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Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung | APuZ 9/1964 | bpb.de

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APuZ 9/1964 Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung

Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung

Ernst Freanke

I.

Die Formulierung des Themas „Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung" geht von einer doppelten stillschweigenden Voraussetzung aus: nämlich daß 1) unsere sogenannten „westlichen Demokratien" an gewissen strukturellen Mängeln kranken und daß 2) diese Mängel nicht nur geheilt werden können, sondern auch geheilt werden sollen.

Wir führen hier eine intern-demokratische Diskussion, die sich wesensmäßig von der vor einem Menschenalter so populären Aussprachen über die „Krise der Demokratie" unterscheidet. Fühlten sich doch in der Weimarer Zeit nur allzu viele politologische „Krisentheoretiker" sehr viel mehr berufen, den ungeduldig wartenden mutmaßlichen Erben die frohe Botschaft zu übermitteln, daß das Ende der unheilbar kranken Demokratie in jedem Augenblick zu erwarten sei, als ihr mit ärztlichem Rat zur Seite zu stehen, um zu bewirken, daß sie wieder zur Kräften komme.

Wenn man damals von der „Krise der Demokratie" sprach, dachte man in erster Linie an die Gefahren, die ihr von außen drohten: Man mußte sich mit dem Argument auseinandersetzen, daß die Stunde der Demokratie geschlagen habe, weil ein wirtschaftliches Chaos vor der Tür stehe und die von Arbeitslosigkeit und Bankrott bedrohten Massen den Sirenen-klängen kommunistischer und faschistischer Verführer zum Opfer zu fallen drohten. Man konnte nicht übersehen, daß infolge der Aufspaltung der Nation in Dutzende politischer Gruppen, Bünde und Parteien parlamentarische Mehrheiten nicht oder nur zu untragbaren Bedingungen zu erreichen waren; man mußte sich eingestehen, daß die Intelligenz der Demokratie überwiegend ablehnend und der Mittel-und Bauernstand ihr feindselig gegenüberstanden, und daß Reichswehr und höhere Bürokratie — von Ausnahmen abgesehen — die Legitimität, wenn nicht gar die Legalität des bestehenden Staates und seiner Verfassung innerlich verneinten. Diese hier angedeuteten und zahlreiche andere Verfallserscheinungen des „Systems“ wurden — sei es mit bitterem Verzagen, sei es mit wahrer Wollust — als äußere Symptome eines lebensbedrohenden konstitutionellen inneren Strukturfehlers der damals bestehenden oder — man sagt wohl besser — der damals vergehenden Demokratie analysiert.

Heute sind diese äußeren Krankheitssymptome der Zeit zwischen den Weltkriegen fast restlos verschwunden. Im anscheinend krisenfesten Wohlstandsstaat ist an Stelle der Dauer-depression der permanente Super-boom, an Stelle der Arbeitslosigkeit der Arbeitermangel, an Stelle der dreißig und mehr Parteien der Dreiparteienstaat getreten. Die totalitären Bewegungen sind von der Bühne abgetreten, die Wirkungslosigkeit der totalitären Ideologien scheint erwiesen, das parlamentarische Regierungssystem funktioniert reibungslos, die bestehende Staatsform wird von niemandem offen bekämpft, von allen politisch maßgeblichen Parteien und Verbänden auch innerlich bejaht, von der politischen Publizistik nicht in Frage gestellt, und alle, alle stehen auf dem Boden der Verfassung.

Eine Gegenüberstellung der politischen Realitäten der Bonner und der Weimarer Republik scheint unerläßlich, um sicherzustellen, daß wir bei der Behandlung unseres Themas nicht die historischen Perspektiven verlieren. Ich gehe von den nachfolgenden Prämissen aus, die ich zur Diskussion stelle:

1. Wir leben weder in einer Bürgerkriegs-noch in einer bürgerkriegsähnlichen Situation, sondern in einer befriedeten Ordnung. 2. Diese befriedete Ordnung wird im Einklang mit der bestehenden Rechtsordnung und nicht jeweils nach Lage der Sache aufrechterhalten. 3. Die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt unterliegt — Ausnahmen bestätigen die Regel — ungehinderter Kritik und Kontrolle durch die Öffentlichkeit.

4. Diese Kritik und Kontrolle wird unter Verwendung von Wertmaßstäben geführt, die generell als gültig anerkannt werden..

5. Der generell als gültig akzeptierte Wert-kodex schließt ein:

a) die Anerkennung der Volkssouveränität als Legitimitätsgrundlage der bestehenden Verfassungsordnung.

b) Die Unterwerfung unter das Prinzip der Mehrheitsentscheidung.

c) Die Respektierung des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz.

d) Die Geltung der traditionellen fundamentalen Freiheitsrechte.

e) Die unverbrüchliche Anwendung der Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Unparteilichkeit der Justiz.

f) Die Handhabung der Gebote der Fairneß bei der Verwendung der Spielregeln, die den Prozeß der politischen Willensbildung zu regeln bestimmt sind. Treffen diese Prämissen zu, so kann davon ausgegangen werden, daß die bestehende Verfassungsordnung den Minimalanforderungen einer funktionierenden autonom-pluralistisch-sozial-rechtsstaatlichen Ordnung entspricht. Wie gut sie funktioniert, ist eine andere Frage. Ihre Beantwortung hängt nicht nur — was ein Gemeinplatz ist — davon ab, ob es auf die Dauer gelingen wird, wirtschaftliche Krisen zu vermeiden, durch die das Aufkommen eines aus Enttäuschung und Ressentiment genährten Radikalismus begünstigt und die Entstehung neuer oder die Wiederbelebung alter radikaler Ideelogien gefördert würde. Nicht minder bedeutsam ist zu verhüten, daß erneut eine Spaltung des Geschichtsbewußtseins der Nation eintritt — ein Vorgang, der nicht nur entscheidend zu der Auflösung der Weimarer Republik beigetragen hat, sondern auch in anderen westlichen Ländern unheilvoll in Erscheinung getreten ist: in Frankreich, wo die Bewertung der Ereignisse von 1792— 1794 einen Riß hervorgerufen hat, der bis zur Stunde nicht vernarbt ist; in den USA, wo die Auseinandersetzungen über die Ursachen, Führung und Liquidierung des Sezessionskrieges seit fast einem Jahrhundert ihren Schatten auf das gesamte politische Leben der Nation werfen.

Gewiß — echtes politisches Denken schließt die angemessene Berücksichtigung der Erkenntnis ein, die durch die objektive Erforschung der in der Gegenwart fortwirkenden Kräfte der Vergangenheit gewonnen werden können. Für eine jede Demokratie muß es sich jedoch verhängnisvoll auswirken, wenn die politischen Auseinandersetzungen sich nicht darum drehen, wer bei der Beurteilung der Vorgänge und der Bewertung der Faktoren, die die Politik der Gegenwart bestimmen, recht hat, wenn es vielmehr vornehmlich darum geht, wer in einer historisch abgeschlossenen Periode recht gehabt hat — vor allem aber, wenn erbittert darüber gestritten wird, was eingetreten wäre, wenn die Geschichte einen anderen Lauf genommen und die eine oder die andere Gruppe sich einst mit ihren Ansichten hätte durchsetzen können. Rechthaberische Spekulationen über die mutmaßlichen Folgen eines aus willkürlichen Hypothesen abgeleiteten imaginären Verlaufs der Geschichte sind kennzeichnend für eine Mentalität, die aus Verstrickungen in Zwangsvorstellungen zu erwachsen vermag, die wir heute „unbewältigte Vergangenheit" nennen. Unter „unbewältigter Vergangenheit" verstehen wir die Erinnerung an nationale Katastrophen, mit denen ein Volk innerlich nicht fertig wird. Dies mag in politischen Massenpsychosen in Erscheinung treten, wenn die Vergangenheit zu Tode geredet wird; es vermag zu politischen Neurosen zu führen, wenn die Vergangenheit totgeschwiegen, d. h. aber verdrängt wird. Der gespenstische Charakter dessen, was man in der Weimarer Republik reichlich euphemistisch „Politik" nannte, erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß der Streit der Parteien und Verbände sich weitgehend auf das bezog, was man in den USA sehr witzig " the iffies” nennt.

Das vielleicht auffallendste Merkmal der zeitgenössischen deutschen innenpolitischen Diskussion ist darin zu finden, daß sie in einem historischen Vakuum geführt wird. Die dreifache Katastrophe der Errichtung des nationalsozialistischen Terrorregimes, des Verlustes des zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands hat bewirkt, daß alle vorausgegangenen Ereignisse der deutschen Geschichte so stark in den Hintergrund gedrängt worden sind, daß sie aufgehört haben, Gegenstand politisch relevanter Erörterungen zu sein. Da andererseits alles, was sich seit dem 30. Januar 1933 abgespielt hat, weitgehend tabu ist, da niemand bereit ist, das Hitler-Regime öffentlich zu verteidigen, fühlen nur allzu viele sich zu ihrer inneren Befriedigung der Aufgabe enthoben, es zu kritisieren. Dies hat bewirkt, daß in den gegenwärtig geführten politischen Auseinandersetzungen Vorgänge der Vergangenheit nur allzu häufig auch dann unberücksichtigt bleiben, wenn sie für das Verständnis akuter politischer Zusammenhänge unerläßlich notwendig sind.

Die neurotische Verdrängung der politischen Vergangenheit schließt die Gefahr einer Aversion gegen jegliches politisches Engagement in der Gegenwart ein. Die emotionale Überhitzung der politischen Leidenschaften in der Weimarer Zeit steht im auffälligen Gegensatz zu der phlegmatischen Unterkühlung des politischen Denkens in der Bundesrepublik. Die politische Atmosphäre ist so verschiedenartig, daß man geneigt sein könnte, von einem „Politikwunder“ zu sprechen. Der Vergleich zwischen einst und jetzt mag das Uberhandnehmen einer selbstgefälligen Selbstzufriedenheit verständlich machen, die jedoch das Vorhandensein einer weitverbreiteten auf innerer Unsicherheit basierenden Unzufriedenheit nur für den oberflächlichen Beobachter zu verdekken vermag.

Wir Älteren, die wir uns rückschauend schon lange nicht mehr darüber wundern können, daß die Weimarer Republik nach 14 Jahren zusammengebrochen ist, die vielmehr heute weniger als je zuvor zu begreifen vermögen, daß sie so lange gehalten hat, wir kommen uns bei der Behandlung des Themas „Strukturdefekte der Demokratie“ ein wenig wie der Mann vor, der bei der allfälligen halbjährigen Routineuntersuchung dem Arzt erklärt, ihm fehle eigentlich gar nichts, -der Blutdruck sei trotz zunehmender Korpulenz eher zu niedrig als zu hoch, Puls und Temperatur seien normal, und auch der Appetit lasse nichts zu wünschen übrig. Früher, als er noch unter Alpdruck und Angstzuständen litt, sei er häufig nachts, in kalten Schweiß gebadet, aufgewacht; dies sei, seitdem er sich das Träumen abgewöhnt und mit zunehmendem Alter das Erinnerungsvermögen gelitten habe, völlig vorbei, jetzt schlafe er den Schlaf der Gerechten, nur habe er manchmal solch ein ungutes Gefühl, ob denn wirklich alles so ganz in Ordnung mit ihm sei, wie es nach außen hin den Anschein habe.

Uber Strukturdefekte der Demokratie sprechen, heißt, den Ursachen eines weit verbreiteten unguten Gefühls nachzugehen, bedeutet, die Frage aufzuwerfen, ob unser graduell steigendes politisches Unbehagen nicht eine Begleiterscheinung unseres ständig wachsenden ökonomischen Wohlbehagens ist, heißt zu prüfen, ob das, was in unserer reibungslos funktionierenden Demokratie unstreitig so glänzend „klappt", noch den Anspruch darauf erheben darf, als „Demokratie" bezeichnet zu werden.

In ein und demselben Satz von Strukturfehlern der Demokratie und einem glänzend funktionierenden demokratischen Regierungssystem zu sprechen, ist nur dann nicht paradox, wenn von vornherein klargestellt wird, daß im folgenden nicht primär von unserer demokratischen Verfassungsrechtsordnung die Rede ist. Dies bedeutet keineswegs, daß ich die normativen Aspekte einer demokratischen Staats-und Gesellschaftsordnung für relativ unwichtig ansehe und mich der gerade in politikwissenschaftlichen Kreisen so erschreckend weit verbreiteteen Ansicht angeschlossen habe, daß bei der Analyse des demokratischen Regierungsprozesses das institutionelle Moment vernachlässigt werden dürfe — das genaue Gegenteil ist richtig. Es bedeutet lediglich, daß in dem Normensystem des Grundgesetzes die Strukturfehler der heutigen Demokratie noch am wenigsten in Erscheinung treten. Rein rechtstechnisch gesehen, ist die Bonner Verfassung ein ausgezeichnetes Gesetz, dessen gewiß nicht abzustreitende Einzelmängel es nicht rechtfertigen, sich über Struktur-fehler der Demokratie ernsthafte Sorgen zu machen. Ich werde daher davon Abstand nehmen, eine juristische Analyse der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik vorzunehmen und meinerseits keine Vorschläge zur Reform des Grundgesetzes unterbreiten. Idi vermag auch keinen Grund zur Besorgnis darin zu erblicken, daß eine ganz offensichtliche Diskrepanz zwischen den gültigen Verfassungsnormen und den geltenden Verfassungsgepflogenheiten besteht. Ein solches Spannungsverhältnis ist schlechthin unvermeidlich, wenn das Verfassungsleben einer Nation nicht erstarren soll. Nur dann ist eine Verfassungsordnung lebensfähig, wenn die Verfassungsnormen ausreichend elastisch sind, um eine Fortentwicklung der „lebenden Verfassung“ in einer Richtung zu gestatten, von der die Verfassungsväter häufig nichts geahnt haben und die im Verfassungstext keinen Niederschlag gefunden hat.

Das Unbehagen an der Demokratie beruht um so weniger auf der Erkenntnis, daß Wortlaut und Wirklichkeit der Verfassung sich nicht decken, als diese Einsicht auf relativ enge Kreise beschränkt ist; es geht vielmehr auf das instinktmäßige Gefühl zurück, daß unser Veriassungswesen weitgehend nicht dem entspricht, was man sich unter der Herrschaft einer „echten" Demokratie vorstellt. Verfassungskritik besteht in erster Linie nicht darin, die Verfassungsrealitäten an den Maßstäben der Normen einer geltenden Rechtsordnung zu messen; sie bedeutet sehr viel mehr, sie auf ihre Vereinbarkeit mit den als gültig postulierten Normen einer guten, d. h. aber einer „wahrhaft demokratischen Rechtsordnung" zu prüfen.

Man braucht sich nicht als steinerner Gast an dem Stammtisch mißvergnügter Spießbürger niederzulassen, um die hämische Frage zu vernehmen, ob wir nicht, da der Kanzler ja doch mache, was er wolle, in Wirklichkeit unter einem autoritären Regime leben; um zu hören, daß unsere Parlamentarier zu Marionetten degradiert seien, die — auf Vordermann ausgerichtet — auf Order parieren und zu allem „ja und amen" sagen, was die Parteileitung befiehlt. Bis dann fast unvermeidlicherweise das Stichwort " pressure groups” fällt und die Unterhaltung in der allgemein gebilligten Feststellung ausmündet, daß in Wirklichkeit alles heimlich und hinter den Kulissen entschieden werde und das Volk eh nichts zu sagen habe. „Und so trage ich Sie allen Ernstes, Herr Nachbar. ob das Theater, das in unserem Bundes-dorf aütgetührt wird, noch irgend etwas mit Demokratie zu tun hat?" übersetzt man diese vox plebis in die Sprache der wissenschaftlichen Politik, so ergibt sich, daß die öffentliche Meinung an der Kanzler-demokratie, der Fraktionsdisziplin, der politischen Betätigung der Interessenverbände und letzten Endes an dem im Parteiwesen in Erscheinung tretenden pluralistischen Charakter unserer Staats-und Gesellschaftsordnung Anstoß nimmt. Gewiß, es besteht in der Bundesrepublik ein consensus omnium, daß die Demokratie die einzig legitime Staatsform sei, und es liegt kein Anlaß vor, in Parallele zu Kurt Sontheimers „Antidemokratischem Denken in der Weimarer Republik" ein Buch über „Antidemokratisches Denken in der Bonner Republik“ zu schreiben. Bonn ist nicht Weimar. Um so dringlicher erscheint es jedoch, sich die Fragen vorzulegen:

1. ob die vorherrschende Verfassungsideologie auch nur einigermaßen mit der Verfassungssoziologie kongruent ist, wie sie bei Anwendung der von Rechts wegen geltenden Verfassungsnormen und bei Handhabung der praeter constitutionem wirksamen Verfassungsusancen in Erscheinung tritt;

2. ob diese Verfassungssoziologie den Anforderungen gerecht wird, die unter den obwaltenden Verhältnissen als die optimale Verwirklichung des Postulats einer freiheitlichen sozial-rechtsstaatlichen Demokratie angesehen werden kann.

II.

Das Unbehagen an unserer Demokratie dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auf der einen Seite und die demokratische Vulgärideologie auf der anderen Seite aus verschiedenen Quellen gespeist sind. Wir haben uns unsere Verfassungsordnung und weitgehend auch unsere Verfassungssoziologie von den Engländern und unsere Verfassungsideologie von den Franzosen ausgeborgt.

Englischen Ursprungs sind nicht nur die Grundprinzipien unseres parlamentarischen Verfassungsrechts — ja sie sind es unter der Herrschaft des Grundgesetzes in viel ausge-prägterem Maße, als dies unter der Herrschaft der Weimarer Verfassung der Fall war —, englischen Ursprungs ist auch das strikt gehandhabte Prinzip der Fraktionsdisziplin. Beide Länder besitzen straff organisierte und überaus einflußreiche " pressure groups", die ebenso wie die machtvollen Parteiorganisationen weitgehend zentralistisch-hierarchisch organisiert sind. Vor allem ballt sich, wie Walter Bagehot in seinem Buch über die " English Constitution" dargetan hat, bei der Spitze der englischen Exekutivgewalt eine Machtfülle zusammen, in der alle diejenigen Tendenzen in Erscheinung treten, die so häufig in der Bundesrepublik als mit dem Wesen einer parlamentarischen Demokratie unvereinbar bezeichnet werden. In den fast hundert Jahren, die seit dem ersten Erscheinen des Bagehot'schen Buches vergangen sind, hat sich diese Tendenz nicht nur quantitativ erheblich verstärkt, sondern auch qualitativ insofern maßgeblich verändert, als innerhalb der Regierung eine Machtverschiebung vom Kabinett zum Regierungschef hin erfolgt ist. Gestützt auf Mackintosh’s Werk “ The British Cabinet“, hat Richard Crossman in einer eingehenden Einleitung zu einer Neuauflage des Bagehot den Wandel des " Cabinet Government“ zu dem verfolgt, was er " Prime Ministerial Government" und was — wohl nicht allzu frei — als „Kanzlerdemokratie“ übersetzt werden kann.

So getreulich man sich seit langem in Deutschland bemüht hat, englische Verfassungsnormen zu kopieren, so gründlich hat man doch immer wieder die englischen Verfassungsrealitäten verkannt. Es besteht eine Art historisch-politischer " lag" zwischen dem deutschen Bild des englischen Regierungssystems und seinem Original. In einer wertvollen Studie über den „Englischen Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks" hat Reinhard J. Lamer unlängst dargetan, daß noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts namhafte deutsche Staatsdenker die Ansicht vertreten haben, daß das kennzeichnende Merkmal der englischen Ministerverantwortlichkeit darin zu erblicken sei, daß die Mitglieder des Kabinetts einem " impeachment" -Verfahren unterworfen werden könnten, d. h. aber, daß an der Vorstellung von der rechtlichen Verantwortung der Minister noch zu einem Zeitpunkt festgehalten wurde, in dem diese sich längst in eine rein politische Verantwortung umgewandelt hatte. Als sich schließlich auch in Deutschland die Ansicht allgemein durchsetzte, daß die Sanktion der ministeriellen Verantwortung in der in freier Diskussion und ungebundener Abstimmung in Erscheinung tretenden Möglichkeit eines Mißtrauensvotums gegen das Kabinett zu erblicken sei, war dank der Entwicklung des demokratisierten englischen Partei-lebens diese Form der Regierungskontrolle bereits obsolet geworden und durch die Möglichkeit ersetzt, auf dem Umweg über die öffentliche Meinung das Kabinett entweder durch eine Revolte der “ Back benchers“ oder durch einen Frontalangriff der Opposition im nächsten Wahlkampf zu stürzen. Bis in die Gegenwart hinein hat sich im deutschen politischen Denken jedoch die Vorstellung erhalten, daß das Modell des englischen Parlamentarismus, wie es in dessen angeblich klassischer Periode zwischen 1832 und 1867 in Erscheinung getreten ist, den Parlamentarismus in seiner wahren Gestalt darstelle. Diese Annahme liegt auch Carl Schmitts so überaus einflußreicher Schrift über „Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Parlamentarismus" zugrunde. Bei der Glorifizierung des englischen Regierungssystems der ersten Hälfte des Viktorianischen Zeitalters wird jedoch systematisch übersehen oder verschwiegen, daß es sich um denjenigen Zeitabschnitt der modernen englischen Geschichte handelt, während dessen weder ein Zweitraktionenwesen noch kompakte parlamentarische Mehrheiten bestanden und der Parlamentarismus daher schlechter funktionierte als jemals vorher und später 4a). Minderheitsregierungen und Kabinettkrisen waren an der Tagesordnung, die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlaments war gering und relativ unbedeutend; es war die Zeit, in der es zwar Parlamentsfraktionen, aber noch keine außerparlamentarischen Partei-Organisationen gab. Der deutsche Vulgärparlamentarismus denkt in politischen Kategorien, die nicht der demokratischen, sondern der plutokratischen Periode der englischen Parlamentsgeschichte entsprechen. Sein Bedauern, daß die Parlamentsreden zum Fenster hinaus gehalten werden, anstatt darauf abzuzielen, Parlamentarier fraktionsmäßig ungebundene zu überzeugen, umzustimmen und gegebenenfalls zu veranlassen, die zu Regierung stürzen, stellt an den demokratischen Parlamentarismus Anforderungen, bei deren Erfüllung er automatisch zusammenbrechen würde. Das kritikbedürftigste Moment des Bonner Parlamentarismus scheint mir die landläufige Kritik zu sein, die an ihm geübt wird. Sie ist reaktionär und schizophren. Sie sehnt sich heimlich nach einer starken Regierung und bekennt sich öffentlich zu der Herrschaft eines allmächtigen Parlaments. Sie beschimpft den Abgeordneten, wenn es zu einer Regierungskrise kommt, und verhöhnt ihn, wenn er getreulich die Fraktionsparole befolgt. Sie verkennt die notwendigerweise repräsentative Natur eines jeden funktionierenden Parlamentarismus und verfälscht seinen Charakter, indem sie ihn plebiszitär zu interpretieren versucht.

Das englische Parlament hat seine ursprüngliche Funktion, Repräsentantin der verschiedenen „interests" der Nation zu sein, niemals völlig aufgegeben; in dem englischen parlamentarischen Denken hat sich seit alters her die Vorstellung erhalten, daß das House of Commons ein Spiegelbild dessen sei, was wir heute eine „pluralistische Gesellschaft" nennen. Englische Verfassungstheoretiker — es genügt, den Namen Amery zu nennen — lehnen mit Nachdruck die Vorstellung ab, daß das Parlament das Sprachrohr eines vorgegebenen einheitlichen Volkswillens und das Exekutivorgan der volonte generale sei. Der Gedanke, daß Demokratie die Identität von Regierenden und Regierten bedeute, ist mit der die englische Staatstheorie beherrschenden Vorstellung unvereinbar, daß die Regierung ein " trust" sei; sie ist englischem politischem Denken schon allein deshalb radikal fremd, weil die Engländer seit den Tagen Edmund 5

Burkes das Rousseausche Theorem abgelehnt haben, daß die Herrschaft des Gemeinwillens notwendigerweise zu der Verwirklichung des Gemeinwohls geeignet und die Verwirklichung des Gemeinwohls nur durch den Gemeinwillen zu bewerkstelligen sei. Die Engländer haben den Mitgliedern des Parlaments zwar die Pflicht auferlegt, das Gemeinwohl stets im Auge zu behalten, ihnen jedoch nicht verwehrt, Partikularinteressen zu vertreten. Sie haben jedoch innerhalb des Parlaments zwei Positionen geschaffen, die ein spezifisches Amtscharisma besitzen, weil deren Träger für die Förderung des Gemeinwohls primär verantwortlich sind: den Prime Minister und den Leader of the Opposition. Sie sind die wahren Repräsentanten der Nation. Der Umstand, daß nicht mehr der Träger der Krone, sondern in seinem Namen ein Ministerpräsident regiert, der de jure von einer straff organisierten und kompakten Parlamentsmehrheit abhängt, deren Entscheidungen er jedoch de facto dirigiert, macht es möglich, daß in England eine eigenständige Regierungsgewalt besteht, die demokratisch legitimiert ist, trotzdem sie in ihrem Kern eine Fortsetzung und Variante der königlichen Prärogative darstellt. Das auf dieser originären Regierungshoheit basierende faktische Regierungsmonopol des Prime Ministers ist nur solange aufrechtzuerhalten, wie es nicht den Gegenstand einer politischen Kontroverse bildet, d. h. aber, solange es vom Führer der Opposition nicht angezweifelt wird. Der Oppositionsführer stellt aber die Machtfülle des Regierungschefs nicht in Frage, weil er nicht bereit ist, eine Machtposition zu unterminieren, die er selber anstrebt.

Ministerpräsident und Oppositionsführer können der ihnen obliegenden Aufgabe, Hüter des Gemeinwohls zu sein, nur dann nachkommen, wenn jeder von ihnen in eigener Verantwortung zu bestimmen vermag, welchen Minimal-bedingungen Rechnung getragen und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um die Verwirklichung des Gemeinwohls sicherzustellen. Beide vertrauen darauf, daß der andere in eigener Verantwortung handelt; sie gehen übereinstimmend davon aus, daß ein englischer Fraktionschef der Führer und nicht der Funktionär seiner Partei ist. Der Regierungschef — und das gleiche gilt für den Führer der Opposition — kann sich ebensowenig der Kontrolle seiner eigenen Parteiinstanzen unterwerfen, wie er es hinnehmen kann, daß sein Gegner seine politische Unabhängigkeit einbüßt Der Antagonismus, der zwischen den Fraktionsführern besteht, schließt nicht aus, daß sie in ihrem Widerstand gegen Interventionen außerparlamentarischer Parteiinstanzen solidarisch sind. Für das Funktionieren der englischen Repräsentativverfassung ist der Primat der Fraktionen über die Parteiorganisationen axiomatisch. Im einzelnen ist in diesem Zusammenhang auf die zwischen Churchill und Attlee ausgetragene, bei Morrison nachzulesende Kontroverse anläßlich der Konferenz in Potsdam über die Frage hinzuweisen, ob Attlee als " leader of the Opposition“ oder als Vertreter der außerparlamentarischen — unter dem Vorsitz Laskis stehenden — Labour Party an der Konferenz teilnehmen solle.

Nach der dem englischen Parlamentarismus zugrunde liegenden, in Deutschland implicite rezipierten Verfassungstheorie ist das Parlament nicht dazu berufen, dem Premier-Minister seine eigenen Lösungen aufzuzwingen, sondern die Möglichkeit von Alternativlösungen aufzuzeigen. Seine verfassungsrechtliche Funktion besteht darin, die Entscheidungen des Premier-Ministers in Kraft zu setzen; seine verfassungspolitische Funktion besteht darin, dem Oppositionsführer eine zu Gelegenheit geben, sie in zu stellen. Parlamentarisch Frage regieren heißt, den Willen des Parlaments dergestalt zu dirigieren, daß die vom Parlament zu sanktionierenden Entscheidungen der Regierung eine optimale Chance haben, sich gegenüber den vom Oppositionsführer unterbreiteten Gegenvorschlägen in der öffentlichen Meinung durchzusetzen. Parlamentarische Diskussionen bezwecken nicht, einen vorgegebenen Volkswillen ausfindig zu machen, um ihn alsdann in Gesetzesform festzulegen und der sogenannten Exekutive zur Vollziehung zu überantworten. Sie bedeuten vielmehr, durch die Gegenüberstellung der von der Regierung beschlossenen Lösungen mit den von der Opposition angeregten Alternativlösungen dem Volk Gelegenheit zur nachträglichen Bildung eines Volkswillens zu geben.

Nach geltendem englischen Verfassungsrecht ist das Parlament souverän; in der Verfassungswirklichkeit stellt es einen gewiß unentbehrlichen, aber nicht dominierenden Faktor des Regierungsprozesses dar. Le Parliament regne mais il ne gouverne pas.

Parlamentsdebatten, bei denen die Argumente der Diskussionsredner vorher bekannt und die Ergebnisse der Abstimmungen nicht zweifelhaft sind, gehören im Sinne Bagehots zum " dignified" Bereich der Verfassung. Dies schließt nicht aus, daß ihnen eine bedeutsame politische Funktion zukommt. Sie sollen dem Regierungschef und dem Oppositionsführer Gelegenheit geben, durch Formulierung von Alternativlösungen akuter politischer Probleme das Volk zu befähigen, bei der nächsten Wahl darüber zu entscheiden, ob es bereit ist, entweder durch Wahl der Kandidaten der Mehrheitspartei dem Begehren des Regierungschefs zur Approbation oder durch Wahl der Kandidaten der Minderheitspartei dem Begehren des Oppositionschefs zur Reprobation der bisher befolgten Politik Folge zu leisten. Denn das Volk als ganzes ist nach englischem Verfassungsdenken zwar in der Lage, erfolgte Lösungen politischer Probleme zu billigen oder zu verwerfen; es ist aber von sich aus weder imstande sie zu konzipieren noch sie zu einem politischen Gesamtprogramm zu koordinieren, geschweige denn sie dergestalt zu definieren, daß sie einen Bestandteil der geltenden Rechtsordnung zu bilden vermögen. Die hier versuchte Analyse des englischen Verfassungswesens entspricht einer Methode der Demokratie, die Joseph A. Schumpeter als . eine Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen“ gekennzeichnet hat, „bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben". Sie steht im Gegensatz zu der klassischen Lehre der Demokratie, die Schumpeter als „eine institutionelle Ordnung zur Erreichung politischer Entscheidungen" gekennzeichnet hat, „die das Gemeinwohl dadurch verwirklicht, daß sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden läßt, und zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen." Je nachdem, ob man sich der einen oder der anderen Demokratietheorie anschließt, wird man essentielle Bestandteile einer Verfassungsordnung als der Demokratie struktur-gemäß oder als ihr strukturwidrig bezeichnen. Vom Blickpunkt der klassischen Demokratie-theorie aus gesehen müssen alle für das englische Regierungssystem kennzeichnenden Merkmale als Strukturdefekte einer Demokratie bezeichnet werden, zu deren Rechtfertigung lediglich das pragmatische Argument vorgebracht werden kann, daß sie funktioniert — oder zum mindesten, daß sie jahrzehntelang reibungslos funktioniert hat. Läßt man dieses pragmatische Argument nicht gelten, so bleibt den Anhängern der klassischen Demokratie-theorie nur die resignierte Feststellung übrig, daß die demokratische Natur des englischen Regierungssystems jedem unverständlich bleiben muß, dem sie nicht selbstverständlich ist.

Demgegenüber hat die klassische Demokratietheorie den Vorteil, so logisch zu sein, daß sie zum tragenden Bestandteil einer in sich geschlossenen Legitimitätstheorie gemacht werden kann; andererseits leidet sie unter dem Nachteil, so leicht verständlich zu sein, daß sie sich geradezu dazu anbietet, den tragenden Bestandteil einer politischen Vulgärideologie zu bilden, deren Realisierung sich stets und von neuem als unmöglich erwiesen hat. Sie kann den Anspruch darauf erheben, als „klassisch" bezeichnet zu werden, weil — zum mindesten auf dem europäischen Kontinent — Demokratie gemeinhin mit Volksherrschaft übersetzt, unter Volksherrschaft Herrschaft des Volkes verstanden, Herrschaft des Volkes mit Volksregierung identifiziert und Volks-regierung als Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt durch Verwirklichung des Volkswillens interpretiert worden ist. Die klassische Theorie der Demokratie ist ein Produkt der Französischen Revolution.

III.

Bertrand de Jouvenel hat in seinem Buch „Du Pouvoir“ darauf hingewiesen, daß im vor-absolutistischen Ancien regime die Nation zwei Repräsentationen besessen habe: eine Repräsentation in toto, die bei der Krone lag, und eine Repräsentation singulariter, die den Ständen oblag. Er hat die provozierende These aufgestellt, daß als eine Folge der Französischen Revolution äußerlich gesehen die Institution der Krone zusammengebrochen und die Institution der Stände triumphiert habe. Funktionell habe jedoch in Wahrheit die der Krone obliegende Repräsentation der Gesamtinteressen lediglich ihren Träger gewechselt, während die Repräsentation der Partikularinteressen verschwunden sei. «Des deux representations de sinteret national admises par l’ancienneconstitution, la representation in toto et la reprsentation singulariter, l’une portee ä l'exigence. Lautre au refus, l’une a disparu. Et ce n'est pas celle qu'on pense. Ce n'est pas le Roi qui a disparu: le pouvoir legislateur reprsentant de sinteret national est son successeur; mais ce qui a disparu c'est la representation des intrts qui sont dans la nation. » Versucht man diese Gedankengänge de Jouvenels in der Sprache der modernen Politikwissenschaft auszudrücken, so liefe seine Theorie auf die Feststellung hinaus, daß durch den im Verlauf der Französischen Revolution erhobenen und zum mindesten temporär verwirklichten Anspruch des Parlaments, gleichzeitig Vertreter des Volkswillens, alleiniger Interpret des Gemeinwillens und monopolistischer Repräsentant des Gemeinwohls zu sein, die Legitimität der Wahrnehmung von Partikularinteressen verneint, die Regierung ihrer eigenständigen Funktionen entkleidet und zum Vollzugsorgan des Volkes — zu dessen „commis“ in der Sprache Robespierre’s — degradiert wird. Dies ist aber im Kern die Staatstheorie von 1793, wie sie mit einem stärkeren plebiszitären Einschlag im Wortlaut der jakobinischen Verfassung und ohne Einschränkungen in der Verfassungsrealität des jakobinischen Konvents in Erscheinung getreten ist.

Eine an dem Leitbild der „nation une et indivisible“ ausgerichteten Verfassungsordnung, die dieser unteilbaren Nation als Kollektiv-einheit nicht nur kraft Verfassungsrechts die Souveränität, sondern in der Verfassungs-Wirklichkeit auch die Ausübung der höchsten Regierungsgewalt zuweist, muß in der Forderung, den Trägern der Regierung die Ausübung einer eigenständigen Gewalt zuzuerkennen, eine Anzweifelung der moralisch-philosophischen Prämissen erblicken, auf der Demokratie beruht. Denn, um Robespierre nochmals zu zitieren:

«Toute Institution qui ne suppose pas le peuple bon et le magistrat corruptible est vicieuse. »

In der Verfassung von 1791 war neben der Nationalversammlung auch der König als Repräsentant der Nation anerkannt und nur den Verwaltungsbeamten der repräsentative Charakter abgesprochen worden. «Les administrateurs n'ont aucun caractere de reprsentation. » Mit Wegfall der Monarchie galt dies für die gesamte Exekutive einschließlich der Regierung. Die einem jeden radikaldemokratischen Denken immanente Vorstellung, daß die Regierung einen Bestandteil der „Exekutive" bildet und daß die Aufgabe der „Exekutive" sich in der Vollziehung der Gesetze erschöpfe, hat — wie die Geschichte immer von neuem erwiesen hat — einen der folgenschwersten Strukturfehler der französischen und aller anderen Demokratien bewirkt, die nach ihrem Vorbild errichtet worden sind.

Darüber hinaus muß eine an dem Leitbild der „nation une et indivisible" ausgerichtete Demokratie in der Aufdeckung des pluralistischen Charakters der Gesellschaft eine Herausforderung und in der kollektiven Geltendmachung von Partikularinteressen ein Attentat auf ihren Bestand erblicken. Indem das radikaldemokratische Bewußtsein die Existenz der ökonomisch-soziologischen Differenzierungen, die in einer jeden Massengesellschaft in Erscheinung treten, zu verdrängen versuchte und gleichzeitig die Vorstellung perhorreszierte, daß ihnen eine politische Relevanz zugesprochen werden könne, hat sie die Aversionen begründet, die bis zur Stunde im demokratischen Denken gegenüber der Vorstellung eines pluralistischen Staates bestehen und die ideologisch-moralische Basis für die Hemmungen gelegt, die auch heute noch die landläufige demokratische Haltung gegenüber einer jeden politischen Aktivität von Interessengruppen bestimmt. Nur allzu viele, die mit Entschiedenheit die Struktur der Verfassungsordnung von 1793 als Vorbild ablehnen, haben unkritisch die Vorstellungen über die Defekte einer wahren Demokratie übernommen, die deren Initiatoren begründet haben. Die Tabus, die die Väter der Verfassungsordnung von 1793 errichtet haben, haben sich als historisch wirksamer erwiesen als die Ideen, die sie proklamierten.

Jean-Jacques Chevalier hat von dieser Verfassung gesagt, daß sie in der Geschichte Frankreichs geradezu einen magischen Text darstelle und als das Evangelium der Demokratie gegolten habe, und Jacques Godechot hat im einzelnen dargetan, daß sie nicht nur das Verfassungsdenken der Revolutionäre von 1848 maßgeblich bestimmt, sondern auch bei der Schaffung der Vierten Republik Pate gestanden habe. Sie bildet die stillschweigende Basis des politischen Glaubens all derer, die sich in Frankreich „links" nennen, die, wie Herbert Lüthy so glänzend dargetan hat, sich zu dem Wort Clemenceaus bekennen, daß die Revolution ein Block sei, den man nur ils Ganzes einschließlich der Revolutionstheorie von 1793 entweder annehmen oder ablehnen könne.

Ich glaube, daß es ein dringendes, bisher noch nicht in Angriff genommenes Anliegen unserer Wissenschaft sein sollte, im einzelnen der Frage nachzugehen, inwieweit auch das deutsche demokratische Denken durch das Modell von 1793 beeinflußt worden ist. Ich möchte hier die These aufstellen, daß es einen essentiellen Bestandteil sowohl des Vulgärmarxismus als auch gewisser Richtungen innerhalb des extremen Nationalismus gebildet hat, und daß seine Spuren sich selbst im Denken des deutschen Fortschritts aufzeigen lassen. Ohne zu dem sehr komplizierten Problem im einzelnen Stellung zu nehmen, wer in den verschiedenen Ländern in die Kategorie der Radikalen eingegliedert wird bzw. sich selbst einglie-dert, stehe ich nicht an zu behaupten, daß im Bereich des politischen Verfassungsdenkens unter einem „Radikalen" gemeinhin ein konsequenter Demokrat und unter einem konsequenten Demokraten jedermann verstanden wird, der sich zu den Prinzipien von 1793 bekennt. Der kontinentale Radikaldemokrat zeichnet sich durch den Mut zur Konsequenz aus; der insulare Repräsentativdemokrat hat — ohne übermütig zu werden — den Übermut zur Inkonsequenz besessen. So mag es sich erklären, daß während langer Jahrzehnte die Engländer sich als unfähig erwiesen haben, das Regierungssystem, das sie praktizierten, zu analysieren, während die Franzosen dieses Regierungssystem zwar zu analysieren, aber nicht zu praktizieren verstanden haben. In der Gegenwart ist der am Modell von 1793 ausgerichtete Verfassungsradikalismus besonders weit bei denjenigen verbreitet, die gerade, weil sie sich optima fide für die einzigen echten Demokraten ansehen, nicht dagegen gefeit sind, als " fellow travellers" mißbraucht zu werden.

Das ideologische Band, durch das die Radikalen der verschiedensten Schattierungen zusammengehalten werden, ist die Kritik an der parlamentarischen Repräsentativverfassung. Lenins berühmter Satz, daß er sich ohne Vertretungskörperschaften eine Demokratie nicht denken könne — „ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns denken, soll die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft nicht ein leeres Gerede sein" —, stellt eine Art verfassungspolitisches Credo der front populaire des demokratischen Radikalismus dar. Radikaler Demokrat sein, schließt im Grunde genommen auch heute noch das prinzipielle Bekenntnis zu Rousseaus Theorem ein, daß ein Volk, das sich repräsentieren lasse, nicht mehr frei sei; politischer Radikalismus bedeutet, in jeder Repräsentativversammlung, die mehr als ein (allein aus Opportunitätserwägungen zu rechtfertigendes) Substitut einer Volksversammlung zu sein beansprucht, eine Verfälschung des Gedankens der demokratischen Selbstregierung zu erblicken. Mit den Augen eines radikalen Demokraten gesehen, stellt jede echte Repräsentation einen Struktur-fehler der Demokratie dar, weil sie auf einem Akt der Entfremdung beruht. Das letztere sollte eigentlich von keinem in den Kategorien des “ trust" denkenden Apologeten der parlamentarischen Repräsentativverfassung bestritten werden. Denn, was bedeutet die Begründung eines " trust" anders als einen Akt der Entfremdung, eine Übertragung meiner Eigentumsrechte an einen Dritten in der Erwartung, daß er meine Interessen besser wahrzunehmen vermag, als ich selber hierzu in der Lage bin? Oder zugespitzt formuliert: für den Anhänger der plebiszitären Demokratie ist politische Entfremdung tabu, für den Anhänger der repräsentativen Demokratie ist sie ein Talisman. Dies erklärt, warum ein orthodoxer Anhänger eines " representative government" in der Abhaltung von Plebisziten, in der Durchführung von Meinungsbefragungen und in der Organisation von außerparlamentarischen Parteien, die einen unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidungen des Regierungs-und Oppositionschefs auszuüben beanspruchen, Strukturfehler der Demokratie erblicken muß.

IV.

Bevor ich mich abschließend der Aufgabe unterziehe, die Strukturdefekte zu diagnostizieren, die nach meiner Auffassung in der demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik in Erscheinung treten, und bevor ich eine Therapie empfehle, die zu ihrer Beseitigung geeignet erscheint, muß ich — wie die vorhergehenden Ausführungen ausreichend erwiesen haben dürften — dartun, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit von einer normalen, einer gesunden demokratischen Verfassungsordnung gesprochen werden kann. Die Antwort wird verschieden ausfallen, je nachdem, ob man sich im Prinzip zu der klassischen oder zu der Konkurrenztheorie der Demokratie bekennt oder beide verwirft und eine dritte Demokratietheorie akzeptiert.

Die klassische und eine jede vertiefte Konkurrenztheorie der Demokratie operieren übereinstimmend mit dem Begriff des consensus omnium, unter dem sie jedoch nicht notwendigerweise das gleiche verstehen. Die Anhänger der klassischen Theorie der Demokratie neigen stärker zu der Ansicht, daß der consensus automatisch aus dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer existentiell homogenen demokratisch strukturierten Gemeinschaft erwächst; die Anhänger der Konkurrenztheorie der Demokratie tendieren stärker zu der An-nähme, daß der consensus aus der übereinstimmenden Anerkennung eines Minimums allgemeingültiger Verfahrens-und Verhaltensregeln entsteht, deren Respektierung in der Option für eine demokratisch strukturierte Gesellschaft essentiell eingeschlossen ist. Dies erklärt, warum die primär national orientierte klassische Theorie der Demokratie die Existenz eines vorgegebenen Volkswillens, die primär rational orientierte Konkurrenztheorie die Geltung einer vorgegebenen Wertordnung als unerläßliche Voraussetzung für die Begründung und Aufrechterhaltung einer demokratischen Verfassungsordnung ansprechen.

Nadi allem, was bisher gesagt worden ist, dürfte es sich erübrigen, im einzelnen zu begründen, warum ich meiner Diagnose und Therapie der Strukturdefekte der Bonner Verfassungsordnung nicht die klassische Demokratietheorie zugrunde gelegt habe. Ich halte sie auch in der Version, die ihr Gerhard Leib-holz in Gestalt der Lehre vom „Parteienstaat" gegeben hat, nicht für geeignet, zur Fällung der Entscheidung beizutragen, ob eine Verfassungsordnung den Ansprüchen einer echten Demokratie entspricht.

Die klassische Demokratielehre wird diesen Erfordernissen schon allein deshalb nicht gerecht, weil die Vorstellung eines alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens erfassenden Gemeinwillens unrealistisch ist und die zusätzliche Vorstellung, daß dieser als existent unterstellte universale Gemein-wille notwendigerweise das bonum commune zu verwirklichen in der Lage sei, in den Bereich der Utopien gehört. Nicht minder unrealistisch ist aber auch die Vorstellung Leib-holz', daß innerhalb der Parteien ein einheitlicher Wille der Parteimitgliedschaften existiere und daß es daher möglich sei, zur Herrschaft der volonte generale dadurch zu gelangen, daß man den Willen der Mitglieder der Mehrheitspartei mit dem Volkswillen identifiziert. Gibt es doch innerhalb einer jeden Partei neben Problemen, die parteiintern unumstritten sind, Aspekte des Gemeinschaftslebens, bei deren Beurteilung schon allein deshalb ein consensus der Parteimitglieder nicht vorhanden ist, weil in dem Denken der Parteimitgliedschaft sich weitgehend die Vorstellun-gen widerspiegeln, die in den Gruppen vorgeformt sind, denen die einzelnen Parteimitglieder angehören. Das für das Funktionieren des Parteistaats unentbehrliche geschlossene Handeln der Parteien kann weder dadurch erreicht werden, daß man auf das Walten mehrerer, dem „Volksgeist" korrespondierende „Parteigeister" vertraut, noch dadurch sichergestellt werden, daß man den durch Abhaltung von internen Parteiplebisziten und durch Verwendung demoskopischer Untersuchungen zu ermittelnden Willen der Mehrheit der Parteimitglieder als für Parlament und Regime bindende Richtschnur bei der Entscheidung konkreter politischer Fragen zu verwenden sucht. Das geschlossene Handeln einer politischen Partei kann nur erzielt werden, wenn es dort verbürgt ist, wo es in Erscheinung zu treten hat: im Parlament.

Vermag uns die Konkurrenztheorie die Maßstäbe zu liefern, deren wir bedürfen, um ausfindig zu machen, ob und inwieweit unsere Verfassungsordnung den Anforderungen einer echten Demokratie entspricht? Trägt die Konkurrenztheorie der Demokratrie dem Bedürfnis Rechnung, aufzuzeigen, wie in einem sozial und ökonomisch differenzierten Gemeinwesen dem Gemeinwillen ein ausreichend großes Betätigungsfeld eingeräumt wird, um die Förderung des Gemeinwohls genügend sicherzustellen, ohne die freie Entfaltung der Individual-und Gruppenwillen übermäßig einzuschränken? übersieht die Konkurrenztheorie der Demokratie nicht, daß auf die Dauer kein Staat bestehen kann, wenn in ihm nicht ein genuiner Gemeinwille seiner Bürger lebendig ist?

In seiner Schrift „Totalitäre Herrschaft" hat Hans Buchheim unlängst sehr treffend ge-sagt:

„Die Monarchie beruht auf dem, was der König nicht anordnen, die Demokratie auf dem, worüber man nicht abstimmen kann, sondern worin sich die Bürger ohne Abstimmung einig sind."

Weit davon entfernt, die Unentbehrlichkeit eines solchen nichtkontroversen Sektors von Staat und Gesellschaft zu bestreiten, wendet sich die Konkurrenztheorie der Demokratie lediglich dagegen, die Wirksamkeit des Gemeinwillens dadurch zu gefährden, daß sie ihm eine universale Bedeutung beimißt. Die Existenz eines Gemeinwillens wird unglaubhaft, die Vorstellung des Gemeinwillens verblaßt zu einer Ideologie, wenn nicht ausreichend in Rechnung gestellt wird, daß es weite Gebiete der Sozialordnung gibt, über die man abstimmen muß, weil sich die Bürger über ihre Ausgestaltung nicht einig sind.

Das kennzeichnende Merkmal einer jeden pluralistischen Demokratie ist in der offenen Anerkennung der Tatsache zu finden, daß es neben dem nicht-kontroversen Sektor einen weiteren Sektor des Gemeinschaftslebens gibt, einen Sozialbereich, in dem ein consensus omnium nicht besteht, ja nicht einmal bestehen soll: der Bereich der Politik

Das Bekenntnis zur pluralistischen Demokratie beruht auf der Erkenntnis, daß eine jede freiheitliche Demokratie sowohl Differenzierung als auch Übereinstimmung, daß sie " cleavage" und " consensus" bedeutet. Ein Strukturfehler der Demokratie liegt stets dann vor, wenn entweder a) mangels Vorliegens einer wirksamen generellen Anerkennung eines gültigen, die Grundprinzipien der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung erfassenden Wertkodex der gesellschaftliche Pluralismus zur staatlichen Desintegration führt, oder wenn b) mangels Vorliegens einer ausreichend intensiven und konkreten, d. h. aber in Einzelheiten notwendigerweise differenzierten politischen Willensbetätigung breiter Bevölkerungsschichten der gesellschaftliche Pluralismus in einer monokratisch organisierten, zwar präzis funktionierenden, aber leerlaufenden Staatsmaschine erstarrt.

Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, uns vor den im Pluralismus stets latent vorhandenen auflösenden Tendenzen zu fürchten, daß wir die Gefahren zu übersehen geneigt sind, die aus einer Erschlaffung des am konkreten sozialen Erlebnis ausgerichteten politischen Bewußtseins und aus einer Erlahmung des auf die konkrete Gestaltung sozialer Aufgaben hinzielenden politischen Willens erwachsen können. Sie sind nicht minder geeignet, zu einer Selbstaufhebung der Demokratie zu führen, und sie sind nach meiner Auffassung zur Stunde sehr viel akuter und drohender als die Gefahr, die aus etwaigen auflösenden Tendenzen des Pluralismus zu entstehen vermögen.

Ich werfe die Frage auf, ob wir bei der Analyse der Strukturdefekte der Demokratie nicht allzu bemüht sind, den Leichnam von 1933 zu sezieren, anstatt den Patienten von 1964 zu kurieren.

Die Konkurrenztheorie der Demokratie wird den an sie zu stellenden Erfordernissen nicht gerecht, wenn sie in den Wahlen zum Parlament nichts anderes erblickt als ein Personalplebiszit zwischen zwei Persönlichkeiten, die sich um das Amt des Regierungschefs reißen.

Ich glaube, daß eine Demokratie an einem Strukturdefekt leidet, der gar nicht ernst genug genommen werden kann, wenn diese Wahlen sich zu einer Art " beauty contest" entwickeln, bei dem es maßgeblich darauf ankommt, welcher der Kandidaten photogener ist, wer die einschmeichelndere Radiostimme besitzt, von welchem der Bewerber um das höchste Staatsamt am Fernsehschirm der stärkere " sex appeal" ausgeht, wer die größere Attraktionskraft ausstrahlt, weil er entweder dank seines Alters dem Sekuritätsbedürfnis oder dank seiner Jugend dem Betätigungsdrang eines Großteils der Wählerschaft besser entspricht. Die richtig verstandene Konkurrenztheorie der Demokratie besagt vielmehr, daß durch die Wahlen nicht nur der künftige Regierungschef bestimmt, sondern auch eine Entscheidung über Alternativlösungen getroffen werden soll, ein Verdikt über die Politik, die die Mehrheitspartei befolgt, und zugleich ein Verdikt über die Politik, die die Minderheitspartei befürwortet hat. Denn eine Parlamentswahl, die nicht zugleich eine Fortsetzung einer Parlamentsdebatte „mit anderen Mitteln" ist, verfehlt ihren Zweck, die Repräsentationsverfassung mit jenem guten Schuß plebiszitären Ols zu salben, ohne die sie rostig wird.

Eine der bedenklichsten Erscheinungen der neu-deutschen Demokratie ist darin zu erblikken, daß in den Parlamentsdebatten die zwischen Regierung und Opposition bestehenden Kontroversen nicht ausreichend klar hervortreten — was darauf zurückzuführen sein dürfte, daß sie zum mindesten gelegentlich von allen Beteiligten mit einem Augurenlächeln geführt werden. Die verwandten Argumente und Gegenargumente vermögen die öffentliche Meinung nur noch in Ausnahmefällen zu beschäftigen und den Wahlausgang fast niemals auch nur indirekt zu beeinflussen. Da die Frontstellungen der Fraktionen nicht genügend profiliert sind, versagt innerhalb und außerhalb des Parlaments das Spiel von “ challenge and response", in dem eine vertiefte Konkurrenztheorie der Demokratie den Kerngehalt und die innere Rechtfertigung der parlamentarischen Repräsentativverfassung erblicken sollte. Denn dieses Spiel kann nur dann ernst genommen werden, wenn die nicht zu überhörende Herausforderung der Regierung durch die Opposition auf einer zugleich sachlich substantiierten und propagandistisch wirkungsvollen Kritik beruht und eine Reaktion der Regierung auszulösen vermag, die eine überzeugende Rechtfertigung und notfalls eine Korrektur ihrer Politik enthält. Die Chancen der Regierung, sich in diesem Konflikt durchzusetzen, werden um so größer sein, je mehr sie bereit ist, bei der Vorbereitung der von ihr unterbreiteten Projekte die detaillierten Vorschläge zu beachten, die in den Gruppen, Parteien und in der öffentlichen Meinung erörtert worden sind. Ist doch unter Zugrundelegung der Prämissen und Methoden einer recht verstandenen Konkurrenztheorie der Demokratie das kennzeichnendste Merkmal einer pluralistischen Repräsentativverfassung darin zu finden, daß die Auseinandersetzungen über die bestmögliche Regelung der anfallenden Probleme in allen Stadien des politischen Willensbildungsprozesses in Erscheinung tritt. Damit es zu echten politischen Entscheidungen anläßlich der politischen Wahlen kommen kann, ist es unerläßlich, daß die Lösung und Alternativlösungen akuter ökonomischer, sozialer und politischer Probleme von tunlichst vielen Gruppen konzipiert, diskutiert und propagiert, von den Parteien zu einheitlichen Programmen kombiniert und von den Fraktionen so zugespitzt formuliert worden sind, daß sie bei der Wahl maßgeblich mit berücksichtigt werden können.

Alles Geschrei über den pluralistischen Charakter unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir nicht an einem über-, sondern an einem unterentwickelten Pluralismus leiden —• stets vorausgesetzt, daß man unter Pluralismus nicht das Nebeneinander einer Vielzahl bürokratisierter Apparate, sondern das Mit-und Gegeneinander von autonomen Gruppen mit einem lebendigen Gruppeninteresse, einem ausgeprägten Gruppenbewußtsein und einem hoch entwickelten Gruppenstolz der Gruppen-mitglieder versteht. Ich sehe den bedenklichsten Strukturfehler unserer Demokratie in der Lethargie und Apathie, die sich in zunehmendem Maße innerhalb der Gruppen und Parteien geltend macht. Wir leben in einem Karpfenteich, dessen Hechte sich zum Vegetarismus bekennen. Dies bedeutet nicht nur, daß wir fett geworden sind, es bedeutet auch, daß wir „schwimmen". Das Unbehagen an der Kanzlerdemokratie enthält nicht nur eine offene Kritik an dem übersteigerten Macht-willen des Regierungschefs, sondern auch eine versteckte Kritik an der Opposition, der es allzu häufig nicht gelingt, echte Alternativlösungen aufzuzeigen. Wenn sich in der öffentlichen Meinung die Vorstellung durchsetzt, daß es sich bei den Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition nicht um die Austragung von Gegensätzen handelt, die ein echtes Anliegen der Öffentlichkeit bilden, wird sich die Ansicht in zunehmendem Maße durchsetzen, daß bei den parlamentarischen Diskussionen nur mit Platzpatronen geschossen wird. Wenn der Eindruck vorherrscht, daß die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition eine Spiegelfechterei darstellen, wird die Überzeugung wachsen, daß die Wahlen lediglich Routineabstimmungen sind, die bestenfalls zu einer Wachablösung zu führen vermögen, wenn nicht gar sich darin erschöpfen, leichte Korrekturen eines über-und zwischenparteilichen Patronage-Kartells zu bewerkstelligen. Nicht die Krankheitssymptome des Frankreich der Vierten Republik, sondern die Struktur-defekte des Österreich der Zweiten Republik ähneln denen, die in der Bundesrepublik zutage treten. Man hat vom heutigen Österreich, in dem alle Macht-und Einflußpositionen anteilsmäßig zwischen den beiden großen Parteien verteilt sind gesagt, daß es von der Firma „Pro und Porz" regiert werde. Dem ist nur hinzuzufügen, daß diese Firma in Form einer G. o. j. R.organisiert ist — d. h. einer Gesellschaft ohne jegliches Risiko.

Erstarren die Gruppen und Parteien zu einer Fassade, hinter denen sich nichts anderes verbirgt als das Machtstreben der Bürokratien, der Partei-und Gruppenapparate, dann verwandelt sich die pluralistisch-demokratische Gesellschaft in eine Masse isolierter Individuen, deren politisches Denken durch die Massenkommunikationsmittel uniform gebildet wird und deren politische Reaktionen unschwer mit Hilfe demoskopischer Untersuchungen ermittelt werden können. Die innere Aushöhlung der autonomen Gruppen und Parteien muß dazu führen, daß der Massenwille mechanisch dirigiert und die Reaktion auf diese Direktiven mechanisch registriert werden kann. In der Bundesrepublik tritt diese Aushöhlung der Gruppen und Parteien in dem bereits weitgehend verwirklichten Bestreben in Erscheinung, die Parteien zu Stipendiaten des Staates und die Abgeordneten zu Staatspensionären zu machen. Wie Hannah Arendt so eindrücklich dargetan hat, vermag in Zeiten einer Krise die Schaffung einer formlosen Masse das Substrat einer totalitären Diktatur abzugeben; sie vermag in Zeiten des kontinuierlichen Wohlstands zu einer alle Kreise der Bevölkerung erfassenden Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit und zur Errichtung eines Regimes zu führen, das keine Kritik, keine Kontrolle und vor allem keine echte Opposition und daher auch keine Auseinandersetzungen kennt, die Alternativlösungen enthalten.

Als Politikwissenschaftler von Pluralismus sprechen, heißt die hic et nunc politisch denkbaren Alternativen zum Pluralismus aufzuzeigen. Ein Volk, das einmal vom Baum der pluralistischen Erkenntnis gekostet hat, läßt sich zwar zur formlosen Masse unter einer totalitären Herrschaft reduzieren; es läßt sich aber nicht zu Untertanen eines ständisch gegliederten Obrigkeitsstaates zurücktransformieren, in dem ein Stand als „allgemeiner Stand" das Monopol der politischen Herrschaft und Entscheidung ausübt: die Bürokratie. Wir bewegen uns nicht auf dem Boden der " iffies", wenn wir fragen, was geworden wäre, wenn man im Jahre 1932 das Experiment gemacht hätte, den pluralistischen durch den autoritären Staat zu ersetzen. Der Versuch ist unter Papen unternommen worden. Wir kennen das Resultat.

Pluralistisch ist nicht ein Staat, der nur pluralistisch, pluralistisch ist ein Staat, der auch pluralistisch ist. Pluralismus ist ein dialektischer Begriff. Um es noch einmal zu sagen: Pluralismus bedeutet Übereinstimmung und Differenzierung. Das Gegenteil des Pluralismus ist heute nicht der autoritäre Beamten-, sondern der autokratische Massenstaat.

So optimistisch es einen zu stimmen vermag, daß die Aussicht einer solchen Entwicklung ein instinktmäßiges Unbehagen an unserer Politik herbeizuführen in der Lage ist, so bedenklich muß es erscheinen, daß die Kritik an unseren Zuständen nur allzu häufig mit Argumenten geführt wird, die nicht aus einer Analyse der Gegenwart abgeleitet, sondern aus den Rezeptbüchern der Medizinmänner von anno 1933 abgeschrieben sind.

Manch einem, der auch heute noch an einem antipluralistischen Komplex leidet, mag die Prognose der uniformen Massengesellschaft erträglich, wenn nicht gar erstrebenswert erscheinen. Nur sollte er sich darüber im klaren sein, daß ihre Verwirklichung nicht nur das Ende aller Politik, sondern auch das Ende der Demokratie bedeutet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarei Republik — Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 (München 1962).

  2. John P. Mackintosh: The British Cabinet (London 1962), S. 381 ff.

  3. Walter Bagehot: The English Constitution. Introduction by R. H. S. Crossman (London 1963), S. 51 ff.

  4. Reinhard J. Lamer: Historische Studien, Heft 387 (Lübeck u. Hamburg 1963).

  5. L. S. Amery: Thoughts on the Constitution (London 19532), insbes. S. 17 ff.

  6. Vgl. hierzu Ernst Fraenkel: Das Amerikanische Regierungssystem (Köln u. Opladen 19622), S. 180 ff.

  7. Herbert Morrison: Government and Parliament, a Survey from the Inside (Oxford University Press 1954), S. 140 ff.

  8. Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Bern 1950), S. 397 ff.

  9. Ibd. S. 427 ff.

  10. Bertrand de Jouvenel: Du Pouvoir (Genve 1942), S. 296.

  11. Robespierre: Sur la Declaration des Droits (24. April 1793) Art. 15, abgedruckt in: Robespierre Textes Choisis. Hrsg. v. Jean Poperen (Paris 1957), Bd. 2, S. 139.

  12. Ibd. Art . 25, Abs. 2.

  13. Chapitre 4, Section 2, Art. 1.

  14. Jean Jacques Chevalier: Histoire des Institutions Politiques de la France Moderne (Paris 1958), S. 78.

  15. Jacques Godechot: Les Institutions de la France sous la Revolution et l’Empire (Paris 1951), S. 254.

  16. Herbert Lüthy: Frankreichs Uhren gehen anders (Zürich 1954), S. 31.

  17. Gerhard Leibholz: Strukturprobleme der modernen Demokratie (Karlsruhe 1958), insbes. S. 94.

  18. Hans Buchheim: Totalitäre Herrschaft (München 1962), S. 61.

  19. Vgl. hierzu Ernst Fraenkel: Demokratie und Öffentliche Meinung (Zeitschrift für Politik, Jahrgang 10 N. F. [1963]), S. 319 ff.

  20. Vgl. über das österreichische Parteiwesen Gustav E. Kafka: Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat (Veröffentlichung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehre, Heft 17, Berlin 1959), S. 53 ff.

  21. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism (New York 1951), S. 305: ". . . The term masses applies only where we deal with people who either because of sheer numbers, or indifference, or a Combination of both, cannot be integrated into any Organization based on common Interest, into political parties or municipal governments or Professional organizations or trade unions. . . . * Deutsche Ausgabe: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (Frankfurt 1955), S. 496.

Weitere Inhalte

Ernst Fraenkel, Dr, jur., o. Professor für die Wissenschaft von der Politik am Otto-Suhr-fnstitut der Freien Universität Berlin; geb. 26. Dezember 1898 in Köln. Veröffentlichungen u. a.: USA, Weltmacht wider Willen, Berlin 1957; Staat und Politik (mit Karl-Dietrich Bracher), Frankfurt 1964 3; Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958; Amerika im Spiegel deutschen demokratischen Denkens, Köln/Opladen 1958; Das amerikanische Regierungssystem, Köln/Opladen 1963 2; Öffentliche Meinung und internationale Politik, Tübingen 1962.