt.

Ich bitte die Herren Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwählte an dieser Tagung persönlich teilzunehmen. Ferner ersuche ich dazu abzuordnen:

a) die Herren Vorsitzenden der auf Grund der RV. vom 1. September 1936 — 1120 — Illa 28031/36 — mit der Aburteilung von Verbrechen nach dem Blutschutzgesetz besonders beauftragten Strafkammern, b) die Herren Oberstaatsanwälte der Landgerichte, bei denen eine solche Strafkammer besteht.

Im Auftrag gez. Dr. Crohne Beglaubigt als Ministerialkanzleisekretär.“

Auch die Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung von Verbrechern ergaben, waren dem Reichsjustizministerium wichtig genug, um ihre Lösung und Handhabung zu lenken. In einem Schreiben des Reichsjustizministeriums heißt es: „Der Reichsminister der Justiz Berlin, d. 4. 5. 1940 Wilhelmstraße 65 An die Herren Generalstaatsanwälte bei den Oberlandesgerichten, den Herren Präsidenten beim Reichsgericht und beim Volksgerichtshof, den Herren Oberreichsanwälten, den Herren Oberlandesgerichtspräsidenten mit Überstücken für die Landgerichtspräsidenten. Betr.: Entlassung aus der Sicherungsverwahrung Uberstücke für die Oberstaatsanwälte. Einzelfälle geben mir Veranlassung, die in der AV betr. Strafsachen gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher vom 3. März 1938 (Dt. Just. S. 323) zu Ziffer II für die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung gegebenen Richtlinien in Erinnerung zu bringen. Wiederholt sind Sicherungsverwahrte entlassen worden, ohne daß die Stellungnahme der Kriminalpolizei eingeholt oder das Material des kriminalbiologischen Dienstes beigezogen worden war. Ich bitte daher, künftig bei den Gerichten mit allem Nachdruck darauf hinzuwirken, daß sie in Fällen, in denen sie entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft die Entlassung der Verwahrten in Aussicht nehmen, der Staatsanwaltschaft nochmals Gelegenheit zur Ergänzung der Ermittlungen geben.

Für die Kriegszeit bemerke ich im übrigen folgendes: Die durch den Kriegszustand eingetretenen außergewöhnlichen Verhältnisse (z. B. Verdunkelung, Rationierungsmaßnahmen) bieten für verbrecherische Elemente einen besonderen Anreiz zur Begehung strafbarer Handlungen. Selbst wenn bei einem Sicherungsverwahrten anzunehmen ist, daß der Zweck der Unterbringung für Friedenzeiten erreicht wäre, darf nicht unberücksichtigt bleiben, einmal, daß der Hang zur Begehung neuer strafbarer Handlungen bei einem Gewohnheitsverbrecher durch die Begleiterscheinungen des Krieges besonders leicht wiedererweckt werden kann und ferner, daß die im Frieden geübte planmäßige nachträgliche Überwachung des Entlassenen wegen des Mangels an geeigneten Beamten zur Zeit nicht ausreichend durchführbar ist. Die Entlassung eines Sicherungsverwahrten in der gegenwärtigen Zeit stellt daher regelmäßig eine Gefahr für die Volksgemeinschaft dar, deren Schutz oberste Pflicht aller Justizbehörden ist. Ich ersuche deshalb, bis auf weiteres jeder Entlassung aus der Sicherungsverwahrung mit Nachdruck zu widersprechen und auch bei den Gerichten auf die Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte hinzuwirken.

Entsprechend hat das Reichssicherheitshauptamt seine nachgeordneten Dienststellen angewiesen, während des Krieges grundsätzlich gegen die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung Stellung zu nehmen und für den Fall, daß es trotzdem zu Entlassungen kommen sollte, die Entlassenen unverzüglich in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen.

In Vertretung gez. Dr. Freisler."

Ein Schreiben, das in unmittelbarem Widerspruch zum Gesetz stand! In § 42 f. Strafgesetzbuch heißt es, daß dann, wenn sich bei einer Prüfung ergibt, daß der Zweck der Unterbringung in Sicherungsverwahrung erreicht ist, das Gericht die Entlassung des Untergebrachten anzuordnen hat. Dieser gesetzliche Befehl wurde durch die Nationalsozialisten nicht etwa durch ein neues Gesetz aufgehoben. Dieser — legale — Weg erschien den Nationalsozialisten überflüssig. Durch ein einfaches Schreiben wurde angeordnet, daß jeder Entlassung aus der Sicherungsverwahrung — auch wenn sie nach dem Gesetz hätte vorgenommen werden müssen -— widersprochen werden sollte. Es wurde zudem ein Sicherungsfaktor eingebaut: Sollten die Gerichte der Anordnung des nationalsozialistischen Justizministeriums nicht nachkommen, so sollten die „zu Unrecht" Entlassenen sofort in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen werden. Statt des Rechtes sprach die Gewalt!

Polizeiliche Sonderbehandlung: verschärfte Vernehmungen mit Einheitsstock

Wie durchdringend diese Stimme der Gewalt war, zeigt ein Bericht des Reichsjustizministers Thierack über eine Besprechung mit Himmler am 18. September 1942 „Besprochen wurden: Ausgleich zu milder Strafurteile durch polizeiliche Sonderbehandlung: Auslieferung asozialer Elemente (darunter grundsätzlich Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer) aus dem Strafvollzug an Himmler zur Vernichtung durch Arbeit; Rechtsprechung durch das Volk; die von Hitler angeordnete Prügelstrafe und andere Fragen.

Besprechung mit Reichsführer SS Himmler am 18. September 1942 in seinem Feldquartier in Gegenwart des StS. Dr. Rothenberger, SS-Gruppenführer Streckenbach und SS-Obersturmbannführer Bender. 1. Korrektur bei nicht genügenden Justiz-urteilen durch polizeiliche Sonderbehandlung. Es wurde auf Vorschlag des Reichsleiters Bormann zwischen Reichsführer SS und mir folgende Vereinbarung getroffen: a) Grundsätzlich wird des Führers Zeit mit diesen Dingen überhaupt nicht beschwert. b) über die Frage, ob polizeiliche Sonderbehandlung eintreten soll oder nicht, entscheidet der Reichsjustizminister. c) Der Reichsführer SS sendet seine Berichte, die er bisher dem Reichsleiter Bormann zusandte, an den Reichsjustizminister.

d) Stimmen die Ansichten des Reichsführers SS und des Reichsjustizministers überein, so wird die Angelegenheit zwischen ihnen erledigt. e) Stimmen beider Ansichten nicht überein, so wird die Meinung des Reichsleiters Bormann, der evtl, den Führer unterrichten wird, herbeigezogen. f) Soweit auf anderem Wege (etwa durch ein Schreiben des Gauleiters) die Entscheidung des Führers über ein mildes Urteil angestrebt wird, wird Reichsleiter Bormann den Bericht an den Reichsjustizminister weiterleiten. Die Angelegenheit wird sodann zwischen dem Reichsführer SS und dem Reichsminister der Justiz in vorbezeichneter Form erledigt werden. 2. Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über 3 Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichs-justizministers. Zunächst sollen die übelsten asozialen Elemente unter letzteren ausgeliefert werden. Hierzu werde ich den Führer durch Reichsleiter Bormann unterrichten." Wie die „Vernichtung durch Arbeit" aussah, der die Menschen ausgesetzt wurden, die nach Ansicht des Reichsführers SS Himmler, des SS Gruppenführers Streckenbach und SS Obersturmbannführers Bender durch „nicht genügende Justizurteile" abgeurteilt waren, ist durch die Geschichte der Konzentrationslager hinreichend bekannt. Juden, Zigeuner, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen — alle dank ihrer Abstammung bereits als asozial abgestempelt — aber auch dem nationalsozialistischen System mißliebige Deutsche sollten „ausgemerzt" werden, aber sie sollten noch durch die ausgewählte Todesart dem System nützen Die polizeiliche Sonderbehandlung, die die Korrektur bei „nicht genügenden Justizurteilen" darstellte, fing bereits bei den polizeilichen Vernehmungen an — bevor noch das ordentliche Strafverfahren begonnen hatte. Selbstverständlich wurden die Richtlinien für jeden Akt der „polizeilichen Sonderbehandlung" sorgsam bis in das geringste Detail geregelt — Kenn Zeichen des nationalsozialistischen Regimes: Ordnung bis ins kleinste bei den größten Gesetzlosigkeiten und Grausamkeiten. Ein Bericht des Düsseldorfer Oberstaatsanwalts an den Generalstaatsanwalt in Düsseldorf spiegelt ein klares Bild der Methodik des Dritten Reiches:

„Der Oberstaatsanwalt 16 A. R. 26/37 Düsseldorf, d. 8. Juni 1937 Fernspr. 1 08 31 Vertraulich!

Herrn Generalstaatsanwalt in Düsseldorf. Betrifft: Mißhandlung politischer Häftlinge Bezug: Besprechung im Reichsjustizministerium am 4. Juni 1937 Mein letzter Bericht vom 1. Juni 1937 — 16 A. R. 26/37 Die angekündigte Besprechung mit der Geheimen Staatspolizei hat am 4. Juni in Berlin (Reichsjustizministerium) stattgefunden. Es nahmen daran teil:

1. Ministerialdirektor Dr. Crohne, Reichsministerium Berlin, 2. Oberstaatsanwalt von Haake, Reichsjustizministerium, 3. Oberstaatsanwalt Dr. Joel, Reichsjustizministerium Berlin, 4. Ministerialrat Dr. Best, Gestapo Berlin, 5. Oberregierungsrat Möller, Gestapo Berlin, 6. Generalstaatsanwalt Dr. Jung, Berlin, 7. Generalstaatsanwalt Dr. Semler, Hamm, 8. Der Unterzeichnete.

Ministerialdirektor Dr. Crohne machte zunächst Ausführungen zu der Notwendigkeit einer vertrauensvollen Aussprache über Mittel und Wege zur Beseitigung aufgetretener Schwierigkeiten. Er erteilte dann dem Sachreferenten Oberstaatsanwalt von Haake das Wort, der zunächst allgemeine Gesichtspunkte und dann die für die Besprechung im Ministerium ausgearbeiteten sechs Sonderfragen vor-trug. An jede Frage schloß sich eine eingehende Aussprache sämtlicher Beteiligten. Einleitend führte Oberstaatsanwalt von Haake etwa folgendes aus:

Von Seiten der höchsten Staatsführung sind verschärfte Vernehmungen für erforderlich und unerläßlich anerkannt worden. In derartigen Fällen wäre es widersinnig, die ausführenden Beamten wegen Amtsverbrechens zu verfolgen. Die Staatsanwälte müssen aber genau nach dem Gesetz handeln und haben nicht die Möglichkeit nach freiem Ermessen von Verfahren Abstand zu nehmen. Ihnen bleiben vielmehr nur ganz beschränkte gesetzliche Möglichkeiten, wollen sie sich nicht der strafbaren Rechtsbeugung schuldig machen. Von der Strafverfolgung auf Grund des § 153 StPO abzüsehen, ist unmöglich, da, falls das Amtsverbrechen bejaht wird, Verbrechenstatbestand. Ebenso untragbar, jeden einzelnen Fall durch Niederschlagung auszuräumen, da das eine unmögliche Belastung des Führers, dem allein das Niederschlagsrecht zusteht.

Zu helfen hier nur durch materielle Einstellung der Verfahren wegen Mangels der Rechtswidrigkeit (Staatsnotstand zu umstritten und daher zu gefährlich im Falle des § 172 StPO). Eine solche Einstellung kann man aber nur dann vertreten, wenn klare Regeln und Richtlinien für die Anwendung verschärfter Vernehmungen vorliegen. Der Staatsanwalt muß verhältnismäßig einfach erkennen und beurteilen können, ob hier ein Fall zulässiger Einwirkung, d. h. ein Fall des Mangels der Rechtswidrigkeit vorliegt oder nicht. Gegenwärtig ein völlig unhaltbarer Zustand. Mangelndes Rechtsgefühl der Justizbeamten; unwürdiger Zustand für die Polizeibeamten, die sich durch törichtes Bestreiten zu helfen suchen, über die Möglichkeit derartiger Abgrenzungen zu sprechen, das sei der Zweck der Zusammenkunft vom 4. Juni 1937. Sodann wurde in die Besprechung der Einzelfragen eingetreten:

Frage 1:

Bei welchen Delikten sind . verschärfte Vernehmungen" zulässig?

Es herrschte Übereinstimmung, daß derartige Vernehmungen grundsätzlich nur in solchen Fällen vorgenommen werden dürfen, in denen der Sachverhalt unmittelbare Staatsinteressen berührt. Als solche kommen in erster Linie Hochverrat und Landesverrat in Betracht. Die Vertreter der Gestapo gaben der Meinung Ausdruck, daß möglicherweise auch in Bibel-forscher-, Sprengstoff-und Sabotagesachen eine verschärfte Vernehmung in Frage kommen könnte. Sie behielten sich jedoch insoweit eine Stellungnahme nach weiterer Erörterung mit dem Herrn Reichsleiter der SS vor. Einhellig war die Auffassung, daß Sachen aus § 175 StGB nicht in Betracht kommen. Bei Ausländern ist grundsätzlich eine . verschärfte Vernehmung" unzulässig. In derartigen Fällen soll die Sachlage an Hand der Akten nicht nur durch die örtlichen Stapostellen, sondern durch Gestapo selbst in Berlin geprüft werden, und zwar durch einen besonders dazu ausersehenen Beamten.

Frage 2:

Art der körperlichen Einwirkungen?

Grundsätzlich sind bei . verschärften Vernehmungen" nur Stockhiebe auf das Gesäß, und zwar bis zu 25 Stück, zulässig. Die Zahl wird von Gestapo vorher bestimmt (vgl. Frage 3). Vom 10. Stockhieb an muß ein Arzt zugegen sein. Es soll ein , Einheitsstock" bestimmt werden, um jede Willkür auszuschalten.

Frage 3:

Wer ordnet die Vornahme einer . verschärften Vernehmung" an?

Grundsätzlich nur die Gestapo in Berlin. Die örtliche Stapostelle muß vor verschärfter Vernehmung die Genehmigung in Berlin einholen. Ohne Vorliegen der Genehmigung darf eine verschärfte Vernehmung nicht vorgenommen werden.

Frage 4:

Wer führt die körperliche Einwirkung durch?

In keinem Falle darf der Beamte, der die Vernehmung durchführt, auch die Einwirkung vollziehen. Vielmehr wird hierfür ein besonderer von den Stapostellen auszuwählender Beamter bestimmt werden.

Frage 5:

Welche Sicherungen sind gegen die Anwendung verschärfter Vernehmungsmaßnahmen bei Unschuldigen gegeben?

Die Frage wurde durch die zu Frage 3 erörterten Sicherungsmaßnahmen für erledigt erklärt.

Frage 6:

Wie werden technisch bei der Justiz die Fälle behandelt:

a) der nach vorstehendem zulässigen Einwirkungen? Geht eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein, wendet diese sich an die Stapo und läßt die Genehmigung (durch die Gestapo Berlin) nachweisen. Wird sie nachgewiesen, ist das Verfahren einzustellen. Nur formeller Bescheid: . Nach den Ermittlungen liegt eine strafbare Handlung nicht vor."

b) der nach vorstehendem unzulässigen Einwirkungen? Stellt sich heraus, daß eine Genehmigung nicht vorlag, beschleunigte Ermittlungen und alsbaldiger Bericht an Zentralstaatsanwaltschaft.

c) der nach vorstehendem zweifelhaften Zulässigkeit (Grenzfälle)

Sofortige Abgabe mit Bericht an die Zentral-staatsanwaltschaft. In der Besprechung kam die einhellige Auffassung (auch bei den Vertretern der Gestapo) zum Ausdruck, daß die bisherige Art der Anwendung verschärfter Vernehmungen nicht mehr durchgeführt werden darf. Die noch offen-stehenden Fälle sollen nach der strafrechtlichen Seite hin beschleunigt einer Klärung zugeführt werden. Eine Fühlungnahme zwischen Gestapo und Reichsjustizministerium über diese Fälle ist in die Wege geleitet. Entscheidung baldigst zu erwarten.

Gestapo wird eine Niederschrift über das Ergebnis der Besprechung vom Ministerium erhalten, sodann sofort Stellung nehmen (vgl. Frage 1) und für die Stapostellen Anweisung erlassen. Reichsjustizministerium wird seinerseits alsdann an die Staatsanwaltschaften Weisung ergehen lassen.

gez .

Man war sich bei der Besprechung im Reichs-justizministerium durchaus darüber im klaren: die verschärften Vernehmungen durch Polizeibeamte stellten eine strafbare Handlung dar. Das aber war nicht Grund der stattfindenden Diskussion — man nahm es offenbar als notwendige Folge „staatserhaltender" Handlungen hin. Diskutiert wurde allein, wie die strafbaren Handlungen nach außen legalisiert werden konnten. Ohne Sonderregelung traute man selbst der nationalsozialistischen Justiz nicht zu, mit dem Problem fertig zu werden. An-scheinend waren Staatsanwälte und Richter nicht ohne weiteres willens, die strafbaren Handlungen, die die verschärften Vernehmungen nun einmal nach dem Gesetz waren, als legal zu betrachten.

Mutige Richter

Daß sich zumindest ein Teil der Richterschaft dagegen wehrte, aus Unrecht Recht zu machen, ergibt sich aus der Akte einer deutschen Entnazifizierungsbehörde. In dieser Entnazifizierungssache wurde als Zeuge der Rechtsanwalt Todsen aufgerufen, der in seiner eidesstattlichen Versicherung folgendes berichtete: „. . . Im Oktober 1935 bestand ich mein zweites Staatsexamen. Meine Zulassung zur Anwaltschaft erhielt ich etwa Mitte November des gleichen Jahres. Noch bevor ich ein Anwalt-büro eingerichtet hatte, wurde ich auf Grund der automatisch erfolgten Eintragung in die Liste der Offizialverteidiger damit beauftragt, im Rahmen einer Offizialverteidigung vier Angeklagte im Oberlandesgericht zu vertreten, die u. a. wegen Hochverrats angeklagt waren. Die Verhandlung muß Ende November, Anfang Dezember 1935 stattgefunden haben, es war jedenfalls der erste Fall, in dem ich als Verteidiger in einem Strafverfahren auftrat. ... Wenn ich mich recht erinnere, hieß das Verfahren , Linnich und andere'.

Außer Linnich waren von mir drei andere Mandanten zu betreuen, darunter ein Angeklagter, der bestritt, jemals der KPD angehört zu haben, er bestritt auch jegliche illegale Betätigung. Das umfangreiche Aktenmaterial ergab bezüglich dieses, dem Namen nach mir nicht bekannten Angeklagten im wesentlichen nur ein wirklich belastendes Indiz. Der Angeklagte sollte nämlich anläßlich einer seiner Vernehmungen durch die Polizeibeamten und zwar durch die Beamten der Geheimen Staatspolizei erklärt haben: „Ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt, bald brechen doch die Tage der Arbeiterherrschaft an.'Dieses Protokoll trug den üblichen Abschlußvermerk , vorgelesen, genehmigt und unterschrieben'und die Unterschrift des Angeklagten.

Ich suchte den Angeklagten in ... auf. Er saß dort bereits seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Anläßlich meiner Besprechung mit dem Angeklagten wies ich darauf hin, daß ein Geständnis sich für ihn bezüglich des Strafmaßes nur günstig auswirken könne; wenn er jedoch jegliche illegale Tätigkeit auch weiterhin bestreiten würde, müßte er mit einer entsprechend höheren Strafe rechnen. Dabei betonte ich, daß das oben erwähnte Indiz vermutlich den Ausschlag zu seinen Ungunsten geben würde. Denn wenn ein Angeklagter eine derartige Äußerung zugegebenermaßen gemacht habe, müsse man davon ausgehen, daß er zum mindesten der KPD geistig sehr nahe stehe und das mache auch eine illegale Tätigkeit sehr wahrscheinlich. Der Angeklagte bestritt daraufhin mir gegenüber die Richtigkeit des Protokolls, insbesondere bestritt er, jemals die im Protokoll festgehaltene und von mir oben zitierte Äußerung tatsächlich gemacht zu haben. Ich fragte den Angeklagten, warum er dann das Protokoll unterschrieben habe und ob er die Echtheit seiner Unterschrift bestreiten wolle. Der Angeklagte antwortete mir, daß er nur deshalb seine Unterschrift geleistet habe, weil er von den Beamten der Geheimen Staatspolizei geschlagen und erheblich mißhandelt worden sei.

Am Tage der Verhandlung dauerte die Vernehmung der Angeklagten unverhältnismäßig lange. . . Oberlandesgerichtsrat .. ., der den Vorsitz im Oberlandesgericht führte, hatte offenbar bereits die Geduld verloren und fragte meinen Angeklagten lediglich, ob er gestehen oder leugnen wolle. Mein Mandant erwiderte darauf kurz, daß er die ihm zur Last gelegte Tat bestreite. Daraufhin erklärte Herr Oberlandesgerichtsrat...: . Dann können wir wohl mit der Beweisaufnahme beginnen.'In diesem Augenblick griff ich ein und bat, vor Eröffnung der Beweisaufnahme den Angeklagten darüber zu befragen, unter welchen Umständen er das oben zitierte Protokoll unterschrieben habe und ob er insbesondere anläßlich der Unterzeichnung dieses Protokolls von den Beamten der Geheimen Staatspolizei geschlagen worden sei.

Ich hatte die Frage kaum ausgesprochen, als der Staatsanwalt erregt aufsprang und den Vorsitzenden des Gerichts ersuchte, die Be-amten der Geheimen Staatspolizei gegen derartige Angriffe der Verteidigung in Schutz zu nehmen.

Oberlandesgerichtsrat . . . erhob sich seinerseits aus seinem Stuhl, stützte sich mit seinen Händen auf den Richtertisch und sagte zu mir: . Herr Verteidiger, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß, wenn auch die Verhandlung hier unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgt, eine derartige Frage, wie Sie sie gestellt haben, dazu führen kann, daß Sie hier im Saale festgenommen und in Schutzhaft abgeführt werden. Wollen Sie die Frage aufrecht erhalten oder nicht?'

Mir sind die Einzelheiten deshalb noch so genau im Gedächtnis, weil sie für mich außerordentlich eindrucksvoll waren. Ich habe auch später über diesen Fall immer wieder berichtet, weil er mir typisch für die nationalsozialistische Justiz zu sein schien.

In die Totenstille, die der von Oberlandesgerichtsrat ... an mich gerichteten Frage folgte, fielen zur Überraschung aller plötzlich die Worte des beisitzenden Richters Dr. .. . Diese Worte habe ich noch genau im Gedächtnis, sie lauteten: Der Herr Verteidiger braucht seine Frage nicht aufrecht zu erhalten, ich übernehme sie von Gerichtswegen.'

Ich weiß nicht, ob ich persönlich den Mut aufgebracht hätte, unter dem Druck der Situation und als eben zugelassener Anwalt, an meiner Frage festzuhalten. Herr Dr. . . . enthob mich jedoch dieser Entscheidung. Ich habe diesen Mut eines deutschen Richters aufrichtig bewundert. Ich stand auch unter dem Eindruck, daß nur ein schwer kriegsbeschädigter Richter aus dem Kriege 1914/18 sich einen derartigen Mut ungestraft leisten konnte.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde über die von mir angeschnittene und von Herrn Dr. . . . übernommene Frage eingehend verhandelt. Die Verhandlung dauerte von morgens 9. 00 Uhr bis abends 1/2 8 Uhr. Die Beratung nahm allein ca. zwei Stunden in Anspruch. Mein Mandant wurde mangels an Beweisen freigesprochen."

Ein derartiger Mut, der nach dem Bericht des Rechtsanwalts Todsen von dem Richter Dr. ... gezeigt wurde, wird in der Besprechung im Reichsjustizministerium vom 5. Juni 1937 als „mangelndes Rechtsgefühl der Justizbeamten" gekennzeichnet. Andererseits zeigt das Protokoll dieser Besprechung, daß selbst die Spitzen der Justiz im Reichsjustizministerium es als zu gefährlich ansahen, die verschärften Vernehmungen als Staatsnotstand zu bezeichnen und sie insofern als rechtmäßig hinzustellen. In der Besprechung wird in diesem Zusammenhang auf die Frage des § 172 Strafprozeßordnung hingewiesen. Das bedeutet: Hätte man alle Verfahren wegen vorgenommener verschärfter Vernehmungen eingestellt, so wäre zu befürchten gewesen, daß die Verletzten die Möglichkeit des § 172 Strafprozeßordnung wahrnahmen und gegen den Einstellungsbeschluß Beschwerde einlegten. Selbst wenn auf diese Beschwerde ein ablehnender Beschluß der Staatsanwaltschaft ergangen wäre, so hätte der Verletzte doch Antrag auf eine gerichtliche Entscheidung stellen können. Offenbar wagte man aber nicht, sich darauf zu verlassen, daß diese gerichtliche Entscheidung so ausging, wie es gewünscht wurde und der durch die verschärfte Vernehmung Verletzte abgewiesen wurde — jedenfalls wird in der Besprechung im Reichsjustizministerium der Weg des § 172 Strafprozeßordnung als „zugefährlich" bezeichnet. Man machte sich daher die Sache einfach und schaltete die Justiz so gut wie möglich bei der Handhabung des Problems der verschärften Vernehmung aus: Zu der Frage 6, wie die Fälle der verschärften Vernehmungen technisch bei der Justiz zu behandeln seien, heißt es: Die Gestapo Berlin solle bei jeder Anzeige, die nach einer verschärften Vernehmung bei der Staatsanwaltschaft eingehe, eine Genehmigung einholen, die bestätige, daß die verschärfte Vernehmung zulässig gewesen sei. Der Bescheid an den Verletzten könne dann einfach lauten: „Nach den Ermittlungen liegt eine strafbare Handlung nicht vor." Bei Einwirkungen, die selbst von der Gestapo als unzulässig angesehen wurden, sollte Bericht an die Zentralstaatsanwaltschaft erfolgen — was ebenfalls mit einer Niederschlagung des Verfahrens gleichzusetzen war: Nicht mehr durch Gesetz, sondern durch die Gestapo wurde bestimmt, wann eine Handlung strafbar warl Immerhin war diese Lösung nur notwendig geworden, weil man sich trotz der Lenkung der Rechtspflege durch das Reichsjustizministerium nicht darauf verlassen konnte, daß die Richterschaft auch wirklich ihre Entscheidungen so fällte, wie es von oben gewünscht wurde. Sie tat es in den meisten Fällen — aber es war nie sicher, ob sie es tat. Hier lag für die Spitzen der nationalsozialistischen Justiz ein Unsicherheitsfaktor, der bei der im Zeitpunkt der Machtübernahme bereits im Dienst befindlichen Richterschaft nicht ganz auszuräumen war, sondern nur durch Beeinflussung und Drohung so klein wie möglich gehalten werden konnte.

Die den Nationalsozialisten verdächtigen Elemente der Richterschaft — die sozialdemokratischen Richter, Richter, die ihre religiöse Zugehörigkeit allzu sehr betonten, waren bereits durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 aus dem Staatsdienst ausgeschlossen worden. Der weitaus größte Teil der Richterschaft war nach 1933 Mitglied der Nationalsozialistischen Partei — allein in Frankfurt am Main, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, waren nach Schätzungen amtlicher Stellen 90— 95 Prozent der Richter in der NSDAP. Schon der Diensteid, den jeder Richter nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten neu abzulegen hatte, verpflichtete sie, von nun an Recht im Namen des Führers zu sprechen. „Ich schwöre: ich werde dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehoisam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe."

Es war für die meisten der Richter nicht der erste Eid, den sie schworen. Aber sie schworen ihn — bis auf wenige Ausnahmen.

Wie heißt es bei Maria Stuart, 1. Aufzug, 7. Auftritt:

„. .. Ich sehe diese würd gen Peers mit schnell vertauschter Überzeugung unter vier Regierungen den Glauben viermal ändern."

Und die Spitzen der Justiz achteten sehr wohl darauf, daß dieser Glaube der rechte war, der Glaube an das nationalsozialistische System.

Verhielt sich ein Richter im Staatsdienst korrekt, versagte er aber im Dienst in der NSDAP, so wurde er nicht nur von den Spitzen der Partei, sondern von seinen Dienstvorgesetzten in der Justiz zur Rechenschaft gezogen. „Der Amtsgerichtspräsident.

4 H. 82.

(20) Hannover-O, den 20. Mai 1944 Fernsprech-Sammel-Nr. 2 76 11-17

Bei allen Eingaben ist vorstehendes Aktenzeichen anzugeben.

Wie mir der Kreisleiter mitteilt, sind Sie durch einstweilige Verfügung vom 9. Mai 1944 wegen wiederholter Interessenlosigkeit aus der Partei ausgeschlossen.

Ich bitte mir mitzuteilen, wann Ihnen die einstweilige Verfügung zugestellt ist, ob Sie gegen den Ausschluß das zulässige Rechtsmittel eingelegt haben und welche Vorwürfe zu Ihrem Ausschluß geführt haben. (Unterschrift)"

Dennoch fanden sich Richter, die sich nicht dem nationalsozialistischen System anpaßten, die nach ihrem eigenen Gewissen entschieden. So etwa der Dachauer Amtsrichter, der sich bei den Totmeldungen, die er als zuständiger Nachlaßrichter aus dem Konzentrationslager Dachau erhielt, nicht mit den stereotypen Angaben über die Todesursache zufrieden gab, sondern in jedem einzelnen Fall — und es waren viele Fälle — rückfragte, welche Todes-ursache wirklich vorlag. Er brachte die Nationalsozialisten in mehr als eine Verlegenheit — solange, bis dem Amtsrichter selbst die Einweisung in das Konzentrationslager angedroht wurde

Der Amtsrichter Dr. Lothar Kreyssig erstattet Anzeige wegen Tötung von Geisteskranken

Dem Amtsrichter Dr. Lothar Kreyssig, Vormundschaftsrichter in Brandenburg/Havel und Mitglied der Bekennenden Kirche wurden als Vormundschaftsrichter immer wieder Akten vorgelegt, in denen die Vormünder beziehungsweise Pfleger von Geisteskranken berichteten, daß die Geisteskranken in den Anstalten, in die sie eingewiesen worden waren, verstorben waren. Kreyssig richtete daraufhin am 8. Juli 1940 folgendes Schreiben an den Reichsjustizminister „Als Vormundschaftsrichter in Brandenburg/Havel berichte ich folgendes:

Vor etwa zwei Wochen wurde mir von einem Bekannten berichtet, es werde erzählt, daß neuerdings zahlreiche geisteskranke Insassen von Heil-und Pflegeanstalten durch die SS nach Süddeutschland gebracht und dort in einer Anstalt vom Leben zum Tode gebracht würden. Im Ablauf von etwa zwei Monaten bis heule habe ich mehrere Aktenstücke vorgelegt bekommen, in welchen Vormünder und Pfleger von Geisteskranken berichten, daß sie von einer Anstalt in Hartheim/Oberdonau die Nachricht erhalten hätten, ihr Pflegling sei dort verstorben. Die verwahrende Anstalt habe von . einem Kriegskommissar'oder vom . Kriegsminister'die Anweisung erhalten, den Kranken zur Verlegung in eine andere Anstalt herauszugeben, den Angehörigen aber nichts mitzuteilen. Diese würden von der ausnehmenden Anstalt benachrichtigt werden. Hierin stimmen fast alle Berichte überein. In der Angabe des Leidens, dem der Kranke in Hartheim erlegen sei, weichen sie voneinander durchaus ab. Auch ist der Inhalt, der an die Angehörigen oder gesetzlichen Vertreter gegebenen Nachrichten verschieden ausführlich. Alle stimmen dagegen wieder in der Bemerkung überein, daß wegen der im Kriege herrschenden Seuchengefahr der Verstorbene sofort habe eingeäschert werden müssen. In einem Falle handelt es sich um einen wegen Geistesschwäche entmündigten Querulanten, der mehrfach bestraft war. In einem anderen Falle war der Kranke auf Kosten von Verwandten untergebracht. Hier hat der Bruder des Verstorbenen das ihm gesandte Schreiben beigefügt. Es enthält den Satz, daß es aller ärztlichen Kunst nicht gelungen sei, den Kranken am Leben zu erhalten.

Nach anderen Akten sind Anzeichen vorhanden, daß auf ähnliche Weise auch in sonstigen Anstalten Kranke verbracht und dort gestorben sind.

Es ist mir kaum mehr zweifelhaft, daß die schubweise aus den Unterbringungsorten abtransportierten Kranken in der genannten Anstalt getötet worden sind. Trifft es zu, so ist zu vermuten, daß es weiterhin geschieht. Ich möchte auch nicht durch eigene Erörterungen vorgreifen. Ich berichte daher, obwohl ich bisher nur Beweisanzeichen habe.

Ich setze im folgenden voraus, daß meine Vermutung zutrifft, d. h., daß man gewisse in Anstaltpflege befindliche Geisteskranke ohne Wissen der Angehörigen, der gesetzlichen Vertreter und der Vormundschaftsgerichte, ohne die Gewähr eines geordneten Rechts-ganges und ohne gesetzliche Grundlage zu Tode bringt.

Ich weiß, daß es eine große Anzahl Wesen gibt, die nur noch der äußeren Erscheinlichkeit nach etwas Menschliches haben, im übrigen aber von Geburt an oder durch Zerstörung ihrer geistigen Fähigkeiten ein fast tierhaftes Dasein führen, nach aller menschlichen und ärztlichen Erfahrung nie geheilt werden, in Anstalten versorgt werden müssen, wertvolle Menschenkräfte in großer Zahl nutzlos beanspruchen und dem Volk ungeheure Summen kosten. Die Frage nach dem Sinn solchen Lebens rührt an die tiefsten Daseinsfragen überhaupt. Sie führt unmittelbar auf die Frage nach Gott. So ist auch meine Stellung zu ihr und — denke ich — vieler anderer Deutscher und deutscher Richter durch meinen christlichen Glauben bestimmt. Von dort her ist die , Vernichtung lebensunwerten Lebens'überhaupt ein schwerer Gewissensanstoß. Leben ist ein Geheimnis Gottes. Sein Sinn ist weder im Blick auf das Einzelwesen noch in dessen Bezogenheit auf die völkische Gemeinschaft zu begreifen. Wahr und weiterhelfend ist nur, was Gott uns darüber sagt. Es ist darum eine ungeheuerliche Empörung und Anmaßung des Menschen, Leben beenden zu dürfen, weil er mit seiner beschränkten Vernunft es nicht oder nicht mehr als sinnvoll begreift. Ebenso wie das Vorhandensein solchen hinfälligen Lebens ist es eine von Gott gegebene Tatsache, daß es allewege genug Menschen gegeben hat, die fähig waren, solches Leben zu lieben und zu betreuen, wie rechte Liebe ihre Größe und den Abglanz ihrer göttlichen Herkunft gerade dort hat, wo sie nicht nach Sinn und Wert fragt. Es ist vermessen, zu beurteilen oder sich darüber hinwegzusetzen, was wohl , lebensunwertes Leben'für die ewige Bestimmung der Menschen bedeutet, die damit nach den Ordnungen Gottes als Eltern oder Angehörige oder Arzte oder Berufspfleger verbunden sind.

Ich weiß ferner, daß trotzdem mit einer Denkweise gerechnet werden muß, welche das Problem als sittliches oder rechtliches ohne Rücksicht auf die Glaubensfrage beurteilen will. Auch sie muß den Maßnahmen aus Gewissens-gründen widersprechen, weil die Rechtsgewähr fehlt. Man lese nach, was etwa Binding zusammen mit Hoche in der Schrift , Die Vernichtung des lebensunwerten Lebens'über die Notwendigkeit verfahrensmäßiger Rechts-garantien meint. Zur Zeit ist nicht bekannt, welches die Voraussetzungen für den Todes-entscheid sind. Sicher ist nur, daß hier bei grundsätzlicher Bejahung der rechtlichen und sittlichen Möglichkeiten die Hauptschwierigkeit liegt. Was ist normal? Was ist heilbar? Was ist diagnostisch mit Sicherheit feststellbar? Was ist im Blick auf den unnützen Aufwand für die Gemeinschaft noch tragbar? Wer es zu wissen glaubt, der wüßte noch nicht, was der andere darüber meint. Im rechts-geordneten Verfahren würde dabei helfen, daß der betroffene Angehörige einen begründeten Antrag zugestellt bekäme. Er würde dazu gehört werden. Es müßte ein Gutachten vorliegen, zu dem er Stellung nehmen könnte. Er würde einen Spruch bekommen, aus dessen Gründen ihn das Verantwortungsbewußtsein der Entscheidung anspräche. Er würde ein Rechtsmittel dagegen haben, um alles vorbringen und durch ein neues Gutachten unterstreichen zu können, was jetzt noch verkannt sein könnte. Und möchte die letzte Entscheidung für ihn nicht minder schwer zu tragen und sogar gewissensanstößlich sein, so würde sich doch alles damit verbinden, was am Rechtsfrieden versöhnlich ist.

Alles das fehlt jetzt. Wer jetzt das Unglück hat, einen nahen Angehörigen in eine Anstalt für Geisteskranke einliefern zu müssen, wird in eine kaum begreifliche Herzensnot gebracht. Er, der von Rechtskunde und Psychiatrie unberührte, einfache Volksgenosse, weiß gar nichts von den Gesichtspunkten, nach welchen sein Angehöriger für die Beseitigung unter Umständen gar nicht in Betracht kommt. Er weiß nur, daß man damit rechnen muß, eines Tages aus Hartheim die Nachricht vom unerwarteten Ableben des Angehörigen und die Aufforderung zu bekommen, daß man über die Urne verfüge. Noch schlimmer muß der Seelenzustand unter den Anstaltsinsassen sich gestalten. Insbesondere ist m. E. gar nicht abzusehen, welche ungeheuerlichen Folgen der dadurch geschaffene seelische Druck für die Kranken haben muß, die nur wenig gestört, aber natürlich psychisch oder nervös oder geistig besonders anfällig sind. Russische Emigranten berichten ergreifend über die Seelen-lage von Gefangenen in Kerkern, wo täglich um dieselbe Stunde der Henker eine Anzahl Gefangene aufruft, die ihm folgen müssen, um erschossen zu werden. Nicht ob es geschieht, ist entscheidend und macht den unbeschreiblichen seelischen Druck aus — die Entscheidung zum Tode kann im Gegenteil fast befreiend empfunden werden, weil es wenigstens Entscheidung ist —, sondern daß es möglich und unberechenbar, weil in einem Zustand von Rechtlosigkeit dem Gutdünken und der Willkür anheimgegeben ist. Das darf man bedenken, wenn man sich die Lage von Anstaltsinsassen — aber auch ihrer Angehörigen — vorstellen will.

Die Anstalt Hartheim nennt in jedem Bericht eine natürliche Todesursache, in dem einen Fall mit dem Zusatz, daß alle ärztliche Kunst nicht vermocht habe, den Kranken am Leben zu erhalten. Jeder weiß wie ich, daß die Tötung Geisteskranker demnächst als eine alltägliche Wirklichkeit ebenso bekannt sein wird, wie etwa die Existenz der Konzentrationslager. Das kann gar nicht anders sein.

Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechts in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, vollkommen z. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil-und Pflege-anstalten. Was beides in der Wirkung aufeinander bedeutet, wird man abwarten müssen. Denn der Gedanke drängt sich auf, ob es denn gerecht sei, die in ihrem Irrsinn unschuldigen Volksschädlinge zu Tode zu bringen, die hartnäckig-boshaften aber mit großen Kosten zu verwahren und zu füttern.

Das bürgerliche Recht besagt nichts darüber, daß es der Genehmigung des Vormundschaftsrichters bedürfe, wenn ein unter Vormundschaft oder Pflegschaft und damit unter seiner richterlichen Obhut stehender Geisteskranker ohne Gesetz und Rechtsspruch vom Leben zum Tode gebracht werden solle. Trotzdem glaube ich, daß der . Obervormund', wie die volks-verbundene Sprechweise den Vormundschaftsrichter nennt, unzweifelhaft die richterliche Pflicht hat, für das Recht einzutreten. Das will ich tim. Mir scheint auch, daß mir das niemand abnehmen kann. Zuvor ist es aber meine Pflicht, mir Aulklärung und Rat bei meiner vorgesetzten Dienstbehörde zu holen. Darum bitte ich."

Auf dieses Schreiben erhielt der Amtsrichter Kreyssig keine Antwort. Daraufhin erstattete er Anzeige wegen Mordes gegen den für die Tötung von Geisteskranken Verantwortlichen. Auch darauf erfolgte nichts. Vor allem aber: es erfolgte auch keine Verhaftung Kreyssigs. War es Zufall? War es eine gewisse Achtung vor dem Verantwortungsgefühl eines Mannes wie Kreyssig? Man fragt sich: Wie hätte die deutsche Justiz in den Jahren 1933 bis 1945 ausgesehen, wenn mehr Richter so gehandelt hätten wie der Amtsgerichtsrat Kreyssig? War es denn wirklich unzumutbar, sich als Richter für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden? Der Fall des Amtsrichters Kreyssig läßt an der Unzumutbarkeit zweifeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. RGBl. I, S. 529.

  2. RGBl. I, S. 1146.

  3. RGBl. I, S. 1679.

  4. RGZ 144, S. 310

  5. § 1 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz-buches vom 4. 9. 1941 (RGBl. I, S. 549)

  6. § 8 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 (RGBl. I, S. 529).

  7. RGSt 68, S. 20.

  8. RGBl. I, S. 1333.

  9. Deutsches Recht, 1939, Heft 28, Seilen 1510— 1511.

  10. RGBl. I, S. 414.

  11. RGBl. I, S 1709.

  12. RGBl. I, S. 282.

  13. RGBl 1, S. 722.

  14. Deutsches Recht, 1940, Heft 34, Seiten 1354— 1355.

  15. Führerinformation des Reichsministers der Justiz, Bundesarchiv R 22 Geh. /330.

  16. Nürnberger Prozesse Bd. XXVI, S. 200, Dokument 654— PS.

  17. RGBl. I, S. 175.

  18. aus „Die Innere Mission", Mai—Juni 1947.

  19. Bericht Dachauer Häftlinge

Weitere Inhalte

Ilse Staff, Dr. jur., geb. 1928, studierte in Würzburg, Pisa und Frankfurt am Main, 1957 2. Juristisches Staatsexamen. Der Beitrag dieser Ausgabe ist mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages, Frankfurt a. M., dem im Frühjahr 1964 erscheinenden Band der Fischer-Bücherei „Justiz im Dritten Reich" entnommen.