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Max Weber: Soziologe und Politiker. Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages am 21. April | APuZ 17/1964 | bpb.de

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APuZ 17/1964 Max Weber: Soziologe und Politiker. Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages am 21. April

Max Weber: Soziologe und Politiker. Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages am 21. April

Ernst Maste

„Lesen Sie Max Weber, lesen Sie immer wieder Max Weberl Alles, was bei Ihnen richtig ist, steht schon bei Max Weber, und das andere, das treibt er Ihnen schon aus." So gesagt durch einen Hochschullehrer zu einem Kollegen, um 1950 bei einer Zusammenkunft von Soziologen und Anthropologen: freundschaftlich-scherzhaft gemeint und vom Angesprochenen auch so aufgetaßt. Das Werk, dem dieser Hinweis galt — das Werk, das Max Weber in wenig mehr als einem Vierteljahrhundert aulgetürmt hat —, liegt in unserer geistigen Landschaft „wie ein zerklüftetes Gebirgsmassiv" und wird, was auch immer die Kritik vorgebracht hat und noch vorbringen wird, Bestand haben. Als sein Urheber noch ein junger Anfänger war, haben Altmeister ihrer Wissenschaften, wie Theodor Mommsen und Georg Friedrich Knapp, seine überragenden Fähigkeiten erkannt. Später mehren sich die dezidierten Zustimmungen, und man findet sie ausgesprochen durch Männer, die hohe Ansprüche zu stellen berechtigt waren. So hat Friedrich Meinecke in Max Weber unter den deutschen Gelehrten seiner Generation den einzigen gesehen, „den man ohne Vorbehalt genial nennen konnte" Adolf v. Harnack sagte 1920 zu Theodor Heuss, Weber sei für Jahrzehnte in der Gelehrtenwelt die Persönlichkeit mit der stärksten „Rezeptionskraft" gewesen und habe dabei „auf alle Dinge den eigenen Reim" gemacht „Wer durch seine Einflußsphäre gegangen ist", so urteilte der Nationalökonom Joseph Schumpeter, „ist für alle Zukunft klarer und gesünder geworden" Schließlich hat noch 1958 Karl Jaspers, dem gewiß niemand eine reichliche Verwendung des Superlativs nachsagen wird, Max Weber ohne jede Einschränkung den „größten Deutschen unseres Zeitalters“ genannt Gebührend gewürdigt wird Weber inzwischen auch im Ausland, so in den USA, wo ein so namhafter Vertreter des Faches wie Talcott Parsons zu einem seiner Wegbereiter geworden ist.

Leben und Werk

Geboren am 21. April 1864 in Erfurt als Sohn eines späteren Berliner Stadtrates und nationalliberalen Parlamentariers, hat Weber, als er—achtzehnjährig — zur Universität ging, das Rechtsstudium gewählt, diesem Fach aber Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie hinzugefügt; der Zug zum Polyhistor zeichnet sich schon in dieser Frühzeit ab. Nachdem er noch vor der juristischen Promotion auch auf agrarhistorischem Gebiet gearbeitet hat. untersucht er im Auftrage des Vereins für Sozialpolitik, danach noch einmal für den evangelisch-sozialen Kongreß, die Lage der ostelbischen Landarbeiterschaft. 1893 in Berlin Professor als Jurist, übersiedelt er 1894 —jetzt Nationalökonom — nach Freiburg und 1897 für das gleiche Lehrfach nach Heidelberg. Hier befällt ihn, wohl durch Überarbeitung, eine Nervenerkrankung; er stellt die Lehrtätigkeit ein und gewinnt damit für die Jahre der Genesung die Muße zu völlig ungestörter wissenschaftlicher Arbeit. Bei Kriegsbeginn 1914 wiederhergestellt, ist er als Reserveoffizier in der Ver-waltung der Heideibergei Lazarette tätig, lehrt 1918 vorübergehend in Wien und kommt 1919 als Nachfolger Lujo Brentanos ar die Universität München. In München erliegt er am 14. Juni 1920 im Alter von 56 Jahren einer Lungenentzündung.

Seine Lebensgefährtin, Marianne Weber, seit den neunziger Jahren eine der Führerinnen der Frauenbewegung und erst 1954 verstorben, hat seine Biographie geschrieben Ebenfalls um Jahrzehnte überlebt hat ihn sein jüngerer Bruder Alfred Weber, der auch die Soziologie durch bedeutsame Leistungen bereicherte.

Bei Max Webers unerwartetem Heimgang war das literarische Werk in Zeitschriften, Sammelwerken und Tagungsberichten weit verstreut, soweit es überhaupt im Druck vorlag. Wichtige Partien, so einen Teil des Hauptwerkes „Wirtschaft und Gesellschaft" und die „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie", hat Weber selbst noch für den Druck fertiggestellt. Die Sicherstellung und Ordnung des literarischen Nachlasses ist wesentlich das Verdienst von Marianne Weber. Heute ist das monumentale Gesamtwerk voll überschaubar, und es fehlt weder an Neuauflagen der Hauptteile noch an Auswahlbänden

Interessant ist in der Reihe der neueren Weber-Publikationen der Versuch, die „Staatssoziologie" — so der Titel einer Münchener Vorlesung im letzten Lebensjahr — zu rekonstruieren; der Herausgeber, Johannes Winckelmann, hat den vorliegenden authentischen Schriften einige Abschnitte entnommen und sich für die

Lücken auf Kollegnachschriften gestützt Dem gleichen Weber-Kenner wird ein Sonderdruck des Einleitungskapitels aus „Wirtschaft und Gesellschaft" verdankt, betitelt „Soziologische Grundbegriffe" Ausführungen, über die Eduard Baumgarten geurteilt hat, daß sie „in der gesamten soziologischen Literatur der Welt ihresgleichen nicht haben"

Die Sekundärliteratur ist kaum abzusehen. Natürlich enthält jede Geschichte der Soziologie ihr Weber-Kapitel, und jede Einführung in das Fach hat Webers Sichtweise zu berücksichtigen. Aber auch in den Handbüchern und Nachschlagewerken, die die Gesellschaftswissenschaft mehr am Rande berühren, erscheint die Leistung dieses Mannes wenigstens im Streiflicht.

Allgemeine Soziologie

Die Soziologie, die „Wissenschaft vom Menschen in der Mehrzahl" (Eugen Rosenstock-Huessy), ist im allgemeinen nicht gerade leicht zugänglich. Von dem Franzosen Henri Poincare stammt das bissige Wort, daß sie die „Wissenschaft der meisten Methoden und der wenigsten Resultate" sei. Eine zunächst etwas verwirrende Vielfalt von Lehrmeinungen und Schulen, Ausgangspunkten und Blickweisen legt den Versuch nahe, jeden einzelnen Vertretrr des Faches einer dieser speziellen Richtun-gen zuzuordnen. Bei Max Weber — und das ist sogleich bezeichnend für ihn — ist eine solche Zuweisung nicht ohne weiteres möglich. Sein System ist, wie Hans Freyer gesagt hat, „synthetischen" Charakters das heißt, es greift über mindestens einige der Grenzen hinweg, durch die man die soziologischen Lehrgebäude in der Regel getrennt sieht.

Das Kennwort, das wohl noch am ehesten zutrifft und sich übrigens bei Weber selbst findet, lautet „verstehende Soziologie“. Sie soll „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären". „Soziales" Handeln ist dabei ein Handeln, das „auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist' Und bei diesem Handeln soll es nur auf den von dem oder den Handelnden subjektiv gemeinten Sinn ankommen, nicht also darauf, ob etwas objektiv Wahres oder ein Wert, der Zustimmung hervorruft, den Zielpunkt abgibt.

Liegt mit dieser Ausschaltung des Objektiven, dieser Beschränkung auf das jeweils subjektiv Gemeinte, ein psychologischer Einschlag vor, so ist von Weber aus doch auch eine Verbindungslinie zur sogenannten „formalen" Soziologie gegeben; und zwar durch seinen Begriff des „Idealtypus". Er ist anwendbar auf ein Handeln oder eine Lebensform, ein Sozial-gebilde oder einen Menschentyp, nur fällt er, als „reiner" Typ, nicht mit einem in der empirischen Wirklichkeit auffindbaren Realtypus zusammen. Gewonnen wird er — nach Weber — durch eine Subtraktion oder Reduktion, und zwar durch das Absehen von zufälligem Bei-werk, besonders den Abzug der irrationalen Motive, der Affekte und Irrtümer Für Weber ist diese im Wege einer Eliminierung erzielte „Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns" nichts als ein „methodisches Mittel"; er will nicht etwa zu einem „Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben“ verleiten. Es mag übrigens naheliegen, von seinem „Idealtypus" eine Linie zu ziehen zu dem — freilich einer Zielmarkierung dienenden — „Modell" -Denken, durch das die neoliberale Nationalökonomie, besonders Walter Eucken, der Historischen Schule dieses Faches die Absage erteilte.

Bedeutet der Grad der Abstraktion, der sich in Webers „Idealtyp" abzeichnet, eine Abwendung von dem in Geschichte oder Gegenwart konkret Gegebenen? Der Absicht nach keineswegs, und im Weberschen Werk tatsächlich auch nicht. Natürlich ist seine Soziologie, im Gegensatz zur an das jeweils einmalige Faktum gebundenen Geschichte, eine „generalisierende" Wissenschaft, und ihre Begriffe sind zunächst „gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhalts-leer" Aber mit diesen Begriffen, so fordert er, ist an das in Geschichte und Kulturwelt Gegebene heranzugehen, kann doch „durch Angabe des Maßes der Annäherung einer historischen Erschenung an einen oder mehrere dieser Begriffe diese eingeordnet werden" Er selbst hat, zumal in der Religionssoziologie und in der Wirtschafts-und allgemeinen Sozialgeschichte, empirisches Detail ausgebreitet in einem in der Soziologie mindestens seiner Zeit durchaus ungewöhnlichen Umfang. Wie in einer Hinsicht der psychologischen, in einer anderen Hinsicht der formalen, so steht er also drittens der historischen 14

Soziologie nahe. Soziologie war für ihn, wie sein Bruder Alfred später feststellte, „eine auf geschichtliche Tatsachen, vergangene oder gegenwärtige, angewandte eigene universelle Art des Fragens und Sehens mit daraus sich ergebenden Methoden" Was dabei in seinem Werk nicht fehlt, ist die geschichtsphilosophische Note. Wohl gerade sie berechtigt dazu, von einer Heidelberger Schule der Geschichtssoziologie zu sprechen, die zuletzt der Nachfolger Alfred Webers auf dem Heidelberger Lehrstuhl, der 1963 verstorbene Alexander Rüstow, repräsentierte.

Was man in Max Webers Soziologie kaum erblickt, sind Kollektivpersonen; er hat es im Grunde immer mit den sozialen Handlungen einzelner Individuen zu tun. Es handelt sich um eine funktionale Betrachtung, die vielleicht an die an den Namen Leopold v. Wieses geknüpfte Beziehungslehre denken läßt. Manches, das sich einem anderen Soziologen als ein nahezu randfestes Sozialgebilde darstellen mag, ist in Max Webers Sicht nur eine „Chance" oder ein Bündel von Chancen, nämlich die Erwartung, daß bestimmte Menschen in einer bestimmten Situation eine bestimmte Verhaltensweise bezeigen. Uberpersönlichen Einheiten so etwas wie ein Ansichsein, eine extrapersonale Existenz, zuzuschreiben — in der Art der Volksgeistlehre oder auch einer anderen Schule —, ist ihm nicht in den Sinn gekommen. So hat er sich auch gegen die sogenannte „organische" Soziologie abgegrenzt, von der er allenfalls einen Beitrag zur „praktischen Veranschaulichung und provisorischen Orientierung" entgegennehmen wollte.

Was er für die sozialwissenschaftliche Arbeit mit größter Entschiedenheit gefordert hat, ist „Wertireiheit“. Diesem Verlangen liegt nicht etwa eine prinzipielle Geringschätzung aller oder irgendwelcher Werte zugrunde, und auch nicht die Vorstellung, das praktische Handeln könne oder solle der Ausrichtung auf Werte entraten. Der Ruf gilt vielmehr einer mit möglichster Strenge durchgeführten Scheidung von Tatsachenfeststellung und wertender Beurteilung, und hier weist Weber der Wissenschaft ausschließlich die mit den Mitteln der Empirie vorgenommene Tatsachenfeststellung zu. über die Geltung oder Nichtgeltung von Werten zu befinden, ist, so schreibt er, „Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungs-Wissenschaft" Eine Erfahrungswissenschaft „vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und — unter Umständen — was er will" Das Eintreten für Ideale ist damit zwar aus dem Bereich der Sozialwissenschaft verwiesen, aber in keiner Weise diskriminiert. Wissenschaftliche Objektivität und Gesinnungslosigkeit, so heißt es ausdrücklich, haben „keinerlei innere Verwandtschaft" So wenig wie der Gesinnungslosigkeit ist der Entscheidungslosigkeit das Wort geredet, denn selbstverständlich weiß Weber, daß nicht in dieser, sondern „in einer nicht abreißenden Kette der bestimmtesten und klarsten ständigen Entscheidungen zwischen den Wertordnungen das bewußt und sinnvoll geführte Leben des einzelnen besteht" (Johannes Winckelmann

Immerhin liegt in der Forderung der Wert-freiheit ein Punkt vor, an dem die an Weber geübte Kritik frühzeitig angesetzt hat und wohl immer wieder ansetzen wird. Oft freilich trifft sie daneben, so vor allem, wenn sie übersieht, daß er es keineswegs abgelehnt hat, Werte zur Diskussion zu stellen. Abgegrenzt hat sich übrigens auch Alfred Weber, der Bruder, in dessen „wertungsgefüllter“ Soziologie „man mit möglichster Objektivität und Härte gegen eigene Wertungen und Wünsche feststellt, wie es mit den Bedingungen für das Entstehen oder die Erhaltung des für wertvoll Gehaltenen steht". Es kann oder soll — nach Alfred Weber — die Analyse selbst „von großer Objektivität gefüllt" sein, „wie die Beurteilung der interessierenden Phänomene genau vom Gegenteil"

Aus der Religionssoziologie

Was das komplexe Werk Max Webers als ein Ganzes betrifft, so ist es durchaus zu Recht mit einem reichgegliederten Gebirge verglichen worden. Relativ wenig bekannt ist, daß er auch in der Musiksoziologie als einer der Bahnbrecher zu gelten hat. Weit häufiger erwähnt wird ein Teilstück seiner Religionssoziologie, und zwar sein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Calvins Prädestinationslehre — im anglo-amerikanischen Puritanismus womöglich noch verschärfter — und der Ausbreitung des Kapitalismus: ein Thema, das auch der Theologe Ernst Troeltsch, der ihm nahestand, behandelt hat. Der Puritaner, der im Sinne Calvins glaubt, daß Gott von vornherein diesen Menschen die ewige Seligkeit, jenen die Verdammnis zugedacht habe, sucht — so wird gesagt — auf seinem irdischen Wege nach Zeichen, die das eigene, durch die göttliche Vorsehung testgelegte Schicksal andeuten könnten. Dabei gelte ihm ein äußeres Wohlergehen im Diesseits, auch oder gerade wenn es materieller Art, ja im Geschäftserfolg ablesbar ist, als Zeichen der Erwähltheit, der ihm bestimmten Erhöhung, und er strebe dieses Wohlergehen nachdrücklich an und suche es noch zu steigern, um des Seelenheils gewiß zu sein und zu bleiben.

Hervorzuheben gegenüber einem Irrtum, der sogar in die wissenschaftliche Literatur Eingang gefunden hat, ist, daß Weber nicht etwa den Kapitalismus als Wirtschaftssystem ge-radezu als ein Erzeugnis des Calvinismus, oder allgemein der Reformation, bezeichnet hat. Wer eine solche Abkunft behauptet oder zu konstruieren versucht, hat kein Recht, sich auf Weber zu berufen, und sollte im übrigen gewisse eindeutig kapitalistische Wirtschaftsweisen in vorreformatorischer Zeit, so etwa in italienischen Städten, nicht übersehen.

Der Hinweis mag dazu anregen, von Weber auf Kar] Marx zurückzublicken. Bekanntlich erscheint bei Marx, als Ergebnis seiner Umkehrung Hegels, das Geistige als Ausfluß oder Folgeerscheinung der materiellen, besonders der wirtschaftlichen Verhältnisse, als auf ihrer Grundlage zu begrenzten Zwecken errichteter „überbau". Weber hingegen ist weithin bemüht, in entgegengesetzter Richtung verlaufende Einwirkungen, nämlich solche der religiösen Sphäre auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Verhältnisse, bloßzulegen. Er ist aber dabei von Einseitigkeit — dem Fehler Marx'— frei und macht kein Hehl daraus, daß auch der „Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung auf das Schicksal der religiösen Gedankenbildungen" als „sehr bedeutend" anzusehen, also insgesamt eine Wechselwirkung, sogar ein „ungeheures Gewirr gegenseitiger Beeinflussungen" festzustellen sei. Eine andere Frage, die in der Literatur mehrfach angerührt wurde, ist die nach der Weber-sehen Eignung zur Behandlung religiöser oder das Religiöse mitbetreffender Problematik, 24 genauer gesagt der Stärke seines „religiösen Organs". Sicherlich lassen die religionssoziologischen Texte, die von seltener Detailkenntnis und virtuoser Zusammenschau zeugen, in ihrer kühl abwägenden Art nicht aut religiöse Ergriffenheit schließen. Doch schoß Othmar Spann, der temperamentvolle Wiener, übers Ziel hinaus, als er feststellen zu sollen glaubte, daß Weber in „religiöser Farbenblindheit" die Religiosität an sich verneine. Sein Vorwurf, daß Weber das „Innere der Religiosität" vernachlässigt habe und „absichtlich am Äußerlichen" hatte- verrät mangelndes Ver-ständnis für die besondere religionssoziologische Blickweise, die nicht dem Glaubensgut an sich, sondern seinen Beziehungen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gilt. Doch ist Webers „überall durchscheinender Positivismus" noch in jüngster Zeit auch von einem ruhigeren Betrachter bemängelt worden. Aber man hat selbst bei einem Denker und Forscher dieses Ranges den Geist der Epoche zu bedenken, in die er sich hineingestellt sah. Und zu dem Werke Max Webers Werte hinzu-zubringen, die man bei ihm vermißt, bleibt gewiß unbenommen.

Politik: Theorie und Praxis

Max Weber hat der Politik eine Eigengesetzlichkeit zugestanden. Durch die Unterscheidung von . Gesinnungsethik“ und . Verantwortungsethik“, die er im Zusammenhang mit dem Wertfreiheitsproblem vorgebracht und später in seinen Vortrag „Politik als Beruf" ausgenommen hat, hat er den Vorwurl des Machiavellismus herausgefordert, der auch nicht ausgeblieben ist. Für ihn ist Ethik nicht das einzige, was in der Welt „gilt") er sieht daneben andere „Wertsphären", deren Werte unter Umständen nur dadurch zu realisieren sind, daß man — nach dem Maßstab der Ethik — „Schuld" auf sich nimmt. Und „dahin", so heißt es, „gehört die Sphäre politischen Handelns" Der politisch Handelnde habe — „verantwortungsethisch" — die Folgen seines Tuns oder Unterlassens zu bedenken er dürfe sich nicht „gesinnungsethisch“ durch die Gebote einer „absoluten“ Ethik leiten lassen, die — ohne Erwägung der möglichen oder wahrscheinlichen Konsequenzen — „den Erfolg Gott anheimstellt"

Es muß kaum gesagt werden — und gilt natürlich auch gegenüber jedem anderen in dieser knappen Übersicht berührten Teilstück des Weberschen Lehrgebäudes —, daß durch eine Abkürzung, wie die hier gebotene, die Schärte der Begriffsbildung und die Breite der Argumentation, wie man sie im Originalwerk findet, in Wegfall kommen. Im übrigen liegt über den Problemkomplex, der ja sogleich an das Stichwort „Staatsräson" denken läßt, eine Li-teratur vor mit Standardwerken wie dem berühmten Buch Meineckes und nicht zuletzt der extremen Position, die der durch Weber als Persönlichkeit gewürdigte, aber in der Sache abgelehnte Friedrich Wilhelm Foerster eingenommen hat. Daß es für den Politiker darauf ankomme, das in gleicher Weise sittlich wie politisch Richtige herauszufinden, hat — in ausdrücklicher Kritik an Weber — Rudolf Smend betont, um hinzuzufügen, es sei geradezu ein „Krankheitszustand", „wenn man in einer so lebenswichtigen Tätigkeit wie der Politik daran verzweifelt, gleichzeitig das sachlich Richtige und das sittlich Richtige tun zu können und zu sollen" S Soweit Webers Begriff der Gesinnungsethik eine Gleichsetzung von christlicher Ethik und Bergpredigt impliziert, hat ihm in jüngster Zeit Ferdinand A. Hermens widersprochen

Wie in jedem anderen von ihm betretenen Felde, so ist Weber auch in der Staatssoziologie bemüht gewesen, durch Sichtung des historischen Materials zu einer Typologie zu gelangen. Was er ermittelte, waren „drei reine Typen der legitimen Herrschaft“. Es sind dies die „legale" Herrschaft („kraft Satzung"), die „traditionelle" Herrschaft („kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten“) und die „charismatische" Herrschaft („kraft affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben") Das Vorkommen von Mischformen ist zugegben, und es ist hervorgehoben, daß bei allen Herrschaftsverhältnissen „für den kontinuierlichen Bestand höchst entscheidend" die Existenz eines „Verwaltungsstabes" sei

„Verwaltungsstab" dieses allgemeinen Begriffes, auch „Organisation" genannt, ist nicht identisch mit „Bürokratie"; diese findet man vielmehr der „legalen" Herrschaft zugeordnet.

Wesentlich „legale" Herrschaft — bei möglichem Einschlag eines anderen, zumal des „traditionellen" Elementes — ist natürlich der „rationale" Staat, den es bisher nur im Okzident gegeben hat. Diesen Staat, als „anstaltsmäßigen Herrschaftsverband" mit dem Monopol „legitimer Gewaltsamkeit" seine Verwaltung und das moderne Parteien-und Parlamentswesen, hat Weber besonders unter die Lupe genommen. Wenn er übrigens, aufs Ganze gesehen, eine fortschreitende „Rationalisierung"

erkennt — man darf dies wohl als die Grund-note seines Geschichtsbildes bezeichnen —, so ist es offenbar ihm persönlich einem solchen Trend gegenüber aut die Bewahrung des möglichen und vertretbaren Höchstmaßes an individueller Freiheit angekommen. Denn der Rationalisierungsprozeß als solcher ist nicht mit der Verwirklichung oder Sicherung der Freiheit gleichzusetzen, ja er kann „zum Grabe der Freiheit werden, wenn nicht die vom Freiheitsprinzip bestimmte menschliche und mitmenschliche Vernünftigkeit es vermöchte, , der Freiheit eine Gasse’ offenzuhalten" (Johannes Winckelmann

Was den im Lichte der Anforderungen, die der moderne rationale Staat stellt, idealen Politiker betrifft, so sieht hier Weber drei „Qualitäten" als „vornehmlich entscheidend" an: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. „Leidenschaft" ist definiert als „leidenschaftliche Hingabe an eine , Sache’, an den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist" Das „Augenmaß" ist gegeben mit der „Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen", das heißt „Distanz zu den Dingen und Menschen" zu wahren Nun ist aber bis hierhin alles nur Theorie oder Typologie oder Postulat, und es drängt sich die Frage auf, ob dieser Forscher und Denker überhaupt ein Politiker gewesen ist. Er hat gewiß zu gelten einmal als einer der maßgeblichen Wiederbegründer der deutschen Politischen Wissenschaft, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durch den soziologie-blinden staatsrechtlichen Positivismus verdrängt worden war, zum andern als ein Klassiker der politischen Journalistik. Aber Politiker im engeren und eigentlichen Wortsinne ist man gerade in seiner Sicht allein dadurch, daß man einen vielleicht kleinen, aber immerhin effektiven Anteil an der Macht — genauer:

der Macht im Staate — besitzt oder zum mindesten erstrebt, was übrigens einen „Machtinstinkt" — auch diese nicht sehr ansprechende Vokabel findet man — voraussetzt. Der Frage nach Webers Eignung zur Politik ist ein so berufener Freund und Beobachter wie Karl Jaspers ziemlich gründlich nachgegangen, um dabei auch einigen Bedenken gerecht zu werden. Er spricht von einer „verlorenen Möglichkeit der Führerschaft Max Webers", über dessen „Treffsicherheit" im politischen Urteil die Rückschau freilich keinen Zweifel beläßt; aber die Größe des „der durch Schicksal Politikers, und Umstände nicht zur Geltung kam", ist doch nur die eines „Raffael ohne Arme" Zweimal hat Weber dem großen politischen Geschehen nahegestanden: als Mitglied des Gremiums, in dem im Dezember 1918 unter dem Vorsitz von Hugo Preuß die Grundsatzfragen der zu entwerfenden republikanischen Reichsverfassung durchgesprochen wurden und im Jahre darauf als Berater der deutschen Friedensdelegation für Versailles. Ein gewisses Gewicht kommt seiner Verbindung mit Friedrich Naumann zu, die in die neunziger Jahre zurückgeht. Sodann hat er dem Heidelberger Arbeiter-und Soldatenrat von 1918 angehört und ist als Wahlredner für die Deutsche Demokratische Partei tätig gewesen, in der eine ihm in Frankfurt zugedachte Kandidatur zur Nationalversammlung von 1919 nicht zustande kam. Vielfach zugeschrieben wird ihm, als dem angeblichen Urheber, die Präsidentenwahl durch das Volk, wie sie in die Weimarer Verfassung ausgenommen worden ist. Er hat sie tatsächlich mit Nachdruck vorgeschlagen, doch möchte neuerdings Wolfgang J. Mommsen die „Auffassung, daß sich Hugo Preuß in erster Linie von Max Weber dazu habe bestimmen lassen, die plebiszitäre Wahl des Reichspräsidenten durchzusetzen, nicht uneingeschränkt aufrechterhalten''

Das andere also ist Literatur: aber Literatur von einem Range, der in diesem Felde hierzulande selten erreicht worden ist. Die „Gesammelten Politischen Schriften", 1921 erschienen und später lange vergriffen, liegen seit einigen Jahren in einer Neuauflage vor, für die Theodor Heuss eine Einführung schrieb Als eine sehr wertvolle Ergänzung anzusehen ist der Bericht „Max Weber und die deutsche Politik 1890— 1920" von Wolfgang J. Mommsen der das Werden und die Wandlungen der politischen Auffassungen Webers in allen Phasen festhält. Das Bild, das Mommsen durch die Auswertung aller erreichbar gewesenen Unterlagen erarbeitet hat, ist komplizierter, als das zuvor allein durch die Originalschriften gegebene. Interessant ist dabei, daß der Verfechter der Verantwortungsethik in gewissen Situationen nicht gezögert hat, doch der Gesinnungsethik den Vorzug zu geben

Was die deutsche Politik der Vorkriegszeit betrifft, so hat es Weber abgelehnt, sie vom ethischen Standpunkt aus zu kritisieren. Sie war, so schreibt er Ende 1918, „frevelhaft, nicht, weil sie Kriegspolitik, sondern weil sie leichtfertige Politik und verlogen war. Unsere Politik vor dem Kriege war dumm, nicht: ethisch verwerflich" Der sie letztlich zu verantworten hatte, Wilhelm II., ist für Weber schon 1892 ein „absolut unberechenbarer Faktor" gewesen. Uber den Kaiser, so lautet eine briefliche Äußerung aus diesem Jahre, „gewinnen immer mehr die ungünstigsten Meinungen an Terrain. Er behandelt offenbar die Politik lediglich unter den Gesichtspunkten eines originellen Leutnants ... Die ... Querköpfigkeiten und das unheimliche Machtgefühl, welches ihn beseelt, bringt eine solch unerhörte Desorganisation in die höchsten Instanzen, daß deren Rückwirkung auf die Verwaltung als Ganzes wohl nicht ausbleiben kann . . . Wie durch ein Wunder entgehen wir bis jetzt noch diplomatisch wirklich ernsten Situationen" In eben diesen neunziger Jahren betont Weber die Unhaltbarkeit des ostelbischen Großgrundbesitzes und will für Ostdeutschland den „Schwerpunkt" auf jene „Bauernkolonisation" legen, die — was er nicht mehr erleben sollte — nicht einmal im Deutschland der Zwischenkriegszeit hat durchgesetzt werden können. Immer wieder erfaßt sein Blic die Zusammenhänge und mit ihnen die Erfordernisse, immer wieder aber auch die Grenzen des Erreichbaren. In heutiger Rückschau fesselt sein Urteil auch noch dort, wo wir den Akzent mehr oder weniger zu verschieben wünschen.

Aus den politischen Schriften

In den „Gesammelten Politischen Schriften" nehmen Texte aus der Zeit von 1915 bis 1919, den Jahren intensivster Teilnahme am politischen Geschehen, den breitesten Raum ein. Aus guten Gründen aber ist an die Spitze gestellt eine Publikation aus dem vorigen Jahrhundert, und zwar die Freiburger Antrittsrede des Dreißigjährigen über das Thema „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik". Hier beginnt Weber mit exakten Daten aus den deutschen Ostprovinzen — deren ökonomische und soziale Zustände er unter Anwendung recht moderner Methoden erkundet hatte —, um von da zu den generellen Aufgaben national-staatlicherWirtschaftspolitik überzuleiten. Deutlich spricht sich schon hier der dem Machtstaatsdenken und der machtstaatlichen politischen Praxis zugewandte Realismus aus, für den er bis in seine letzten Lebensjahre hinein immer wieder leidenschaftlich plädiert hat. Es ist dies ein Realismus, der auf das entschiedene Bekenntnis zu der Nation und ihrer Berufung zurückgeht, darüber hinaus aber nichts mit Emotionen zu tun hat, vielmehr sich nüchtern, ja hart ausnimmt. Der heutige Leser wird sich — mindestens streckenweise — des Unbehagens kaum erwehren.

„Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen. Machtkämpfe sind in letzter Linie auch die ökonomischen Entwicklungsprozesse; die Machtinteressen der Nation sind, wo sie in Frage gestellt sind, die letzten und entscheidenden Interessen, in deren Dienst ihre Wirtschaftspolitik sich zu stellen hat; die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft ... Und der Nationalstaat ist ... die weltliche Machtorganisation der Nation, und in diesem Nationalstaat ist für uns der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung die , Staatsraison'."

Wer aber soll und kann, so fragt er dann, die „Staatsraison" durchsetzen? Und damit ist er erstmals bei dem Thema, das für ihn ein oder sogar das Zentralproblem politischer Gestaltung bleiben sollte: der Führerauslese im Staate. Demokrat im strengen Wortsinne, etwa ein Jünger Rousseaus, ist er zu keiner Zeit gewesen; das ausdrückliche Bekenntnis zur Volkssouveränität hat es für ihn auch nach 1918 nicht gegeben. Daß in jedem System nur einzelne effektiv die Macht innehaben, steht für ihn fest; er prüft von Fall zu Fall, wie die Machthaber ins Amt gelangen, ob sie — als Schicht oder als Individuen — dessen Anforderungen gewachsen sind und welches die Methode ist oder sein kann, ihre Nachfolger zu erwählen.

„Bis in die Gegenwart hinein", so sagt er in jenem Deutschland der neunziger Jahre, „hat im preußischen Staat die Dynastie politisch sich auf den Stand der Junker gestützt." Dieser Stand ist nicht ohne Verdienst, hat aber doch „die Macht nicht immer so gebraucht, wie er es vor der Geschichte verantworten kann, und ich sehe nicht ein, weshalb ein bürgerlicher Gelehrter ihn lieben sollte" Aber das Bürgertum? Es ist in „breiten Schichten" politisch unreif; „der Grund liegt in seiner unpolitischen Vergangenheit, darin, daß die politische Erziehungsarbeit eines Jahrhunderts sich nicht in einem Jahrzehnt nachholen ließ und daß die Herrschaft eines großen Mannes nicht immer ein Mittel politischer Erziehung ist" „An der politischen Erziehung unserer Nation mitzuarbeiten", ist nun „das letzte Ziel auch gerade unserer Wissenschaft" Das Werk aber des „großen Mannes" — Bismarcks — „hätte doch nicht nur zur äußeren, sondern auch zur inneren Einigung der Nation führen sollen, und jeder von uns weiß: das ist nicht erreicht" Nicht übersehen ist der Anspruch der Arbeiterschaft. Weber bejaht deren ökonomischen und sozialen Aufstieg, spricht dem jungen Stande indessen die Eignung zur Übernahme politischer Verantwortung zunächst ab. So ist es im ganzen kein sehr freundliches Bild, das diese Antrittsvorlesung entrollt. Den pessimistischen Grundton findet man freilich nicht nur in dieser Frühzeit.

Auf zwei eindringende Analysen der Zustände im Rußland von 1906 folgen in dem Bande die Aufsätze aus der Kriegs-und Nachkriegszeit. In „Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart" sieht man den Rückversicherungsvertrag, der noch heute für manche Bismarck-Verehrer der Weisheit letzter Schluß ist, recht zurückhaltend beurteilt; im wesentlichen dient dieser Beitrag aus dem Jahre 1915 einer ersten Distanzierung von den damals in Deutschland umlaufenden Annexionsforderungen. Hier wird der Reichsgründer gegen die Alldeutschen und ihr Gefolge ins Feld geführt. „Wenn etwas die sachlichen Ziele der Bismarckschen Politik auszeichnete, so war es das Augenmaß für das Mögliche und politisch dauernd Wünschbare, gerade auf den höchsten Höhen berauschender militärischer Erfolge ... Es widerstreitet auch heute den deutschen Interessen, einen Frieden zu erzwingen, dessen hauptsächliches Ergebnis wäre, daß Deutschlands Stiefel in Europa auf jedermanns Fußzehen ständen" Im übrigen erinnert der Aufsatz an ein inzwischen halb oder ganz vergessenes Intermezzo aus der ziemlich reichhaltigen Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, und zwar die in der Kaiserzeit von deutscher Seite in kaum rühmlicher Weise erwiesenen „polizeilichen Gefälligkeiten, welche der russischen Regierung im Kampfe gegen ihre inneren Gegner von uns dargeboten wurden". Sie „entsprangen", so urteilt Weber offenbar zu Recht und ohne Rückgriff auf die Ethik, „nicht einem eigenen sachlichen Interesse unseres Staates und waren kein Mittel, auch nur den Respekt der russischen Machthaber uns zu erhalten. Deshalb waren sie unklug. Bei den Reformpolitikern stärkten sie den Glauben: Deutschland sei der eigentliche Feind einer freiheitlichen Entwicklung Rußlands, ja sogar: es würde gegebenenfalls gegen eine solche intervenieren"

Weber, der — als ein wiederholt Enttäuschter —zuweilen bittere Worte über die Deutschen fand, hat 1916 einmal geschrieben, der Deutsche mache aus der Realpolitik eine „Phrase, an die er dann mit der ganzen Inbrunst eines — ich möchte sagen — femininen Gefühls glaubt“ Er selbst — in der Grundhaltung bis zuletzt ein dem Machtstaatsdenken anhängender Nationalist — hat sich damals in der Abschätzung der vertretbaren Kriegsziele als Realpolitiker ausgewiesen durch die klare Erkenntnis des für Deutschland bestenfalls Erreichbaren. Mit zunehmender Heftigkeit wandte er sich gegen die Annexionspolitiker wie auch gegen die „U-Boot-Demagogie" ’ beschäftigt aber hat ihn beispielsweise auch die polnische Frage. Was den Ruf nach dem unbeschränkten U-Boot-Krieg betrifft, so sah er von Anfang an voraus, daß diese Ausweitung der maritimen Operationen mit Sicherheit den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nach sich ziehen werde. Seine Gegner — und die Gegner des von ihm keineswegs besonders geschätzten Reichskanzlers v. Bethmann-Hollweg— waren die Extremisten der Rechten, die Konservativen, die Alldeutschen und ihr Anhang: Zirkel, gegen die er in einem Mitte August 1916 der „Frankfurter Zeitung“ vorgelegten Artikel in so scharfer Form vom Leder zog, daß nicht einmal dieses Organ der bürgerlichen Linken sich zum Abdruck entschließen mochte

In die „Gesammelten Politischen Schriften" sind Texte aus den Jahren 1916 und 1917 aufge-nommen, in denen es sich um die Kriegsziele oder die Frage des U-Boot-Krieges handelt. Dieser Reihe gehört an eine massive Ablehnung der noch 1917 ausschließlich um der annexionistischen Zielsetzung willen gegründeten sogenannten „Vaterlandspartei". Der damals für die „Münchener Neuesten Nachrichten" geschriebene Aufsatz ist übrigens auch in rein journalistischer Hinsicht eine brillante Leistung. „Nie wieder ist Weltpolitik in Zukunft möglich, wenn das frühere Regime, unter dessen diplomatischen Niederlagen wir in den Krieg eintraten und welches uns während des Krieges noch immer neue diplomatische Niederlagen eingetragen hat, wiederkehrt. Da liegt das Interesse des Vaterlandes. Niemals freilich wird im Falle der Neuordnung das Schicksal des Reiches in der Hand jener Demagogen liegen, deren unverantwortlich lärmendes Gebaren an seinem Teil dazu beigetragen hat, fast die ganze Welt gegen uns in einer widernatürlichen Koalition zusammenzuschmieden. Da liegt das Interesse derjenigen, welche den Namen des Vaterlandes zu einer demagogischen Parteifirma herabwürdigen, gegen die Neuordnung. Die Nation aber wird zwischen Vaterland und , Vaterlandspartei'zu wählen wissen" ’

Parlament und Partei

Mit dem Jahre 1917 treten die verfassungspolitischen Fragen in den Vordergrund. Das Schwergewicht liegt auf vier vergleichsweise umfangreichen Abhandlungen, die seinerzeit im Erstdruck — das heißt vor der Aufnahme in die Erstauflage der „Gesammelten Politischen Schriften" — entweder als Broschüre oder als Artikelreihe erschienen sind. Dies sind die Titel: „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ (1917), „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland" (1918), „Deutschlands künftige Staatsform" (1918) und „Politik als Beruf" (1919).

Im einleitenden Kapitel der zweiten Schrift ist eindringend analysiert die „Erbschaft Bismarcks", über die Weber auch an anderen Stellen manch deutliches Wort gesagt hat. Was er Bismarck nicht abspricht, ist die „Großartigkeit seines feinen und beherrschenden Geistes", aber er sieht daneben den „Einschlag von Gewaltsamkeit und List" und eine „tiefe Menschenverachtung" Und das Erbe? Bismarck „hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, daß der große Staalsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen werde" Der Schaden, der auf solche Weise angerichtet wurde, ist mit dem Wechsel an der Reichsspitze nicht beseitigt. Die Nation ist jetzt „daran gewöhnt, unter der Firma der . monarchischen Regierung fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloß, ohne Kritik an der politischen Qualifikation derjenigen, welche sich nunmehr auf Bismarcks leergelassenen Sessel niederließen und mit erstaunlicher Unbefangenheit die Zügel der Regierung in die Hand nahmen . . . Eine politische Tradition dagegen hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht" In institutioneller Hinsicht blieb zunächst einmal zurück „ein völlig machtloses Parlament“, und zwar „ein Parlament mit tief herabgedrücktem geistigen Niveau". Hier ist nicht die Machtlosigkeit eine Folge des niedrigen Niveaus, sondern es liegt die umgekehrte Beziehung vor. „Denn darauf: ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet, sondern maßgeblich entschieden werden, ob also etwas und wieviel darauf ankommt, im Parlament geschieht, oder ob was es nur der widerwillig geduldete Bewilligungsapparat einer herrschenden Bürokratie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe Niveaus seines ein"

Zwei Begriffe oder Potenzen beherrschen Webers Verfassungsdenken, ob er nun das überkommene analysiert oder das zu Erstrebende anspricht: Bürokratie und Parlament. Die Bürokratie hat er bestimmt nicht geliebt, wohl aber mit äußerstem Nachdruck betont, daß sie — in ihren Grenzen — unter den gegebenen neuzeitlichen Bedingungen unersetzbar ist. „In einem modernen Staat liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums" Was jedoch bisher in Deutschland praktiziert wurde, ist die „kontrollfreie Beamtenherrschaft" und bei dieser darf es nicht verbleiben. Als Kontrollorgan soll zukünftig fungieren ein starkes Parlament. Denn man hat „die Wahl: in einem bürokratischen . Obrigkeitsstaat'mit Scheinparlamentarismus die Masse der Staatsbürger rechtlos und unfrei zu lassen und wie eine Viehherde zu . verwalten' — oder sie als Mitherren des Staates in diesen einzugliedern" Zu bedenken ist auch — und hier wird der heutige deutsche Leser an das Jahr 1933 erinnert — „daß die bürokratische Maschinerie nach der Natur ihrer ideellen und materiellen Triebkräfte und angesichts der Natur des heutigen Wirtschaftslebens, welches durch ihr Versagen ja zur Katastrophe geführt würde, gegebenenfalls be-reit ist, unbesehen jedem zu dienen, der sich im physischen Besitz der nötigen Gewaltmittel befindet und den Beamten den Fortbesitz ihrer Ämter gewährt"

Führung — genauer, politische Führung — kann von der „bürokratischen Maschinerie"

nicht ausgehen. Wer soll sie hinzubringen?

Weber denkt hier schon vor dem November 1918 nicht mehr an das gekrönte Haupt; bei grundsätzlichem Bekenntnis zur Monarchie, an dem er bis zu jener Wende festgehalten hat, will er das politische Schwergewicht unter allen Umständen in die Volksvertretung verlegen. Was er fordert, ist das „mächtige Arbeitsparlament" nach dem englischen Muster.

Die „Zukunftsfrage der deutschen Staatsordnung" lautet: „Wie macht man das Parlament fähig zur Macht?" Ohne in die den damaligen deutschen Liberalen „gemeinhin eigene übersteigerte Anglomanie" zu verfallen — er hat gelegentlich Worte der Abgrenzung gegen die „Konventionen" der britischen „Society" gefunden —, spottet er über die Art, in der „der deutsche Spießbürger politische Gebilde wie das englische Parlament mit ... blindgewordenen Augen anzusehen gewohnt ist und darauf von der Höhe seiner eigenen politischen Ohnmacht selbstgefällig herabblikken zu können glaubt, ohne zu bedenken, daß doch schließlich diese Körperschaft die Stätte der Auslese jener Politiker gewesen ist, welche es verstanden haben, ein Viertel der Menschheit zur Unterordnung unter die Herrschaft einer winzigen staatsklugen Minderheit zu bringen, und zwar ... zu einem immerhin erheblichen Teil zur freiwilligen Unterordnung"

Auslese der Politiker: damit ist die zweite Funktion bezeichnet, die Weber dem Parlament zuweist. Es soll einmal die Verwaltung kontrollieren, zum andern zur „Auslesestätte für politische Führer" werden. Das ist seine Antwort auf die. Frage, woher die Führung kommen soll. Dabei greifen in seiner Sicht die beiden Funktionen — Kontrolle der Verwaltung und Heranbildung von Führern — ineinander. Mit Nachdruck betont er die Wichtigkeit der Arbeit in den Ausschüssen des Parlamentes. „Nur jene Schule intensiver Arbeit an den Realitäten der Verwaltung, welche der Politiker in den Kommissionen eines mächtigen Arbeitsparlamentes durchzumachen hat und in der er sich bewähren muß, machen eine solche Versammlung zu einer Auslesestätte nicht für bloße Demagogen, sondern für sachlich arbeitende Politiker" Durch ein Zusammenwirken von Fachbeamten und Berufs-politikern sieht Weber nicht nur „die fortwährende Kontrolle der Verwaltung ... garantiert"; er erwartet von daher auch einen Beitrag zur „politischen Erziehung und Schulung von Führern und Geführten". Die „durch effektive Parlamentskontrolle erzwungene Publizität der Verwaltung" ist „Vorbedingung jeder fruchtbaren Parlamentsarbeit und politischen Erziehung der Nation" Das wäre also eine Wirkung, die über den Kreis der Parlamentarier hinausginge.

„Führer", „Führung", auch sogar „Führerdemokratie" diese Terminologie ist für den Radikaldemokraten selbst nach Abzug des der Hitlerzeit entstammenden Beigeschmackes schockierend. Es wurde bereits berührt, daß in Webers Sicht — und wohl kaum nur in ihr — die letzte politische Entscheidungsgewalt immer bei einzelnen oder wenigstens einer relativ kleinen Gruppe liegt; eben dadurch rückt die Auslesefrage in den Vordergrund. Um in dieser die Reihe der eventuellen Möglichkeiten durchzugehen, betrachtet er die Parlaments-und Parteienstrukturen anderer Länder, besonders Englands und der Vereinigten Staaten, aber auch einmal die Vorstellung, von den Berufsständen her eine Volksvertretung aufzubauen, um diese Idee allerdings ganz entschieden zu verwerfen. „Man braucht nur die ersten Anfänge eines Versuchs zu machen, die typischen Figuren der modernen Wirtschaft nach . Berufen’ so zu gruppieren, daß die entstehenden Gruppen als Wahlkörperschaften für eine allgemeine Volksvertretung brauchbar wären — dann steht man vor dem vollendeten Unsinn"

Den „wirklichen . Ständestaat'der Vergangenheit" skizziert er, das Wesentliche und Unwiederholbare hervorhebend, mit wenigen Strichen Daß die im engeren Sinne politischen Formen und Verfahrensweisen von den jeweiligen sozialökonomischen Gegebenheiten nicht ablösbar sind, steht für ihn fest; die diesbezüglichen Zusammenhänge rückt er in jedem Falle ins Licht. Was an Schichten, Ständen, Klassen, Gesellschaftsgruppen in einem Volke präsent ist, interessiert den Soziologen von vornherein; ob oder in welchem Grade in Deutschland dem Adel, dem Bürgertum, der 77

Arbeiterschaft die politische Führung oder die Teilhabe an ihr anzuvertrauen war oder ist, wird durch Weber mehrfach bedacht, nicht freilich ohne Zorn und Eifer. Zwar meint er einmal, daß es „geborene Führernaturen auch heute in Deutschland" gebe aber im ganzen vermißt er bei seinen Landsleuten eine gewachsene „politische Kultur" und vollends im Kaiserreich sind für ihn die Deutschen zu einem „Plebejervolk" hinabgesunken.

Sind die Parlamente, und zwar die durch die Parteien beschickten Parlamente, in unserer Zeit die allein realisierbaren „Vertretungen der durch die Mittel der Bürokratie Beherrschten" so ist natürlich die Struktur der Parteien, ihre Innenansicht, von besonderer Wichtigkeit. „Mit seltener Offenheit hat Weber auf die Hintergründigkeit des Parteiwesens hingewiesen, die Fragwürdigkeiten der Entwicklung vom Honoratiorentum zum Caucussystem aufgezeigt" Die Maschine (amerik. caucus), in personeller Hinsicht das Parteibeamtentum, nimmt, so sieht er die Entwicklung, an Gewicht zu. „Die Verhältnisse sind noch im Fluß" Aber schon jetzt ist verschwunden „der alte Zustand: daß Wahlen auf Grund von Ideen und Parolen erfolgten, welche vorher von Ideologen ausgestellt, in der Presse und in freien Versammlungen propagiert und diskutiert waren, daß die Kandidaten von ad hoc gebildeten Komitees vorgeschlagen wurden, daß die Gewählten dann zu Parteien zusammentraten und daß diese im Personalbestand flüssigen parlamentarischen Gruppen nun die Führer der im Lande verstreuten Gesinnungsgenossen blieben, insbesondere die Parole für die nächsten Wahlen formulierten" Jetzt „gehen alle Parteien mit zunehmender Rationalisierung der Wahlkampftechnik zur bürokratischen Organisation über" es tritt „überall, nur in verschieden schnellem Tempo, der Parteibeamte als treibendes Element in den Vordergrund“ 89a).

Zur „charakteristischen Figur" wird in dieser neuen Ära der „Berufspolitiker". Es ist dies der „Mann, der mindestens ideell, in der Masse der Fälle aber materiell, den politi82 sehen Betrieb innerhalb einer Partei zum Inhalt seiner Existenz macht. Man mag diese Figur nun lieben oder hassen — sie ist in ihrer heutigen Gestalt das unvermeidliche Produkt der Rationalisierung und Spezialisierung der parteipolitischen Arbeit auf dem Boden der Massenwahlen" Und die Mitglieder der Parteien? Ihre „Aktivität ... ist gering. Oft tun sie wenig mehr, als daß sie Beiträge zahlen, die Parteiblätter halten, allenfalls leidlich regelmäßig die Versammlungen, zu denen Parteiredner erscheinen, füllen und in mäßigem Umfang sich an der Gelegenheitsarbeit bei den Wahlen beteiligen. Dafür nehmen sie, wenigstens der Form nach, an der Beschlußfassung über die Wahlen des Ortsvorstandes und der Vertrauensmänner und, je nach Größe des Ortes, direkt oder indirekt der Delegierten zu den Parteitagen teil" Gänzlich außerhalb des Betriebes steht „der einfache, nicht zur Organisation gehörige, von den Parteien umworbene Stimmgeber, von welchem persönlich nur bei den Wahlen, sonst nur durch öffentliche auf ihn gemünzte Reklame Notiz genommen wird”

Findet man dieses Bild nicht gerade schön, so wird man ihm doch den Wahrheitsgehalt nicht glattweg absprechen wollen. Die Frage ist offenbar, ob es bei ihm verbleiben muß.

Für Joachim H. Knoll war Weber möglicherweise durch Robert Michels beeinflußt der ein „ehernes Gesetz der Oligarchie" entdeckt zu haben meinte Indessen ist „Entoligarchisierung" (Alfred Weber) doch wohl überall dort — wenn auch vielfach nur in langwierigem Prozesse — zu erreichen, wo sie entschlossen erstrebt wird, und mit der „innerparteilichen Demokratie" von der bei Max Weber nicht einmal als einer Möglichkeit die Rede ist, steht oder fällt in unserer Zeit, oder wenigstens der allernächsten Zukunft, die Demokratie überhaupt Im übrigen ist man hier wieder an einem Punkt, an dem man zwar die Klarheit Weberscher Darlegungen anerkennt, dabei aber durch eine Kälte und Härte schockiert wird, die mit der im Grunde fatalistischen Hinnahme eines dem Analytiker selbst unsympathischen Zustandes Zusammenhängen mag.

Aber zurück zum Gefüge der Parteien. Sie sollen „nicht nach Art von . Zünften', sondern nach Art von . Gefolgschaften'organisiert“

sein Die „Zunft" läßt niemanden hochkommen, die „Gefolgschaft" aber ist auf den „Führer" ausgerichtet. Leider kommen die Parteien zumeist über eine „kleinbürgerliche Führerfeindschaft" nicht hinweg. Doch müssen die „politischen Vertrauensmänner" Führer sein, „das heißt, unbeschränkte Vollmacht für wichtige Entschließungen haben (oder innerhalb weniger Stunden von jederzeit zusammenzurutenden Ausschüssen einholen können)"

Von der Partei ist zu fordern, „daß sie sich den Leuten mit Führereigenschaften, über die sie verfügt, unterordnet" Auch in England ist die „breite Masse der Deputierten . . . nur Gefolgschaft für den oder die wenigen Jeader', welche das Kabinett bilden, und gehorcht ihnen blind, solange sie Erfolg haben. Das soll so sein" Weber spricht in diesem Zusammenhang unbefangen von einem ,,, cäsaristischen'Einschlag"; er sei „in Massen-staaten unausrottbar"

Ebenso unvermeidlich sei „Demagogie". „Demokratisierung und Demagogie gehören zusammen"

Es seien nämlich „für die politische Führerschaft nur Persönlichkeiten geschult, welche im politischen Kampf ausgelesen sind, weil alle Politik dem Wesen nach Kampf ist" Am „Demagogenhandwerk"

erweise sich der kämpferische, zur Führung berufene Politiker, während „die Aktenstube freilich für sachliche Verwaltung die unendlich überlegene Schulung bietet"

Es eignet dem „parteimäßigen Betrieb der Politik" ein „voluntaristischer Charakter"

Er ist „Interessentenbetrieb'', wobei unter „Interessenten" nicht zu verstehen sind „jene materiellen Interessenten, die, in verschieden starkem Maße, bei jeder Form der Staatsordnung die Politik beeinflussen, sondern jene politischen Interessenten, welche politische Macht und Verantwortung zum Zweck der Realisierung bestimmter politischer Gedanken erstreben“ Diese „politischen Interessenten“ sind die wirklichen Initianten des politischen Geschehens. „Denn nicht die politisch passive . Masse'gebiert aus sich den Führer, sondern der politische Führer wirbt sich die Gefolgschait und gewinnt durch Demagogie’ die Masse" Er hat „charismatische Qualitäten“ 108a). Inzwischen liege allerdings die Frage nahe: „gestatten die Parteien in einer voll entwickelten Massendemokratie denn überhaupt Führernaturen den Aufstieg? Sind sie imstande, neue Ideen überhaupt zu rezipieren? Sie verfallen ja der Bürokratisierung ganz ähnlich wie der staatliche Apparat“

Was die materiellen, also ökonomischen Interessen angeht, so wollte Weber deren direkte Vertreter aus dem Parlament nach Möglichkeit fernhalten. Hier bereitete ihm die Einführung des Verhältniswahlrechtes Unbehagen, weil es den Parteien nahelegte, „zum Zwecke des Stimmenfangs" die „besoldeten Sekretäre“ der Berufsverbände auf die Listen zu setzen. „Das Parlament wird so eine Körperschaft werden, innerhalb derer Persönlichkeiten, denen die nationale Politik Hekuba ist, die vielmehr, der Sache nach, unter einem . imperativen'Mandat von ökonomischen Interessenten handeln, den Ton angeben: ein Banausenparlament"

Noch viele andere Fragen sind angeschnitten, so beispielsweise die der deutschen bundesstaatlichen Ordnung; hier verwies Weber in der Verfassungsdiskussion von 1918/19 auf die Alternative „Bundesrat oder Staatenhaus" Schon unsere auf einige Punkte von bleibender Bedeutung sich beschränkende Übersicht hat wohl dargetan, daß das, was Weber als Staats-und Parteisoziologe und Verfassungspolitiker vorgebracht hat, „wertfrei" im Sinne dieses seinen eigenen Begriffes ist. Es hat ihn nicht das weltanschaulich fundierte oder frisierte Programm interessiert, sondern die zweckmäßige institutioneile Gestaltung. Ihn vorbehaltlos irgendeinem „Ismus“ zuzuordnen, ist nicht möglich, denn er war kein Doktrinär; eine Rolle, die ihm kaum angestanden hätte, ist die des Chefideologen einer Partei.

Weber in heutiger Sicht

Gewiß dürfen wir Heutigen uns nicht ausschließlich der Führung Webers anvertrauen. Die Annahme, daß er im Grunde „keine innere Beziehung zu den demokratischen und liberalen Idealen“ (Kurt Sontheimer hatte, liegt nahe. „Webers heftiges Verlangen nach Führung durch eine Einzelperson — zusammen mit seinem unauslöschlichen Nationalismus — genügt, um uns die ganze Basis seines politischen Denkens fragwürdig erscheinen zu lassen“ (H. Stuart Hughes Auch sollte man nicht — mit Weber — „den modernen Staat nur noch als Verwaltungsmaschine, als . Betrieb'wie eine Fabrik sehen“ (Heinrich Heffter zum mindesten nicht die durch dieses Bild bezeichnete Entwicklung widerstandslos hinnehmen.

Karl Jaspers hat 1914, kurz vor dem Kriegsausbruch, einer Unterhaltung Webers mit dem bedeutenden Schweizer Staatsrechtslehrer Fritz Fleiner beigewohnt. Dieser, so berichtet er, habe gesagt, man müsse den Staat lieben.

„Wie", sei die erregte Antwort Webers gewesen, „lieben soll man das Ungeheuer auch noch?“

Man darf wohl sagen, daß die beiden Koryphäen in jenem Gespräch unter „Staat" durchaus Verschiedenes verstanden haben. Weber, im Machtstaats-und „Betriebs“ -Denken befangen, hat vor sich gesehen den Staat, der zum Volk, zum Ganzen der Staatsbürgerschaft, von oben oder außen hinzutritt Fleiner, in der schweizerischen Tradition des „altfreien Volksstaates'(Adolf Gasser) stehend und ihr beredter Verkünder, meinte das „Gemeinwesen“, das in Deutschland Otto v. Gierke als ein Gebilde durchaus eigenen Gepräges vom Staate unterschieden hat Das „Gemeinwesen" dieses Begriffes ist nicht, wie der Staat, eine von oben oder außen angesetzte Klammer; in ihm wird der Zusammenhalt, die Integration, durch geistig-sittliche Kräfte bewirkt, die „unten“ erwachsen — und zwar fortlaufend erwachsen — und nach „oben" hin sich durchsetzen. Auf solche Weise ist die Einheit nicht von außen auferlegt, vielmehr „der verbundenen Gesamtheit immanent" (Otto v. Gierke Nur in dem Grade, in dem ein als „Staat" figurierendes Gebilde „Gemeinwesen" solcher Art, nämlich „Eidgenossenschaft" ist, ist der oft voreilig ausgesprochene Satz „Der Staat sind wir" realisiert. Vielleicht ist durch diese knappe Andeutung eine Grenze des Weberschen Denkens, oder wenigstens seiner Begriffe von Politik und Staat, berührt. Sein „Pathos der Nüchternheit" (Theodor Heuss besticht, und der politisch Handelnde darf dieser Nüchternheit nicht entraten. Aber sollte es nicht so sein, daß ihr ein Platz in einem weiteren Gefüge anzuweisen, also gleichsam eine Dimension hinzuzufügen ist? Ist die „Brüderlichkeitsethik" die Weber von aller Politik geschieden sehen wollte, wirklich nur die Angelegenheit einer vor-oder unpolitischen Sphäre? Als Weber diese Trennung vornahm, um Politik und Staat allein auf Macht und Kampf abzustellen, geschah es guten Glaubens, wenn auch mit einer Verbissenheit, die auf ein verstecktes Unbehagen schließen läßt. In dieser zweiten Jahrhunderthälfte aber haben sich die Aspekte verschoben und sie werden sich wahrscheinlich noch weiter verschieben. Nicht nur im kirchlichen Raum erahnt man heute, daß „auch Geist und Glaube, Liebe und Vertrauen politische Realitäten" (Kurt Scharf sind. Es wird erkannt, daß die Demokratie eines „seelischen Plus" (Jacques Maritain bedarf, um mehr zu sein, als eine notdürftig funktionierende Apparatur. Vordergründig mag die Politik auch zukünftig als das „starke langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ sich vollziehen, mit dem Max Weber sie verglichen hat. Wir werten die Einsichten, die wir ihm verdanken, nicht ab, wenn wir meinen, daß in den politischen Raum — wenn die exakte Abgrenzung eines solchen überhaupt möglich ist — in unserer und der kommenden Zeit Kräfte einfließen müssen, deren Existenz nicht mit Händen zu greifen und deren potentielle Mächtigkeit nicht meßbar ist. Gehören sie dem an, was Weber — im Sinne der scherzhaften Bemerkung, die an den Anfang dieses Berichtes gestellt wurde — „austreibt"? Aber es ist wohl allemal, auch einem Autor dieses Ranges gegenüber, die Sache des kritischen Lesers, was er sich „austreiben" läßt und was nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alfred Weber, Einführung in die Soziologie, München 1955, S. 162.

  2. Hier nach Eduard Baumgarten, Einleitung zum Kröner-Band, S. XII.

  3. Theodor Heuss im Geleitwort zur 2. Ausl, der Ges. pol. Schriften, S. XXIX.

  4. Theodor Heuss a a O., S. XXXI.

  5. Karl Jaspers: Max Weber — Politiker, Forscher, Philosoph, München 1958, S. 7

  6. Max Weber — Ein Lebensbild (1926, 2. Ausl. 1950).

  7. Raymond Aron nennt „Wirtschaft und Gesellschaft" die „gewaltigste Konstruktion, die auf dem Gebiet der Sozialwissenschasten jemals versucht worden ist* (Die deutsche Soziologie der Gegenwart, übersetzt von Iring Fetscher, Stuttgart 1953, S. 92).

  8. s. die Vorbemerkung.

  9. Berlin 1956.

  10. s. die Vorbemerkung.

  11. Einleitung zum Kröner-Band, S. XXX.

  12. Einleitung in die Soziologie, Leipzig 1931, S. 117.

  13. Grundb. S. 5.

  14. Nachdrücklich kritisiert ist Webers Begriff des Idealtypus neuerdings durch Carl Joachim Friedrich, in: Die Politische Wissenschaft, Freiburg 1961, S. 19.

  15. Grundb. S. 7.

  16. Grundb. S. 17

  17. Ebenda

  18. Alfred Weber, Einführung in die Soziologie, München 1955, S. 169.

  19. Grundb. S. 13.

  20. Soz. S. 191 (aus: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis).

  21. A. a. O., S. 190.

  22. A. a. O., S. 197.

  23. Soz. S. 529 (Annierkungsteil).

  24. Einführung in die Soziologie, München 1955, S. 38.

  25. Rei S. 60 (aus-Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band III).

  26. Rei S. 52 (aus dem gleichen Band).

  27. Bemerkungen zu Max Webers Soziologie, in: Kämpfende Wissenschaft, Jena 1934, S. 139.

  28. A. a. O„ S. 137.

  29. Friedrich Lütge, Besprechung der 4. Ausl von „Wirtschaft und Gesellschaft" in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Im Urteil von Wolfgang J. Mommsen (Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959, S. 55) war Weber „in christlichem Sinne schlechthin glaubenslos“.

  30. Soz. S. 269 (aus: Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften).

  31. Carl Joachim Friedrich (Die Politische Wissenschaft, Freiburg 1961, S. 341) sagt bündig, daß die Verantwortungsethik „die Heiligung der Mittel durch den guten Zweck beinhalten soll".

  32. Pol. S. 539 (Beruf).

  33. Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924, Neudruck München 1957).

  34. Weber über Foerster: Pol. S. 541 f. (Beruf).

  35. Staat und Politik, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S 377. Smend auch zuvor schon über Weber: S 370 ff.

  36. ICEthik, Politik und Macht, Frankfurt/Bonn 1961,

  37. Soz. S. 151, 154, 159 (aus: Die drei reinen Typen aus der legitimen Herrschaft).

  38. A. a. O., S. 162.

  39. Pol. S. 499 (Beruf).

  40. Anmerkungsteil zur Weber-Ausgabe „Staatssoziologie", Berlin 1956, S. 117.

  41. Pol. S. 533 (Beruf).

  42. A. a. O„ S. 534.

  43. A. a. O., S. 534.

  44. Karl Jaspers: Max Weber - Politiker, Forscher, Philosoph, München 1958, S. 32, 27, 12.

  45. Uber diese Tätigkeit Webers jetzt: Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Band I, Berlin 1963, S. 114 ff

  46. Max Weber und die deutsche Politik 1890 bis 1920, Tübingen 1959, S. 347.

  47. s. die Vorbemerkung.

  48. Tübingen 1959. Stärker als Mommsen distanziert sich von Webers politischer Grundhaltung Annette Kuhn: Besprechung des Buches von Mommsen in Zeitschrift für Politik 10/2, S. 202 ff.

  49. „Den Parteipolitikern war sein Verhalten, in dem realpolitische Anpassung und äußerster gesinnungsethischer Rigorismus einander abwechselten, unheimlich und unberechenbar" (Mommsen, S. 303).

  50. Mommsen S. 290 f.

  51. Mommsen S. 158.

  52. Mommsen S. 33. Auch: Freiburger akademische Antrittsrede, Pol. S. 1 ff., besonders S. 10 („systematische Kolonisation deutscher Bauern“).

  53. Pol. S. 14.

  54. Pol. S. 19 (Freiburger Antrittsrede).

  55. A. a. O„ S. 22.

  56. A. a. O., S. 24.

  57. A. a. O., S. 20.

  58. Pol. S. 124.

  59. Pol. S. 122.

  60. Pol. S. 164.

  61. Weber gegen die „U-Boot-Demagogie": Mommsen S. 241 ff.

  62. Mommsen S. 249.

  63. Pol. S.220.

  64. Pol. S. 299, 307 (Pari.).

  65. S. 307 (Pari.).

  66. Ebenda.

  67. S. 308 (Pari.).

  68. Ebenda.

  69. „Kontrollfreie Beamtenherrschaft": Pol., zahlreiche Stellen (s. Sachregister). Weber betont, daß der Zustand für die Beamten keineswegs unbedingt vorteilhaft sei. „Selten und jedenfalls nicht bei parlamentarisch geschulten Völkern ist das Verhältnis des Publikums. zum Beamtentum so verständnislos wie in Deutschland. Kein Wunder. Die Probleme, mit welchen die Beamten bei ihrer Arbeit zu ringen haben, treten ja bei uns nirgends sichtbar hervor. Ihre Leistung kann niemals verstanden und bewertet, das an Stelle positiver Kritik stehende sterile Schimpfen über den . heiligen Bürokratismus'niemals überwunden werden, wenn der jetzige Zustand unkontrollierter Beamtenherrschaft anhält. Und auch die Machtstellung des Beamtentums würde da, wo sie hingehört, nicht geschwächt": Pol. S. 341 f. (Pari ).

  70. Pol. S. 279 (Wahlr.).

  71. Pol. S. 439 (Staatsf.).

  72. Pol. S. 351 (Pari.).

  73. Joachim H. Knoll, Führungsauslese in Liberalismus und Demokratie, Stuttgart 1957, S. 154.

  74. Pol. S. 140.

  75. Pol. S. 343 (Pari.).

  76. Pol. S. 342 (Pari.) u. a. Stellen.

  77. Pol. S. 343 (Pari.).

  78. Ebenda.

  79. Pol. S. 532 (Beruf).

  80. Pol. S. 243 (Wahlr.).

  81. Pol. S. 251 f. (Wahlr.)

  82. Pol. S. 334 (Pari.).

  83. Soz. S. 198.

  84. Pol. S. 272 (Wahlr.). Zuvor, ab S. 266, Bemerkenswertes über gesellschaftliche Formen und Konventionen. Sie waren in westlichen Ländern, im Gegensatz zu Deutschland, „demokratisierbar“ (S. 271).

  85. Pol. S. 327 (Pari.).

  86. Knoll (s. Anm. 73) S. 162.

  87. Pol. S. 373 (Pari.).

  88. Pol. S. 374 (Pari.).

  89. Pol. S. 316 (Pari.).

  90. Pol S. 376 f (Pari.).

  91. Pol. S. 373 (Pari.).

  92. Pol. S. 374 (Pari ).

  93. Knoll (s. Anm. 73) S. 149.

  94. Robert Midieis, Zur Soziologie des Partei-wesens in der modernen Demokratie, Stuttgart 1957

  95. über sie jetzt Ulrich Lohmar (Stuttgart 1963).

  96. Auf die Demokratisierung der Parteien als ein unbedingtes Erfordernis hat nachdrücklich hingewiesen Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin 1960 2, S. 246 ff.

  97. Pol. S 344 (Pari.).

  98. Pol S. 532 (Beruf).

  99. Pol S. 344 (Pari ).

  100. Pol S. 336 (Pari.).

  101. Ebenda.

  102. Ebenda.

  103. Pol S. 381 (Pari.).

  104. Pol S 380 (Pari.).

  105. Ebenda. Uber den „Demagogen" s. auch Pol. S 513 (Beruf): „Der unangenehme Beigeschmack des Wortes darf nicht vergessen lassen, daß nicht Kleon, sondern Perikies der erste war, der diesen Namen trug“

  106. Pol S. 389 (Pari.).

  107. Ebenda.

  108. Ebenda.

  109. Pol. S 389 (Pari.).

  110. Pol. S. 487 f. (Aufsatz „Der Reichspräsident“, Februar 1919).

  111. Pol. S. 452 (Staatsf.).

  112. Hier zitiert nach Hans Kohn, Wege und IrrWege, Vom Geist des deutschen Bürgertums, Düsseldorf 1962, S 304.

  113. Kohn, a. a. O.

  114. Hier zitiert nach Thomas Ellwein, Das Erbe er Monarchie in der deutschen Staatskrise, München 1954, S. 191.

  115. Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, Sonderausgabe München 1960, S. 421.

  116. Dabei ist der Staat für Weber in soziologischer Sicht nicht von vornherein ein kompaktes Gebilde. Er besteht, so heißt es einmal, „zum nicht unerheblichen Teil... als Komplex eines spezifischen Zusammenhandelns von Menschen“ (Grundb. S 13). Aber hier ist nicht der Raum, den Weberschen Staatsbegriff in allen seinen Dimensionen darzulegen.

  117. Das deutsche Genossenschaftsrecht, Erster Band, Neudruck Graz 1954, S. 642.

  118. Die Steinsche Städteordnung, Neudruck Darmstadt 1957, S. 44.

  119. Pol. S. XXXI (Geleitwort).

  120. Pol.: s. Sachregister. Auch Pol. S. 548 (Beruf): „Brüderlichkeit". S. ferner Pol. S. 338 (Pari.): Verneinung des Staates als „Solidaritätsgenossenschaft".

  121. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland im Februar 1964 in einem Vortrag vor evangelischen Politikern in Düsseldorf (Der Weg, Evang Sonntagsblatt für das Rheinland, Nr. 9 vom 1 März 1964).

  122. Christentum und Demokratie, Augsburg 1949, S. 55.

  123. Pol. S. 548 (Beruf).

Weitere Inhalte

Ernst Maste, freier Schriftsteller (Politische Wissenschaft, Ideengeschichte, Soziologie), geb. 1901 in Bochum. Buchveröffentlichung: Die Republik der Nachbarn, Die Nachbarschaft und der Staatsgedanke Artur Mahrauns, Gießen 1957. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften, darunter in „Aus Politik und Zeitgeschichte", B 43/60: Hugo Preuß, Vater der Weimarer Verfassung.