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Entwicklungsländer in der Entscheidung | APuZ 13/1964 | bpb.de

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APuZ 13/1964 Artikel 1 Entwicklungsländer in der Entscheidung

Entwicklungsländer in der Entscheidung

Hermann M. Görgen

Politik ist die Fähigkeit der zeit-und sachgerechten Entscheidung im gesellschaftlichen Interessenbereich. Bei hoher Kultur eines Volkes, entwickelter Wirtschaft, ausgeprägten Sozialrechten, politischer Reife und Erfahrung wird der Mechanismus der politischen Entscheidungen kompliziert. Die westlich-demokratische Regierungsform und die durch den Wohlstand geschaffenen Sozial-und Wirtschaftsverhältnisse mit ihren vielseitigen, rechtlich und funktional abgesicherten Verflechtungen verfeinern und erschweren die zeit-und sachgerechte politische Entscheidung. Das Wesen der Politik aber ist die Entscheidung, die Tat, die dauernde und nachhaltige Beeinflussung und Änderung der sozialen Wirklichkeit. Jedoch ist der Akt der Entscheidung ein anderer, je nachdem er von den Präsidenten der USA, der Sowjetunion, Liberias oder Boliviens gefällt wird. Die politische Unstabilität als Folge sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Schwäche, provoziert und „erleichtert" die politische Entscheidung. Da, wo die staatliche Ordnung nicht festgefügt ist und die Rechtsordnung die Kluft zwischen arm und reich nicht zu schließen vermag, wo die Wirtschaftskraft nicht oder nur unzureichend genutzt ist und das Bildungswesen die Gabe der Unterscheidung nicht vermittelt, wird der politische Wille, von objektiven Rücksichten kaum belastet, die politische Entscheidung rasch und unbekümmert fällen.

Graphische Darstellung der Entwicklung der sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren in 74 Ländern und Territorien. pro Kopf-Energieverbrauch in kg gleichwertiger Kohle Kindersterblichkeit in % pro Kopf-Einkommen In US-Dollar proportioneile Schulmatrikel in %

Eine Untersuchung, die den tatsächlichen und möglichen Verhaltensweisen der Entwicklungsländer nachspüren will, muß daher die objektiven Umstände aufzeigen, die die Dringlichkeit ihrer Entscheidung verständlich und deren Sachgerechtigkeit schwierig machen.

Tabelle III

Aus diesen Umständen, Tatsachen und Imponderabilien werden jene zahllosen Elemente der politischen Entscheidungen begreiflich, die sich dann in plötzlichen, auch von den Geheimdiensten nicht vorausgesehenen Revolten und Revolutionen niederschlagen und den analysierenden Politikern in West und Ost Rätsel über Rätsel aufgeben.

Kommunistische Techniker und Fachleute in Entwicklungsländern

Wenn in der vorliegenden Untersuchung von den Entwicklungsländern gesprochen wird, ist mit diesem Plural nicht eine exakt definierbare Größe gemeint. Wir sind indes gezwungen, mit dem Begriff der Entwicklungsländer zu operieren, und müssen die Tatsache weit-verbreiteter Mißverständnisse hinnehmen. Alle Kritiker der vorliegenden Untersuchung seien daher von vornherein um Absolution für die Verwendung des Ausdrucks „die Entwicklungsländer" gebeten. Ich habe mich bemüht, durch Beispiele zu individualisieren. In der konkreten Entwicklungspolitik jedoch muß die exakte Erforschung des Entwicklungs-Standes eines jeden einzelnen Landes als Voraussetzung politischer Aktionen gefordert werden. So wünschenswert eine Theorie der Entwicklungshilfe ist die empirischen Unterlagen für einen solchen Versuch sind unzureichend. Anderseits: je umfassender die empirischen Unterlagen werden, um so schwieriger wird es, aus ihnen eine Theorie der Entwicklungshilfe abzuleiten. Es zeigt sich dann, daß nicht einmal die materiellen Elemente der verschiedenen Entwicklungsstufen in den verschiedenen Ländern miteinander vergleichbar sind, geschweige die Wertvorstellungen, die jedem Entwicklungsprozeß Kraft und Bestimmung verleihen.

Abbildung 12

Trotzdem wollen wir den Versuch machen, die objektiven Umstände und wesentlichen Elemente aufzuzeigen, die bei Entscheidungen in der Entwicklungspolitik (sowohl bei den Gebenden wie bei den Nehmenden) beachtet werden müssen.

Abbildung 13

Die Untersuchung, was ein Entwicklungsland sei, führt zu der Frage, ob es drei Blöcke in der Weltpolitik gibt. Eine Analyse der Außenpolitik gegenüber den Entwicklungsländern folgt, wobei Außenhandelspolitik, Bündnispolitik und Koexistenzpolitik in innerem Zusammenhang gesehen werden. Das Hunger-problem stellt Beziehungen zwischen der Bevölkerungsexplosion und der Frage der biologischen Reserven her. Schließlich steckt das „Ringen um Leitbilder" den Rahmen ab, innerhalb dessen Entwicklungsländer und Geber-länder entscheiden.

I. Was ist ein Entwicklungsland?

I. Was ist ein Entwicklungsland? II. Die drei „Blöcke“ III. Die Außenpolitik gegenüber den Entwicklungsländern IV. INHALT Das Hungerproblem V. Das Ringen um Leitbilder dieser Ausgabe 1. Sind die Bandungstaaten eine Einheit? 2. Ist der Osten eine Einheit?

3. Ist der Westen eine Einheit? 1. Westliche Außenpolitik 2. Östliche Außenpolitik 3. „Koexistenz“ und Entwicklungsländer 4. Die drei Formen der Bündnispolitik 5. Außenhandelspolitik der nächsten Ausgabe 1. Bevölkerungsexplosion 2. Überbevölkerung und

Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, Ethnologen, Geographen und Kulturanthropologen geben eine Antwort auf die Frage: was ist ein Entwicklungslan. ? Ihre Antworten werden nicht übereinstimmen. Entwicklungsländer liegen vornehmlich in Asien, Afrika und Lateinamerika. Es gibt jedoch am Atlantik und im Mittelmeerraum auch europäische Entwicklungsländer.

Zu den Entwicklungsländern zählen Völker ältester Kulturen: Ägypter, Inder, Chinesen. Ebenso aber gehören Völker zu ihnen, deren geschichtliche Strukturen keine gesellschaftsbildenden Kulturelemente erkennen lassen. Schließlich sind auch Völker junger Kulturen in die Kategorie der hochentwickelten Länder einzureihen.

Auch die Rasse, das Klima und der Reichtum oder Mangel an Bodenschätzen und fruchtbaren Böden sind keine hinreichenden Kriterien zur Definition der Entwicklungsländer. Selbst Kapitalmangel und Überbevölkerung entbehren der allgemeinen Gültigkeit eines anwendbaren Kriteriums Es gibt keinen einheitlichen Maßstab für die Definition des Entwicklungsstandes eines Volkes „Entwicklungsland“ ist ein politischer Begriff.

Da die Politiker lautend Entscheidungen über entwicklungspolitische Vorhaben, d h. Wirtschafts-und Finanzfragen, treffen müssen, bedürfen sie der wirtschaftspolitischen Begründung In Umrissen muß das Bild eines Entwicklungslandes für sie gezeichnet werden können Zudem besitzt die wirtschaftspolitische Definition sachliche und psychologische Vorteile Sie ist 1 politisch in etwa wertneutral, statistisch meßbar, in konkreten Folgerungen faßbar Entwicklung wird zu einem ausschließlich wirtschaftlich-sozialen Prozeß Wo das „volkswirtschaftliche Mengenverhältnis der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital" ungleich ist 2), geringes Durchschnittseinkommen, unzureichende Sparquote, betont ungleiche Einkommensverteilung vorliegen, die Agrarproduktion die Anfänge industrieller Entwicklung in der wirtschaftlich-sozialen Bedeutung weit überragt, eine dünne Oberschicht den statischen Charakter der Wirtschaft erhalten und jegliche Mobilität wirtschaftstechnologischer Art unmöglich machen kann, spricht man bei den Nationalökonomen von „Entwicklungsländern“. Man versucht nun, meßbare Größen zu ermitteln und bei der Änderung der Verhältnisse anzuwenden:

Energieproduktion und -verbrauch, Lebensmittelproduktion und -verbrauch, Eisen-und Stahlproduktion und -verbrauch, durchschnittliches Realeinkommen Abgesehen von der Fragwürdigkeit der Methode muß bezweifelt werden, ob die Unterlagen für die Meßbarkeit der Größen ausreichen. Die internationalen Organisationen mühen sich zwar ständig um einwandfreie Zahlen. Die statistischen Methoden und die Sorgfalt bei ihrer Anwendung lassen jedoch in vielen Ländern sehr zu wünschen übrig.

Wer sich über die Nettolebensmittelversorgung in einzelnen Ländern unterrichten will, findet im Statistischen Jahrbuch 3) die Feststellung, daß die Angaben auf den nationalen Lebensmittelversorgungsmodellen beruhen, welche die Regierungen gemeinsam mit der Food and Agriculture Organization (FAO) in Rom autstellen. Nach der Einschränkung, daß den Berechnungen ein „ziemlich rohes statistisches Verfahren" zugrunde liege, heißt es: „Für eine Anzahl Waren reichen die offiziellen Statistiken über die Erzeugung und den Außenhandel häufig nicht aus, so daß grobe Schätzungen zu Hilfe genommen werden müssen. Die Statistiken der Länder weichen in Umfang und Genauigkeit sehr voneinander ab. Von einigen wenigen Ländern abgesehen, gibt es praktisch keine Unterlagen über die Vorratshaltung in der Landwirtschaft und im Handel; die jährlichen Vorratsänderungen können die verfügbaren Nahrungs-mittelmengen aber erheblich beeinflussen. In Ermangelung statistischer Angaben über die Verwendung einzelner Waren müssen die verfütterten und die als Saatgut oder für industrielle Zwecke verwendeten Mengen, ebenso die Ausmahlungs-und Raffinadeverluste häufig ebenfalls hoch geschätzt werden. Aus allen diesen Gründen sind die Ergebnisse für die verschiedenen Länder nicht streng vergleichbar. Davon abgesehen sind bei Vergleichen von Land zu Land auch die Unterschiede des Klimas, der Lebensgewohnheiten und des Bevölkerungsaufbaus nach Alter und Geschlecht zu bedenken." Diese Kritik bezieht sich zwar nur auf die Nahrungsmittelversorgung, aber sie kann mit graduellen Unterschieden auch auf andere statistische Dienste der Entwicklungsländer angewandt werden. Daher tauchen immer wieder Zweifel an der schlüssigen Verwendbarkeit der internationalen Statistiken auf. Eingehende Untersuchungen, die statistisch sich widersprechenden Angaben zusammenstellen und nach dem Grund für den unterschiedlichen Inhalt der Aussagen forschen, gibt es kaum.

Auch die Statistik der lateinamerikanischen Länder ist nach 150 Jahren Souveränität, Selbständigkeit und den Versuchen, Verwaltungsorganisationen nach europäischem Muster einzurichten, häufig korrekturbedürftig. Rudolf Rezsohazy hat unter dem Titel »Problemes sociaux el poliliques en Amerique Latine« eine Würdigung der in den vier bis fünf Jahren vor 1962 erschienenen Literatur über Lateinamerika veröffentlicht und kommt bei dem Kapitel über die Statistiken zu dem Schluß, daß es den Ziffern häufig an Präzision mangele. Schwierige Interpretationsprobleme würden durch die Statistiken aufgeworfen, denn sie seien nicht mit der notwendigen Sorgfalt zusammengestellt. Die Kalkulationsmethoden variierten von Land zu Land. Lücken seien sehr zahlreich. Als Beispiel führt er an, daß nach den Statistiken — bei einer Indexzahl von 100 im Jahre 1953 — Argentinien im Jahre 1948 ein Pro-Kopf-Einkommen von 118 und 1955 von 105, Brasilien wiederum auf der gleichen Basis (1953 = 100) im Jahre 1948 89 und 1955 108 Indexpunkte zu verzeichnen hatte. An weiteren Beispielen seien zitiert: nach UN-Schätzungen von 1954 gehörte Brasilien zu den Ländern der Gruppe 150 bis 200 Dollar pro Kopf pro Jahr während eine von R. F. Behrendt zitierte Schätzung Brasilien für das Jahr 1954 pro Kopf 100 Dollar zubilligt Für Mexiko lauten die Zahlen in den beiden Vergleichsstatistiken 200— 300 Dollar und 164 Dollar; für Thailand 50— 100 Dollar und 125 Dollar. Das argentinische Pro-Kopf-Einkommen wird in einer Statistik für 1957— 1959 mit 228 Dollar angegeben während es 1954 nach UN-Berechnungen 400— 500 Dollar betragen haben soll

Verwenden wir aber einmal — belastet mit diesem allgemeinen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Statistik — das Pro-Kopf-Einkommen als Maßstab für die Definition des Begriffes Entwicklungsland, dann ergibt sich nach den Schätzungen von Paul Hoffmann für das Jahr 1959 ein Verhältnis von 1 : 20 im Volkseinkommen der Entwicklungsländer und der USA zueinander, d. h. ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 125 Dollar pro Kopf in den Entwicklungsländern (mit ungefähr 1, 1 Milliarden Einwohnern, ohne das kommu-nistische China) ‘nd ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 2 500 Dollar pro Kopf in den USA. Der Durchschnitt aller „entwikkelten" Länder (mit etwa 400 Millionen Einwohnern) verfügt nach diesen Angaben über etwa 900 Dollar, so daß der Durchschnitt des Volkseinkommens pro Kopf pro Jahr der „unterentwickelten“ Länder und der „entwikkelten" Länder in einem Verhältnis von 1 : 7, 2 liegt.

Es bestehen jedoch auch innerhalb der Gruppe der „entwickelten" und der Entwicklungsländer große Abstände im Pro-Kopf-Einkommen, und zwar sowohl innerhalb der Erdteile als auch der einzelnen Länder. So finden wir im Jahres-pro-Kopf-Einkommen von Afrika in den Jahren 1957— 59 folgende Vergleichsziffern

Daraus geht hervor, daß — nach den Pro-Kopf-Einkommen gemessen — der Abstand zwischen „entwickelten" und Entwicklungsländern sich innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer wiederfindet. Ja, er ist sogar in bestimmten Fällen größer als das oben dargelegte Verhältnis zwischen „entwickelten" und Entwicklungsländern von 1 : 7, 2. So weisen die Statistiken der UN für das Jahr 1954 einen Unterschied von 1: 10 zwischen den Ländern Uganda, Westafrika, Burma, kommunistisches China, Äthiopien, Libyen auf der einen Seite (we-niger als 50 Dollar) und Venezuela, Puerto Rico, Argentinien auf der anderen Seite (400— 500 Dollar) auf.

Eine Statistik für das Jahr 1960 errechnet für Bolivien 91 Dollar Pro-Kopf-Wert des Bruttosozialprodukts, für Venezuela 1 166 Dollar, also über zwölfmal soviel wie für Bolivien

das Wie Gefälle Entwicklungslandes eines sein kann, sei am Beispiel Brasiliens demonstriert. Das Pro-Kopf-Einkommen im Jahre 1960 betrug im Bundesstaat Piaui rund 7 700, 00 Cruzeiros im Vergleich zum Staat Säo Paulo mit 47 600, 00 Cruzeiros und dem Staat Guanabara mit rund 77 900, 00 Cruzeiros. Das Gefälle des Pro-Kopf-Einkommens innerhalb Brasiliens ist somit größer als das Durchschnittsgefälle zwischen sämtlichen Entwicklungsländern und den Industrieländern

Schließlich besteht ein starkes Einkommens-gefälle sogar innerhalb der USAI „Amerikanische Fachleute haben erklärt, sie seien gar nicht sicher, ob nicht die Zahl der Personen, die heute in den USA in Armut und Not leben, größer sei als etwa im Jahre 1900."

Anläßlich eines UNESCO-Colloquiums in Paris hat Prof. Townsend von der Universität Essex gefordert, die westliche Welt müsse sich mehr und mehr über die Armut in den eigenen Reihen klar werden. In England hatten zum Beispiel 1960 etwa 7, 5 Millionen Menschen an der Grenze des Existenzminimums gelebt, während in den USA etwa 20 % der Bevölkerung (rund 36 Millionen Menschen) „im Schatten der Armut" lebten. Man müsse, um Armut zu erkennen, das Realeinkommen und den Lebensstil der Armen mit den entsprechenden Daten für das normale Mitglied der betreffenden Gesellschaft in Beziehung bringen. Jedes Land besitzt seine eigentümlichen Armutstormen, die wissenschaftlich erforscht und für den internationalen Erfahrungsaustausch individuell erarbeitet werden müssen , Reichtum ist nicht gleich Reichtum. Armut ist nicht gleich Armut. Die historischen, soziologischen, wirtschaftlichen, klimatischen und intellektuellen Bedingtheiten der physischen und geistigen Existenz des Menschen und der Völker sind voneinander völlig verschieden. Die Frage, was denn nach dem Kriterium des Pro-Kopf-Einkommens ein „unterentwickeltes" Land sei, hat die Vereinten Nationen häufig beschäftigt. Man konnte sich nicht auf bestimmte Beträge einigen. Dies erscheint auch sachlich unmöglich, weil der rein wirtschaftliche Maßstab des Volkseinkommens über Entwicklung und Entwicklungsmöglichkeiten, Lebensniveau und Kulturhöhe und vor allem die Sozialstruktur eines Volkes nur relative Aussagen liefern kann, die durch komplementäre Kriterien präzisiert werden müssen.

Mit Recht weist man daher immer häufiger auf die Fragwürdigkeit dieses Kriteriums hin Wollte man der 1951 von den Vereinten Nationen übernommenen These folgen, wonach unterentwickelte Gebiete dort zu finden seien, wo Realeinkommen im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, Kanada und Westeuropa niedrig seien, sähe man sich gezwungen, fast alle Länder Mittel-Osteuropas nicht nur gegenüber den Vereinigten Staaten, sondern auch gegenüber Westeuropa als unterentwickelt anzusehen.

Die Bemühungen, objektive Kriterien für den Unterschied des sozialwirtschaftlichen Entwicklungsstandes verschiedener Länder zu finden, haben dazu geführt, von drei Grundbegriffen auszugehen: Lebensniveau, Lebensstandard und Lebensnorm.

Die Experten der Vereinten Nationen stellten folgende Frage: Bis zu welchem Grad kann der Mensch unter völlig verschiedenartigen Milieubedingungen, bei Beachtung verschiedenartiger Wertskalen, wohnhaft in Gegenden, die voneinander total verschiedene Möglichkeiten bieten, menschliche Notwendigkeiten und Aspirationen, die in der ganzen Welt als wesentlich angesehen werden, zufriedenstellen und erfüllen?

Unter „Lebensniveau'versteht man die tatsächlichen Lebensbedingungen einer bestimmten menschlichen Gruppe. „Lebensstandard" umfaßt zusätzlich die Hoffnungen und Aspirationen, die eine menschliche Gruppe nährt und erstrebt, um bestimmte Lebensbedingungen zu erlangen oder wiederzuerlangen, auf die sie Anspruch zu haben glaubt. Die „Lebensnorm'begreift alle jene Bedingungen, die zur Erreichung bestimmter Ziele als angemessen an-gesehen werden. Dazu gehört insbesondere die gesamte Arbeitsgesetzgebung auf nationaler und internationaler Ebene

Wir befassen uns nur mit den Vergleichsmöglichkeiten des Lebensniveaus, das heißt der tatsächlichen Lebensbedingungen, da es über die gesamte Bedürfnisbefriedigung aussagt. Die immateriellen Aspirationen und Wünsche des Menschen sind indes nicht meßbar, was eine nicht zu beseitigende Schwäche des Vergleichsvorganges darstellt. Trotzdem haben die Experten der Vereinten Nationen eine Liste von Bereichen und Kriterien aufgestellt, die nach ihrer Auffassung international als „Indikatoren" des Lebensniveaus anerkannt werden könnten. Dies sind:

1. Gesundheitswesen, unter Einschluß der demographischen Lage, 2. Ernährungswesen, 3. Stand des Erziehungswesens einschließlich der Frage des Analphabetismus und des technischen Unterrichts, 4. Arbeitsbedingungen, 5. Situation auf dem Arbeitsmarkt, 6. Situation des Konsums, 7. Transportwesen, 8. Wohnungswesen einschließlich der sanitären Einrichtungen, 9. Kleidung, 10. Erholung und Freizeit, 11. Soziale Sicherheit und 12. bürgerliche Freiheiten.

Undurraga weist auf „die enormen Unterschiede“ hin, die die statistischen Dienste der verschiedenen Länder in bezug auf Umfang und Qualität erkennen lassen.

Er verlangt ausdrücklich eine „gewisse Reserve“, mit der man die den nachstehenden Vergleichsbildern zugrundeliegenden statistischen Angaben beurteilen müsse. Er geht so weit zu behaupten, daß man die Entwicklungsländer aus dem Vergleichsbild ausschließen müßte, wollte man die Analyse nur auf jene wenigen Länder beschränken, die „des Vertrauens würdige Zahlen“ liefern!

Die Schwierigkeiten werden aber auch methodisch um so größer, je mehr subjektive Wert-Setzungen in den Indikatoren zum Ausdruck kommen, zum Beispiel bei der Bewertung von Freizeit und Erholung oder der bürgerlichen Freiheiten Dieser Methode, mit Hilfe der genannten zwölf Indikatoren das Lebens-niveau eines Volkes exakt zu umschreiben, sind somit natürliche Grenzen gesetzt. Sie wäre nur dann vollgültig, wenn man für jedes einzelne Land in der Welt eine umfassende und jeweils zutreffende Anzahl von Indikatoren mit den dazu gehörigen exakten Unterlagen in einer Aussageform zur Verfügung hätte, die es erlaubten, alle grundlegenden Bestandteile des Lebensniveaus zu messen.

Andererseits mußte man zu einer sozio-ökonomischen Typologie gelangen und Vergleichsmöglichkeiten schaffen, die in etwa den Anforderungen einer Weltentwicklungspolitik zugrundegelegt werden können. So gelangten die Experten der Vereinten Nationen dazu, bestimmte Länder auf der Grundlage bestimmter gemeinsamer Charakteristika zu Gruppen zusammenzufassen und miteinander zu vergleichen. Die dabei verwandten quantitativen Kriterien wurden indes auf rein empirischem Wege gewonnen. Denn es gibt keine logische oder mathematische Analytik, die über den Zusammenhang von sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsumständen exakt aussagen könnte. Man kann nicht theoretisch festsetzen, welches Niveau zum Beispiel auf dem Gebiete des Gesundheits-und Erziehungswesens ein bestimmtes Land in Funktion einer bestimmten wirtschaftlichen Entwicklung erreichen muß. und daher kann man auch nicht theoretisch festsetzen, welchen Anteil des Volkseinkommens dieses betreffende Land auf dem Gebiete der Erziehung und des Gesundheitswesens investieren muß, um ein bestimmtes entwicklungspolitisches Ziel zu erreichen

Die Vereinten Nationen haben in einer Untersuchung über 74 Länder auf Grund der ihnen zur Verfügung gestellten Unterlagen eine Skala von sechs Ländergruppen aufgeführt. Sie wurden nach dem Pro-Kopf-Volkseinkommen zusammengestellt

Gruppe 1 Länder mit einem Pro-Kopf-Ein kommen über 1000 Dollar

Gruppe 2 Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen zwischen 575 und 1000 Dollar Gruppe 3 Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen zwischen 350 und 575 Dollar Gruppe 4 Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen zwischen 200 und 350 Dollar Gruppe 5 Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen zwischen 100 und 200 Dollar Gruppe 6 Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen unter 100 Dollar Sodann wurden zwölf „Indikatoren" auf die sechs Ländergruppen angewandt

(Siehe Tabelle 1 auf der folgenden Seite)

Es werden die Beziehungen zwischen den sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren und zwischen Lebensniveau und den dazu gehörenden gesellschaftlichen Strukturveränderungen (die in den drei letzten Spalten erscheinen) deutlich ersichtlich. Als Indikatoren für den wirtschaftlichen Entwicklungsstand sind das Pro-Kopf-Einkommen sowie der Pro-Kopf-Energieverbrauch angenommen. Sie erlauben, die Industrialisierung und die verfügbaren Güter und Dienstleistungen zu werten. Für die Bestimmung des sozialen Entwicklungsstandes sind nur Gesundheit, Erziehung und Ernährung berücksichtigt worden. Es fehlen also Wohnungswesen, Bekleidung, soziale Sicherheit, auch Freizeit und Erholung, die auf Weltebene nicht quantitativ erfaßt werden können Drei zusätzliche Indikatoren, die auf das engste mit Pro-Kopf-Einkommen und Wohlstand sowie mit der Sozial-und Wirtschaftsstruktur verbunden sind, sagen über den Anteil der mär -liehen Arbeitskraft in der Landwirtschaft aus, über den Anteil des landwirtschaftlichen Einkommens am Gesamt-Volkseinkommen und über die städtebauliche Erschließung.

Nach dieser Typologie der Entwicklungsländer versuchten die Experten der UN eine Klassifizierung, d. h. eine Einteilung in Gruppen nach ihrem sozial-wirtschaftlichen Entwicklungsstand. Der Maßstab des durchschnittlichen Realeinkommens wurde als nicht ausreichend angesehen. So sind sie dazu gelangt, vier Indi-katoren aufzustellen, die auf die gleichen sechs Ländergruppen angewandt wurden:

1. Pro-Kopf-Einkommen Pro-Kopf-Energie-Verbraudi 3. Kindersterblichkeit 4. Schulbesuch Daraus ergab sich das nachfolgende Vergleichsbild Die Individualisierung innerhalb der sechs Gruppen führte zu dem Vergleichsbild von 74 Ländern (s. Tabelle III auf Seite 24/25). Das Bild ist heute nicht mehr gültig, weil die Zahlen aus den Jahren bis 1958 stammen. Die stürmische Entwicklung der letzten Jahre hat diese Zahlen, die in sich schon problematisch waren, noch problematischer gemacht. Trotzdem zeigen sie nach Methode und Inhalt Möglichkeiten der unerläßlich notwendigen Individualisierung der sozio-ökonomischen Lage in einzelnen Entwicklungsländern

Eine Analyse des Vergleichsbildes kommt zu Ergebnissen, die für Entscheidungen in der Entwicklungspolitik von großer Bedeutung sind. Vor allem fällt auf, daß der Rhythmus der wirtschaftlichen Entwicklung in sich um so rascher verläuft (Wertzuwachs des National-einkommens und Erhöhung des Energieverbrauchs), je höher ein Land sich wirtschaftlich entwickelt. Hingegen folgt die soziale Entwicklung einem gegenteiligen Rhythmus: je höher die Kurve ansteigt, um so langsamer wird der Fortschritt. Es ist somit für Länder mit hohem Nationaleinkommen leichter, ihre Industrie zu entwickeln als ihre Kindersterblichkeit zu senken, während in Ländern mit geringem Nationaleinkommen das Gegenteil eintritt.

So gehört zum Beispiel Japan zur Länder-gruppe 4 im Pro-Kopf-Einkommen und zur qualitativ höheren Ländergruppe 3 im Energieverbrauch, hingegen zur noch höheren Ländergruppe 2, was die Kindersterblichkeit und den Schulbesuch betrifft, das heißt: Japan ist ein Land mit geringem Pro-Kopf-Einkommen und trotzdem geringer Kindersterblichkeit und hohem Schulbesuch. Auf den Philippinen finden wir einen relativ hohen Schulbesuch (Ländergruppe 4) jedoch das geringe Pro-Kopf-Einkommen und den kleinen Energieverbrauch der Ländergruppe 5.

Thailand weist ebenfalls einen relativ hohen Schulbesuch auf — der Volksschulbesuch umfaßt praktisch alle Kinder im volksschulpflichtigen Alter —, gehört jedoch zur Länder-gruppe mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen und dem geringsten Pro-Kopf-Energieverbrauch.

/Ceylon weist bei einem geringen Pro-Kopf-Einkommen (Gruppe 5) und einem noch geringeren Energieverbrauch (Gruppe 6) einen hohen Schulbesuch (Gruppe 3) auf und eine beachtlich geringe Kindersterblichkeit (Gruppe 4).

In Borneo finden wir die höchste Kindersterblichkeit ganz Asiens und einen — wenn wir mit Ceylon, den Philippinen und Thailand vergleichen — äußerst geringen Schulbesuch.

Indes übertreffen Energieverbrauch und Pro-

Kopf-Einkommen die drei genannten Länder bei weitem, das Pro-Kopf-Einkommen übertrifft sogar das Japans, während der Pro-Kopf-Energieverbrauch an den Japans herankommt (siehe nebenstehendes Schaubild). In Lateinamerika, das als halbentwickeltes Gebiet angesehen wird befinden sich im Gegensatz zu Asien die kleineren Länder in den unteren Klassifikationsgruppen. Die sozialen Indikatoren verweisen die meisten lateinamerikanischen Länder in niedrigere Gruppen als sie ihren wirtschaftlichen Indikatoren nach stehen müßten. So sind die Hälfte aller Länder der Welt, die nach Schulbesuch und Kindersterblichkeit in die unteren Gruppen eingeordnet wurden, lateinamerikanische Länder, die sich nach ihren wirtschaftlichen Indikatoren jedoch in einer höheren Stufe befinden müßten.

Markante Gegensätze offenbart das Vergleichsbild in Venezuela. Das Pro-Kopf-Einkommen der und Pro-Kopf-Energieverbrauch dieses Landes ist in Gruppe 2 eingestuft, also zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, England und der Sowjetunion, während die Kindersterblichkeit Venezuelas in die Gruppe 4 gehört und der Schulbesuch sogar in die Gruppe 5 (siehe nebenstehendes Schaubild II).

Eine eingehende Analyse sämtlicher Ergebnisse, die die vorstehenden Vergleichsbilder bieten, würde durch überraschende Schlußfolgerungen die These beweisen, daß entwicklungspolitische Entscheidungen, sowohl von den Geberländern als auch von den begünstigten Entwicklungsländern aus gesehen, umfangreiche und sorgfältige Vorstudien erfordern, die den jeweils individuellen Entwicklungsstand des betreffenden Landes auf Grund jüngster Unterlagen und sorgfältiger Kriterien errechnen müssen.

Dabei werden zur Typologie der Entwicklungsländer noch eine Anzahl weiterer Kriterien herangezogen, die sich etwa aus ihrer demographischen Situation, ihrem technischen Entwicklungsstand und vor allem auch aus der Lage ihres Außenhandels ergeben.

II. Die drei „Blöcke”

Die gleiche Statistik bringt für Lateinamerika folgende Zahlen:

Paraguay 96 Dollar pro Kopf pro Jahr Peru 101 w w w Nikaragua 113 • • Ekuador 147 . • w • Kolumbien 197 w w • Argentinien 228 „ w w * Brasilien 273 „ • • w Chile 273 . w w 1* Für Asien lauten die Ziffern:

Vietnam 50 Dollar pro Kopf pro Jahr Indien 54 „ w w Pakistan 68 . w » n Indonesien 89 „ w VR China 100 „ w w w Ceylon 125 „ w • • Thailand 137 w Nationalchina 162 • ៸औ늘ݽ?

Die Begriffe „Ost’ und „West*, östlich und westlich, sind in der vorliegenden Untersuchung nicht als Bezeichnungen für zwei Kulturkreise verwandt. Sie stehen für die von Moskau totalitär — jedoch prekär — beherrschte politisch-wirtschaftliche Welt des Ostblocks und die unter Führung der USA demokratisch — jedoch prekär — zusammengeschlossene Welt des Westblocks. Die Fragwürdigkeit dieser und anderer Dualismen sei zugegeben. Die Welt ist weit komplizierter, als solche Dualismen wissen lassen. Aber selbst die unter Kennedy—Chruschtschow begonnene „Entspannung“ hat die zentrale Ost-West-Konfrontation noch nicht erreicht. Die „Depolarisierung der Welt“ ist zwar im Gange. Nationale Kräfte wirken innerhalb der Fronten zentrifugal. Es bilden sich von der Peripherie her kleinere Machtzentren („Polyzentrismus), die entschärfend auf die West-Ost-Konfrontation wirken. Trotzdem muß auch R. F. Behrendt, der den Dualismus Ost-West als unrealistisch und unheilvoll ansieht, zugeben, daß er „schwer durch bessere Begriffe zu ersetzen ist" So bleibt bei allem Unbehagen das Begriffspaar Ost-West zur Charakterisierung der gegenwärtigen Gegensätze zwischen den beiderseitigen Führungsmächten und ihrer Gefolgschaft gültig.

Ost bedeutet: Marxismus-Leninismus, Diamat und Histomat, kommunistische Weltrevolution, gelenkte Arbeits-beziehungsweise Planwirtschaft, totalitäres Staatssystem, atheistische Philosophie und Praxis.

West bedeutet: weltanschaulicher Pluralismus, Marktwirtschaft (mit Einschränkungen), demokratische Staatssysteme (mitEinschränkungen), starker Einfluß der christlichen Kirchen, freies Unternehmertum, freie Arbeiterbewegungen, individuelle und soziale Rechtssicherheit.

Ob es in der Tat ein militärisches Gleichgewicht zwischen West und Ost gibt, mag dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich ist die Zerstörungskraft des Westens wesentlich größer als die der Sowjetunion Tatsache ist jedoch, daß Lage und Entwicklung der Weltpolitik mit der Arbeitshypothese eines militärischen Patts zwischen beiden Lagern hinreichend analysiert und verstanden werden können. Diese Situation des Patt verwischt aber nicht etwa die Unterschiede und Grenzen, das Andersartige und Gegensätzliche der Gesellschaftsordnungen und der politischen Ziel-Setzungen. Im Gegenteil: die ständige „Pause', der Zwang zur öffentlichen Konfrontation, das Zusammenleben in den internationalen Gemeinschaften, die Zusammenstöße in lokalen Konflikten der Weltpolitik und vor allem die systematische und langfristige Einschaltung der Entwicklungsländer als einer Staaten-gruppe, die existentiell an der Aufrechterhaltung des militärischen Patts als Garantie des Friedens interessiert ist, zwingen beide Blöcke zu immer schärferen Definitionen ihres eigenen Seins und Tuns. Wandelbarkeit, Schwäche und Stärke der beiderseitigen politischen Positionen werden dabei öffentlich sichtbar; die Überlegenheit des eigenen Gesellschaftssystems wird, wie auf einer Bühne, den zuschauenden, diskutierenden, fordernden, ablehnenden und bejahenden Entwicklungsländern vorgeführt.

Wir wissen nicht genau, wieviel Entwicklungsländer es eigentlich gibt. Auf einer GATT-Tagung hat ein Delegierter Ceylons erklärt: „Ein unterentwickeltes Land ist wie die Giraffe: ein Tier, schwer zu definieren, aber leicht zu erkennen." Sicherlich sind von den über 120 Nationen, die in den UN vertreten sind, der weitaus größte Teil Entwicklungsländer. Sie sind Zuschauer und Akteure zugleich in den west-östlichen Auseinandersetzungen, sie sind ständig — auch gegen ihren Willen — in die Entscheidungen zwischen den beiden großen Lagern hineingezogen. Alle Staaten, die in den UN vertreten sind, besitzen das gleiche Stimmrecht. Die Entwicklungsländer würden, wenn sie jeweils geschlossen abstimmten, das Schicksal der Welt-organisation eindeutig bestimmen, und das bedeutet, sie lahmlegen können. Der Kampf um die Stimmen der Entwicklungsländer ist eines der wichtigsten außenpolitischen Themen der westlichen und östlichen Führungsmächte geworden. Dieser Kampf offenbart aber auch die fließenden Grenzen, den Kontrast von Ideologie und Wirklichkeit, bestimmt von den jeweiligen Interessen, die die Entwicklungsländer miteinander oder mit Westen und Osten verbinden.

In dem Bemühen, die komplizierten Tatbestände der Weltpolitik auf einfache Nenner zurückzuführen, hat sich die Gewohnheit eingebürgert, die politischen Kräfte der Gegenwart in drei Gruppen aufzuteilen: die westlichen Länder, die Ostblock-Staaten und die . bindungsfreien“ oder „blockfreien" Staaten.

Diese Aufteilung wird dadurch erleichtert, daß militärische Bündnissysteme — im Westen die NATO, SEATO und CENTO, im Ostblock der Warschauer-Pakt — die beiden Macht-blöcke auch geographisch und strategisch charakterisieren, während das bewußte und planmäßige Nichtengagement auf militärischem, politischem und zum Teil auch auf ideologischem Gebiet zu den politischen Merkmalen und Zielen der blockfreien Länder, allerdings mit wesentlichen Gradunterschieden, gehört. 1. SIND DIE BANDUNGSTAATEN EINE EINHEIT!

Zu dieser vereinfachenden und daher höchst bestechenden Betrachtungsweise kommt der naheliegende Schluß, blockfreie Länder seien ausschließlich die Entwicklungsländer; sie stell-ten daher eine dritte Macht, eine dritte Kraft dar. Die Bandung-Konferenz (18. — 24. 4. 1955) war — nach solcher Auffassung — die logische Konsequenz der Entwicklungsländer, die sich bei dieser Gelegenheit endgültig zu einer Zum nebenstehenden Schaubild 111:

Die europäischen Länder weisen geringere Schwankungen zwischen den sozialen und wirtschaitlichen Indikatoren aul. Zu beachten ist die Tatsache, daß in Griechenland und Irland die sozialen Indikatoren ein weit höheres Niveau erreichen als die wirtschaltlichen. So weist Irland einen hohen Schulbesuch auf (Ländergruppe 1), einen geringen Grad von Kindersterblicnkeit (Länder-gruppe 2), jedoch ein Pro-Kopi-Einkommen und einen Pro-Kopf-Energieverbrauch, der in Gruppe 3 untergebracht werden muß. In Griechenland erreicht die Kindersterblichkeit (Länder-gruppe 2) den höchsten Grad der vier Indikatoren, und während die Schulmatrikel noch in beachtlicher Höhe in Gruppe 3 erscheint, liegt das Pro-Kopf-Einkommen nahe der Gruppe 5 und der Pro-Kopf-Energieverbrauch schon innerhalb der Gruppe 5. Nur Großbritannien erreicht die Länder-gruppe 1 mit den drei Indikatoren (Proportionelle Schulmatrikel, Kindersterblichkeit und Pro-Kopf-Energieverbrauch — der höchste in Europa —), während das Pro-Kopf-Einkommen ebenfalls mit Frankreich an der Spitze in Europa liegt. Nordamerika sprengt an sich die Gruppeneinteilung, wie aus der graphlsdien Darstellung IV hervorgeht. Die wirtschaftlichen Indikatoren gehen über die für die Ländergruppe 1 festgelegten Indexzahlen hinaus, d. h. das Pro-Kopi-Einkommen liegt über 1 000 Dollar und der Pro-Kopf-Energieverbrauch über 3 150 kg Kohle. Andererseits ist das Niveau der sozialen Indikatoren im Palle der Vereinigten Staaten zwar noch innerhalb der Ländergruppe 1, aber doch überraschend gering. Schulbesuch und Kindersterblichkeit begleiten in keiner Weise die überaus hoch entwickelten wirtschaftlichen Indikatoren.

Australien, Kanada und Neuseeland weisen einen höheren Schulbesuch, Neuseeland und Australien eine geringere Kindersterblichkeit als die Vereinigten Staaten auf. Organisation der „dritten Kraft" zusammengeschlossen hätten.

Wenn, so sagte Paul Leverkühn, die Bandung-Konferenz „auch keine unmittelbaren Ergebnisse an Verträgen oder Abmachungen gezeitigt'habe, so sei doch „eine Gemeinschaft asiatisch-afrikanischer Gesinnung seither unübersehbar geworden“ Klaus Mehnert glaubt, sie habe „einen unauslöschlichen Eindruck gemacht und eine neue Phase der Weltpolitik eingeleitet"

Hellmut Kalbitzer sieht ihre psychologische Bedeutung: „Sie stärkte vor allem das Solidaritätsgefühl der Entwicklungsländer und das Bewußtsein ihrer selbständigen Rolle in der Weltpolitik*. Greifbare Resultate seien dagegen zurückgetreten. Die neuen politischen Kräfte „zeigen erst allmählich ihre unwiderstehliche Kraft als eigener weltpolitischer Faktor, der sich nicht in das West-Ost-Schema der beiden Weltmächte einfügen läßt... Eine dritte Kraft war geboren, freilich genauso mit inneren Konflikten beladen wie die anderen Weltkräfte auch"

Matthias Schmitt sieht in dem Ereignis von Bandung „Ansätze einer neuen weltpolitischen Größe". Ein „vielgestaltiges Mächtesystem" werde sich als Folge der wachsenden Bedeutung der Entwicklungsländer bilden, ähnlich dem „Europäischen Konzert“ der großen Mächte im 19. Jahrhundert, jedoch im Weltmaßstab. Dies werde aus dem „heute noch allbeherrschenden Weltdualismus USA—UdSSR“ herausführen

Die Anregung zur Bandung-Konferenz war von Indien und Indonesien ausgegangen. Einladende waren außerdem Ceylon, Burma und Pakistan. Lateinamerika war nicht angesprochen. Erschienen waren außer den Einladenden Afghanistan, Ägypten, Äthiopien, Goldküste (Ghana), Iran, Irak, Jemen, Japan, Jordanien, Kambodscha, Laos, Libanon, Liberia, Libyen, Nepal, Philippinen, Saudi-Arabien, Sudan, Sy-rien, Thailand, Türkei, Nord-Vietnam, Süd-Vietnam und die Volksrepublik China.

Die Zentralafrikanische Föderation, die ebenfalls eingeladen war, erschien nicht.

Schon die einfache Aufzählung der Teilnehmer zeigt, daß die politischen Voraussetzungen für eine einheitlich geschlossene dritte Kraft nicht gegeben waren. Länder, die den westlichen Bündnissystemen angehörten (Süd-Vietnam, Pakistan, Iran, Japan, Thailand, die Philippinen, Türkei), saßen neben Ländern wie der Volksrepublik China, Ägypten und NordVietnam. Das nicht vertretene Lateinamerika, dessen Länder fast alle zu den Entwicklungsgebieten zählen, hatte keine besonderen Affinitäten zu der in Bandung sichtbar gewordenen afro-asiatischen Gemeinschaft angemeldet.

Auch der Begriff der „farbigen Welt* deckt sich nicht mit dem der Entwicklungsländer oder dem der dritten Kraft. Denn zweifelsohne gehört Japan zur farbigen Welt, aber nicht zu den Entwicklungsländern, während Portugal, Spanien und Griechenland nicht zu den farbigen Ländern, wohl aber in weiten Gebieten zu den Entwicklungsländern gehören. Rot-china bemüht sich, die afro-asiatische Solidarität auf rassischer Grundlage zu beleben. Erfolge sind kaum sichtbar.

Der Begriff der Bandung-Staaten steht für ein Datum, das den Beginn einer Epoche vorerst zweifelhafter afro-asiatischer Geschichtsträchtigkeit bezeichnet. Gewiß war Bandung Fanal und Beweis für die durch die Entkolonialisierung geschaffenen neuen Forderungen, Ansprüche und Hoffnungen zahlreicher Völker. Dies hat nicht ausgereicht, eine politische Dreiteilung der Welt zu vollziehen. Sie entspricht angesichts der wechselnden Mehrheiten, Interessen, Bündnisse und wirtschaftlich-sozialen Gegebenheiten nur bedingt den jeweiligen politischen Realitäten. Schon gar nicht hat Bandung zur Formulierung einer einheitlichen Außenpolitik der Beteiligten geführt. Bandung war der Beginn einer neuen politischen Bewußtseinsbildung, die in noch unbestimmten Konturen zahlreiche Entwicklungsvölker miteinander verbindet. Ein „Block der Neutralen* ist bis jetzt daraus nicht entstanden.

Seit Bandung haben mehrere Konferenzen ähnlicher Art stattgefunden. Waren es 23 asiatische und 6 afrikanische Staaten, die 1955 in Bandung teilnahmen, so hatte sich diese Zahl anläßlich der Afro-Asiatischen Solidaritätskonferenz in Kairo (1958) auf 43 Länder erhöht. Diese Zahl ist 1963 auf der Konferenz von Moshi (Tanganjika) auf 60 angewachsen. Alle Konferenzen bewegten sich stets um die gleichen Themenkreise: Imperialismus, Neokolonialismus, Rassendiskriminierung, politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit. Immer wieder aber zeigte sich, daß die afroasiatischen Solidarität den politischen Tatsachen, Notwendigkeiten und Forderungen der einzelnen Teilnehmer nicht entsprach und nicht genügen konnte. So kam es auf der Sonderkonferenz von Belgrad 1961, zu der eine Gruppe von Bandungstaaten eingeladen hatte, zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den gemäßigten und den bedingungslos antiwestlichen Ländern. Auch die Vermittlungsversuche im chinesich-indischen Grenzkonflikt 1962/63 zeigten Ohnmacht und Zerrissenheit der Bandungstaaten in einem konkreten Einzelfall. Es ist gewiß falsch, Bandung als tot anzusehen. Aber von dem erträumten weltpolitischen Gewicht kann solange nicht die Rede sein, als die innere Stabilität der Beteiligten und die außenpolitische Koordinierung ihrer Interessen nicht gesichert ist.

Anderseits ist der „Geist von Bandung’ eine psychologische Realität, die sachlich richtig einzuschätzen für die beiden großen Blöcke von Bedeutung ist. Nicht unter dem Vorzeichen des Kommunismus fand Bandung statt. Die Sowjetunion war — ebensowenig wie die Weststaaten — eingeladen. Gemeinsame Stoß-richtungen der Bandung-Staaten mit der Außenpolitik der Sowjetunion sind jedoch geblieben: Antikolonialismus und Antiimperialismus. Eine funktionierende Organisation der afro-asiatischen Entwicklungsländer mit einem solchen politischen Programm liegt eindeutig im Interesse des Ostblocks einschließlich Rotchinas. Wenn die „dritte Kraft* antiimperialistischen und antikolonialistischen Charakter trägt, wird sie automatisch — bis zu einem nicht genau festzusetzenden Punkt — zu einer Hilfsorganisation der Außenpolitik des Ostblocks. Auf diesem Hintergrund der Folgen der Bandung-Konferenz ist das Bemühen der USA zu verstehen, gegen „Imperialismus und Kolonialismus“ zu kämpfen, auch um den Preis der Uneinigkeit im westlichen Lager und der Verletzung unmittelbarer Interessen westlicher Verbündeter.

Fast ganz Lateinamerika zählt zum Westen. Indes gehört keines seiner Länder zum westlichen Verteidigungssystem der NATO: es bestehen begrenzte Verpflichtungen innerhalb der Organisation der Amerikanischen Staaten. Ihr Zweck ist die Absicherung des Kontinents gegen außerkontinentale Einflüsse, insbesondere gegen die kommunistische Machtexpansion und Infiltration. Eine dritte Kraft im militärischen Sinne stellten die lateinamerikanischen Staaten nie dar. Auf weltpolitischer Ebene haben sie bisher im Rahmen der UN fast stets die westliche Linie vertreten. Sie sind — als ganzes und jedes im einzelnen — in unterschiedlicher Weise Entwicklungsländer. Ihrer geistigen Herkunft nach gehören sie zum abendländischen Kulturkreis. Von ihm erhielten sie ihre Sozial-und Wirtschaftsstruktur, ihren Verwaltungs-und Bildungsaufbau. Die führenden Schichten des Kontinents sind europäischer Herkunft. Zwar gibt es auch beachtliche Teile farbiger Bevölkerung. Vor allem hat sich in den Anden-Republiken das indianische Element in bemerkenswerter Stärke erhalten. Jedoch bestreiten nicht einmal diejenigen, die den Subkontinent Lateinamerika in „Indo-Amerika“ umbenannt wünschen, die europäische Prägung ihrer Kultur, die Notwendigkeit und Vorteile der westlichen Technik und Industrialisierung.

Zwar gibt es die Arabische Liga; ihre innere Schwäche ist das ständige Thema der Kommentare. Es ist nicht abzusehen, wie und wann angesichts der Rivalitätskämpfe, bei denen es in diesem Raum in rasch wechselnder Folge und Umkehrung der Fronten stets um Leben und Tod geht, eine arabische dritte Kraft, die Einheit, Stärke und selbständige Machtposition darstellt, geschaffen werden kann.

Die innere Uneinigkeit der arabischen Welt wird durch die gemeinsame Frontstellung gegen Israel nur schlecht übertüncht. Sogar der Kampf gegen Israel ist für Nasser nur der Vorwand, den Feind als Katalysator seiner panarabischen Einheitsbestrebungen zu nutzen. Die mit viel morgenländischer Phantasie und Brillanz ausgestattete arabische Gipfelkonferenz in Kairo im Januar 1964 konnte die schwerwiegenden Meinungsunterschiede nur notdürftig verkleistern. So sind in den letzten Jahren folgende Spannungen und Probleme zwischen den arabischen Ländern entstanden: 1. Abbruch der Beziehungen zwischen Ägypten und Marokko durch Parteinahme Nassers für Algerien im marokkanisch-algerischen Grenzstreit;

2. Entsendung einer ägyptischen Expeditionstruppe nach dem Jemen, bei gleichzeitiger Unterstützung des abgesetzten Imam durch Saudi-Arabien;

3. Abbruch der Beziehungen zwischen Ägypten und Jordanien als Folge ägyptischer Expansionspläne; diese Beziehungen wurden zwar anläßlich der Gipfelkonferenz in Kairo (Januar 1964) wiederhergestellt, die Gegensätze, die den Streit verursachten, sind jedoch nicht beseitigt; 4. Auseinanderbrechen der Vereinigten Arabischen Republik;

5. Scheitern der Nasserschen Pläne, Ägypten, Syrien und den Irak in einer neuen Arabischen Republik zu vereinen;

6. Zunehmende Schärfe der sozial-wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den einzelnen arabischen Staaten mit großen Unterschieden im Pro-Kopf-Einkommen und Bildungsstand, im politischen Aufbau und der wirtschaftlich-technischen Dynamik.

Es gibt die große Zahl afrikanischer Staaten, die sich in Addis-Abeba zu einer Charta der Afrikanischen Staaten bekannt haben. Sie selbst wissen jedoch, daß die Voraussetzungen für eine politische Vereinheitlichung Afrikas nicht gegeben sind. Auch hier liegen keine realen Kraftquellen vor, aus denen in Kürze ein wirksamer Beitrag zu einer einheitlich geschlossenen dritten Kraft geleistet werden könnte. Im Gegenteil, es droht die Balkanisierung Afrikas. Mit seinen 225 Millionen Einwohnern, von denen die Hälfte in etwa fünf Staaten leben, wird Afrika bald in mehr als 50 Staaten nach den von den Kolonialmächten seinerzeit gezogenen Grenzen aufgeteilt sein. Gerade weil die Völker ihrem Wollen zu Pan-afrika immer stärker Ausdruck geben werden, bleibt eine einheitliche Kraft Afrika in der Weltpolitik für lange Zeit unwahrscheinlich. Die zahlenmäßig schwachen Oberschichten der zahlreichen Staaten kämpfen um die Festigung der Vorrechte, die ihnen die endlich gewonnene Unabhängigkeit und Souveränität verliehen haben und die sie manchmal in eine neue Art von Staats-oder privat-kapitalistischem Feudalsystem umwandeln. Schon mehren sich die Versuche sozialer Revolutionen, die sich nicht mehr gegen die weißen, sondern gegen die eigenen schwarzen Herren und gegen die Asiaten wenden, die den afrikanischen Handel kontrollieren. Kongo-Leopoldville und Kongo-Brazzaville, Senegal und Tschad, Tunis und Marokko, Kamerun, Sansibar, Uganda, Ruanda, Burundi, Tanganjika und Ghana, Algerien und Marokko und schließlich Äthiopien, Somalia und Kenia sind Bezeichnungen für Revolten, Putsche, Revolutionen, Aufstände, Plünderungen und Kriege aller Art. Südafrika, Angola, Mozambique und Rhodesien spielen zwar die gleiche Rolle des Einigungsferments, wie sie Israel im arabischen Raum zugedacht ist. Das Gesamtbild Afrikas bietet jedoch keine Anhaltspunkte für eine Einigung politischer Kräfte als Beitrag zur Schaffung einer wirksamen dritten Kraft im weltpolitischen Spiel.

Auch die Regionalpakte sind ihrer politischen Herkunft und Zielsetzung nach vorerst keine Vorstufen der afrikanischen Einheit. Casablanca-Staaten, Brazzaville-Staaten, Monrovia-Staaten sind eher konkurrierende Gruppen, denen sich voraussichtlich eine Tanganjika-Gruppe anschließen wird.

Die blockfreien Staaten sind auch im Rahmen begrenzter politischer Aufgaben auf internationaler Ebene politisch keine einheitliche Größe. So zählt zwar Brasilien zu den soge-nannten „neutralen Mächten", die bei der Genfer Konferenz zur Einstellung der Atomwaffenversuche zwischen Ost und West zu vermitteln suchten. Indes lehnt es die brasilianische Diplomatie ausdrücklich ab, neutral im Sinne der blockfreien Länder zu sein. Sie will eine „unabhängige" Außenpolitik betreiben, die Brasilien — wie bisher — an den Westen binden und zugleich dem Osten nähern soll.

Die Sowjetideologie teilt die Entwicklungsländer in drei Gruppen ein:

1. Länder, „die das Joch des Imperialismus abgeschüttelt haben und zum sozialistischen Aufbau übergegangen sind" Es handelt sich um die kommunistischen Länder Rotchina, Nord-Korea, Nord-Vietnam und Kuba.

2. Länder, die zwar politisch unabhängig geworden sind und in der Außenpolitik ihre Selbständigkeit betonen, die jedoch nach wie vor im „kapitalistischen Wirtschaftssystem der früheren Kolonialherren“ verblieben Beispiel sind: zum Burma, Indien, Tunesien, Marokko, Libyen und Kambodscha.

3. Länder, die zwar ihre Unabhängigkeit erkämpft haben, jedoch durch wirtschaftliche und militärische Verträge und Bündnisse an den Westen gebunden sind: zum Beispiel Pakistan, die Philippinen, Süd-Korea, Süd-Vietnam. Auch die Sowjetideologie vereint die Existenz einer einheitlichen „dritten Kraft“, wobei sie Länder, die einen eigenen Weg zum Sozialismus versuchen (Indien, Burma), kurzerhand als kapitalistisch einordnet, weil eine Anerkennung ihres Sozialismus „das sowjetische Monopol auf den Sozialismus beeinträchtigen könnte

Gäbe es eine „dritte Kraft“ in der heutigen Weltpolitik, wäre sie sicher nicht durch die rassisch, geistig, sozial-wirtschaftlich und politisch so völlig von einander verschiedenen Entwicklungsländer dargestellt. Sie bilden keine Denk-und Aktionseinheit. 2. ist der Osten eine Einheit!

Im Osten macht sich der ideologische Riß, der die Sowjetunion und China trennt, auf allen Gebieten der politischen Beziehungen innerhalb des Ostblocks und der des Ostblocks zur übrigen Welt bemerkbar. Auch im Osten ist das Gefälle des Pro-Kopf-Einkommens von Land zu Land vorhanden, so daß dieses Kennzeichen der Entwicklungsländer quer durch Osten und Westen angewandt werden kann. Fritz Sternberg hat unter Berufung auf W. W. Rostow errechnet, daß in China 1953 bei Beginn des ersten Fünfjahresplans das Pro-Kopf-Einkommen nicht einmal ein Achtel des Durchschnittseinkommens in der Sowjetunion betrug. Aber auch heute noch gilt: „Der Unterschied zwischen dem Lebensstandard in China und dem in der Sowjetunion ist ungleich größer als der Unterschied zwischen dem Lebensstandard in der Sowjetunion und dem in Amerika.“

Auch ohne Berücksichtigung der chinesisch-russischen Spannungen kann der Ostblock nicht als einheitliches Gebilde angesehen werden. Die kulturell differenzierte Situation der einzelnen Länder, ihr Entwicklungsstand, ihr Bildungsniveau und ihre politische Interessenlage wirken als zentrifugale Kräfte gegen die einheitliche Denk-und Aktionsstruktur, wie sie der Marxismus-Leninismus erzwingen will. Selbst die „marxistische Ideologie“ ist Wandlungen und Zweifeln innerhalb des Ostblocks unterworfen. Das „sozialistische Weltsystem'entbehrt der einheitlichen Definition. Der sowjetische Führungsanspruch ist gefährdet. Die sprengenden Kräfte gewinnen an Bedeutung. „Es gibt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weniger einen einheitlichen totalitären Block der kommunistischen Staaten.“

Die Tschechoslowakei war bereit, sich an den Plänen und Zielen des Marshall-Planes 1947 zu beteiligen.

Die ungarische Revolution von 1956 war vom Kommunisten Imre Nagy geführt, dem Mann, unter dem Ungarn 1954 dem Warschauer Pakt beigetreten war und damit die allgemeinen militärischen und politischen Bündnisverpflichtungen des Ostblocks übernommen hatte.

Der Kampf der jugoslawischen Kommunisten um ihre Selbständigkeit hat zu eigener Marxismus-Interpretation, wechselnden Positionen Moskaus, scharfen internen Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Parteien und Staaten und schließlich zu einer bedeutenden politischen Aufwertung dieses Landes im west-östlichen Spannungsfeld geführt. Auch innerhalb des Ostblocks wird der jugoslawische Kommunismus als legitime Spielart des Marxismus anerkannt. Selbst die den Chinesen ablehnend gegenüberstehenden italienischen Kommunisten halten Titos Weg eines . nationalen Sozialismus' für gangbar. Nadi Pressemeldungen hat der italienische Kommunisten-führer Palmiro Togliatti anläßlich seines einwöchigen Besuches in Jugoslawien (Januar 1964) erklärt, Jugoslawiens erstes Beispiel eines nationalen Weges zum Sozialismus sei von „ungeheurer Bedeutung für alle“ gewesen. Auch Italiens Kommunisten beabsichtigten, auf dieser Basis fortzuschreiten.

Die Auflehnung Albaniens gegen Moskau hat einen europäischen Stützpunkt Chinas für die inneren Auseinandersetzungen im Ostblock geschaffen.

Der polnische Kommunismus, heute unter Führung des von Stalinisten einst eingekerkerten Gomulka, befolgt — unter dem Zwang der Umstände — eine eigene Kultur-und Landwirtschaftspolitik. Auch Rumänien entzieht sich in immer betonterer Weise der Abhängigkeit von Moskau. Die Industrialisierung des Landes wird gegen die Pläne des COMECON durchgeführt. Sein Handel mit den Westmächten hat sich seit dem Jahre 1960 verdoppelt, während die Ausfuhr in die verwandten COMECON-Staaten in der gleichen Zeit um ein Viertel zurückgegangen ist. In den Grundschulen ist Russisch als Pflichtfach abgeschafft worden. Größere Industrieaufträge sind an Österreich, England, die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich vergeben worden.

Die Mongolische Volksrepublik, von erstrangiger strategischer Bedeutung, streckt ihre Fühler nach dem Westen aus, da sie im Rivalitätskampf zwischen Moskau und Peking schwere wirtschaftliche Einbußen erleidet.

Die Entstalinisierung hat in fast allen kommunistischen Parteien und Staaten der Welt zu Spannungen, offenen Gegensätzen und Spaltungen geführt.

Moskau und Peking haben ihre Gegensätze längst auf die Entwicklungsländer übertragen.

In Asien, Afrika und Lateinamerika versuchen sie, über Entwicklungshilfe ihrer verschiedenartigen Auslegung des Marxismus-Leninismus, hinter der sich handfeste politische Ziele verbergen, Geltung und Anerkennung zu verschaffen.

Der „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe* (COMECON), am 25. 1. 1949 in Moskau gebildet, ist weit davon entfernt, eine Integration zu bewirken. Es muß sogar „die Frage offen-bleiben, eine wieweit gehende Integration im Ostblock eigentlich geplant und was wiederum neben der Planung tatsächlich gewünscht wird, wobei noch zwischen den Wünschen der Partei und denen der Bevölkerung sehr deutlich unterschieden werden muß", stellt Gotthold Rhode fest. Einer vollen Integration stünden „noch sehr wesentliche Hindernisse und Schwierigkeiten“ entgegen. Es sei „kaum vorstellbar, daß sich dies in den nächsten Jahren sehr wesentlich ändern wird ...“ Als Hindernisse für eine Integration zählt er auf: die Existenz dreier Kulturräume mit mehreren Zwischenstufen (die mitteleuropäisch strukturierten Gebiete, die über ein Jahrhundert russisch beherrschten Gebiete, vor allem Kongreß-Polen, sowie die Gebiete, die ehemals der Türkei unterstanden), die sprachlichen Unterschiede, das nationale Selbstbewußtsein und die nationalen Antagonismen, die konfessionelle Differenzierung sowie die gegenseitige Absperrung

Der Warschauer Pakt, ein multilaterales Beistandssystem, enthält noch weniger Integrationselemente als das COMECON. Wohl ist das vereinte Kommando von den nationalen Regierungen unabhängig, die nur den Ober-kommandierenden und seine Vertreter benennen oder abberufen. Auch gibt es einen supranationalen Generalstab. Jedoch wird an der nationalen Souveränität der Mitglieder des Paktes nicht gerührt. Es gibt zum Beispiel keine integrierten Kampfeinheiten der verschiedenen nationalen Armeen. In einer grundlegenden Studie über den Rechtscharakter des Warschauer Pakts hat Boris Meissner darauf hingewiesen, daß im Vertrag des Warschauer Pakts jene wesentliche NATO-Klausel fehlt, wonach ein Angriff auf einen Vertragsstaat als Angriff auf alle Vertragsstaaten anzusehen sei

Von einer Einheit des Ostblocks kann angesichts der mindestens drei kommunistischen Gravitationszentren Moskau, Peking, Belgrad kaum noch gesprochen werden. Immer mehr entziehen sich die Satellitenstaaten der sowjetischen Überwachung und drängen auf die Gleichordnung. Ein „nationalfundierter Pluralismus" breitet sich in der kommunistischen Welt aus, der den politischen und ideologischen Führungsanspruch Moskaus gefährdet oder gar leugnet. Innerhalb des Ostblocks ist der Kampf um Macht und Einfluß in der Weltpolitik im Gange. Die Weltrevolution mit militärischen Mitteln und dem Ziel einer sowjet-russischen Weltherrschaft ist mit dem Atom-Patt der beiden Blöcke unmöglich geworden. Gewiß bleibt der aggressive Weltkommunismus weiter in Aktion, jedoch nicht mehr unter der alleinigen und zentralen Führung Moskaus. Gewiß sind die Ziele Moskaus und Pekings dieselben in Afrika, Asien und Lateinamerika: Unterstützung der „nationalen Befreiungsbewegungen" mit dem Endziel der Revolution. Jedoch spricht der Ostblock mit mehreren Zungen. Die Epoche der Diadochenexegese, der zweckmäßigen Anwendung der „reinen Lehre* auf die jeweiligen Machtkämpfe im Innern und nach außen hat begonnen. Die „Depolarisierung" der Welt ist auch innerhalb des Ostblocks wirksam geworden. 3. IST DER WESTEN EINE EINHEIT?

Aber auch der Westen kann nicht mehr als einheitlicher Block angesehen werden. Gewiß ist das Bündnis der NATO eine einmalige Erscheinung in der modernen Geschichte, weil hier schon zu Friedenszeiten verpflichtende Absprachen getroffen und militärisch-politische Organisationen ins Leben gerufen wurden, wie sie in der Zeit der klassischen Kriege erst nach Ausbruch der Feindseligkeiten, oft nur mühselig, erreicht werden konnten.

Andererseits sind das nationale und kulturelle Selbstbewußtsein sowie die Verästelung der Interessenlage der 15 NATO-Staaten so ausgeprägt, daß der ständige Kampf um eine einheitliche politische und militärische Konzeption, Führung und Geschlossenheit als natürlicher Ausdruck dieser objektiven Tatbestände angesehen werden kann. Gerade deshalb müssen die bis jetzt erreichten Integrationsabkommen des Westblocks als Erfolg gewertet werden.

Die Sowjetunion ist sich dieser Tatsache längst bewußt geworden und „anerkennt“ die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zum Beispiel als eine politische Realität von weltgeschicht-liehen Ausmaßen, die sie deswegen mit allen Mitteln der internationalen Propaganda bekämpft. Die EWG hat sich als stabilisierendes Element in Afrika erwiesen und die Entscheidungen der afrikanischen Entwicklungsländer im west-östlichen Spannungsfeld zugunsten des Westens wesentlich beeinflußt und erleichtert.

Trotzdem gibt es keine einheitliche Afrikapolitik des Westens. Mehrmals sind die amerikanische und französische Politik in Afrika entgegengesetzte Wege gegangen.

Die Beurteilung und Behandlung Südafrikas ist verschieden in Washington, London und Paris. Die Kongo-Wirren haben die inneren Gegensätze der westlichen Afrika-Politik scharf hervortreten lassen. Sie schwelen weiter und lähmen als ein politisches Trauma die Sicherheit der Orientierung und die Festigkeit westlicher Afrika-Politik.

Portugal, Bündnispartner der USA in der NATO, steht fast allein mit seiner Politik der Integration „ultramariner Gebiete". Die gewaltsame Annexion „Portugiesisch-Indiens“ durch Nehru hat die Gegensätze in der westlichen Politik offen zutage treten lassen und zu den bis heute schärfsten Spannungen zwischen den USA und Portugal geführt. Heute ist Portugal die westliche Macht mit dem größten afrikanischen Besitz von über 2 Millionen qkm und fast 15 Millionen Einwohnern. Während West und Ost vereint von portugiesischen „Kolo-nien'sprechen, verwahrt sich Portugal unter Hinweis auf seine alten Rechte, die traditionelle Politik der Rassenintegration, die Gleichberechtigung aller Portugiesen und die systematische Aufbaupolitik gegen eine solche Kennzeichnung. Dies hindert indes nicht, daß das Mutterland selbst in einzelnen Teilen als Entwicklungsland zu gelten hat, in der OECD Sitz und Stimme besitzt und Mitglied der DAC (Development Assistance Committee), der „Kommission für Entwicklungshilfe" der OECD, ist.

Auch in Asien ist keine einheitliche Westpolitik sichtbar.

Die widerspruchsvolle westliche Stellung zu Rotchina ist nicht erst seit seiner Anerkennung durch Frankreich offenbar geworden, da vier NATO-Mächte die Anerkennung schon lange ausgesprochen hatten.

Die Südostasienpolitik ist im Westen ebenso umstritten, wie die Haltung der USA und Englands zu Indonesien und der Malaiischen Föderation verschieden sind.

Das Stichwort Zypern beinhaltet schwerste Differenzen zwischen zwei NATO-Mächten, die der anhaltenden Wirtschafts-und Militärhilfe der USA und auch westlicher Nationen bedürfen. EWG und EFTA sind die organisatorischen Folgen westlicher Schwierigkeiten einer einheitlichen Handels-und Wirtschaftspolitik. Kubahandel und Ostembargo sind andere Stichworte grundsätzlich unterschiedlicher Handlungsweisen westlicher Länder.

Die Atomwaffenpolitik der Sowjetunion und der USA, die beide daran interessiert sind, daß Produktion und Verfügungsgewalt über Atomwaffen sich ausschließlich in ihrem Besitz befinden, reißt Gegensätze in Ost und West auf. Der iranzösische Atom-Alleingang stellt die westlichen Verbündeten vor vollendete Tatsachen, die eine Revision der NATO-Politik notwendig machen werden, so wie die mögliche Atombombe Chinas die Position des chinesischen Kemples gegen Moskaus Führungsanspruch verstärkt.

So bewegen sich die Entwicklungsländer nicht als eine einheitliche „dritte Kraft“ zwischen Ost und West, die ihrerseits ebenfalls keine festgefügten Einheiten darstellen, sondern ständig um wesentliche Elemente dieser Einheit ringen. Trotzdem ist die Bezeichnung „West" und „Ost" berechtigt. Die tiefen Gegensätze zwischen der westlichen und der marxistischen Philosophie, Lebensauffassung und Gesellschaftsordnung erlauben und zwingen heute noch zu der politischen Polarisierung Ost — Wess. Trotz Bandung und regionaler Einheitsbemühungen in den einzelnen Erdteilen besitzen die Entwicklungsländer keine konturen-klare, definitorisch auf einen ähnlich einheitlichen Nenner konzentrierte Philosophie, Lebensauffassung und Gesellschaftsordnung, wie dies im West-Ost-Schema zutage tritt. Die beiden Blöcke schaffen heute noch jene Fakten und Konstellationen, denen sich die Entwicklungsländer in der Entscheidung gegenübergestellt sehen. Raum und Zahl machen die Entwicklungsländer als Ganzes politisch bedeutsam. Durch Raum und Zahl sind sie in die Weltpolitik verstrickt, nunmehr selbständig handelnd und entscheidend. Der Raum bedeutet Strategie und Bodenschätze, die Zahl bedeutet Menschenreserven, biologische Macht. So erzeugen sie selbst politische Spannungen und nehmen an den Spannungen teil, die durch die Politik der Blöcke erzeugt werden. Von ihnen aus gesehen gibt es wichtigere Spannungen, die nichts mit dem Ost-West-Gegensatz zu tun haben, die aber Konstellationen und Fakten produzieren, zu denen die Blöcke Stellung nehmen müssen Die Entwicklungsländer sind gezwungen, am ideologischen West-Ost-Kontlikt teilzunehmen, weil es sich dabei zugleich um einen Machtkonflikt handelt. Die ideologische West-Ost-Auseinandersetzung ist für die meisten Entwicklungsländer unverständlich. Es handelt sich um ein typisches Produkt der europäischen Geistesgeschichte und politisch-sozialen Geschichte. „Hie Kapitalismus — hie Kommunismus" ist eine europäische Formulierung. Europäische Ratio und Technik haben die sozio-ökonomischen Voraussetzungen des West-Ost-Konflikts geschaffen. Auch und besonders der Marxismus-Leninismus ist ein Ergebnis der europäischen Wirtschafts-und Sozialgeschichte und europäischer Denkmethoden. In den Entwicklungsländern treffen die Marxschen Thesen von der Verelendung der Industriearbeiterschaft, die die revolutionäre Klasse schlechthin sein soll, nicht zu.

Aber auch die geistig-religiösen Postulate der Gegner des Marxismus sind europäischer Her-kunft. Freiheit, Persönlichkeit, Gesellschaft und ihre wechselseitigen Beziehungen nehmen sich in der Vorstellungswelt der Entwicklungsländer, vor allem der traditionsreichen, anders aus als in der der europäischen Völker.

III. Die Außenpolitik gegenüber den Entwicklungsländern

Durchschnittszahlen der nachstehend verwendeten wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren in sechs Ländergruppen (nach Pro-Kopf-Einkommen zusammengestellt)

Die beiden Machtblöcke sind aus dem Wesen ihrer politischen Ziele heraus — beide vertreten einen politischen Universalismus — gezwungen, die Entwicklungsländer ihre Pläne in Entwicklungspolitik einzubeziehen. ist der aktuellste, umfassendste und folgenreichste Inhalt geworden. Ost und Westder Außenpolitik werben mit Geld und Ideen um die Gunst der Entwicklungsländer. Wir stehen in der bedeutendsten Veränderung, die dem Inhalt und der Organisation der klassischen Außenpolitik jemals zugemutet worden ist. Mit dem Patt der Atommächte ist der Krieg zwischen ihnen unmöglich geworden. Noch nie in der Geschichte war der Außenpolitik konkurrierender Groß-mächte die Aufgabe gestellt, den Krieg der Waffen unter allen Umständen zu vermeiden. Die Voraussetzungen der Außenpolitik in Ost und West sind außerdem durch die bloße Tatsache der Existenz der Entwicklungsländer völlig anders geworden. Sie kann man nicht durch Kriege erobern, obschon die größten «Kriegsschauplätze* in den Entwicklungsländern liegen. Wenn der Krieg als Mittel der Politik ausscheidet, bleiben nur noch zwei andere: die Idee und die Wirtschaft. Die Außenpolitik der Gegenwart kämpft mit den Waffen des Geistes und der Wirtschaft.

Wie neu die Aufgabe der Entwicklungspolitik ist, zeigt ein Blick in die großen Lexika. Stichworte „Entwicklungshilfe“ oder „Entwicklungspolitik' sind in den führenden einschlägigen Lexika, auch den Fachlexika, nicht zu finden. Die entsprechenden Herder-und Brockhaus-bände stammen aus 1953/1954, das heißt vor zehn Jahren waren Entwicklungsprobleme noch keine lexikalen Stichworte!

Aber sie ist nicht nur zeitlich neu. Entwicklungspolitik ist vor allem eine Revolutionierung des Inhalts der bisherigen Außenpolitik, auch wenn sie „nicht als Funktion der Außenpolitik im engeren Sinne . . .“ verstanden werden soll

Anderseits ist ihr Ziel „eine grundlegende Neuordnung der menschlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen auf weltweiter Basis' was neue Methoden der Außenpolitik fordert. Denn ihr großes Ziel ist das gleiche geblieben: der politische Wille des Geberlandes soll sich gegen den anderer Staaten oder internationaler Organisationen bei der Verteidigung eigener Interessen und weltpolitischer Konzeptionen erfolgreich behaupten.

Die Neuorientierung der Außenpolitik sieht deren Aufgabe nicht mehr allein in der Pflege der Beziehungen von Regierung zu Regierung, sondern vor allem in der Selbstdarstellung von Volk zu Volk.

Der ehemalige deutsche Generalkonsul in New York, Georg Federer, hat anläßlich seiner Versetzung Ende Februar erklärt, Konsulate seien längst nicht mehr das, was sie ursprünglich einmal sein sollten. Die Förderung des Handels, die Ausstellung von Pässen, der Schutz für Bürger im Ausland seien sekundäre Dinge geworden. „Konsulate sind heute Brücken zur öffentlichen Werbearbeit, zur Herstellung eines . Image', und eine zweite Linie der politischen Aktion, direkt hinter der Diplomatie der Botschaft." Aber auch die Diplomatie selbst ist in ihren Arbeitsmethoden und Spielregeln immer stärker auf die breite Öffentlichkeit ausgerichtet worden. Die sowjetische Regierung hat schon früh die Verwandlung der Weltpolitik in eine Welt-Innenpolitik betrieben, in der den Diplomaten vor allem die Aufgabe zugedacht ist, auf die öffentliche Meinung der Län-der einzuwirken, in denen sie akkreditiert sind. . Als angeblicher Hüter einer neuen Ära internationaler Beziehungen wies sie öffentlich die alten Methoden der Diplomatie zurück und erklärte sich selbst zum Kämpfer für den Grundsatz der Selbstbestimmung und der Befreiung aller Völker vom Joch des Kapitalismus und der Fremdherrschaft.“

Natürlich bleiben die protokollarischen Formen den internationalen Vereinbarungen gemäß auf den Kontakt von Regierung zu Regierung beschränkt. Jedoch ist das umfassendere Ziel einer jeden Außenpolitik, sich den Völkern begreiflich zu machen. Sie erahnen oder erkennen den unlösbaren Zusammenhang zwischen Innen-und Außenpolitik. Pressekonferenzen, Informationstagungen, Fernsehinterviews und eine große Anzahl kultur-und informationspolitischer Methoden haben sich zu Instrumenten der Außenpolitik entwickelt. Die Entwicklungsländer wissen um ihre mächtige Ohnmacht im Wettstreit der Giganten der ohnmächtigen Macht. Entwicklungsländer sind wirtschaftliches, biologisches und geistig-seelisches Potential, um das die Außenpolitik der Blöcke und — in-und außerhalb der Blöcke — der interessierten Länder ringt. Wenn auch Entwicklungsländer keine militärische Macht darstellen, so bilden sie doch das Weltreservoir der unbefriedigten Aspirationen, die die Außenpolitik der Blöcke in Atem zu halten und in den internationalen Organisationen zu überstimmen vermögen.

Die Behauptung, Entwicklungshilfe werde in völlig desinteressierter Weise geleistet, enthält daher nur eine Teilwahrheit. Selbstverständlich hüten sich beide Machtgruppen, konkrete Hilfsprojekte an die Erfüllung . politischer“ Bedingungen zu knüpfen. Aber jedes Entwicklungsland ist Gegenstand politischer Bemühungen von Ost und West mit dem Ziel, es in eine weltpolitische Konzeption einzubauen. Dies gilt auch für die deutsche Entwicklungspolitik

1. westliche Aussenpolitik und Entwicklungsländer

Abbildung 4

Die Bundesrepublik hat immer wieder betont, Entwicklungspolitik werde nicht an politische Bedingungen gebunden. Dies will heißen, daß ein Staudamm nicht mit der Besetzung von Ministerposten, eine Handwerkerschule nicht mit religionspolitischen Auflagen, eine Anleihe nicht mit einer Änderung der Verfassung verkoppelt werden. „Keine politischen Bedingungen" heißt demnach, daß mit dem konkreten Hilfsprojekt keine konkreten politischen Auflagen verbunden sind. Nicht „die Übereinstimmung der politischen Vorstellungen und Systeme, wohl aber wechselseitiges Vertrauen und Verständnis für die Probleme der anderen" sind — nach Walter Scheel — die Grundlage wirtschaftlicher Zusammenarbeit

Diese Forme] ist sehr umfassend und daher interpretationswendig. Sie kann von Ost und West gleichermaßen übernommen werden. Keiner der beiden Blöcke verlangt von einem Entwicklungsland offen eine sofortige „Uber-einstimmung der politischen Vorstellungen und Systeme“. Diese Formel erinnert an J. Chr. Lichtenbergs Aphorismus, wonach wir, wenn jemand mit uns „grundsätzlich" einverstanden sei, das Opfer des „Aber“ zu tragen haben. Das „Aber" ist die Forderung auf das „wechselseitige Vertrauen und Verständnis für die Probleme der anderen“. Hinter dieser Formel verbergen sich die großen weltpolitischen Konzeptionen.

Jedes Entwicklungsland hat seinen Platz in den jeweiligen weltpolitischen Konstellationen von Ost und West. So verkündete Adenauer in seiner Regierungserklärung am 29. 11. 1961: „Wir werden die Entwicklungshilfe wie bisher ohne politische Bedingungen leisten. Wir werden dabei aber nicht außer acht lassen, daß das deutsche Volk es nicht verstehen würde, wenn wir in eine Entwicklungspartnerschäft mit Staaten träten, die unser Selbstbestimmungsrecht nicht anerkennen. Bei Scheel heißt es Ein Staat, der die primitivsten Rechte seines Partners leugne — dabei denke er besonders an das Recht auf Selbstbestimmung des deutschen Volkes —, würde sicher nicht erwarten, dafür auch noch Entwicklungshilfe zu bekommen

. Vertrauen und Verständnis' bedeuten in diesem Falle die Forderung a) einer Option für jene politischen Wertvorstellungen des Westens, wie sie im Begriff der „Selbstbestimmung* zum Ausdruck kommen, b) einer Stellungnahme für die Deutschlandthesen der Bundesregierung, c) einer Ablehnung diplomatischer Anerkennung der Sowjetzone. Natürlich heißt dies noch nicht „Übereinstimmung der politischen Vorstellungen und Systeme', trotzdem aber beschränkt solche Art von erwartetem und gefordertem „Verständnis* die politische Bindungsfreiheit der Entwicklungshilfe. Für die Bundesrepublik ist die Nichtanerkennung der Sowjetzone überhaupt die Voraussetzung normaler diplomatischer Beziehungen und der Gewährung bilateraler Entwicklungshilfe. Am 8. Juni 1961 verkündete der damalige Außenminister Heinrich von Brentano in München fünf Grundsätze der deutschen Entwicklungspolitik. Der erste lautete: „Unsere Entwicklungshilfe ist frei von politischen Bindungen. * Diese Behauptung, immer wieder von Politikern aller Parteien verwendet, mußte angesichts der völlig berechtigten entwicklungspolitischen Praxis der Bundesrepublik zu der Frage führen, die der indische Soziologe Prodosh Aich gestellt hat: „Man sagt also einerseits großzügig, daß es sich bei der deutschen Wirtschaftshilfe um eine moralische Verpflichtung handle, mit der politische Auflagen nicht verbunden seien; andererseits unterliegt sie aber doch einigen obersten außenpolitischen Maximen. Wie läßt sich das miteinander verbinden?“

Diese Frage kann nur mit Offenheit und glaubwürdiger Klarheit beantwortet werden, wie es Horst Dumke, leitender Beamter im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit schon 1960 in einer Denkschrift getan hat: .... die Entwicklungspolitik hat die Aufgabe, Mittel und Wege zu finden, um eine enge Zusammenarbeit und langfristige Bindung zwischen den Entwicklungsländern und der Bundesrepublik herzustellen und somit die Verwirklichung einer Reihe von außenpolitischen Zielsetzungen der Bundesrepublik, wie Wiedervereinigung, Nichtanerkennung der Sowjetzone und Nichteinbeziehung der Entwicklungsländer in die östliche Einflußsphäre, zu ermöglichen.

Der französische Staatspräsident de Gaulle hat durch den früheren Industrieminister Jeannenay einen Bericht über die Entwicklungspolitik verfassen lassen. Nach diesem Bericht soll Hilfe an Länder außerhalb der Franc-Zone ausschließlich bilateraler Natur sein. Als Bedingungen werden offen genannt, daß solche Hilfe dem französischen Export und der französischen Außenpolitik dienen müsse. Die diplomatischen Vorteile, die verlangt und erwartet werden, sind zum Beispiel die Unterstützung Frankreichs auf internationalen Konferenzen und die Gewährung strategischer Stützpunkte und Transportverbindungen

Aus Gründen wohlverstandenen Interesses bemühen sich England und Frankreich vornehmlich um ihre ehemaligen Kolonialgebiete. Es geht darum, die früheren Interessenverbindungen zwischen Mutterland und Kolonie unter völlig neuen Formen, neuen Bedingungen und neuen Zielen zu erhalten. Diese Interessenverbindungen hatten sich in jahrzehnte-oder jahrhundertealten Kolonialbeziehungen eingespielt. Sie sollen im Interesse der beiden Partner nicht zerstört werden.

Aus dem gleichen Grunde spielen sich die jährlichen Kämpfe im amerikanischen Senat und Repräsentantenhaus um die Höhe der Entwicklungshilfe ab: stets geht es um eigene Interessen und eigene weltpolitische Konzeptionen, die auf dem Wege über Entwicklungspolitik gewahrt und durchgesetzt werden sollen. Dies trifft auf West und Ost zu.

2. östliche Aussenpolitik und Entwicklungsländer

Länder und Territorien in Asien Ländergruppe Kopf-Einkommen pro Kopf-Energieverbrauch j ää: Grad der Kindersterblichkeit (abnehmend mit Säulenhöhe) proportioneile Schul-Matrikel Schaubild I Die nachstehenen graphischen Darstellungen veranschaulichen das Verhältnis der in der Tabelle III (Seite 24/25) aulgeiührten Indikatoren zueinander, und zwar für die jeweiligen Ländergruppen:

Der Ostblock, der seit 1954 Entwicklungspolitik betreibt, hat seine Hilfe jeweils auf jene Länder konzentriert, in denen Konfliktsherde der Weltpolitik entstanden waren. Die sowjetische Entwicklungspolitik stellt geradezu eine Geographie der weltpolitischen Spannungsherde dar über Süd-und Südostasien wandte sie sich dem Vorderen Orient zu, um dann nach Afrika und schließlich nach Lateinamerika verstärkt auszustrahlen. Es gab keinen sowjetischen Entwicklungsplan. Der Ostblock handelte auf Grund jeweils günstiger außenpolitischer Umstände, in denen Wirtschaftshilfe in Verbindung mit ideologischer Propaganda als politische Waffen in einer kleinen Anzahl von Ländern eingesetzt wurden.

Dies heißt nicht, daß der Ostblock nicht auch wirtschaftliche Interessen bei der jeweiligen Entwicklungshilfe verträte. Im Gegenteil: trotz aller propagandistischen Vernebelung bringen die sowjetischen Entwicklungsvorhaben den begünstigten Ländern höchst zweifelhafte Vorteile, während sie der Sowjetunion als dem stärkeren Teil alle Trümpfe auch des wirtschaftlichen Vorteils belassen. Entscheidend für den Ansatzpunkt der Entwicklungshilfe waren bisher jedoch politische Gesichtspunkte. Dies ging soweit, daß um politischer Vorteile willen Außenhandelsverträge geschlossen wurden, die für die Sowjetunion nur schwer einzuhalten waren. Es sei an die sowjetischen Weizenlieferungen erinnert, die zum Beispiel vertraglich mit Brasilien zu einem Zeitpunkt vereinbart worden waren, als die Sowjetführung wissen mußte, daß sie sehr bald den Offenbarungseid leisten werde. Es ging indes im Augenblick der Verhandlungen darum, die hochgeschraubten Hoffnungen Brasiliens auf den Sowjetmarkt und die allgemeine handelspolitische Hinwendung zum Ostblock um jeden Preis zu unterstützen.

Aus gleichen Erwägungen beteiligten sich die Ostblockstaaten nicht oder nur kaum an multilateralen Projekten. Gesamtplanungen sozialökonomischer Natur der internationalen Organisationen ermöglichen weder eine direkte politische Einflußnahme noch Propaganda. Deshalb bedient sich der Ostblock fast ausschließlich der bilateralen Hilfe, die es ihm ermöglicht, a) den Partner je nach den politischen Umständen zu wählen, b) die Situation, die meist eine Krise des betroffenen Landes zum Westen beinhaltet, politisch und wirtschaftlich auszunutzen, c) der Kontrolle und Einschränkungen durch die internationalen Organisationen zu entgehen.

Wo aber die Sowjetunion sich an multilateralen Aktionen beteiligt, sucht sie Projekte aus, die so konzentriert von ihr selbst bearbeitet werden, daß sie als sowjetische Hilfe erscheinen. Als Beispiel sei auf einen Instituts-bau in Bombay verwiesen, der — im Rahmen des UN-Hilfsprogramms geplant — durch zusätzliche bilaterale Verträge schließlich als reines Sowjetprojekt angesehen wurde

Der Osten sieht in der Entwicklungspolitik die Chance, über wirtschaftliche und soziale Veränderungen zur kommunistischen Revolution und Gesellschaftsordnung zu gelangen. Die Unterstützung der „nationalen Befreiungsbewegungen" in Entwicklungsländern wird lediglich „als Etappe und erforderliche Voraussetzung für soziale Umgestaltungen ... sowie für das nachfolgende Hinüberwachsen der nationalen und der kolonialen Revolution in die sozialistische Revolution angesehen"

Während auf dem Wege über die Planwirtschaft eine neue, dem Kollektiv verhaftete Mittelschicht und Elitegruppe geschaffen werden soll, wobei Intellektuelle, Industrie-arbeiterschaft und Landproletariat durch die organisatorischen Formen des Staatskapitalismus zu einheitlichem Denken und Selbstbewußtsein gebracht werden, wird über die Außenpolitik und Außenhandelspolitik Einfluß auf Entscheidungen der Entwicklungsländer im West-Ost-Konflikt genommen. Das Ziel ist die Schwächung der Westmächte in den internationalen Organisationen, die Mehrung der Spannungen zwischen Westmächten und Entwicklungsländern, die Aufweichung und Zerschlagung der westlichen Bündnissysteme und die 54 Stärkung des Neutralismus, dem die Aufgabe zufällt, politische und militärische Stützpunkte des Westens aufzuheben.

Das Ziel der sowjetischen Entwicklungspolitik vor allem ist die Festigung des sowjetischen Einflusses auf die weltpolitischen Entscheidungen. Die Sowjetunion soll den Entwicklungsländern als Hort der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit erscheinen. Sie soll die Sympathie und Bewunderung der Entwicklungsvölker gewinnen. Daher erklärt sie Kampf um das der Völker zu Selbstbestimmungsrecht einem Hauptziel ihrer Außenpolitik.

Die Koexistenzpolitik erscheint nunmehr als die liberale und großzügige Interpretation der Leninschen Welteroberungspläne. „Wir und die herrschenden Kreise der kapitalistischen Länder haben verschiedene Ansichten, verschiedene Weltanschauungen. Wir werden uns niemals von unseren Ansichten lossagen und uns keinerlei Illusionen darüber hingeben, daß unsere Klassengegner ihre Ideologie ändern würden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir wegen der Unterschiede in unseren Ansichten miteinander Krieg führen müßten. In jedem Land bestimmt das Volk selbst sein Schicksal, entscheidet es über die Richtung seiner Entwicklung. Die Sowjetunion will niemandem den Weg aufdrängen, den sie selbst gewählt hat.“ Diese Worte Chruschtschows sollen Wellen der Sympathie in den Entwicklungsländern wecken und konsolidieren. Die „stets steigende Sympathie der Werktätigen aller Länder für den Sozialismus“ wird ausdrücklich als einer der Umstände bezeichnet, die eine Politik der friedlichen Koexistenz als für den Ostblock aussichtsreich erscheinen lassen.

3. „koexistenz“ und Entwicklungsländer

Länder und Territorien in Lateinamerika Ländergrupp« E pro Kopf-Einkommen pro Kopf-Energieverbrauch ] Schaubild II Grad der Kindersterblichkeit (abnehmend mit Säulenhöhe) proportionelle Schul-Matrikel 1

„Koexistenz“ ist die dialektische Fassung des Sowjetimperialismus der Gegenwart. In der sowjetischen Außenpolitik erfährt die Koexistenzlehre eine auf die Entwicklungsländer zugeschnittene Fassung. Wie die Sowjetunion selbst in ihrer eigenen Geschichte bedürfen die Entwicklungsländer der Hilfe des Westens. Ohne die technische und finanzielle Unterstützung des Westens wäre es der Sowjetunion nicht möglich gewesen, ihre eigene Schwerindustrie zu entwickeln und damit die Grundlagen ihres Aufstieges zur zweiten Industrie-macht der Welt zu schaffen. Dies war der Sinn der sowjetischen Koexistenzlehre: den " Aufbau des Sozialismus“ im Innern durch eine Friedensperiode abzusichern.

Den gleichen Prozeß will die sowjetische Außenpolitik in den Entwicklungsländern begünstigen. Während sie die westliche Hilfe als „Neokolonialismus“ denunziert, nutzt die sowjetische Diplomatie ihre Möglichkeiten, damit diese Hilfe einer oft überstürzten, ordnungsfremden, soziologisch und wirtschaftlich falsch angesetzten Industrialisierung zugeführt wird, das heißt, sie nimmt Einfluß auf die Planungen der Entwicklungsländer, denen Experten aller Fachrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Der Ostblock trägt mit Lieferungen zur Industrialisierung bei. „Die Entwick lungsländer“, sagt Chruschtschow, „haben es heute nicht mehr nötig, bei ihren ehemaligen Unterdrückern um moderne Industrieausrüstungen zu betteln. Solche Ausrüstungen können sie in den Ländern des Sozialismus erhalten und brauchen dafür mit keinerlei Verpflichtungen politischen oder militärischen Charakters zu zahlen.“ Gleichzeitig betätigt sich der außenpolitische Apparat der Sowjetunion und ihrer Satelliten als Propagandakraft in den politischen und intellektuellen Führungskreisen der Entwicklungsländer.

Koexistenz wird den Entwicklungsländern als friedlicher Wettbewerb des „Kommunismus“ mit dem „Kapitalismus“ schmackhaft gemacht. Die sowjetische Außenpolitik soll in den Entwicklungsländern die grundsätzliche Friedensbereitschaft der kommunistischen Welt vertreten. Die Existenzbedingungen des internationalen Kommunismus haben sich durch Atombombe und Entwicklungsländer verändert. Eine Erweiterung des kommunistischen Einflußbereiches durch den großen Krieg ist nicht mehr möglich. Die Koexistenz soll daher den Krieg verhindern. Sie soll indes nicht der Ausbreitung des Kommunismus im Wege stehen. Bürgerkrieg und Revolten, Zerstörung der gesellschaftlichen Strukturen, List und Täuschung auf diplomatischer Ebene sind nach wie vor die auch im Koexistenzrahmen erlaubten Waffen. Jedoch sind die Methoden der Macht-eroberung durch die Koexistenzpolitik geschmeidiger und vielseitiger geworden. Auch der Weg über das Stimmrecht westlich demokratischer Regierungssysteme, der . legale* Weg, darf zur Macht führen. . Koexistenz“ erlaubt den „Pluralismus der Revolution“ die . Aggressionsstrategie muß hinter der Infiltrationsstrategie zurückstehen"

An die Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit der sowjetischen Außenpolitik werden in der Periode der Koexistenz hohe Anforderungen gestellt. Sie zögert nicht, herzliche Beziehungen zu Entwicklungsländern zu unterhalten, die die kommunistischen Parteien verbieten und hart verfolgen. Sie bringt die Hilfe einer Sowjetunion, die angeblich keine politischen Bedingungen vorschreibt und uneigennützig die nationalen Befreiungsbewegungen im Kampf gegen Kolonialismus, Kapitalismus und Imperialismus unterstützt. Sie demonstriert die Aussöhnung mit dem „progressiven Bürgertum", indem sie seinem Nationalismus eine historische Bedeutung im Kampf gegen den Imperialismus zubilligt. . Es geht der Sowjetführung von heute jedoch gar nicht um die Befreiung der Kolonialvölker an und für sich, sondern um die Ausnutzung der national-revolutionären Befreiungsbewegung für eigene außenpolitische Ziele.'

Noch am 26. 10. 1963 hat Chruschtschow anläßlich des 3. Welttreffens der Journalisten erklärt, diejenigen, die meinten, friedliche Koexistenz schlösse den „Befreiungskampf der Völker gegen ihre Unterdrücker aus", machten sich einer „grobschlächtigen Verzerrung" schuldig. Die mögliche und notwendige friedliche Koexistenz zwischen den Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen bedeute keineswegs, „daß etwa friedliche Ko-existenz zwischen den unterdrückten Völkern und ihren ausländischen Unterdrückern oder zwischen den Werktätigen und ihren Ausbeutern bestehen darf. Da kann es keine Verständigung, keine Versöhnung geben, denn jedes Volk hat das heilige Recht, einen Befreiungskampf zur Vertreibung fremdländischer Versklaver, zum Sturz der Herrschaft einheimischer Versklaver zu führen“

Das ist derselbe Chruschtschow, der 1959 in den . Foreign Affairs“ versicherte, friedliche Koexistenz sei nicht nur Verzicht auf den Krieg als Mittel zur Lösung strittiger Fragens auch die Verpflichtung, eines anderen Staates territoriale Integrität und Souveränität zu achten, sei eingeschlossen. Dann heißt es: . Das Prinzip der friedlichen Koexistenz bedeutet, daß man darauf verzichtet, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder mit dem Ziel einer Änderung ihrer Staatsordnung oder ihrer Lebensweise oder aus irgendwelchen anderen Motiven einzumischen.“

Am 12. 12. 1962 aber erklärte Chruschtschow: »Wir lehnen nicht nur einen thermonuklearen Weltkrieg, sondern überhaupt alle Kriege zwischen den Staaten ab — mit Ausnahme eines gerechten Befreiungskrieges. * Die Koexistenz sowjetischer Prägung beinhaltet jedoch ausdrücklich die Organisation und den Unterhalt von Konfliktsherden in den nichtkommunistischen Entwicklungsländern, in denen jede — in-und ausländische — Führungsschicht zum Objekt des . heiligen Befreiungskampfes der Völker'wird. Es gilt nach wie vor Lenins Wort: . Wir wären schlechte Revolutionäre, wenn wir in dem großen Kampf für die Befreiung des Proletariats und für den Sozialismus nicht wüßten, wie wir uns jede einzelne Volksbewegung gegen die Imperialisten zunutze machen können, um die Krise zuzuspitzen und auszuweiten.“ Dabei mag dahingestellt bleiben, ob die Koexistenzlehre mit dem Marxismus und Leninismus vereinbar sei. Jedenfalls sind seit Jahren nicht nur . Mißverständnisse“, sondern pointiert kontradiktäre Auffassungen über die Koexistenz Im kommunistischen Lager entstanden. In der Prager Zeitschrift »Probleme des Friedens und des Sozialismus“ sah sich der Chef der Agitprop des Zentralkomitees, Leonid Iljitschow, veranlaßt, eine Interpretation der Koexistenzlehre angesichts der zahlreichen . Mißverständnisse“ zu geben. Darin wird gegen jene, die die Koexistenz als eine allmähliche Normalisierung des Verhältnisses zwischen der Sowjetunion und der übrigen Welt ansehen, das Postulat der unausbleiblichen Errichtung der kommunistischen Gesellschaft in der ganzen Welt als Grundlage der sowjetischen Koexistenzlehre dargestellt. Von einer Gleichberechtigung zwischen Kapitalismus und Sozialismus könne keine Rede sein. Ein . ideologischer Friedensschluß“ sei unmöglich. Auf diesem Gebiet gebe es keine Koexistenz, die nichts anderes als eine Form des Klassenkampfes seL

4. die drei formen der Bundnispolitik

Länder in Europa Ländergruppe Tschechoslowakei Kopf-Einkommen Dänemark Frankreich Bundesrepublik . . pro Kopf-Energieverbrauch I Griechenland Irland I Grad der Kindersterblichkeit mit Säulenhöhe) Italien Niederlande Norwegen 5 proportioneile Schul-Matrikel Portugal Schaubild III Großbritannien

Der Einbau In die weltpolitische Konzeption der Blöcke kann auf dreierlei Weise geschehen:

1. Ost und West versuchen, mit einem Entwicklungsland in ein beiderseitiges politisch-militärisches Bündnisverhältnis zu gelangen.

2. Ost und West versuchen, von einzelnen Entwicklungsländern wohlwollende Neutralität zu erwirken, so daß im Konflikts-falle mit einer positiven Stellungnahme des betreffenden Landes oder der Ländergruppe zugunsten eines Blockes gerechnet werden kann.

3. Ost und West versuchen, irgendeine Art von Neutralität zu sichern, die zumindest ein offenes Zusammengehen oder eine wohlwollende Neutralität mit dem rivalisierenden Block ausschließt.

Im ersten Falle handelt es sich darum, Länder oder Ländergruppen auf gemeinsam definierte und den militärischen Bereich umfassende Bündnisverpflichtungen festzulegen oder solche Länder oder Ländergruppen aus den augenblicklich bestehenden Bündnissen herauszubrechen. Der Gegner wird dadurch geschwächt, daß ihm strategische und politische Stützpunkte entzogen und sie möglichst dem eigenen Bündnis-system eingeordnet werden.

Aber auch auf geistig-kulturellem Gebiet können Nationen . herausgebrochen“ werden. Dies kann zum Hauptziel der Blockpolitik werden, wenn die Aufweichung der militärischen Bündnisse entweder nicht möglich oder nicht wün-sehenswert — weil zu sehr mit Risiken beladen — erscheint Für diese erste Welse stehen als Beispiele die Bündnisverpflichtungen, die Entwicklungsländer an die hochindustrialisierten Länder des Westens in den Militärbündnissen der NATO, CENTO und SEATO und im Bereich des War-schauer Paktes an die Sowjetunion binden.

Weniger eindeutig sind die Verpflichtungen innerhalb der Organisation der amerikanischen Staaten sowie im Verhältnis der Sowjetunion zu den kommunistischen Staaten Asiens.

Die Folgen einer aggressiven Bündnispolitik im West-Ost-Konflikt sind am Beispiel Kubas zu erkennen. Das starke Engagement des Ostblocks unter der Führung der Sowjetunion hat zwar Kuba aus dem amerikanischen Sicherheitssystem herausgebrochen, gleichzeitig aber zu einer Konfliktsituation geführt, in der die westliche Führungsmacht eine wesentliche Verschiebung des militärischen und weltpolitischen Gleichgewichts befürchten mußte. Sowjetische Atomwaffen in Kuba hätten außer der direkten militärischen Bedrohung des nordamerikanischen Gebietes die politische Beherrschung Lateinamerikas durch die Sowjetunion in massiver Weise eingeleitet.

Die Militärhilie, die zum Teil unter dem Titel Entwicklungshilfe läuft, muß unter dem Gesichtspunkt anzustrebender Bündnisverhältnisse gesehen werden. Das atomare Stützpunktsystem, das die Staaten westlichen um die Sowjetunion aufgebaut haben, ist ohne Bündnisse oder bündnisähnliche Beziehungen mit den Entwicklungsländern nicht aufrechtzuerhalten. Die Entwicklungspolitik, wie sie von Präsident Truman in seinem „Punkt-VierProgramm“ am 20. Januar 1949 verkündet wurde, ist ohne Zweifel durch die Bündnispolitik der USA mit ausgelöst worden, da es aus Sicherheitsgründen unmöglich schien, hoch dotierte, auf dauerhafte Wirksamkeit angelegte Militärstützpunkte inmitten eines Meeres von Elend und Hunger in den Entwicklungsländern zu verankern. China, Korea und Vietnam sind Meilensteine auf dem Wege der west-östlichen bündnispolitischen Siege und Niederlagen.

Mit zunehmender Sättigung des atomaren Waffenpotentials in beiden Blöcken sind die Anreize und Möglichkeiten, die Bündnisverhältnisse zu erweitern, geringer geworden. Der Weltkrieg ist undenkbar, der Weg zu neuen Bündnissystemen durch Militärhilfe fragwürdig geworden.

Immerhin ist das Ergebnis für den Westen lebenswichtig gewesen. In seiner für den 22. November 1963 für Dallas vorbereiteten Rede teilte Präsident Kennedy mit, 70 °/o der amerikanischen Militärhilfe gingen in neun Schlüsselländer, „die an oder unweit der Grenze des kommunistischen Blocks liegen* und sich direkt oder indirekt einer kommunistischen Bedrohung gegenübersähen: Vietnam, das freie China, Korea, Indien, Pakistan, Thailand, Griechenland, die Türkei und Persien. Militär-und Wirtschaftshilfe an diese Länder verhinderten die kommunistische Unterwanderung

Die Erstarrung der Fronten und die Paralysierung der Handlungsmöglichkeiten läßt sich am Beispiel Kubas und Ungarns nachweisen.

So wie ein Versuch des Westens, Ungarn aus dem Ostblock herauszubrechen, wahrscheinlich zu einem militärischen Konflikt geführt hätte, mußte der fast vollendete gleichartige sowjetische Versuch in Kuba zu militärischen und politischen Abwehrmaßnahmen letzter -Konse seitens der USA führen. quenz In den Bereich der angestrebten Bündnispolitik gehören auch die Entsendung von Militärmissionen in die Entwicklungsländer, die Lieferung von Waftensystemen, die im Ernstfall von den Produktionsländern abhängig sind, die Organisation gemeinsamer militärischer oder para-militärischer Manöver sowie militärische Besprechungen über strategische Konzeptionen. Diese Art von militärpolitischen Beziehungen ist in manchen Fällen als gültiger Bündnis-ersatz anzusehen, da die meisten Entwicklungsländer aus finanziell-wirtschaftlichen, demographischen, bildungspolitischen oder klimatischen Gründen sowieso keine militärischen Bündnispartner mit selbständigen Industrie-und Waffenreserven oder modern ausgebildeten Heeren sind.

Im zweiten Falle wird mit der wohlwollenden Neutralität auch ein Einfluß auf die allgemeine innere Entwicklung eines Landes gewonnen. Wirtschafts-und Sozialordnung sowie das kulturelle Leben des betreffenden Landes orientieren sich in natürlicher Weise zu dem Block hin, dem die wohlwollende Neutralität zugesichert ist. Es handelt sich um ein Verhältnis herzlicher Partnerschaft, wie es zum Beispiel Frankreich und England mit der Mehrzahl ihrer ehemaligen Besitzungen aufrechtzuerhalten wünschen.

Die EWG gehört in diese zweite Weise der Entwicklungspolitik. Die Assoziierung afrikanischer Staaten an die EWG bezweckt die politische Beruhigung und Stabilisierung des afrikanischen Raumes sowie die Abwehr und Neutralisierung direkter und indirekter kommunistischer Aggression auf kontinentaler Ebene. Die Zulassung von Beobachtern asiatischer Staaten beim COMECON ist der sowjetische Versuch, über kommunistische Entwicklungsländer nicht nur »wohlwollende Neutralität'zugunsten der Sowjetunion im Konfliktsfall mit dem Westen, sondern auch in der Auseinandersetzung mit Rotchina zu sichern.

Die Probleme der Mongolischen Volksrepublik zeigen jedoch, in welch schwierige Situation ein Entwicklungsland kommen kann, das in die chinesisch-sowjetischen Mühlen gerät. Der sowjetisch-chinesische Konflikt hatte zur Folge, daß die Eisenbahnverbindung zwischen beiden Ländern, die durch die Mongolei führt, zum großen Teil unausgenutzt blieb und somit der Mongolei große Transiteinnahmen verloren gingen. Der Druck, der von den beiden Mächten auf die Mongolische Volksrepublik mit Hilfe von wirtschaftlichen und finanziellen Angeboten ausgeübt wurde, endete mit der Entscheidung der Mongolei im Juni 1962, dem COMECON beizutreten. Die erwartete Hilfe kam jedoch nicht, während gleichzeitig als chinesische Reaktion der mongolisch-chinesische Handel, der fast 30 °/o des mongolischen Außenhandels betrug, versiegte. In dieser Lage bemühte sich die Mongolische Volksrepublik, die bisher nur diplomatische Beziehungen mit kommunistischen Ländern unterhalten hatte, zum erstenmal ihre Beziehungen zu westlichen Staaten zu normalisieren. Damit ist der Weg zu einem „asiatischen Titoismus" frei geworden.

Die dritte Möglichkeit, die bis zur feindseligen Neutralität — aber eben doch Neutralität! — reichen kann, schließt ein offenes militärisches Zusammengehen mit einem der rivalisierenden Blöcke zwar noch aus. Hier seien die Beziehungen zwischen den USA und Jugoslawien als Prototyp erwähnt. Der Norm nach handelt es sich jedoch hier im allgemeinen um den Versuch, gleiche Distanz zu den rivalisierenden Blöcken zu halten, das heißt jene „Schaukelpolitik" zu betreiben, in der vor allem der Nahe Osten eine gewisse Meisterschaft erreicht hat, die nunmehr auch von einigen Ländern Lateinamerikas angestrebt wird.

Diese dritte Art von Beziehungen, sachlich-kühle, rein interessenbedingte Neutralität, ist zweifelsohne das von der Mehrzahl der Entwicklungsländer angestrebte politische Ziel. Diese Art von Neutralität wird auch von den beiden Machtblöcken so lange für annehmbar oder gar wünschenswert erachtet, als eine entscheidende Änderung im Gleichgewicht der militärischen Kräfte durch Einbeziehung des umworbenen Landes in das eigene Bündnis-system oder seine wohlwollende Neutralität nicht herbeigeführt werden kann. Das Interesse an der Neutralität der blockfreien Länder geht heute manchmal so weit, daß Ost und West unter den gegebenen Machtumständen ein offenes Bündnis mit den Entwicklungsländern gar nicht wünsche:.. Eine Veränderung der strategisch-politischen Situation zugunsten eines Blocks könnte den anderen veranlassen, Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem Welt-konflikt führen.

Wie wenig Spielraum den beiden Machtgruppen für ihre Entscheidung bleibt, zeigen die Beispiele Kuba, Laos, Vietnam, Korea. In den vier Fällen handelt es sich darum, mögliche Machtverschiebungen zugunsten des Rivalen zu verhindern. Der Versuch Moskaus, Kuba in eine Raketenbasis zu verwandeln, konnte von den USA nicht geduldet werden. Anderseits haben die USA kein Mittel entdeckt, den kommunistischen Stützpunkt Kuba als politisches und propagandistisches Aktionszentrum zu beseitigen. Eine stillschweigend von beiden Blöcken anerkannte Norm besagt jedoch, daß nur eine militärische Machtverschiebung als Störung des Gleichgewichts der Kräfte anzusehen sei. Somit ist ein ideologisch-propagandistischer Stützpunkt, selbst wenn von ihm aus, wie im Fall Kuba, die Infiltration der für den Westen lebensnotwendigen Zone Lateinamerikas organisiert wird, kein Grund, das „Gleichgewicht des Schreckens“ als entscheidend bedroht anzusehen.

Dies ist für den Westen gefährlich. Der Machtkampf wird dadurch — ganz im Sinne der sowjetischen Koexistenztheorie — in den innenpolitischen und ideologischen Raum der Entwicklungsländer verlagert. In ihm aber sind soziale Ungerechtigkeiten, wirtschaftliche Schwäche, Hunger und Krankheit maßgebliche Kennzeichen des Gesellschaftslebens. Die Aushöhlung westlicher Positionen erfolgt somit über die Innenpolitik. Intellektuelle, Beamte, Professoren, Journalisten, Studenten, Zeitungen, Rundfunk-und Fernsehstationen entscheiden an einer Front, an der Raketen nicht eingesetzt werden können. Herz und Verstand werden nicht mit militärischen Mitteln erobert

Nunmehr hat Chruschtschow erkannt, daß die Waffen nicht mehr allein — so wird in Moskau vorsichtig formuliert — die Entscheidung bringen können. Der . ideologische Kampf, „die Eroberung der Köpfe und Herzen", ist zum vordringlichsten Problem der russischen Entwicklungspolitik geworden. Auch in den Entwicklungsländern ist das Ziel der sowjetischen Politik „die Bildung eines neuen Menschen" Das Ziel der Koexistenz ist „eine längere friedliche Periode, in deren Verlauf die revolutionären Kräfte mit den geringsten Verlusten und Opfern für die Völker über die Imperialisten triumphieren werden"

Die verfassungsmäßigen Freiheiten werden von den Kommunisten in den demokratisch regierten Entwicklungsländern voll ausgenutzt, während die westlichen Demokratien innerhalb der Ostblockländer geringe oder keine Einflußmöglichkeiten besitzen. Im Spannungsfeld zwischen Ost und West befindet sich der Osten eindeutig in der Offensive. Der „Pluralismus der Revolution" weitet sich aus.

Die Entwicklungspolitik ist auch innerhalb der Blöcke ein Instrument zur Verteidigung nationaler Interessen und eigener weltpolitischer Konzeptionen. Es konkurrieren nicht nur die westlichen Industrienationen miteinander beim Aufbau der Infrastrukturen und der Eroberung neuer Märkte in den Entwicklungsländern; es konkurrieren vor allem auch die Sowjetunion und China bei der Gewährung entwicklungspolitischer Zugeständnisse, um politischen Einfluß in Asien, Afrika und Lateinamerika zu gewinnen.

Alle Beispiele zeigen somit, daß das Werben um gegenseitiges „Vertrauen und Verständnis", wie die Formulierung Walter Scheels lautet, den Bereich der gegenseitigen politischen Erwartungen bei entwicklungspolitischen Vorhaben auf das höchste aktiviert. Auch die Entwicklungsländer versuchen, durch die Anpassung ihres außenpolitischen Verhaltens an die Forderungen der Geberländer Motive für Hilfe und Zugeständnisse zu wecken.

Sie nehmen freiwillig die Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit auf außenpolitischem Gebiet hin, um die Ströme der Entwicklungshilfe zu sich zu lenken. So hat die Hall-stein-Doktrin die Entwicklungsländer bis heute daran gehindert, die volle, formale Anerkennung der sogenannten DDR zu vollziehen. Die Entwicklungspolitik ist demnach nicht nur nicht desinteressiert, sondern sie findet den Grad ihrer Wirksamkeit in der Interpretation und Koordination der Interessen. Sie ist nicht nur Außenpolitik, sondern nach Walter Scheel „eine Art weltweiter Sozialpolitik", ja sogar „eine Art von Verteidigungspolitik" Scheel sieht den Kern der Entwicklungspolitik in dem Versuch, Spannungen abzubauen, um die Sicherheit auf der Welt zu erhalten. Die Beseitigung dieser Spannungen ist jedoch auch und in erster Linie eine Frage der Machtpolitik, in der geistigen, moralischen und psychologischen Instrumenten und Argumenten eine ebenso große Bedeutung wie den wirtschaftlichen und eine größere als den militärischen zukommt. Denn wenn in den Entwicklungsländern „gesunde politische, wirtschaftliche und soziale Ordnungen entstehen" sollen, in denen „die Freiheit des Individuums und die Menschenwürde geachtet werden“ so beinhaltet diese Zielsetzung das Menschen-und Ordnungsbild der westlich-christlichen Zivilisation im Gegensatz zu dem kollektivistisch bestimmten Welt-und Lebensbild, wie es der Marxismus-Leninismus, trotz der unterschiedlichen Interpretationen seiner Verfechter, verkündet. 5. Aussenhandelspolitik Die Entscheidungen, vor denen die Entwicklungsländer in der Außenhandelspolitik stehen, werden durch die handelspolitischen Entscheidungen der Westmächte und die Ratschläge und Lockungen des Ostblocks bedingt. Aus dem GATT-Bericht über die Wirtschaftsentwicklung 1962 geht hervor, daß sich die Zuwachsrate aller nichtindustrialisierten Länder einschließlich der Entwicklungsländer mit 1, 4 Milliarden Dollar verdoppelt hat. Jedoch ist ihr Anteil am Weltexport, der 1953 noch 31, 3% betrug, im Jahre 1962 auf 24, 1 % (33, 4 Milliarden Dollar) zurückgegangen 70, 8 % des Exports dieser Länder waren für den Westen bestimmt, nur 5, 4 % für den Ostblock. Der Rest ging in die nichtindustrialisierten Länder.

Die Einfuhren der Entwicklungsländer verzeichneten einen Zuwachs von nur 1 % auf 36, 4 Milliarden Dollar. Davon kamen 13 Milliarden Dollar aus den westeuropäischen Ländern; 720 Millionen weniger als im vorhergehenden Jahr. Die Bedeutung des Außen-handels für die Entwicklungsländer geht aus diesen Zahlen klar hervor.

Der Außenhandel zwischen dem Ostblock und den Entwicklungsländern beläuft sich auf etwa 3 Milliarden Dollar pro Jahr, je zur Hälfte Einfuhr und Ausfuhr.

Die Ausfuhr der westlichen Welt in Entwicklungsländer betrug 1963 über 30 Milliarden Dollar, die des Ostblocks einschließlich Chinas 1, 5 Milliarden Dollar. Das Verhältnis ist demnach 20 : 1 zugunsten des Westens.

In absoluten Zahlen ist das Außenhandels-volumen der Sowjetunion mit den Entwicklungsländer gering. „Der Warenwert des Exports der großen Sowjetunion in sämtliche überseeische Entwicklungsländer ist ungefähr so groß wie der der kleinen Schweiz.“

Für die Wirtschaft der Sowjetunion gelten die Entwicklungsländer als Lieferanten, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß sie seit 1955 stets mehr importiert als exportiert hat.

Für das Jahr 1960 liegen folgende Zahlen für den Handel mit den Entwicklungsländern vor

Export Import (in Millionen Dollar) UdSSR 510, 9 782, 5 USA 5 978, 1 5 467, 9 Großbritannien 2 855, 3 3 701, 0 Unter den Ostblockstaaten weisen im gleichen Jahr Polen und die SBZ die höchsten Ziffern auf, gefolgt von der Tschechoslowakei:

Polen 103, 0 110, 0 SBZ 106, 6 99, 9 Tschechoslowakei 78, 0 73, 8 1961 — nach Angaben des Research Memorandum RSB— 145 des nordamerikanischen Außenministeriums vom 18. 9. 1962 — die Ausfuhr der Satellitenstaaten in die Entwicklungsländer 558, 6 Millionen Dollar, die Einfuhr aus diesen Ländern 482, 9 Millionen Dollar

Der Außenhandel ist ein Instrument der politischen Welteroberungspläne Moskaus. Dies beweisen a) die geographische Schwerpunkt-bildung nach politischen Gesichtspunkten, b) die Warenart, c) die Methoden.

Die Schwerpunktbildung richtete sich nach bestehenden oder zu schaffenden Spannungszonen. öfters wurden in den einzelnen Ländern jeweils Produktionsüberschüsse solcher Waren ausgewählt, die wegen des Überangebots am Weltmarkt von den Westmächten nicht abgenommen wurden, sowie Waren, die einen direkten Einfluß auf das industrielle und strategische Potential der Partner erlauben. Hierzu gehört die Erdöl-Politik der Sowjetunion gegenüber Entwicklungsländern, „die mit einer Weltmarktpreise, dem Angebot der des bilateralen Tauschhandels und der Annahme der Landeswährung als Zahlungsmittel operiert"

In Indien, Japan, Österreich, Finnland, Italien und sämtlichen Ostblockländern Europas hat das sowjetische öl seinen Aktionsradius „als taktisches Instrument politischer Wirkungen" weit gespannt. Kubas Rohölbedarf wird vollständig von der Sowjetunion bestritten.

Natürlich werden durch den Ostblock auch Waren erworben, die Lücken seiner Planwirtschaft ausfüllen sollen. Dumping und Diskriminierung, Tauschhandel und Rückzahlung in Landeswährung und die Forderung auf einseitige

Meistbegünstigung sind die Methoden der russischen

Nordamerika und Ozeanien Ländergruppe pro Kopf-Einkommen pro Kopf-Energieverbrauch □ 00 Schaubild IV Grad der Kindersterblichkeit (abnehmend mit Säulenhöhe) proportionelle Schul-Matrikel

Außenhandelstaktik gegenüber Entwicklungsländern. Sie will die politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlüsse des Westens erschüttern oder verhindern und die politische Koexistenzbereitschaft der Entwicklungsländer erhöhen. Aus der mangelnden Solidarität des Westblocks ziehen die Sowjets große Vorteile. Sie nutzen die Interessen-gegensätze der konkurrierenden westlichen Wirtschaftsgruppen vor allem dazu aus, um die „Profitgier" und das Prinzip des Gewinns der kapitalistischen Länder bloßzustellen und sie gegeneinander auszuspielen.

Selbst in den Formulierungen der Außen-handelsverträge erscheint der berechnete psychologische Einfluß. Das Handelsabkommen zwischen Burma und der Sowjetunion vom 17. 1. 1957 (veröffentlicht in der Prawda vom 27. 1. 1957) vereinbarte, „daß die Sowjetunion als Geschenk an das Volk der Burmesischen Union baut und einrichtet: ein Technologisches Institut für 1000 Studenten und 100 Aspiranten, ein Krankenhaus mit 200 Betten und eine Poliklinik, ein Theater mit 1800 Plätzen, einen Komplex kulturell-sportlicher Einrichtungen einschließlich eines Stadions mit 50 000 Plätzen, die Bauten für landwirtschaftliche und industrielle Ausstellungen, den Bau eines Konferenzsaales mit 1000 Plätzen, ein Hotel mit 2000 Zimmern, ein Schwimmbassin mit Tribünen für 10 000 Plätze und andere Einrichtungen.

Sie vereinbaren auch, daß die Regierung der Burmesischen Union die entsprechende Menge Reis und andere Waren der burmesischen Produktion als Geschenk dem Volk der Sowjetunion überläßt*.

Burma, Ägypten und Sudan haben die wirtschaftlichen Folgen einer Außenhandelspolitik zu spüren bekommen, die die vom COMECON aus politischen Gründen aufgekauften Reis-und Baumwollproduktionen zum Dumping am Weltmarkt benutzte und in dritte Länder unter dem Weltmarktpreis reexportierte. Auch Brasilien sieht sich mit dem Problem des Reexports brasilianischen Kaffees nach Kuba konfrontiert

Besonders erwähnenswert sind die Erfahrungen, die Burma nach dem zitierten „Geschenkabkommen" mit der Sowjetunion gemacht hat. Louis J. Walinsky hat das Abkommen näher untersucht und festgestellt, daß bis Ende September 1960 dem Lande keinerlei Hilfe von der Sowjetunion zugeflossen sei. Während der Laufzeit des Abkommens sei Burma weniger Darlehensnehmer als vielmehr Darlehensgeber der Sowjetunion gewesen: Nettogläubiger mit einer durchschnittlichen Summe von 10 Millionen Dollar.

Im übrigen entspricht der Warenaustausch Ostblock—Entwicklungsländer dem klassischen Handel der Kolonialzeit: der Ostblock kauft vor allem Agrarprodukte und mineralische Rohstoffe und zahlt mit industriellen Investitionsgütern.

Trotz spektakulärer Handelsabschlüsse und Angebote ist es dem Ostblock indes nicht gelungen, als regelmäßiger Bezieher zu Welt-marktpreisen von Exportgütern aus Entwicklungsländern aufzutreten. Auch der Ostblock kauft nach wie vor billig und gegen Tausch ein, wobei er den politischen Einfluß ebenso mitberechnet wie den wirtschaftlichen Vorteil Die Frage nach den Erfolgen der Außenhandelspolitik des Ostblocks kann nicht eindeutig beantwortet werden. Psychologische und politische Erfolge, die zunächst erzielt worden sind, standen in keinem Verhältnis zu der wirtschaftlichen Bedeutung der Außenhandelsbeziehungen. Der Osthandel erschien einer Reihe von Entwicklungsländern nicht nur als ein Ausweg aus den Nöten ihrer Zahlungsbilanz. Neue Absatzmärkte winkten. Die kommunistische Welt schien bereit, mit der westlichen Handelpolitik in den Entwicklungsländern zu konkurrieren.

Die Aufnahmefähigkeit des Ostblocks für Waren aus den Entwicklungsländern schien gleichzeitig das starke wirtschaftliche Wachstum und die soziale und politische Stabilität* der kommunistisch beherrschten Welt zu beweisen. Janos Horvath und Edward Taborsky haben Absichten, Versprechungen und Leistungen der kommunistischen Entwicklungshilfe sowie die Rolle der Satellitenstaaten untersucht. Horvath kommt zu dem Ergebnis, daß Moskaus Hilfe und Unterstützung ihm keineswegs den politischen Einfluß eingebracht habe, den es erhoffte. Er zitiert die Beispiele Ägypten, Irak, Indonesien, Afrika

Auch Taborsky meint, daß außer einem gewissen Minimum an Wohlwollen, das oft nur für eine Weile vorhält, die Wirtschaftsoffensive der Satellitenländer dem Kommunismus eigentlich nur sehr wenige der politischen Gewinne eingebracht habe, auf die sie vornehmlich abzielte

Trotzdem muß mit einer wachsenden Bedeutung der Ostblockaußenhandelspolitik und der kommunistischen Wirtschaftshilfe gerechnet werden. Das Wachstum der Ostblockwirtschaften schafft zunehmende Einflußmöglichkeiten in den Entwicklungsländern. Vor allem wird nicht nur die Zahl der in den Ostblockstaaten ausgebildeten Fachleute zunehmen, sondern wesentlicher ist die ständige Zunahme der kommunistischen Techniker und Fachleute, die in den Entwicklungsländern eingesetzt werden.

Die nachstehende Tabelle zeigt die Zunahme in den Jahren 1960— 1962. In drei Jahren ist die Gesamtzahl der kommunistischen Techniker und Fachleute von 6510 im Jahre 1960 auf 9620 im Jahre 1962 angewachsen. In dieser Zahl sind nur Personen einbegriffen, die auf Vertragsbasis von der Dauer eines Monats oder länger arbeiten, hingegen nicht Personen, die lediglich mit dem tormalen Teil der Handelsbeziehungen betraut sind Die Entwicklungsländer verzeichnen ein ständiges Sinken der Rohstolfpreise. Dies hat zur Folge, daß ihre Zahlungsbilanzen aus dem Gleichgewicht geraten, Devisen für die Ein-fuhr lebensnotwendiger Produktionsgüter fehlen, die Staatshaushalte defizitär werden und die Inflation immer weiter um sich greift. Gleichzeitig wird durch die Verteuerung der Importe das Real-Einkommen der Entwicklungsvölker wesentlich verringert.

Der Index der Rohstoffpreise ist von 1950 bis 1958, wenn man 1953 als Indexziffer 100 annimmt, von 112 auf 90 gesunken Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß die Preise von 1953— 1955 infolge politischer Umstände eine Rekordhöhe erreicht hatten. Wenn man zum Beispiel die Kaffeepreise von 1938 mit denen von 1963 vergleicht, so zeigt sich eine Steigerung von 7 cents auf 37 cents mit der Unterbrechung 1953— 1954, als er auf 80 cents pro engl. Pfund kam Die Debatte, wie hoch der Preisverlust tatsächlich ist, welche Referenzjahre nach weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten benutzt werden sollen und welche Kriterien für die Beurtei gesunken 84). Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß die Preise von 1953— 1955 infolge politischer Umstände eine Rekordhöhe erreicht hatten. Wenn man zum Beispiel die Kaffeepreise von 1938 mit denen von 1963 vergleicht, so zeigt sich eine Steigerung von 7 cents auf 37 cents mit der Unterbrechung 1953— 1954, als er auf 80 cents pro engl. Pfund kam 85). Die Debatte, wie hoch der Preisverlust tatsächlich ist, welche Referenzjahre nach weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten benutzt werden sollen und welche Kriterien für die Beurteilung der beiderseitigen Warenströme angenommen werden, ist noch lange nicht beendet. Albert Hunold hat in Anlehnung an Guillermo Walter Klein 86) und Jacob Viner 87) die Thesen Raoul Prebischs, des langjährigen Generalsekretärs der Lateinamerikanischen Wirtschaftskommission, zurückgewiesen, wonach die terms oi trade. d. h. die Relation zwischen Exportpreisen (Rohstoffe und Agrarprodukte) und Importpreisen (industrielle Fertigware) für die Länder Lateinamerikas ungünstig seien. Viner habe auf . zwei grundlegende Irrtümer Prebischs" aufmerksam gemacht: 1. Es ist unzulässig, Preisvergleiche zwischen Nahrungsmittelrohstoffen und Industriegütern über längere Zeiträume zu veranstalten;

denn in den neueren Preisen von Industriegütern sind die . Forschungs-und Entwicklungskosten" sowie die Qualitätsverbesserungen nicht berücksichtigt. Beispiel:

Nylon-Autoreifen sind zehnmal dauerhafter als Gummireifen, eine Tonne Kupfer bleibt eine Tonne Kupfer, ein Sack Kaffee ist zu jeder Zeit Qin Sack Kaffee. 2. Die Preise der lateinamerikanischen Exportgüter wurden durch „fast revolutionäre Änderungen der Transportkosten zu Land und zur See” beeinflußt. Wenn Land-und Seefrachten fallen, sinken die Preise frei europäischen Häfen, hingegen ist der Preis für das Produkt im Erzeugerland der gleiche geblieben. Durch ungesunde Stabilisierungsmaßnahmen — so behauptet Hunold — sei auch ein „Ertragsausgleich über die Menge" (d. h. die Verringerung der Produktion) unmöglich gemacht worden 88),

Immerhin mißt Friedrich Karl Vialon der Staatssekretär in dem für die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik verantwortlichen Ministerium, diesen Argumenten offensichtlich keine überzeugende Beweiskraft zu. Deutlich hat er darauf hingewiesen, daß „alle schönen Worte der Produzentennationen" nicht verhindern könnten, daß der Handel unter den Industrienationen immer stärker, derjenige mit den Entwicklungsländern immer schwächer geworden sei „Die Preise der Industrieerzeugnisse sind in den letzten Jahren rund 10 vH. angestiegen, diejenigen für Rohstoffe, vornehmlich aus den Entwicklungsländern, um rund 10 v. H. gefallen.“ " 89) Der UN-Bericht (World Economy Survey) von 1958 behauptet, der wirtschaftliche Rückschlag jenes Jahres habe die Empfindlichkeit der Entwicklungsländer erneut bewiesen. Von Sommer 1957 bis Sommer 1958 seien die Preise und Export-einkommen der Entwicklungsländer nur um 7— 8°/ 90) gefallen. „Die Senkung zusammen mit dem anhaltenden, wenn auch schwachen Ansteigen der Importpreise für Fertigwaren ange-sichts der industriellen Rezession bedeutet einen Verlust in der Importkapazität, der den Anleihen der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank) an unterentwickelte Länder im Laufe von sechs Jahren gemäß der Raten der Jahre 1956 bis 1957 entspricht."

Ein eindrucksvolles Vergleichsbild über die Bedeutung der Rückläuiigkeit von Rohslotfpreisen hat Matthias Schmitt errechnet: „So sind zum Beispiel die Industriewaren-Importe der Rohstoffländer, die den weitaus größten Teil ihrer Gesamteinfuhren ausmachen, in den Jahren 1953— 1958 nominal von 14, 5 Milliarden US-Dollar auf 21, 1 Milliarden US-Dollar, d. h. um 450/0, gestiegen, während im gleichen Zeitraum die Gesamtexporte nur um 15 v. H. gesteigert werden konnten." Die Devisenverluste der Entwicklungsländer seien größer gewesen als die gesamte finanzielle Hilfe der westlichen Welt im gleichen Zeitraum.

Der frühere brasilianische Arbeitsminister, Abgeordneter Professor Franco Montoro, einer der führenden Persönlichkeiten der brasilianischen Christdemokratischen Partei, hat unter Berufung auf eine nicht näher bezeichnete Statistik des „Ausschusses für Welthandel mit Grunderzeugnissen" (Wirtschafts-und Sozialrat der UN) behauptet, der Index der Rohstoffpreise von 1955— 1962 sei von 117 auf 78 gesunken. Der Verlust für die Entwicklungsländer belaufe sich auf 9, 5 Milliarden Dollar. Im gleichen Zeitraum habe die Finanzhilfe für diese Länder 3, 5 Milliarden Dollar erreicht, so daß per Saldo ein Verlust von 6 Milliarden Dollar zu verbuchen sei. Montoro läßt sogar die Aufteilung in Entwicklungsländer erst von diesem Zeitpunkt an datieren Trotz gewisser internationaler Vorkehrungen gegen diese verhängnisvolle Tendenz, die den Entwicklungsländern wenig Möglichkeiten zur Entwicklung aus eigener Kraft belasse, darf man — nach Vialon — nicht allzu große Hoffnungen auf eine schnelle Wandlung setzen

Um so wichtiger sei daher die unmittelbare Hilfe an die Entwicklungsländer, die die Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Handelshilfen erst schaffe. Die Entwicklungsländer müßten wettbewerbsfähig werden und eine stabile Struktur aufweisen. Die Entwicklungspolitik habe die Frage zu klären, welche Struktur dies im Einzeliall sei. Den entscheidenden Punkt legt Vialon bloß, wenn er darauf hinweist, daß „Handelshilfe als Gestaltungsprinzip der Entwicklungshilfe* in unsere eigene traditionelle Wirtschaftsstruktur eingreift. Das Exportvolumen könne nur dann ausgeweitet werden, wenn neben der traditionellen internationalen Arbeitsteilung in Rohstofferzeuger und Industrieproduzenten auch eine industrielle Arbeitsteilung zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern eintreten werde, die für die hochentwickelten Länder eine erhebliche Umstellung mit sich bringe.

Das Prinzip der sinnvollen internationalen Arbeitsteilung und der bewußt anerkannten weltwirtschaftlichen Verflechtungen steht gegen das Prinzip einer integralen, isoliert-autarken nationalen Industrialisierung. Die bisherige Art der Arbeitsteilung war das Wirtschaftsprinzip der Kolonialzeit. Die Industrieländer beherrschten auf Grund ihrer Kaufkraft den Weltmarkt in einem solchen Ausmaß, daß sie den Kolonialgebieten und anderen auf wirtschaftlich niedrigerer Stufe stehenden Ländern Art und Umfang der Produktion zwangsweise vorschrieben. Diese Art von Arbeitsteilung ist mit dem Kolonialzeitalter zu Ende gegangen. Mit größtem Mißtrauen wird der Begriff „Arbeitsteilung", selbst in einem heute abgewandelten Inhalt, von den Entwicklungsländern beurteilt.

Doch zeigt sich, daß eine neue internationale Verteilung der Arbeitsleistungen und Produktionszweige im Interesse der Entwicklungsländer liegt. Die Industrieländer müssen vom Schema „hie Rohstoffländer — hie Produzentennationen“ abkommen. Der Prozeß ist im Gange. Es wird zu weltweiten Verlagerungen von Produktionsstätten und Warenströmen führen. Er wird innere Wandlungen der wirtschaftlichen Strukturen der Industrieländer mit sich bringen. Mit der Produktion und Lieferung von Rohstoffen allein können die Entwick-lungsländer kein ausreichendes Sozialprodukt, d. h. keine Kaufkraft, erarbeiten. Sie werden jedoch nach Untersuchungen der UN bis 1980 eine Steigerung ihres Importbedarfs auf etwa 60 Milliarden Dollar erfahren, was das Dreifache des Wertes von 1960 darstellt.

Das Ende des Kolonialismus bedeutet auch das Ende der bisherigen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung der Kolonialzeit. Das Wort vom Neokolonialismus ist nicht zuletzt aus der Befürchtung zu erklären, es könnten die alten arbeitsteiligen Systeme und Tatsachen weiterhin gültig bleiben. Dies würde auch für die Zukunft die existenzbedrohende, totale Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom Konjunkturzyklus der Industrienationen beinhalten.

Dem Osten ist es aus zwei Gründen leicht gemacht, die Entwicklungsländer in dieser Situation zu beeinflussen:

1. Die negativen Seiten des Kolonialismus auf dem Gebiet der Handelspolitik, die bisherige „Arbeitsteilung", werden mit jeder Unabhängigkeitsbewegungins grelle Tageslicht gerückt. Das Mißtrauen gegen die ehemaligen Kolonialherren wird durch die Unabhängigkeit nicht behoben, sondern in die Zukunft projiziert. Daher die Abneigung der Entwicklungsländer gegen bilaterale Wirtschaftshilfe und Handelsverträge sowie gegen allgemein weltwirtschaftliche Vorschläge des Westens, hinter denen „Neokolonialismus" vermutet wird. Aus diesem Grunde stimmten die Entwicklungsländer dem sowjetischen Vorschlag einer Welthandelskonferenz zu.

2. Der Osten ergänzt dieses Mißtrauen durch einen positiven Vorschlag. Die Sowjetunion gibt das handelspolitische Rezept bekannt, das sie bei ihrem Aufstieg zur zweiten Industriemacht der Welt angewendet zu haben behauptet. Ohne Rücksicht auf weltwirtschaftliche Verflechtungen habe sie die Industrialisierung, Autarkie und Isolierung vorwärtsgetrieben. Das Rezept verpflichtet den neuen Machthaber, den Kampf gegen einheimische „Kapitalisten und Ausbeuter" zu führen, die einst mit der Kolonialmacht blühenden Handel trieben. Er führt zu Spannungen im Inneren und nach außen. Auch die neue „Arbeitsteilung" wird als Fortsetzung der „kolonialen Ausbeuterpolitik" bezeichnet.

Hierzu gehört das Problem der Monokulturen, die eine Folge der Kolonialarbeitsteilung sind. Im Jahre 1958 ergab sich an der Gesamtausfuhr nachstehend aufgeführter Länder für je ein Produkt folgendes Verhältnis

Grafik

Pietro Quaroni hat darauf hingewiesen, welche Gefahren aus der Tatsache erwachsen können, daß sich der Ostblock anschickt, die Rohstoffe der Entwicklungsländer in langfristigen Lieferverträgen zu kaufen, um diese Länder vor Preisschwankungen zu bewahren. Es handele sich hier zwar um ein wirtschaftliches Problem, das aber nach einer politischen Lösung rufe. Für uns seien die Schwankungen der Rohstoffpreise etwas Unvermeidliches: „Im Gegenteil, wir sind eher zufrieden, wenn die Preise dieser Rohstoffe kolonialer Erzeugung fallen: wir sind nicht ebenso erfreut, wenn die Rohstoffpreise unserer eigenen Produktionen fallen.“ Man müsse ein wirtschaftliches oder politisches Mittel finden, um das Problem zu lösen, sonst könne der Westen nicht mit einem wirklichen Erfolg in den Entwicklungsländern rechnen. Zudem liegt der Ausgleich der Handelsdefizite der Entwicklungsländer im westlichen Interesse, denn sie haben sich im Verlauf eines halben Jahrhunderts zu zuverlässigen Käufern an westlichen Märkten herausgebildet, deren Produktionskapazität und Kaufkraft zu stärken eine der wichtigsten Aufgaben der Entwicklungspolitik ist.

Das Interesse der Industrienationen an der erfolgreichen Erhöhung des Handelsaustausches ist um so größer, als ihre gigantisch wachsenden industriellen Produktionsströme immer stärkere Kaufkraft fordern. Das Beispiel der Handelsbeziehungen zwischen hoch-entwickelten Ländern beweist, daß nicht Armut und Ausbeutung, sondern Wohlstand und Kaufkraft im Interesse der hochindustrialisierten Länder liegen. „Mit nur drei hochindustrialisierten Ländern Europas (Frankreich, Belgien, den Niederlanden) tauscht die Bundesrepublik Waren im selben Wert aus wie mit über hundert Entwicklungsländern."

Die Modernisierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung dieser hundert Entwicklungsländer liegt im Interesse der entwickelten Länder, die kaufkräftige Partner für den Aufschwung ihres Außenhandels benötigen. Die „weltwirtschaftliche Arbeitsteilung auf höchster Ebene" (Ludwig Erhard) ist kein vages Versprechen, geboren aus Angst und Schuldbewußtsein, sondern das Ergebnis wirtschaftswissenschaftlicher Analysen, die für die Entwicklungsländer stabile Sozial-und Wirtschaftsordnungen verlangen. Dazu gehören: erhöhte Produktion — erhöhter Absatz — erhöhte Kaufkraft. Die gesamte Außenhandelspolitik des Westens wird in Zukunft entwicklungspolitisch ausgerichtet sein müssen. Der Handel ist die beste Hilfe. „Höhere Ebene", das heißt die eigenen und die Interessen der Entwicklungsländer neu überdenken, neu formulieren, neu koordinieren. Die Öffnung der Märkte durch die vom Westen immer wieder beschworene und dann doch so oft und heimlich verratene marktwirtschaftlich liberale Handelspolitik ist die wirksamste und rascheste Hilfe für Entwicklungsländer. „Höhere Ebene", das bedeutet, wie der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium in einem Gutachten vom 23. 1. 1960 erklärt hat, die „stärkere und rationellere Einschaltung der Entwicklungsländer in die internationale Arbeitsteilung“ dadurch, daß die alten Industrieländer ihre Absatzmärkte auch den in den Entwicklungsländern schon vorhandenen und neu aufzubauenden Industrien öffnen’ Dies erfordert ein „langfristiges Umstellungsprogramm in der eigenen Industrieplanung" Die Entwicklungsländer werden in immer stärkerem Maße Halb-und Fertigwarenfabrikate exportieren wollen. Die Errichtung solcher Produktionsstätten erfordert großen Kapitaleinsatz, der jedoch nur dann sinnvoll ist, wenn große Märkte zur Verfügung stehen, die die Möglichkeit eröffnen, auf kostengerechter Ebene zu produzieren. Diese Märkte sind:

1. Zusammenschlüsse unter den Entwicklungsländern, 2. die Märkte der Industriestaaten.

Gegen die Auffassung, Exportanstrengungen der Entwicklungsländer zum Verkauf ihrer Industrieprodukte in Industriestaaten hätten nur geringe Absatzchancen kann auf Japan und neuerdings — in noch sehr bescheidenem Umfang — auf Lateinamerika hingewiesen werden. Was nottut — darauf hat der Direktor des hamburgischen Weltwirtschafts-Archivs, Prof. Dr. Kapferer, mit Recht und Nachdruck hingewiesen — ist, die Öffentlichkeit auf diesen Wandlungsprozeß vorzubereiten. Dies sei Aufgabe der Politik

Man hat noch keine Lösung für das Problem der Rohstoffpreise gefunden. Im Gegenteil, der Westen ist weit davon entfernt, eine einheitliche Auffassung über die Probleme des Außenhandels zu finden. Preis-und Abnahme- garantiert könnte der wirtschaftlichen Potenz nach nur der Westen in ausreichendem Maße bieten. Das marktwirtschaftliche System hingegen erleichtert eine solche Aufgabe nicht. Garantien dieser Art sind auch nur dann sinnvoll, wenn die Produktion zugleich stärker differenziert und nach Rentabilitätsgesichtspunkten und Marktlage langfristig ausgerichtet wird.

Das Welt-Kaifee-Abkommen von 1962 ist als ein Erfolg der westlichen Außenhandelspolitik zu verzeichnen. Die Koordinierung zwischen Produktion und Absatz soll den Preisverfall des Produktes und damit den Lohn-rückgang in den Kaffee produzierenden Ländern mit all seinen Folgen verhindern. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgen daher die Politiker der Entwicklungsländer den Ausgang dieses Versuches, der zum erstenmal als langfristiger Weg zur Lösung von Absatz-schwierigkeiten innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems angeboten wird. Die Entscheidung der Entwicklungsländer in der Handelspolitik wird davon abhängen, ob es der Marktwirtschaft gelingt, eine langfristige Preisstabilität ihrer Produkte und damit eine Erhöhung des Lebensstandards ihrer Völker zu sichern. Gewiß ist einer marktwirtschaftlich orientierten Außenpolitik nur geringer Spielraum für solche Abkommen auf Welt-ebene eingeräumt, da sie keine zentrale Stelle besitzt, die Marktpreise manipulieren und östlichen Angeboten in flexibler Weise begegnen könnte.

Trotzdem gibt es immerhin neben dem Welt-Kaffee-Abkommen auch noch einige andere Beispiele, deren Anwendung innerhalb marktwirtschaftlicher Prinzipien allerdings beachtlichem Widerstand begegnet.

Schon im Jahre 1933 wurde ein internationales Weizenabkommen geschlossen. 1938 gründeten die Engländer die Marketing-boards, die Franzosen folgten 1954 mit den Caisses de Stabilisation. Es handelte sich fast immer um Preis-stabilisierung. Die Marketing-boards garantierten für Kakao, Baumwolle, Olsaaten und Holz einen wesentlich unter dem Weltmarkt liegenden Preis. Der Unterschied zwischen Ein-und Verkaufspreis wurde sodann in eine Kasse eingezahlt, die bei Preisschwankungen und für Anbauverbesserungen in Anspruch genommen wurde. Die französischen Caisses de Stabilisation garantierten Höchstpreise. Dies führte zur Überproduktion und zur Verminderung der Qualität.

Professor Dr. Friedensburg, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, empfiehlt ebenfalls einen Ausgleichs-fonds, der sich nach seiner Auffassung — gestützt auf die Erfahrungen der letzten Jahre — auf etwa 600 Millionen Dollar belaufen müsse

Das Kernproblem lautet: Wie können Produzenten und Konsumenten aller betroffenen Länder dazu gebracht werden, ein Rohstoiiabkommen zu verhandeln, zu unterzeichnen und einzuhalten? Angesichts der in den Römischen Verträgen von 1958 grundgelegten protektionistischen Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, deren erklärtes Ziel es ist, hohe Preise auf gesicherten Absatzmärkten zu erzielen, ist es kaum möglich, die Forderungen der Rohstoffe und Agrarprodukte exportierenden Entwicklungsländer mit dem Hinweis auf die bei uns geltende freie Marktwirtschaft zu beantworten. Die westlichen Länder und ihre wirtschaftlichen Zusammenschlüsse betreiben planwirtschaftliche Agrarpolitik. Die zunehmende Agrarproduktion in den Industrieländern läßt die Rücksichtnahme auf die Existenzsorgen der Entwicklungsländer vermissen und erhöht zugleich die Sorgen der Industrieländer, die die landwirtschaftliche Überproduktion laufend finanzieren müssen. Ein zusätzlicher Agrarexport muß den Entwicklungsländern eröffnet werden. Dies erfordert eine gemeinsame Konjunkturpolitik der großen Wirtschaftsräume. Der Westen ist selbst daran interessiert, eine einheitliche Handelspolitik zu schaffen mit dem Ziel, das Handelsdefizit zwischen Industrie-und Entwicklungsländern zu senken. Klaus Billerbeck fordert daher zutreffend, daß eine systematische Hilfe zur Erreichung dieses Zieles zu den Instrumenten der deutschen Entwicklungspolitik gezählt werde Es werden vier Aufgabenbereiche dieses Instruments aufgezählt: 1. Die Förderung der Einfuhr aus Entwicklungsländern. Hierzu gehört die immer wieder verlangte Senkung von Zöllen und Verbrauchsteuern und der Abbau mengenmäßiger Beschränkung von Produkten aus Entwicklungsländern. Ohne eine Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft kann aber die Förderung der Einfuhr aus Entwicklungsländern nicht wesentlich vorangetrieben werden. Schließlich gehört dazu die Mitarbeit an Rohstoffabkommen, die die Produktion erfassen müßten.

2. Förderung der Ausfuhr der Entwicklungsländer. Hierzu gehört insbesondere die Verlagerung deutscher Produktionsstätten in Entwicklungsländer sowie die Förderung des Fremdenverkehrs.

3. Die Förderung des Handels zwischen den Entwicklungsländern. Vorgeschlagen werden hierzu Hilfsmaßnahmen für einen vermehrten Austausch von Nahrungs-und Genußmitteln, Brennstoffen, industriellen Rohstoffen und industriellen Fertigerzeugnissen unter den Entwicklungsländern, zwischen denen auch die Land-, See-und Luft-verbindungen ausgebaut werden sollen.

4. Die Förderung der Integration von Entwicklungsländern zu größeren Wirtschaftsräumen; Beratung und technische Hilfe für die Organisation gemeinsamer Dienste und Einrichtungen.

Ludwig Erhard hat auf dem Lateinamerika-Wirtschaftstag anläßlich der Hannover-Messe 1962 zwar Abnahmegarantien und Rohstoff-abkommen nicht in Bausch und Bogen verdammt, jedoch auf die großen Gefahren hingewiesen, „daß falsche Strukturen künstlich am Leben erhalten werden“ So sind auch die Folgen der Außenhandelspolitik in ihrer unmittelbaren Wirkung auf die Sozial-und Wirtschaftskulturen der Entwicklungsländer zu sehen In Punta del Este kam dies klar zum Ausdruck, als die Ziele der „Allianz für den Fortschritt“ formuliert wurden. Dazu gehört die Verstärkung der Ausfuhr nach Übersee und die Umstellung der Produktion auf möglichst verschiedenartige Güter, damit die Länder nicht so sehr von den Marktbedingungen für einzelne Rohstoffe abhängig sind. Dazu gehören auch die allgemeine Steigerung der Produktivität und die Hebung der landwirtschaftlichen Produktion. Unüberhörbar sind jedoch die Forderungen, die sich auf die strukturellen Schwächen der Entwicklungsländer beziehen

Die Entwicklungsländer sehen sich bei ihren handelspolitischen Entscheidungen einer doppelten „politischen Schizophrenie“ gegenüber:

1. ihrer eigenen, die darin besteht, Markt-und Preisgarantien zu verlangen, ohne einer kostengerechten, arbeitsteiligen Produktion und der Fortentwicklung der Sozial-und Wirtschaftsforschungen zustimmen zu wollen; 2.der westlichen „Schizophrenie“, die darin besteht, „Marktwirtschaft“, eine liberale, weltoffene Handelspolitik und eine großzügige Entwicklungspolitik programmatisch zu verkünden und gleichzeitig den Agrarprotektionismus und die Einfuhrhemmnisse gegenüber bestimmten Ländern oder Ländergruppen mit immer komplizierteren Mechanismen aufrechterhalten zu wollen.

Aus innerpolitischen Gründen weisen die Politiker der Entwicklungsländer naturgemäß lieber auf die Widersprüche des Westens hin, dessen Handelspolitik sie die „Schuld" an ihrem Elend zuschreiben. Da die Anklage zum Teil zutrifft, muß damit gerechnet werden, daß die handelspolitischen Bemühungen der Entwicklungsländer immer mehr in den Sog des Ostblocks geraten, falls nicht „die Einfuhrhemmnisse auch gegenüber den arbeitsintensiven gewerblichen und industriellen Erzeugnissen der Entwicklungsländer entschlossen abgebaut werden"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe hierzu: Anton Antweiler, Entwicklungshilfe, Versuch einer Theorie, Trier 1962.

  2. Siehe hierzu: Lutz Köllner, Zwischenbilanz der Entwicklungshilfe, in'Politische Studien XIV, März/April 1963, S 153 ff

  3. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1962, Stuttgart 1963

  4. a. a O., S. 138.

  5. In: Justice dans le Monde, Bd. 4, 1962/63, Heft 1, Sept. 1962, S. 77— 100.

  6. Yves Lacostes, Os passes subdesenvolvidos, Säo Paulo 1961, S. 84.

  7. R. F. Behrendt, Europa und die Entwicklungsländer. Schriftenreihe der Friedrich-Naumann-Stiftung zur Politik und Zeitgeschichte, Nr. 2, Stuttgart 1961, S. 47.

  8. Hans-Joachim Winkler, Die Entwicklungisländer, Berlin 1961, S. 13 (Zur Politik und Zeitgeschichte, Heft 2).

  9. Yves Lacostes, a. a. O.

  10. R. F. Behrendt, a. a. O., S. 46.

  11. Hans-Joachim Winkler, a. a. O.

  12. Mario Zanartu, Necesidad de Inmigrantes para el desarrolio economico de America Latina, Genf 1963, S 9 und 81.

  13. Anuärio Estatistico do Brasil, Bd XXIII. Rio de Janeiro 1962, S 197.

  14. Heinrich von Siegler, Hilfe für die Entwicklungsländer, Heft 10 der Schriftenreihe des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, Bonn 1960, S. 5.

  15. Siehe: „Völker im Aufbruch“, Beilage der Deutschen Tagespost, Folge 2, Februar 1964, S. 8.

  16. Vergl. z. B. Richard Kerschagl, Wirtschafts-und 1962esschgftshilfe für Entwicklungsgebiete, Wien

  17. Siehe hierzu und für die folgenden Statistiken: Frente al desarrollo economico, UNIPAC, Brüssel 1961, (Bericht über den Weltkongreß der UNIPAC in Santiago de Chile, September 1961), S. 42 ff., in: Joaquim Undurraga, Panorama del Subdesarrollo, S. 35 — 86.

  18. a. a. O.

  19. a. a. O., S 45.

  20. a a. O., S 47.

  21. a. a. O., S. 48.

  22. a. a. O., S. 49.

  23. a. a. O., S. 52.

  24. a. a. O., S. 54/55.

  25. a. a. O., S. 60.

  26. R. F. Behrendt, a. a. O., S. 40.

  27. Siehe hierzu: Fritz Sternberg, Wer beherrscht die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts?, DTV, Bd. 168, S. 21 ff.

  28. In: Offene Welt, Nr. 57, 1958, S. 488.

  29. In: Die politische Meinung, Mai 1957, S. 28.

  30. Zitiert in: Wolfgang Rieger, Wirtschaftswunder für farbige Völker. Hamburg, 1961, S. 99.

  31. Hellmut Kalbitzer, Entwicklungsländer und Weltmächte. Frankfurt/M 1961, S. 125/126.

  32. Matthias Schmitt, Partnerschaft mit Entwicklungsländern, Stuttgart 1960, S. 24.

  33. Sowjetideologie heute, Bd. II, Wolfgang Leonhard: Die Politischen Lehren, Frankfurt 1961, S. 82 ff.

  34. a. a. O„ S. 86.

  35. Fritz Sternberg, a. a. O„ S. 122/123

  36. a. a. O.. S 178.

  37. Gotthold Rhode, Politische und soziale Probleme einer Integration in den Ostblockländern Ostmitteleuropas, in: Ostblock, EWG und Entwicklungsländer, herausgegeben von Erik Boettcher, Stuttgart 1963, S. 47.

  38. a a. O„ S 47.

  39. a. a. O., S. 38 — 46.

  40. Siehe hierzu: Der Warschauer Pakt. Dokumente zum Ostrecht, Bd. I, Köln 1962. Auch Bef. II. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe — COMECON und Bd. HI Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, Köln 1962, bringen unentbehrliche Quellen und Analysen zur Beurteilung der Integrationspolitik des Ostblocks

  41. Hans Flein in: Offene Welt, März 1960, S. 81.

  42. Gerhard Fritz, Entwicklungshilfe als Aufgabe, Bonn 1962’, S. 13.

  43. Gerhard Fritz, a. a. O.

  44. Die Welt, 28. 2. 1964.

  45. Joseph M Bochenski und Gerhart Niemeyer, Handbuch des Weltkonimunismus, Freiburg 1958, S 201.

  46. Siehe hierzu: Hans-Joachim Winkler, Die Entwicklungsländer (Zur Politik und Zeitgeschichte, Heft 2), Berlin 1961. Darin: Kapitel IV, Die Bedeutung der Entwicklungsländer für Deutschland, S. 42 ff.

  47. Bulletin des Presse-u. Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 202, 30. 10 1962, S. 1702

  48. Otto Lehovec in: Entwicklungshilfe, Geografische Zeitfragen, Heft 11, Karlsruhe 1962, S. 32.

  49. Bulletin des Presse-u. Informationsamtes der Bundesregierung, a. a. O.

  50. a. a. O.

  51. Frankfurter Hefte, Juni 1961.

  52. zitiert in Wolfgang Rieger, a. a. O., S. 69.

  53. In: „Die Welt" vom 16. 1. 1963.

  54. Siehe: Günther Wagenlehner, Das sowjetische Wirtschaftssystem und Karl Marx, Köln 1960, S. 136.

  55. Sowjet-Orientalist A. A. Gruber in: Meshdunarodnaja, Nr 3, 1959, zitiert in Kurt Müller: Der Ostblock und die Entwicklungsländer, „Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT“, Nr. 28, v. 12. 7. 1961.

  56. Ostprobleme XI, Nr. 4, 20. 2. 1959, S. 103.

  57. A. M. Kowalew, Der Leninsche Grundsatz von der friedlichen Koexistenz zweier Systeme und die Wege zur Lösung der Widersprüche zwischen Kapitalismus und Sozialismus, 1959, zitiert in: Gustav Wetter, Die Sowjetische Konzeption der Koexistenz, Bonn 1959, S. 12.

  58. bei Wolfang Leonhard, a. a. O., S. 84.

  59. Johannes Gaitanides, Westliche Ärgernisse, München 1958, S. 57.

  60. a. a. O„ S. 58.

  61. Wolfgang Leonhard, a. a. O., S. 85.

  62. Nadi Tass-Berichten

  63. Georg Paloczi-Horvarth, Chruschtschow, Frankfurt/M. 1960, S. 291. Siehe ausführlich hierüber die schon erwähnte Schrift von Gustav A. Wetter.

  64. Hans Flein, Sowjetrußland und die Welt von morgen, in: Offene Welt, Heft 11, Nr. 65, März 1960, S. 72 -95.

  65. Politische Studien, XV., Heft 153, Jan. /Febr. 1964, S. 80.

  66. Hierzu allgemein die Schriften von Suzanne Labin.

  67. Verteidigungsminister Malinowskij in: Kon-somolskaja prawda.

  68. Moscow News, 21. 9. 1963, zitiert a. a. O.

  69. Bulletin des Presse-u. Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 55, vom 26. 3. 1963, S. 485.

  70. Warum? — Wieso? — Wieviel? — Aufbau, Förderung in den Entwicklungsländern durch die Bundesrepublik Deutschland, Bonn o. J., Hsg. vom Presse-u. Informationsamt der Bundesregierung, S. 5.

  71. Stefan Sermage, Anti-Gatt, in: Die Politische Meinung, IX, Jan. 1964, S. 12.

  72. Siehe hierzu: Erik Boettcher (Hrsg ), Ostblock, EWG und Entwicklungsländer, Stuttgart 1963, S. VII.

  73. Siehe: United Nations, Directions of International Trades, zitiert in: Hinter dem Eisernen Vorhang, X, 2, Februar 1964, S. II/9.

  74. Zitiert in: Hinter dem Eisernen Vorhang, X, 2, Februar 1964, S. II/8.

  75. Reinhold Biskup, Strategie und Taktik der sowjetischen Koexistenzpolitik auf dem Gebiet des Außenhandels, in: Wirtschaftspolitische Chronik, Heft 1, 1961, S. 26.

  76. a. a. O., S. 29.

  77. Walter Grottian, Die sowjetische Wirtschaftshilfe an bürgerliche Regierungen Asiens in lenininistischer Sicht, in: Moderne Welt, Heft 2, 1959, S. 156 ff.

  78. Siehe hierzu: Werner Glatt, Die Entwicklungshilfe in der Auseinangersetzung zwischen Ost und West, in: Ostblock, EWG und Entwicklungsländer, S. 145— 166.

  79. Econotnic Development in Burma 1951— 1960, Twentieth Century Fund, New York 1962, S. 539 f zitiert in: Hinter dem Eisernen Vorhang X, 21 Februar 1994, S. 1/8.

  80. Janos Horvath, Moskaus Entwicklungshilfe, in Hinter dem Eisernen Vorhang X, 1, Januar 1964, S. 1/14. Edward Taborsky, Moskaus Entwicklungshilfe: Die Rolle der Satellitenstaaten, in: Hinter dem Eisernen Vorhang X, 2, Februar 1964. S. H/l—II/9.

  81. Janos Horvat, a. a. O., S. 1/12.

  82. Edward Taborsky, a. a. O., S. II/8.

  83. Agency for International Development. Zitiert in: Hinter dem Eisernen Vorhang I, 1, Januar 1964, S. I/II.

  84. Mindestschätzung der Zahl der Personen, die auf monatlicher oder längerer Vertragsbasis arbeitens ausgenommen Personen, die lediglich mit der Anknüpfung von Handelsbeziehungen befaßt sind oder eine militärische Funktion ausüben. Die Zahlen wurden (nach oben oder unten) auf 5 abgerundet.

  85. Eugenio Gudin, Porque a Cepal näo merece fe, in: O Globo, Rio de Janeiro, 20 12 1963, S 2.

  86. a. a. O., S. 25.

  87. Bei Fritz Sternberg, a. a. O., S. 210.

  88. Matthias Schmitt, a. a. O., S. 70.

  89. Europäische Hefte, Nr. 14, Winter 1963/64, Die EWG und Lateinamerika, Luxemburg, S. 18.

  90. F. K. Vialon, a. a. O.

  91. Lehhovec, a. a. O., S. 14.

  92. Michael Heltig, Handelspolitik und Entwicklungsländer, in: Außenpolitik XII, 1, 1961, S. 16— 23.

  93. Pietro Quaroni, Politische Probleme der Gegenwart, Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Heft 48, Bonn 1960, S. 66.

  94. Warum? - Wieso? - Wieviel?, a. a. O„ S. 2.

  95. Bei Matthias Schmitt, a. a. O., S. 69.

  96. Alwin Münchmeyer, in: FAZ vom 20. 8. 1960, Entwicklungspolitik ohne Konzeption.

  97. Siehe zum Beispiel Prof. Dr. Jacobs anläßlich der 25. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher Wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, Hamburg, 1— 2/6/1962, in: Tages-dienst des Informations-Funks vom 5. 6. 1962, Meldung Nr. 0506— 050.

  98. In der angeführten Meldung des Informations-Funks vom 5. 6. 1962.

  99. In der zitierten Informations-Funkmeldung vom 5 6 1962. Siehe über die verschiedenen Vorschläge zur Lösung des Rohstoffproblemes in G. Fritz, a. a O., S. 175— 196.

  100. Klaus Billerbeck, in: Für Sie gelesen, Bonn 1963, Nr. 4, S. 10— 14.

  101. Lateinamerika-Wirtschaftstag, Tagungsbericht'Hannover-Messe, 1962. S. 50.

  102. Siehe hierzu Referate und Diskussionen in: Lateinamerika und Europa, Köln 1963.

  103. Fritz M. Meyer, Illusionäre Politik der Entwicklungshilfe, Geschäftsbericht der Mittelrheinischen Kundenkreditbank, Koblenz 1960. Auch: Walter Scheel, Industrialisierung in den der EWG assoziierten Ländern Afrikas. Per Federspiel, Auf dem Wege zur Weltwirtschaft. (Beide in dem schon zitierten Werk, Europa und die Entwicklungsländer).

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Hermann M. Görgen, Dr. phil., Prof., geb. 23. Dezember 1908 in Wallerfangen/Saar, war lange Lehrstuhlinhaber an einer brasilianischen Universität und als Bundestagsabgeordneter Lateinamerika-Referent der CDU/CSU u. stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises für Entwicklungshilfe der Bundestagsfraktion, dieser Partei. Er ist Präsident des Latein-Amerika-Zentrums e. V., Bonn, sowie der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft e. V., Bonn, und mit Öffentlichkeitsarbeiten und Projektbearbeitung in Lateinamerika betraut.