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John F. Kennedy — Vision und Wirklichkeit | APuZ 4/1964 | bpb.de

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APuZ 4/1964 John F. Kennedy — Vision und Wirklichkeit

John F. Kennedy — Vision und Wirklichkeit

Ekkehart Krippendorff

Zwei Monate sind seit jenem Einschnitt des unheimlich-dramatischen 22. November verstrichen. Seither sind Dutzende von Betrachtungen, Kommentaren, Nachrufen und Würdigungen des 35. Präsidenten der USA, John F. Kennedy, erschienen; genügend, so möchte man meinen, um nun eine notwendige Ruhepause einzulegen, um Distanz zu gewinnen und den durch den Mord aufgewirbelten Staub sich setzen lassen zu sollen zugunsten einer weniger emotionalen, augenblicks-affektierten Bilanz, die erst in späteren Jahren möglich sein kann. Die Emotionen, die Gefühle — auch die Tränen! — hatten ihre Berechtigung, wenngleich auch vielleicht in einem viel echteren, politischen Sinn, als Sie vielfach dargebracht wurden und aus Unkenntnis dargebracht werden konnten. Aus Unkenntnis, weil sie, dem überaus mangelhaften Wissen von amerikanischen Institutionen und politischen Verhältnissen entsprechend, primär der ungewöhnlichen Erscheinung des jugendlichen Präsidenten galten und sehr viel weniger seiner Politik, seinen Konzeptionen, seinem Verständnis von seinem Amt und den sehr realen Interessen der USA, denen er sich vor allem verpflichtet sah. Kurz: es war eine zwar menschliche, aber doch unpolitische Reaktion. Damit aber vergab und vergibt man sich die Chance, das, was an der Präsidentschaft Kennedys so ungemein faszinierend war einerseits und was politisch von diesen drei Jahren zu „lernen“ ist andererseits, herauszuheben und für die Zukunft fruchtbar zu machen. Diese Aspekte jedoch will ich im folgenden versuchen herauszuarbeiten, weil mir scheint, wir tun dem Politiker und dem Präsidenten Unrecht, wenn wir seinen Tod vornehmlich „menschlich“ beklagen.

Ich möchte dabei zunächst etwas über das Amt des amerikanischen Präsidenten und seine reale Ausgestaltung durch Kennedy sagen, dann einige der inneren und äußeren Probleme der USA, denen er sich 1960/61 gegenübersah, kurz umreißen, in einem dritten Abschnitt seine politischen Methoden darstellen, schließlich seine Erfolge und Mißerfolge versuchen gegeneinander abzuwägen und abschließend kurz auf die Frage eine Antwort andeuten: war Kennedy ein großer Staatsmann?

Der Präsident der Vereinigten Staaten — das Amt und Kennedys Amtsführung

Das Amt des amerikanischen Präsidenten ist eine der faszinierendsten politischen Führungsinstitutionen neuzeitlicher Verfassungsstaaten. Seil seiner Begründung durch die Philadelphia Convention (1787) ist es vielfach imitiert, nie aber praktikabel rezipiert worden. Das hat seine guten historischen und soziologischen Gründe, übersahen doch die jeweiligen Theoretiker und Befürworter derartiger Adaptionen regelmäßig die spezifischen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen allein dieses mächtige Führungsamt auf Dauer, ohne in Handlungsunfähigkeit einerseits bzw. in despotische Allmacht andererseits zu degenerieren, bestehen konnte. Ungleich dem be-

kannten „fruchtbaren Mißverständnis“ Montesquieus gegenüber der vermeintlichen klaren Gewaltentrennung in England, hat das amerikanische Vorbild einer machtvollen aber kontrollierten Regierungsexekutive jeweils nur „unfruchtbare Mißverständnisse“ gezeitigt. Dennoch ist es kein Zufall und nicht nur aus der gegenwärtigen Machtposition der USA zu verstehen, daß der amerikanische Präsident mehr als irgendein anderes Staatsoberhaupt als Staatsoberhaupt die Phantasie und das Interesse einer breiten politischen Journalistik in vielen Teilen der Welt beständig in Bewegung hält.

Einer der Gründe dafür liegt in dem quasi-monarchischen Charakter dieser Institution. Die oft konstatierte populäre Prädisposition für den Glanz prinzlicher Herrschaft kann sich hier •— im Unterschied zur realen Machtlosig-B keit europäischer Potentaten — verbinden mit dem Respekt vor tatsächlicher Regierung und Führung. Die auch über den Kreis von Politik-wissenschaftlern hinaus bekannte Tatsache, daß in den USA Staatsoberhaupt und Regierungschef in der Person des Präsidenten zusammenfallen, hat mehr als nur verfassungstheoretische Bedeutung; sie eröffnet dem jeweiligen Inhaber des Amtes über die Ausübung seiner Regierungsvollmachten hinaus die Entfaltung aller jener Qualitäten, die die Staatsautorität braucht, um mehr als nur Machtspitze zu sein: Glanz, Repräsentation, Zeremoniell. Aber nicht nur das: auch der Klatsch, das menschliche Detail, die liebenswürdig-unpolitische Anteilnahme der Gazetten, die humane Intrige, all das siedelt sich hier an. Es gäbe Dutzende von Beispielen, an denen es sich exemplifizieren ließe, wie nahe die amerikanische Präsidentschaft in ihrem folkloristischen Aspekt der aufgeklärten, konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts steht. Und es gehört mit zu den „Geheimnissen" der Regierung Kennedy, diese Seite der Präsidentschaft systematisch gepflegt zu haben. Angefangen von der Frau, von der man nicht ohne Berechtigung gesagt hat, daß John F. ohne sie die Wahl von 1960 kaum gewonnen hätte, weiter über die Kinder, deren jedes neue Pony Gegenstand eines Bildes in den hunderten kleinen und auch großen Zeitungen war, bis hin zu den Brüdern, Schwestern, Schwagern etc. — das alles las sich in der amerikanischen Presse wie eine große Hofberichterstattung. Mehr als irgendein anderes gewähltes politisches Oberhaupt steht es in der Macht bzw.der konkreten Gestaltung dieser Macht des Präsidenten, dem amerikanischen Volk Maßstäbe zu setzen — Maßstäbe des persönlichen Verhaltens etwa im Familienleben, Maßstäbe der Mode, des Geschmacks, des Lebensstils, Kunst und Literatur buchstäblich „hoffähig" zu machen (oder auch nicht), Sport, Spiel und Lektüre vieler Amerikaner entscheidend in diese oder jene Richtung zu lenken etc.

Nur einen Aspekt dieser maßstabsetzenden Funktionen des Präsidentenamtes wollen wir hier im Falle Kennedy besonders erwähnen — aber einen, der, wie noch später zu zeigen sein wird, mehr denn akzidentellen Charakter hatte für diese Regierung: der Versuch nämlich,

Kunst und Literatur an die Politik heranzuführen, sie miteinander zu „versöhnen“. Die Kluft, die scheinbar unaufhebbare Dichotomie zwischen „Politik und Geist", die nun nicht ein spezifisches Problem der amerikanischen Gesellschaft ist, hatte doch hier in besonderem Maße zu einer Entfremdung geführt bzw. dazu, daß die Kunst im weitesten Sinne des Wortes viel weniger jene offizielle Anerkennung und Förderung durch die gesellschaftliche und politische Elite erfuhr, als das traditionell in Europa aus dem feudalistischen Erbe der Fall war und ist. So darf man es in bescheidenen Grenzen doch eine „Revolution" nennen, daß Kennedy zu seiner Inauguration den Grand Old Man unter den amerikanischen Lyrikern, Robert Frost, vor Millionen Fernsehern zu rezitieren bat, daß unter den geladenen Gästen sich die führende literarische Intelligenz Amerikas befand, daß er später Nobelpreisträger, Musiker und Schauspieler ins Weiße Haus holte und die Planung eines großen Zentrums für die darstellenden Künste bis zur Grundsteinlegung in Washington energisch vorantrieb. Was auf der anderen Seite auf die Legitimierung des experimentellen Denkens in der Politik, auf die Fruchtbarmachung akademischer Intellektualität für die Planung und Regierung dieser Weltmacht abzielte, das hatte hier die im höchsten Maße „erzieherische" Absicht, der Kunst die Weihe der gesellschaftlichen und politischen Macht zu geben und sich möglicherweise auch umgekehrt von ihr befruchten zu lassen.

Der Vergleich der amerikanischen Präsidentschaft mit der konstitutionellen Monarchie ist aber auch von einigem politischen Erkenntnis-wert und hilft, das weltweite Interesse an dieser „Figur" zu erklären. Und zwar insofern, als wir hier eine der wenigen Führungsinstitutionen vor uns haben, in der anscheinend Macht noch persönlich und direkt ausgeübt wird von einem im ständigen Rampenlicht einer aufgeklärten und kritischen Öffentlichkeit stehenden Individuum, das auf Grund eines anscheinend simplen, übersichtlichen Wahlverfahrens seine zeitlich klar begrenzte Regierungslegalität direkt von einem Entscheidungsakt seines Wahlvolkes ableiten kann. Die zweifache Einfügung von „anscheinend in bezug auf die persönliche, direkte Machtausübung und das übersichtliche Wahlverfah-ren markiert die Stellen, an denen die ernsthafte und tieferdringende politische Analyse des amerikanischen Präsidialsystems anzusetzen und dabei ein gut Teil populärer Illusionen zu zerstören hat. Aber das schließt doch die überaus schwerwiegende und für die persönliche Identifikation des einzelnen Bürgers mit seinem Staat psychologisch nicht hoch genug zu bewertende Tatsache aus, daß es zum festen Bestandteil der amerikanischen politischen Folklore gehört, im Präsidenten, und zwar genauer: in der jeweiligen Persönlichkeit des Präsidenten das eigentliche Zentrum staatlicher Akte zu sehen. Machtausübung bzw. politische Entscheidungen werden somit in den Augen der Betroffenen ihres abstrakten, im allgemeinen langwierigen, unübersichtlichen Prozeßcharakters entkleidet und damit personifiziert, oder, wenn man so will, „humanisiert". Es ist „der Präsident", der dieses oder jenes so oder so getan oder entschieden hat, und es wird nicht oder doch nur sehr selten wahrgenommen, daß dahinter meist langwierige politische Auseinandersetzungen sich verbergen, das Aushandeln und Ausbalancieren von höchst komplexen, widerstreitenden Interessen und Faktoren. Ein Umstand, der besonders im Vergleich mit europäischen Verhältnissen klar hervortritt, wo in den Augen der Bürger nur sehr selten Entscheidungen der politischen Führung mit „dem Bundeskanzler“ oder „dem Premierminister“ identifiziert und damit zur politischen Attacke oder zur Zustimmung personalistisch konkretisiert werden können, vielmehr als gewissermaßen anonyme Akte „der Regierung" erscheinen. Nun hat allerdings dieser Mythos vom Präsidenten, der allein entscheidet, einen richtigen Kern — wie die meisten politischen Mythen. In der Tat ist der Präsident letztlich allein verantwortlich für das Leben von etwa 21/2 Millionen militärischen Personals, für die Handlungen von 21/2 Millionen Bundesbediensteten in den USA und in allen Kontinenten, er allein wird letztlich von 190 Millionen amerikanischer Bürger zur Rechenschaft gezogen für das, was seine Regierung tut oder nicht tut, dazu von über 700 Millionen Menschen in den 40 Amerika durch Bündnisse liierten Ländern, und schließlich ist er der einzige, der ganz konkret die Macht hat zur Auslösung des nuklearen Krieges. Es ist kaum übertrieben, zu sagen, daß gegenwärtig wohl in keiner anderen Person, in keinem anderen Amt so viel rechtmäßige Macht und Verantwortung konzentriert sind. Und wenn man zurückblickt auf die 175jährige Geschichte der Vereinigten Staaten, so gilt darüber hinaus, daß keiner der 34 Vorgänger Kennedys so viel Bürde der Macht unter so rapide komplizierter gewordenen Umständen zu tragen gehabt hat. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, daß das Amt des US-Präsidenten konzipiert wurde, als die USA auf nur einem Viertel ihres gegenwärtigen Territoriums knapp 4 Millionen Menschen umfaßten, für die ein Budget von 6 Millionen Dollar und einige hundert Bundesangestellte zunächst zu genügen schienen, und als die Vorstellung von Amerika als einer Welt-macht mit globalen Verpflichtungen in allen Kontinenten undenkbar erschien, ja sogar als mit allen Mitteln zu bekämpfende Gefahr definiert wurde.

Ob die Machtbefugnisse des amerikanischen Präsidenten größer sind als ihre Beschneidungen, darüber gibt es lange gelehrte und publizistische Kontroversen. In der Tat ist die Frage nicht leicht und vor allem nicht generell zu entscheiden. Der angedeutete Vergleich mit europäischen Regierungen fällt hinsichtlich ihrer tatsächlichen Regierungsgewalt nicht selten zuungunsten des amerikanischen Präsidenten aus, trotz jenes Anscheines seines größeren persönlichen Entscheidungsspielraumes. In einer für das wirkungsvolle, effektive Regieren oft, sogar sehr oft höchst belastenden, ermüdenden, ja für das Geschick der Republik nicht selten gefährlichen Weise muß sich der amerikanische Präsident die Beschränkung seiner Macht durch den Kongreß gefallen lassen, jene zur Sicherung vor Amtsmißbrauch und Despotie eingebauten " checks and balances", die bisweilen das ganze System in einem lähmenden Gleichgewicht erstarren lassen. Jedoch hat die Verfassung, und mehr noch die politische Wirklichkeit für starke Präsidenten hier genügend Wege offengelassen, dennoch zu führen, zu regieren, dem Land und seinen internen Gegnern seinen Willen und seine Konzeption aufzuzwingen. Die amerikanische Geschichtswissenschaft, die das Glück hat, ein großes kontinuierliches Gewebe zu ihrem Gegenstand zu haben und so in gewissem Grade Hagiographie zu sein und auch fast sein zu dürfen, gefällt sich immer einmal wieder darin, eine Größenordnung Ihrer Präsidenten aufzustellen, starke große von mittleren guten und schwachen Präsidenten zu unterscheiden. Wenn wir einmal von dem fast heiliggesprochenen George Washington absehen, der fast jenseits jeder kritischen Wertung steht, so gilt es wohl als allgemein akzeptiert, Jefferson und Lincoln unter die „Großen“ zu rechnen, auch Jackson, Theodore Roosevelt, Wilson und natürlich „FDR". Bei allen diesen handelt es sich um Männer, die in der Lage waren, dank ihrer überlegenen politischen Fähigkeiten dieses schwerfällige, kritische, regierungsmißtrauische Land zu führen, ohne den einschränkenden Boden verfassungstreuen Regierens zu verlassen. Es ist kein Zufall, daß John F. Kennedy sich der trotz jener „checks“ großen, konstruktiven Führungsmöglichkeiten dieses höchsten Amtes bereits lange vor seiner Inauguration bewußt war und erklärtermaßen danach strebte, zumindest ein „starker“ Präsident zu sein, nicht bloß ein Repräsentant, eine Quersumme der sich manifestierenden Interessen und populären Meinungen. Franklin D. Roosevelt gehörte zu seinen selbsterkorenen politischen Vorbildern, und natürlich auch und nicht zuletzt Lincoln. Daß er dieses Ziel, ein „starker Präsident“ zu sein, in seinen drei Amtsjahren verwirklicht hat, das scheint mir außer Frage zu sein, und davon wird später noch zu sprechen sein. Ob er darüber hinaus auch ein „großer Präsident" war, das wird von den Historikern aufgrund der erst noch zu erweisenden Fruchtbarkeit seiner so brutal unterbrochenen Ansätze zu entscheiden sein; doch scheint mir fast, daß ihm dieses Prädikat sicher ist.

Innen-und außenpolitische Probleme zu Beginn der sechziger Jahre

Ehe man mehr über „JFK" selbst, seine Amtsführung und seine politischen Erfolge sagen kann, muß man kurz, aber doch sehr deutlich sich vor Augen halten, welche inneren und äußeren Probleme auf den — jeden — amerikanischen Präsidenten 1961 warteten bzw. noch immer warten. Es spricht in nicht zu unterschätzender Weise für die selbstbewußte politische Sendungsüberzeugung des jungen Senators — wie aber auch für die „Gesundheit“ des amerikanischen politischen Gemeinwesens —, daß man einen solchen Katalog der potentiellen wie der aktuellen Krisen der amerikanischen Gesellschaft relativ leicht aus seinen Wahlreden des Jahres 1960 sowie dann auch aus den Regierungserklärungen des ersten Jahres herausfiltern kann. Man sollte es nicht vergessen — und auch etwa die deutsche Opposition in ihrem Kampf um die politische Macht und gegen ein angeblich passives, immer auf die Seite des Bestehenden gravitierendes Volk sollte es nicht vergessen! — daß Kennedy seinen wenn auch knappen Wahlsieg erfocht mit der Parole: „Ich bin unzufrieden", nicht mit „Ich will dasselbe nur etwas anders weitermachen". Diese Unzufriedenheit, der alarmierende Appell an eine weitgehend selbstzufriedene Öffentlichkeit, sich der eigenen Krisensituation bewußt zu werden, konzentrierte sich innenpolitisch vor allem auf drei Bereiche:

Erstens den Zustand der amerikanischen Wirtschaft. Die amerikanische Wirtschaft leidet seit Jahren unter einer chronischen Arbeitslosigkeit, die bei Kennedys Amtsantritt 6, 9 Prozent ausmachte und in der Tendenz eher steigend als fallend war und noch ist. Mit ihr Hand in Hand geht das Problem der unausgenutzten wirtschaftlichen Kapazitäten so zentraler Industrien wie der Stahlindustrie und die schleichende Inflation. „Wir haben hier das Problem“, so führte der Präsident im Februar 1961 aus, „ob der einzige Weg zur Verhinderung steigender Lebenskosten darin besteht, 51/Millionen Arbeitslose zu haben und einen beträchtlichen Prozentsatz unserer Kapazitäten brach liegen zu lassen." „In den vergangenen 7 Jahren ist unsere Wachstumsrate beängstigend heruntergegangen... sie schwankt gegenwärtig zwischen 2 und 4 Prozent, während die der Sowjetunion z. B. relativ stabil bei 7 Prozent liegt. Die Vereinigten Staaten können es sich in dieser Zeit nationaler Nöte und Weltkrisen nicht leisten, ihre Möglichkeiten zu wirtschaftlichem Wachstum zu verschleudern." Zweitens — und in engstem Zusammenhang mit der stagnierenden Wirtschaft stehend — der Ausbau sozialstaatlicher Maßnahmen. Seit Roosevelts New-Deal-Gesetzgebung, die an Umfang nicht einmal dem Bismarckschen Beispiel nahekam, war in den USA nichts getan worden auf dem Gebiete der Alters-und Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Fürsorge, der staatlichen Hille für unterentwickelte Gebiete im eigenen Land, der Umschulung von Arbeitskräften, die durch die Automation freigesetzt wurden, auf dem weiten Gebiete der städtebaulichen und der Wohnraumentwicklung und -planung etc. Mit der erschreckend hohen Zahl von 40 bis 50 Millionen Menschen, die, nach Berechnungen dei offiziellen Statistiken, unter dem minimalen Existenzniveau leben, die den schweigenden, nicht-wählenden und nicht-organisierten großen Bodensatz des amerikanischen Wohlstandes bilden, mit einer solchen Belastung des Gemeinwesens läßt sich die Gesellschaft nicht . in Bewegung" bringen, wie Kennedy das nicht müde wurde zu proklamieren. Und in einem ganz besonderem Maße bricht dieses schleichende Geschwür auf an der Rassenfront, dem dritten schweren innenpolitischen Erbe in den frühen sechziger Jahren. Denn die Rassen-frage, so sehr sie eine in ihrer ganzen Komplexität noch gar nicht recht erfaßte soziopsychologische Frage ist, nämlich das wirkliche Zusammen-und nicht nur Nebeneinander-leben von zwei „Kulturen", so sehr ist sie doch ein soziales Problem. Oder jedenfalls ist der soziale Aspekt derjenige, an dem eine Regierung mit den Mitteln der Gesetzgebung und der hoheitlichen Machtausübung am sinnvollsten und konkretesten positiv ansetzen kann. Die Arbeitslosigkeit unter der nicht-weißen Bevölkerung ist ziemlich konstant doppelt so hoch wie die der Weißen, das Einkommen einer durchschnittlichen Negertamilie beträgt nur knapp 60 Prozent von dem einer durchschnittlichen weißen Familie, und es sind schließlich vor allem die rund 20 Millionen Farbigen (mehr als 10 Prozent der amerikanischen Bevölkerung I), die die Bürde der sich verschlechternden Wohnungssituation in den ungeplant anschwellenden Großstädten zu tragen haben, für die sich die ungenügende Kranken-und Altersfürsorge am katastrophalsten auswirkt — ganz abgesehen einmal von der beschämenden sozialen Diskriminierung selbst. Diese Situation hatte sich nicht nur von innen her zunehmend zugespitzt und begann, vorrevolutionäre Züge zu tragen, sie war auch nach außen hin unhaltbar geworden. Wenn Lincoln noch sagen konnte, daß eine und dieselbe Nation nicht zugleich halb frei und halb versklavt existieren könne, so galt jetzt auf den weiteren Horizont des Weltmachtanspruches der USA projiziert ganz ebenso: Amerika konnte und kann nicht nach außen hin das Banner der Freiheit hochhalten und im eigenen Haus die Unfreiheit dulden. . Wenn wir in der Welt die Führungsrolle übernehmen wollen, die von uns erwartet wird", so Kennedy, „dann müssen wir auch zu den großen Prinzipien unserer Verfassung stehen, eben jenen Prinzipien, die uns von unseren Gegnern unterscheiden".

Damit kommen wir zum zweiten Problemkreis, dem außenpolitischen. Welches war hier das Erbe, das Kennedy anzutreten hatte und mit dem jeder Präsident 1961 konfrontiert gewesen wäre? Dies sagen, heißt jedoch nicht verkennen, daß die Art und Weise der Definition der Probleme bereits eine bestimmte Wertung bzw. eine spezifische Erkenntnis dieser Probleme impliziert. Auch hier können wir, sehr grob und vereinfacht, aus Kennedys Sicht drei Unterscheidungen vornehmen, die allerdings eng miteinander verknüpft sind.

Es ist erstens die Erstarrung des Kalten Krieges an allen Fronten zu einem globalen Grabenkrieg, in dem die USA sich unter dem Schutz ihrer Überlegenheit an atomaren Total-waffen auf die Verteidigung des „Status quo'zurückgezogen hatten und hinter dessen „Glocke“ sie sich und ihre Verbündeten sicher glaubten. Das hatte eine gewisse Berechtigung, was so klar gezogene „Grabenlinien" wie die in Europa anbetrifft, zeigte aber zunehmend seine Schwäche in den Gebieten, die nicht eindeutig „eingeblockt" waren und wo die atomare Verteidigungsglocke durch den sozialen Krieg unterlaufen zu werden drohte. Die Sowjetunion hatte, nach einer gewissen Periode der Unsicherheit nach Stalins Tod, eine neue, flexiblere Taktik ihrer Außenpolitik entwikkelt, mit der die ältere amerikanische Strategie nicht mehr fertig wurde und die sie erst spät — fast zu spät — als solche überhaupt erkannte. Bis zum Ende der Regierung Eisenhower wurde die amerikanische Außenpolitik mit allen ihren Aktivitäten primär in Kategorien militärischer Sicherheit definiert und exekutiert, deren Mittel militärischer Beistand an Verbündete, ein Maximum an Allianzen mit und zwischen höchst divergierenden Staaten und Gesellschaften und die Verurteilung von Neutralität als „unmoralisch" darstellten.

Nicht nur erhöhte diese Entwicklung die internationale Spannung an allen Fronten, nicht nur drohte sie, neutrale Staaten in das gegnerische Lager zu drängen, sondern es bestand darüber hinaus die sehr reale Gefahr, den Anschluß an die sozial-revolutionäre Welle der nach-kolonialen Bewegung zu verlieren und damit die Möglichkeiten, mit dieser Bewegung konstruktive Politik zu treiben. Kurz: die USA standen im Begriff, hochgerüstet den Krieg, die Auseinandersetzung mit dem antagonistischen kommunistischen System an der sozialen Front zu verlieren.

Zweitens führte jenes Schwarz-Weiß-Denken, die harte, rigoristische Politik der unvermittelbaren Gegnerschaft zu einem äußerst gefährlichen Wettrüsten auf beiden Fronten, und damit steigerte sich die Möglichkeit einer tatsächlichen, wenn auch auf beiden Seiten unerwünschten kriegerischen Entladung. Darüber hinaus begann das Wettrüsten überzugreifen auf die bislang im Schatten der Auseinandersetzung gebliebenen Staaten; die Ausbreitung von Kernwaffen aut immer weitere Länder wurde zu einer akuten Gefahr. Damit wuchs die Möglichkeit, durch Dritte in einen ungewollten totalen Konflikt hineingezogen zu werden Dies ganz abgesehen von der für die biologische Zukunft der Menschheit alarmierenden Beobachtung des Ansteigens radioaktiver Stoffe in der Luft und in einigen Grundlehensmitteln durch lortgesetztes atomares Testen.

Und drittens wurde für die USA die Gefahr, an der sozialen Front den Krieg zu verlieren, dramatisch deutlich am Exempel Lateinamerikas bzw Kubas, wo die Vernachlässigung sozial-ökonomischer Reformen großen Umfanges zugunsten militärischer Blockbildungen sich begann, gegen Amerika und seine politisch wirtschalilichel. Interessen in der Hemisphäre zu entladen Der vor den späten fünfziger Jahren nie ernsthaft erschienene Alptraum eines US-feindlichen Lateinamerika wurde plötzlich eine drohende Realität, und auch sie konnte mit den herkömmlichen Mitteln militärischer Intervention bzw. einer „Politik der Stärke" nicht gemeistert werden.

„Wenn wir", so erklärte Kennedy in einer Botschaft an den Kongreß, „nicht willens sind, unsere Reserven und unsere Energien dem sozialen Fortschritt und der wirtschaftlichen Entwicklung zu widmen, dann werden wir mit der schweren und unmittelbar drohenden Gefahr konfrontiert, daß diese Völker in ihrer Verzweiflung sich dem Kommunismus oder anderen Formen der Tyrannei als der einzigen Hoffnung auf Besserung verschreiben. Gut organisierte, fähige und stark finanzierte Kräfte arbeiten ständig auf dieses Ziel hin". Doch der amerikanische Kongreß reagierte auf diese wie auf andere, ähnlich lautende Warnungen nur kühl und zurückhaltend. Und hier haben wir einen weiteren, letzten Problemkreis vor uns, dem sich ein zur Führung fähiger und williger Präsident heute mehr denn je gegenübersieht: das Verhältnis zu seinem Volk, seinen Wählern und ihren zahllosen politischen Organisationen und Gruppen und dem diese Vielschichtigkeit widerspiegelnden Kongreß. Die USA befinden sich, wie nicht nur Kennedy, sondern Hunderte besorgter, aufgeschlossener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, an den Universitäten, in der gehobenen Journalistik seit Jahren mahnten und warnten, in einer Krise. In einer Krise ihres Systems und in einer Krise ihrer Außenpolitik, die jene Syslemkrise nur reflektiert. Dieses Krisenbewußtsein jedoch war — und ist —weit davon entfernt, sich der Mehrheit des amerikanischen Volkes mitgeteilt zu haben. Mit Ausnahme allenfalls der Rassenfrage erreichte jenes unterirdische Donnern, jenes Knacken im Gefüge des Systems kaum die Ohren derer, für die die Wirtschaft anscheinend florierte, jene 60 Prozent, die am Wohlstand mehr oder minder voll partizipierten, die Arbeit hatten und gut verdienten. Lateinamerika war weit weg und Kuba doch nur eine böse kommunistische Verschwörng lokalen Charakters, die amerikanische Militärmacht stärker denn je, die Sowjetunion unsicher und von nachstalinistisehen Liberalisierungskrisen geschwächt. Man sollte nicht übersehen, daß Amerika bzw. „die Amerikaner" ein zutiefst „konservatives" Volk sind, das Ruhe, Reform, Ordnung, Gesetzlichkeit allen risikoreichen Experimenten, raschen Engagements, tiefgreifenden Änderungen, Eingriffen in die soziale Sphäre und in das Wirtschaftsleben vorzieht, ja in letzteren ständig die Gefahr von „Planwirtschaft", Diktatur, Freiheitsberaubung etc. sieht. Es hat der schweren Wirtschaftskrise von 1929 bedurft, um einen Roosevelt zur Regierung zu bringen und ihn effektiv regieren zu lassen. Für einen Präsidenten von 1961 war die Situation ungemein schwieriger: Er durfte die Krise sich nicht erst auswachsen lassen, sondern mußte ihr zuvorkommen, er mußte das Krisenbewußtsein seinem Volk, seinen Wählern und vor allem seinen mißtrauischen Gegenspielern im Kongreß mühsam einhämmern. Er mußte die Krise sozusagen ideologisch produzieren, um ihre katastrophale Realisierung zu verhindern und die tiefgreifenden Maßnahmen zu ergreifen, wozu sein großer Vorgänger 30 Jahre früher erst in der Lage war, als dem Land und der Gesellschaft das Wasser am Halse stand.

Ohne diesen Hintergrund einer selbstzufriedenen, „konservativen" öffentlichen Meinung und eines diese Stimmung sehr real reflektierenden Kongresses, durch den ja schließlich alle jene notwendigen gesetzlichen Maßnahmen erst realisierbar waren, ohne diesen Hintergrund, ohne diese Voraussetzungen kann man kein adäquates Urteil über Kennedys Erfolge und Mißerfolge, über seine Vision und die widerstrebende „Wirklichkeit" abgeben.

Kennedys politische Methoden

Selbst wenn es sich in der abwägendenAnalyse herausstellen sollte, daß Kennedys Scheitern größer ist, als seine Siege sind, daß seine Visionen, seine Konzeptionen der Realisierbarkeit in tragischer Weise voraus waren, selbst dann wäre das Urteil über seine Präsidentschaft damit noch nicht gesprochen. Denn ganz ungeachtet der Resultate im einzelnen darf doch das, was man als den „KennedyStil" bezeichnet hat, bereits an sich den Wert eines kaum zu überschätzenden Erbes beanspruchen. Dieser „Kennedy-Stil" ist mehr als eine popularitätheischende Finesse, es ist mehr als nur eine spezifische Ausgestaltung des qua Amt den Stempel der Persönlichkeit erfordernden „monarchischen" Charakters der amerikanischen Präsidentschaft. Es ist vielmehr eine Methode des Regierens einer demokratischen Massengesellschaft unter den Bedingungen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, die Schule machen und als Vorbild und Exempel kaum mehr wegzudenken sein wird. Dem wollen wir hier etwas genauer nadigehen.

Da ist zunächst einmal der sprachlich-rhetorische Aspekt. In einer Weise, die bisher in der demokratischen politischen Auseinandersetzung und der staatlichen Führung kaum ihresgleichen hat, zeichneten sich die Wahlreden des Senators wie die Erklärungen des Präsidenten durch Präzision, Sachlichkeit, un-sentimentales Pathos, rationalen Appell, Selbstkritik und nüchternen Optimismus aus. Es bedarf nicht der eingangs angedeuteten umständlichen Analyse, um aus den Reden und Erklärungen Kennedys in der Tat den kritischen Zustand der amerikanischen Wirtschaft, die Krise der amerikanischen Außenpolitik, die brennenden Nöte der amerikanischen Großstädte, die Misere der Arbeitslosen und der Negerbevölkerung zu entnehmen. Zahlen, Statistiken, soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Daten sind hier nicht Beiwerk stilistisch großer Reden, sondern bilden ihr Mark und ihre Essenz. Es ist, wenn man so will, eine Rhetorik der Sachlichkeit, die ihre Überzeugungskraft wesentlich aus dem vorgetragenen Faktenmaterial gewinnt und nur sekundär aus der Art und Weise ihres Vortrags oder aus dem Schwung der „großen Rede". Solche wird man bei Kennedy vergeblich suchen — wie wir sie etwa von Churchill kennen, oder auch von einem der größten deutschen politischen Redner, Kurt Schumacher.

Kennedys Reden sind vielmehr sämtlich Proklamationen der Sachlichkeit, Appelle an die nüchterne Einsicht, Versuche, komplexe Verhältnisse durchsichtig zu machen, ohne sie unzulässig zu simplifizieren. Das ist nicht hoch genug einzuschätzen angesichts des niedrigen sachlichen Niveaus, auf dem sich die meisten heutigen politischen Reden, offiziösen Aufsätze und Regierungserklärungen bewegen. Kennedy hat in einem für einen demokratischen Staat, der trotz allem ja noch immer auf der Prämisse der Urteils-und Entscheidungsfähigkeit vernünftiger Bürger basiert, vorbildlichen Maße versucht, seine Politik und seine Regierungsmaßnahmen, seine Gesetzesvorschläge und seine weitergespannten Ziele einsichtig zu machen, sie auf ihre Rationalität zurückzuführen. Um ihn selbst zu zitieren aus jener letzten Rede, die vorzutragen die Schüsse vom 22. November so brutal verhinderten: „Unwissenheit und Fehlinformationen können den Fortschritt einer Stadt oder eines Betriebes behindern — aber sie können, wenn sie in der Außenpolitik dominieren, die Sicherheit des Landes bedrohen. In einer Welt von kontinuierlichen und komplexen Problemen, in einer Welt voller Frustrierung und Verwirrung muß Amerikas Führung vom Licht der Vernunft und des Lernens sich leiten lassen — sonst werden diejenigen auf der Welle der Popularität zur Macht gelangen, die Rhetorik mit Realität verwechseln, das Plausible mit dem Möglichen, diejenigen, die für jedes Problem der Welt anscheinend rasche und einfache Losungen parat haben ... Wir können kaum erwarten, daß jeder...dem amerikanischen Volk nur Vernünftiges sagt, aber wir dürfen hoffen, daß immer weniger Leute auf Unsinn hören." In dieser Hoffnung, durch Vernunft und Einsicht in komplexe Zusammenhänge zu überzeugen, ist einer der Grundsteine der Kennedyschen Vision zu sehen.

Eine Darstellung des sprachlichen Aspektes der Kennedyschen Führung wäre jedoch unvollständig, erwähnte man nicht ein zweites Charakteristikum seiner Rede. Mit konkreter Analyse, mit Zahlen und Fakten allein läßt sich keine Politik im Bewußtsein eines noch so aulgeschlossenen Volkes begründen. Es kommt im Falle Kennedys die Fähigkeit hinzu, neue, schlagende, einprägsame Sätze zu tormulieren, die wie Münzen im täglichen Leben weitergegeben werden können und die sich festsetzen in der politischen Landschaft wie Orientierungslichter. Seine Inaugurationsadresse ist ein solches Dokument geschliffener, handgreiflicher Formulierungen, die ebenso-10 wenig wie Lincolns Gettysburg-Adresse aus dem heutigen intellektuellen Amerika wegzudenken ist. “ Let us never negotiate out of fear, but let us never fear to negotiate" (Laßt uns niemals aus Furcht verhandeln, aber laßt uns nie fürchten, zu verhandeln), ist eine dieser ebenso einfachen wie die ganze Problematik der Politik zwischen Ost und West implizierenden Formeln. Oder auch diese andere: " If a free Society cannot help the many who are poor, it cannot save the few who are rieh" (Wenn eine freie Gesellschaft nicht den vielen helfen kann, die arm sind, kann sie nicht die wenigen retten, die reich sind). Nichts ist schwieriger — aber auch nichts notwendiger —, als in einer Zeit so großer intellektueller wie ideologischer Unsicherheit den Versuch zu machen, derart Ordnung durch sprachliche Klarheit zu stiften, zu erziehen, ohne zu simplifizieren, sich zu erklären, ohne zu verwirren. Und dies ist mehr als nur eine Frage des „Stils".

Diese spezifische politische Semantik hat nämlich ihren Ursprung nicht nur und allein in der Persönlichkeit Kennedys, der sie für den öffentlich-politischen Markt artikulierte — sie entspringt vielmehr einer spezifischen Methode weniger des Regierens als vielmehr des Verständnisses politischer Probleme der zweiten Jahrhunderthälfte. Es ist dies die zum ersten-mal nicht nur akzidentelle, sondern systematische Verwendung wissenschaftlichen Denkens in der Politik. Und zwar wissenschaftliches Denken hier zweifach verstanden: einmal als Versuch, die Ideologie zu zügeln, sie auf klare Begriffe hin zu disziplinieren, die noch nicht der allgemeinen sprachlichen Erosion unterlegen und unklar geworden sind, zum anderen aber auch im engeren Sinne des Wortes Wissenschaft als Anwendung „reiner", theoretischer Erkenntnisse, Einsichten, Gesetzmäßigkeiten und Kategorien auf politische Zusammenhänge, um dem politischen Handeln damit rationale Voraussetzungen zu verleihen.

Das trifit naturgemäß primär aut die Verwendung sozialwissenschaftlicher Disziplinen zu, ohne doch auf sie beschränkt zu sein. Der Teststop-Vertrag des Jahres 1963 etwa und alle von hier aus weitergehenden Versuche der Rüstungskontrolle und späteren Abrüstung sind undenkbar ohne ein hohes Maß naturwissenschaftlich-physikalischer wie mathemaB tischer Kenntnisse, und es ist z. B. kein Zufall, daß Kennedys Berater für Wissenschaft und eine der Schlüsselfiguren in allen theoretischen Vorarbeiten für nukleare Abrüstung ein bedeutender Physiker war, Jerome B. Wiesner, vom Massachusetts Institute of Technology. Probleme derart komplexer Sachnatur sind einfach nicht mehr mit herkömmlichen politischen Methoden und Kategorien zu lösen, und die Wissenschaft nimmt hier automatisch mehr als nur die Rolle einer „Magd der Politik“ ein, sie wird leicht zu ihrem Meister. Ähnliches gilt auf dem Gebiete der Rüstung. Auch für die Wirtschaft holte sich Kennedy einige der brillantesten Köpfe aus den großen liberalen Universitäten, für die außenpolitische Planung den Wirtschaftshistoriker W. W. Rostow usw. Auch die Milliarden-Dollar-Programme der Auslandshilfe wurden jetzt zum erstenmal auf eine soziologisch, ethnologisch und anthropologisch fundierte Grundlage gestellt. Eine von einer zunächst „rein akademischen" Studiengruppe erarbeitete Gemeinschaftsschrift über die politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Probleme der „aufsteigenden Nationen“ wurde zur Programmschrift der neuen Regierung, und ihre Erkenntnisse schlugen sich in konkreten Maßnahmen, in administrativen Reorganisationen und in den Regierungsproklamationen nieder. Oder nehmen wir etwa den nach „Kuba“ eingerichteten „heißen Draht“ zwischen Moskau und Washington: er ist keineswegs die geniale Eingebung eines entspannungsbereiten, Krisen entschärfen wollenden Präsidenten, sondern Teilstück einer sehr viel systematischeren Politik, die auf einer wissenschaftstheoretischen Prämisse aufbaut: der nämlich, daß Kommunikation zwischen Systemen verschiedener Struktur zur langsamen Verwandlung entweder der einen oder beider Strukturen führt. Dieses Problem ist in der Physik theoretisch seit langem bekannt und untersucht worden, es ist seit Jahren Gegenstand der amerikanischen Soziologie (Kommunikationsforschung ist ein fester Bestandteil amerikanischer Forschung und Lehre) und seit einiger Zeit auch von der Politikwissenschaft adaptiert und zur Erhellung bestimmter Phänomene mit Erfolg verwandt worden. Die gesamte Kennedy-Politik gegenüber der Sowjetunion läßt sich ohne Schwierigkeit — und ohne den Bogen ungebührlich zu Überspannen — auf diese theoretische Prämisse zurückführen: je mehr Kommunikation, desto besser und desto größer die Chance einer Strukturänderung der Sowjetunion. Zum erstenmal systematisch geförderte Wissenschaftlerkonferenzen zwischen beiden Staaten gehören ebenso zu den praktischen Konsequenzen wie die Einrichtung einer regelmäßigen Flugverbindung oder eben der „heiße Draht", Eine solche „Verwissenschaftlichung der Politik" — denn darum handelt es sich hier und nicht um „die Intellektuellen in der Politik" — setzt aber nicht nur voraus, daß die politische Führung bereit und willens ist, sich des wisenschaftlichen Denkens und wissenschaftlicher Disziplinierung ihrer Konzeptionen zu bedienen. Diese Bereitschaft war im Falle Kennedys gegeben. Man wird hinzufügen dürfen zur Unterstützung einer in Deutschland nur äußerst zurückhaltend und widerstrebend akzeptierten Disziplin: Sein eigenes Studium der Politikwissenschaft war dabei eine nicht unwesentliche Voraussetzung. Die zweite Bedingung ist nämlich zumindest ebenso wichtig wie die erste: daß hier nämlich in einer Weise wissenschaftlich gefragt und geforscht wird, die sich ihrer potentiellen sozialen und politischen Relevanz bewußt ist. I. a. W., nur weil die führenden amerikanischen Physiker sich beizeiten mit den Problemen der Abrüstung beschäftigt hatten, nur weil Soziologie und Ökonomie der Entwicklungsländer bereits feste Bestandteile der akademischen Forschung waren, nur weil Strategie und Taktik der internationalen Politik ein relativ hohes theoretisches Niveau politikwissenschaftlicher Durchdringung schon erreicht hatten, nur darum konnte eine weitsichtige Führung sich ihrer Ergebnisse in so kurzer Zeit voll bedienen und führende Vertreter der einzelnen Gebiete sogar in verantwortliche Stellungen berufen. Hier jedenfalls, in der sachlichen Klärung des Vorraumes politischer Entscheidungen, fielen für den jungen Präsidenten Kennedy Vision und Wirklichkeit politischer Möglichkeiten in glücklicher Harmonie zusammen. Die überragende Qualifikation seines Führungsteams — und zwar nicht nur des engeren Kreises der Berater im Weißen Haus — stellt das unter Beweis und ist das einzige sichtbare wenn auch flüchtige Monument seiner Vorstellungen davon, wie, mit welchen Leuten und welchen Methoden man verantwortliche, konstruktive, vernünftige Politik in der zweiten Jahrhunderthälfte machen sollte. Und es ist wohl mehr als politische Taktik, sondern Anerkennung und Respekt vor gerade dieser Leistung, daß Präsident Johnson selbst so intime „Kennedyaner" wie Sorensen und McGeorge Bundy im Amt zu bleiben bat.

Erfolge und Mißerfolge

Fassen wir bis hierher kurz zusammen: Das anscheinend so mächtige, tatsächlich aber höchst komplex in die politische Wirklichkeit verstrickte Amt des amerikanischen Präsidenten läßt zwar einen gewissen Spielraum für starke persönliche Impulse, findet aber seine Schranken in der Verfassung einerseits, in der sozialen Stabilität und im Beharrungsvermögen der amerikanischen Gesellschaft andererseits. Kennedy sah auf diese sich in ruhiger Selbstsicherheit wiegende Gesellschaft sehr reale innen-und außenpolitische Krisen zukommen, die, wenn nicht beizeiten verhindert, zur Katastrophe führen würden. Mit den Mitteln einer eigenwilligen, sachlich argumentierenden und zugleich politische Leitformeln prägenden Rhetorik versuchte er, dieser saturierten Wohlstandsgesellschaft das Bewußtsein ihrer Existenzkrise einzuhämmern. Den einzigen Weg sinnvollen Regierens sah er in der maximalen Verwertung wissenschaftlich-rationaler Methoden. Hat dieser Ansatz — und über einen Ansatz ist dieser ehrgeizige Versuch durch tragische Umstände nicht hinausgekommen — genügend Erfolge oder Mißerfolge gezeitigt, daß man etwas über seinen Wert und damit über Kennedy als Politiker und Staatsmann aussagen kann? Die Antwort darauf ist nicht leicht und jedenfalls nicht eindeutig positiv oder negativ. Nimmt man jedoch die kurzen drei Jahre als Ganzes, so erlaubt die Fülle der innen-und außenpolitischen Ereignisse, soweit sie auf die Initiativen der neuen Regierung selbst zurückgehen — ihre Gesetzentwürfe, ihre Exekutivmaßnahmen, ihre außenpolitischen Aktionen — zumindest ein Ja auf die Frage, ob der Ansatz Material genug für eine vorläufige Bilanz abgibt.

In diese drei Jahre fällt ein ganzes Bündel sozialstaatlicher Gesetzesvorschläge, fällt die bisher schärfste Konfrontation mit dem Rassenproblem, eine dramatische Auseinandersetzung mit der mächtigen Stahlindustrie, die Einleitung einer weitausholenden militärischen Umrüstung, die Neuformulierung der Auslandshilfe mit erstmaligem Schwergewicht auf der Sozialpolitik als eines Mittels der Außenpolitik, die optimistische „Allianz für den Fortschritt" zur sozial-ökonomischen Reform und Stabilisierung Lateinamerikas, die seit Bestehen des Ost-West-Antagonismus akuteste Kriegsgefahr mit der Sowjetunion in der KubaKrise und der erste konkrete Schritt zur Enspannung des sowjetisch-amerikanischen Verhältnisses mit dem Teststop-Vertrag. Das ist eine — etwa gemessen an den acht Eisenhower-Jahren — eindrucksvolle Bilanz eines Mannes, der es sich zum erklärten Ziel gesetzt hatte, “ to get America on the move again”, Amerika wieder in Bewegung zu versetzen. Aber es ist eine Sache, wenn die Regierung ein solches Feuerwerk von Initiativen abbrennt, und es ist eine andere, ob die Betroffenen, von deren Mitgehen ja schließlich der Erfolg derartiger stürmischer Schritte abhängt, auch kooperieren. Und hier hängt das Bleigewicht an der so unruhigaktivistischen Führungsgruppe im Weißen Haus. In der Tat ist es Kennedy nur in sehr bescheidenem Maße gelungen, Amerika, das amerikanische Volk politisch zu mobilisieren, seine persönliche Ausstrahlungskraft und sein Charisma, alle jene „monarchistischen Attribute" seines Amtes in politische Einsicht und Gefolgschaft umzusetzen. Und zwar tragischer-weise besonders gering gerade an den Punkten, die ihm für die Zukunft, für die vorsichtige Aufklärung Amerikas zu einer differenzierend-realistischen Weltnation von so entscheidender Bedeutung waren. Es ist tragisch, daß seine Popularität ihren — nach den Statistiken der Meinungsforscher — höchsten Stand erreichte angesichts der fehlgeschlagenen Kuba-Invasion vom April 1961, die so gar nicht Kennedys eigenen Intentionen entsprach, die ihm über-erbt worden war von seinem Amtsvorgänger und in der das alte, das schwarz-weiß-denkende Amerika der harten, kompromißlosen Selbst-gerechtigkeit wieder aufzustehen schien. Und andererseits erreichte seine Popularität ihren Tiefstand kurz vor seiner Ermordung angesichts der ersten konkreten Früchte seines wesentlichsten Beitrages zur internationalen Politik: der Entspannung mit Moskau. Insofern ist der Erfolg des Teststop-Vertrages nur ein halber, ein auf Treibsand gebauter, dem das stabile politische Fundament noch weitgehend fehlte. Das Gleiche gilt für seine sozial-reformerische Außenpolitik, die nicht nur, wie im Falle Lateinamerikas auf entschiedene äußere Widerstände stieß und sich in den Widersprüchen sozialliberaler Proklamationen und liberalkapitalistischer Realitäten verfing (sein Auslandshilfe-Programm, das Kernstück dieser Politik, wurde ihm noch Anfang November 1963 bis zur Unkenntlichkeit vom Kongreß verstümmelt); es gilt auch und nicht zuletzt dort, wo er den moralisch-egalitären Anspruch des einst revolutionären Amerikas zur Dekkung bringen wollte mit einem zentralen Stück seiner sozialen Wirklichkeit: in der Rassen-frage. Je mehr Kennedy sah, gezwungen wurde zu sehen unter dem Druck der sich verschärfenden Krise, daß hier das vorsichtige Lavieren aus moralischen wie aus Gründen der internationalen Reputation nicht mehr möglich war, je eindeutiger er hier Stellung nahm, desto entschiedener begann sich die Opposition zu formieren und das Volk ihm die Gefolgschaft zu versagen. Er selbst hat das zu erwarten gewesene Scheitern seiner Bürgerrechts-Gesetzesvorlage nicht mehr erleben müssen. Wohl aber hat er die bittere Erfahrung noch selbst gemacht, daß die Masse seiner Sozial-gesetzgebung im Kongreß entweder stecken-blieb oder er aber ihre Vorlage gar nicht erst wagte.

Ist damit bereits ein Urteil gesprochen über die tatsächlichen politischen Qualifikationen John F. Kennedys? Die Antwort ist nicht einfach. Denn einerseits haben wir das Recht, den Politiker am Erfolg zu messen. Andererseits kann es Situationen geben, deren Meisterung höchsten Einsatz fordert, in denen der Stein des Sisyphos gewälzt werden muß, auch wenn man sich der Unmöglichkeit des letzlichen Gelingens zutiefst bewußt ist, um „in Ehren“

vor der Geschichte geschlagen zu sein. Es ist die Kehrseite der pragmatischen, rationalistischen, verwissenschaftlichten Politik Kennedys, daß sie in oft zu großer Anerkennung der „Realitäten" der innenpolitischen Stagnation mehr aufs Manipulieren der bestehenden politischen Verfassungswirklichkeit, der Gruppen und Kräfte innerhalb und außerhalb des Kongresses sich verließ, als daß er sie umging und ausmanövrierte, wie das Franklin Delano Roosevelt vor ihm so meisterhaft getan hatte. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo er, auf deren nachträgliche Dankbarkeit rechnend, konservativen Abgeordneten durch persönlichen Einsatz zur Wiederwahl verhalf, um dann hinterher von ihnen rücksichtslos im Stich gelassen zu werden. Insofern sind ernste Zweifel anzumelden gegenüber der Versachlichung, der „Entideologisierung" der Politik, und zwar dort, wo es sich um die Lösung tiefgreifender gesellschaftlicher Krisen handelt wie gerade und vor allem bei der Rassenfrage. Man wird sogar sagen dürfen, daß hier die Kennedy-Methode, der Kennedy-Stil inadäquat ist und darum notwendig versagen mußte. Das gilt in abgeschwächter und weniger dramatischer Form von der Arbeitslosenfrage, der Altersversorgung und der Krankenversicherung. Anders auf dem Gebiet, wo derzeitig jedenfalls sich die Möglichkeit der Anwendung rationalen Kalküls zu ergeben scheint: in der Außenpolitik, die zu einem gewissen Teil eine Statusquo-Politik und eine solche der Planung und der nüchternen, fast mathematischen Strategie geworden ist. Darum ist es wiederum kein Zufall, daß Kennedy hier seine größten und wohl auch seinen Tod am längsten überdauernden Erfolge verzeichnen konnte. Wie lange sich allerdings die Diskrepanz zwischen Innen-und Außenpolitik würde aufrechterhalten lassen haben, das ist eine ganz andere Frage. Kennedy selber hat wie kaum ein anderer den Zusammenhang der beiden gesehen: daß er nämlich vernünftige, „aufgeklärte“ Außenpolitik nur mit einem vernünftigen, „aufgeklärten" Wahlvolk und Kongreß hinter sich betreiben kann und daß Fortschritt in der Welt, und nicht zuletzt in ihrem sozial und ökonomisch unterentwickelten Drittel aufs engste verknüpft ist mit Fortschritt und Änderungen in der gesellschaflichen Struktur der USA selbst. Aber während er hellsichtig genug war — und sich dabei auf die Einsicht seiner sozial-B wissenschaftlichen Berater stützen konnte — die allgemeinen, wenn auch vielschichtigen Linkstendenzen in den aufsteigenden Gesellschaften wahrzunehmen und sich aktiv auf ihre Seite zu stellen, den demokratischen Sozialismus als Bündnispartner gegen den totalitären Kommunismus zu gewinnen suchte, so ermangelte ihm doch eine ähnliche Perspektive für die eigene Gesellschaft. Hier verließ er sich ganz aufs Bewahren und den Ausbau des Bestehenden, ohne sicher sein zu können, ob das Bestehende auch beständig sei. Denn zur Entwicklung einer gesellschaftlichen neuen Perspektive für Amerika selber hatte die sons* so fruchtbare amerikanische Sozialwissenschaft außer gelegentlichen Kassandrarufen nichts hervorgebracht. Den Eisenhowerschen, ob seiner Ratlosigkeit peinlich zu lesenden Versuch, von einer Kommission „Ziele für die Amerikaner" aufstellen zu lassen, hat er gar nicht erst wiederholt oder ernstgenommen, und das aus guten Gründen. Enttäuscht stellte James Reston von der New York Times am Ende des ersten Kennedy-Jahres fest: „Kennedys Schwäche ist, daß ihn große Pläne und . Grand Designs'zu langweilen scheinen. Er ist ein Taktiker, mehr interessiert an politischen Manipulationen als an der Erziehung der Offentlichkeit. Er lebt im Heute, und das läßt ihn ohne Zielvorstellungen, auf die die täglichen Entscheidungen bezogen werden können.“ Dennoch hat bisher wohl kein westlicher Staatsmann so nüchtern, klar und deutlich das Dilemma formuliert wie Kennedy in seiner ersten Neujahrsbotschaft an den amerikanischen Kongreß: „Ehe meine Amtszeit geendet hat, werden wir von neuem zu erweisen haben, ob eine Nation, so organisiert und so regiert wie die unsere, bestehen kann. Das Ergebnis ist keinesfalls gesichert. Die Antworten sind keinesfalls klar. Wir alle — diese Regierung, dieser Kongreß, dieses Volk — müssen sie erarbeiten.“

War Kennedy ein großer Staatsmann ?

Diese Frage beantworten zu wollen ist ein Wagnis und eine Versuchung, und der zeitliche Abstand viel zu gering, um solch ein Unterfangen zu rechtfertigen. Auch ist es sehr umstritten, was denn ein „großer Staatsmann" sei. Machen die Visionen, die Klarheit des politischen Denkens, die Fähigkeit zur Nüchternheit den großen Staatsmann aus? Oder seine Erfolge? Oder die Art und Weise seines öffentlichen Auftretens, sein Charisma, seine Rhetorik?

Man darf vielleicht, um der Direktheit der Frage auszuweichen, andersherum beginnen. Gestattet eine Zeit, bzw. eine innergesellschaftliche Situation, die so durch Unsicherheit und ideologische wie soziale Stagnation gekennzeichnet ist wie die unsere und wie die Lage der großen westlichen Wirtschaftsgesellschäften, gestattet eine solche Zeit überhaupt den „großen Staatsmann"? Stehen nicht die „Großen“ immer nur auf in den Situationen, die offen sind, die die Gestaltung von Amorphem, Zerfallenem oder noch-nicht-Bestehendem möglich machen? Setzt nicht der landläufige Begriff des „großen Staatsmannes" die große Krise in irgendeiner akuten Form voraus? Wenn das so ist, dann hat unsere Zeit, oder genauer, dann haben unsere westlichen Industriedemokratien (ebenso wie die trotz aller Ubergangssymptome stabilen Gesellschaften des „sozialistischen Lagers") kaum Raum für alles überragende, individuelle Große an ihrer Spitze. Was sie derzeit brauchen, sind solche Politiker, die den Mut des Eingeständnisses haben, daß nationale Größe, nationale Macht und die langgeglaubte Überlegenheit der „westlichen Kultur" der Vergangenheit angehören; daß es darauf ankommt, diese noch-mächtigen Nationalstaaten vorsichtig, ohne die zurückgebliebenen Gefühle und Wertvorstellungen ihrer Völker zu abrupt zu verletzen, in größeren Einheiten aufgehen zu lassen, sie politisch, kulturell und geistig „aufzuweichen." Und das, ohne recht eigentlich zu wissen, wie die kulturelle und geistige Welt von Morgen aussieht. Denn das Maximum, was die gegenwärtigen Führungseliten der bürgerlich-kapitalistischen Welt produzieren können, ist der Mut zur Ratlosigkeit, der Mut, sich einzugestehen, daß man zunächst und vor allem abzu14 warten habe und als konkretesten Schritt wenigstens den Krieg zur Lösung internationaler Konflikte unter allen Umständen verhindern müsse. Wenn in solchem Mut zur Ehrlichkeit des Abwartens, zur Rationalisierung des eigenen Haushaltes und der Beziehungen zwischen den Völkern, wenn darin die eigent-lichen Möglichkeiten westlicher politischer Führung heute bestehen, dann darf man John F. Kennedy einen . großen Staatsmann" nennen. Denn genau an dieser schwierigen, potentiell explosiven Schwelle regierte er vorbildlich und richtungweisend für drei Jahre, lange genug, daß wir uns daran orientieren können.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ekkehart Krippendorfs, Dr. phil., wissenschaftlicher Assistent in der Abteilung für amerikanische Politik am John F. Kennedy-Institut für Amerikastudien der Freien Universität Berlin, geb. 22. 3. 1934.