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Die Weltordnung in den sechziger Jahren | APuZ 20/1964 | bpb.de

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APuZ 20/1964 Die Weltordnung in den sechziger Jahren Die Sowjetunion und Europa

Die Weltordnung in den sechziger Jahren

Roberto Ducci

i.

Wir leben ohne Zweifel in einer Zeitspanne, in welcher sich der Ablauf der Geschichte beschleunigt; niemand wagt jedoch vorherzusagen, was wir von dieser Beschleunigung zu erwarten haben. Das Ende des zweiten Weltkriegs liegt noch nicht 20 Jahre zurück, aber bereits jetzt besteht wenig Ähnlichkeit zwischen dem Entwurf einer Weltordnung aus dem Jahre 1944 und der tatsächlichen Welt des Jahres 1964. Eine auf einen Krieg, der 30 Millionen Opfer forderte, folgende Weltordnung sollte eigentlich von etwas längerer Dauer sein. Die „Pax Romana" nach den Bürgerkriegen kurz vor Christi Geburt erstreckte sich, mit einigen Unterbrechungen, über ein paar Jahrhunderte. Die „Pax Anglica" anschließend an die napoleonischen Kriege dauerte ein Jahrhundert. Die „Pax Americana" (es läßt sich nicht bestreiten, daß die Vereinigten Staaten den Frieden seit dem Tage des Kriegsendes in Japan gewahrt haben, mit einiger stillschweigender Hilfestellung seitens Rußlands) hat bis jetzt eine Dauer von neunzehneinhalb Jahren, aber nur dank verschiedener Veränderungen in der Organisation der Welt, von denen einige unter dem Druck der Verhältnisse improvisiert wurden.

Es wird in diesem Aufsatz versucht, einen Blick in die undurchsichtige vor uns liegende Zukunft zu werfen und Überlegungen darüber anzustellen, auf welche Weise der Friede in den sechziger Jahren und Anfang der siebziger Jahre erhalten werden kann. Wird die gegenwärtige Weltordnung bestehen bleiben (wenn überhaupt irgendeine Weltordnung überleben kann)? Welche Kräfte und welche Ideen arbeiten auf eine Änderung hin? Wo sind die Zentren des Widerstandes gegen sie?

Welche Art neuen Gleichgewichts (falls erforderlich) wird geschaffen werden und durch wen?

II.

Der Entwurf für den Frieden gegen Ende des zweiten Weltkriegs war einfach und deshalb von einer gewissen harmonischen Eleganz. Fünf Hauptmächte sollten die Verantwortung für die Erhaltung des Friedens in der Welt übernehmen; die juristische Sanktion dafür wurde ihnen durch die Charta der Vereinten Nationen übertragen, die ihnen die Dauermitglied-B schäft und das Vetorecht im Sicherheitsrat zu-sprach. Großbritannien sollte für Nordwesteuropa, das Mittelmeergebiet, den Nahen und Mittleren Osten, das südliche Asien und Ozeanien verantwortlich sein; die Sowjetunion für ihr eigenes riesiges Festlandgebiet und für Osteuropa; Frankreich für den Hauptteil Afrikas nördlich und südlich der Sahara; und China (das China Tschiangkaischeks) für den Fernen Osten. Die Vereinigten Staaten, die der Welt den Frieden zurückgegeben und ihre Soldaten wieder nach Hause geholt hatten, konnten sich gefahrlos auf ihre Aussichtsveranda mit dem Blick auf Lateinamerika zurückziehen; darüber hinaus leisteten sie Hilfe bei der Errichtung der Demokratie in Deutschland und Japan und überwachten im ganzen den Gang der Dinge in den vier anderen Kontinenten. Diese idyllische Illusion von San Francisco und Jalta wurde schon innerhalb etwa eines Jahres nach dem Tode Franklin Delano Roosevelts zerstört. Großbritannien war nicht in der Lage, eine derart schwere Last in vier Kontinenten zu tragen; nachdem es weise genug gewesen war, Indien aufzugeben, versuchte es mit geringem oder gar keinem Erfolg, den Nahen und Mittleren Osten zu halten, und sah sich gezwungen, die Verteidigung des östlichen Mittelmeeres und des südasiatischen und australischen Raumes Präsident Truman zu überantworten. Frankreich behielt seine Kolonien eine Weile dank der Tüchtigkeit und Hingabe seines «corps d'elite»; danach mußte aber auch zum Rückzug geblasen werden.

China überraschte die meisten dadurch, daß es kommunistisch wurde und auf diese Weise die Welt aus dem Gleichgewicht brachte; denn Rußland hatte inzwischen ganz Osteuropa zu einer befestigten Stellung ausgebaut und seinen Einfluß überall längs der provisorischen Grenze mit dem Westen zur Geltung gebracht.

Die amerikanischen Soldaten, das heißt ungefähr 400 000 von ihnen, mußten schleunigst nach Europa zurückgeschickt werden.

Die Kräfte, welche in jenen Jahren das Bild der internationalen Gesellschaft formten und ihr Aussehen in erstaunlich kurzer Zeit wandelten, wurden nicht immer richtig erkannt. Die Art und Stärke der weltweiten Revolte gegen die weiße Rasse wurde anfangs sehr unterschätzt. Im Gegensatz dazu wurde die Fähigkeit der ruhmreichen alten Länder wie Großbritannien und Frankreich, eine Welt-rolle zu spielen, weitgehend überschätzt. Für die meisten Beobachter bestand das Wesentliche des Kommunismus in seiner Aggressivität und nur für wenige in seiner Schwäche. Dennoch war der Kommunismus, zumindest bis zum Jahre 1950, gewiß schwach, also während der Zeitspanne, in der die Sowjetunion wenig gegen das amerikanische Atomwaffenmonopol unternehmen konnte. Für den Kreml waren es die Jahre der großen Angst, der Furcht, daß der Kapitalismus seine militärische Überlegenheit ausnutzen könne, um den Kommunismus in seiner Existenz auszulöschen, und der niederdrückenden Besorgnis, daß Marx und Lenin vielleicht doch unrecht und die Bourgeoisie schließlich doch recht gehabt haben könnten. Einer der beiden Blöcke, in welche sich die Welt in den letzten vierziger Jahren entstand aus dieser aufspaltete, Schwäche und dieser Furcht heraus; Stalins jungen eiserne Hand zwang den Ländern Osteuropas unter rücksichtsloser Unterdrükkung ihres nationalen Stolzes und ihres sehnsüchtigen Verlangens nach Unabhängigkeit das sowjetische Joch auf, um ein Glacis von größtmöglicher Ausdehnung zwischen den ameri -kanischen Stützpunkten in Deutschland und den hauptsächlichen russischen Industrie-und Bevölkerungszentren zu schaffen. Während sogar die alte Garde der Kommunisten ums Leben gebracht oder zu Einzelhaft verurteilt wurde, wurden alle Spuren nationaler Eigenart in Osteuropa, außer in Titos Jugoslawien, verfolgt und so weit wie möglich unterdrückt.

So bestand die sowjetische Antwort auf die durch das amerikanische Atommonopol vorliegende Herausforderung in der zwangs-weisen Integrierung aller derjenigen Teile Europas in die Sowjetunion, die sich innerhalb der Reichweite der sowjetischen Streitkräfte befanden. Als kurz darauf das amerikanische Monopol gebrochen wurde, ging der allgemeine Eindruck (vermutlich eine sehr voreilige Meinung) dahin, daß nunmehr, nachdem auf atomarem Gebiet ein Gleichgewicht erreicht worden war, die Überlegenheit auf der Seite lag, die die größten herkömmlichen Streitkräfte aufzuweisen hatte, das heißt auf der Seite des Sowjetblocks. Während der Stand der Technik der atomaren Abschreckung noch in den Kinderschuhen steckte, wurden die Vorstellungen der Allgemeinheit und sogar die Überlegungen der Generäle noch von den alten Lehren herkömmlicher Kriegführung bestimmt. DieserTatbestand bildete einen kräftigen Antrieb zur Integration der westeuropäischen Staaten untereinander und zur Integration ihrer Gesamtheit zusammen mit den Vereinigten Staaten in ein einziges politisches und militärisches System.

III.

Der westliche Block ähnelte stalinistischen dem Block natürlich niemals wirklich, außer in dem Sinne, daß auf der westlichen Seite ebenfalls eine Macht die Führung hatte, die aber weder Drohungen noch Gewalt anzuwenden brauchte, um als Führungsmacht anerkannt zu werden. Unter anderem ist dies auch an der parallelen Entwicklung des westlichen Blocks in Richtung auf eine atlantische Integration und in Richtung auf eine europäische Integration erkennbar. (Stalin hatte jeden Versuch, eine Union zwischen seinen Satelliten zu schaffen, auf das entschiedenste verboten.) Für die Vision vom Aufstieg eines geeinten Europas aus der alten Asche des besiegten und verarmten Kontinents, der einmal die Welt beherrscht hatte, lagen psychologische Gründe vor. Idealistische Hoffnungen beschäftigten sich mit der Idee einer allgemeinen Versöhnung der europäischen Völker, die Jahre währenden dreitausend Streitigkeiten ein Ende setzen sollte. All dies wäre jedoch nicht unbedingt in den Bereich praktischer Politik übertragen worden, wenn es nicht notwendig gewesen wäre, ein anscheinend unlösbares Problem zu lösen: Wie konnte die potentielle Macht Deutschlands wenige Jahre nach seiner Niederlage und Zerstörung zur Mitwirkung bei der Verteidigung des Westens herangezogen werden, ohne daß Deutschland wiederum das führende Land in Europa wurde?

Hierfür gab es zwei Lehrmeinungen. Die eine, hauptsächlich von englischer Seite vorgebracht, behauptete, daß Deutschland auf sichere Weise nur in ein von den Vereinigten Staaten und Großbritannien garantiertes politisches und militärisches System eingefügt werden könnte. Die andere Richtung, vorwiegend von französischen Kreisen vertreten, glaubte, daß nur dann wirkliche Sicherheit erzielt werden würde, wenn Deutschland zusammen mit einigen anderen europäischen Ländern in ein neues supranationales System eingeschmolzen würde. In diesem letzteren System sollte Gleichheit unter den teilnehmenden Ländern bestehen; Frankreich sollte aber etwas gleicher sein als seine Partner (es brauchte nicht auf atomare Waffen zu verzichten, sollte keinen vertraglichen Begrenzungen hinsichtlich der herkömmlichen Waffen unterliegen, würde finanzielle Hilfe für seine Kolonialpolitik oder sein Kernforschungsprogramm erhalten, usw.) — wenn auch nicht in genügendem Maße gleicher, um Charles de Gaulles Vision von der Gleichheit Frankreichs zu entsprechen. Diese zweite Lehrmeinung wurde von den Vereinigten Staaten gefördert und unterstützt, konnte aber nicht völlig über die erstere den Sieg davontragen.

Infolgedessen existieren beide Organisationsschemata nebeneinander in der westlichen Welt und behindern sich nicht, sondern stärken sich gegenseitig. Das eine Schema soll dazu dienen, das Gleichgewicht militärischer Macht in der Welt, und somit innerhalb Europas, mit Hilfe der absoluten Überlegenheit der Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Kernwaffen aufrechtzuerhalten; das andere Schema soll das Gleichgewicht der politischen und wirtschaftlichen Macht innerhalb Europas gewährleisten. Jedoch kann dieses Doppel-Schema nur so lange funktionieren, wie keiner der Teilnehmer die Frage stellt, auf welche Weise das militärische Gleichgewicht in der Welt aufrechterhalten werden soll. Da aber eine der Voraussetzungen des Gleichgewichts in dem Atomwaffenmonopol der Vereinigten Staaten besteht, wird die Infragestellung dieses Monopols der Lebensdauer des Doppel-schemas bald ein Ende setzen.

John Foster Dulles war zwar nicht der alleinige Urheber (in diese Ehre muß er sich mit Jean Monnet teilen), aber doch der mächtigste Förderer des eben beschriebenen politischen Systems des Westens und des darauf gegründeten Systems einer Weltordnung. Es ist heutzutage in Mode gekommen, die Leistungen und Absichten von Dulles negativ zu beurteilen. Sein Glaubensbekenntnis wird als reaktionär, seine Bemühungen zur Schaffung eines weltweiten Netzes militärischer Pakte als eine Art von Manie und seine Politik des Am-Rande-eines-Krieges-Manövrierens als Kriegshetzerei verschrien. Seine feste und disziplinierte Betrachtungsweise der realen Gegebenheiten, seine Gewohnheit, die Wahrheit gerade heraus zu sagen, und seine starke und ziemlich dominierende Persönlichkeit ließen ihn weder bei den Staatsmännern noch bei der Öffentlichkeit Zuneigung finden. Dennoch werden objektive Historiker ihn als eine Persönlichkeit herausstreichen, die im höchsten Maße die Fähigkeit hatte, die in der Weltarena vorhandenen Kräftepotentiale genau ihrem Gewicht nach abzuwägen. Er war der erste in Amerika und vermutlich in der Welt, der die politische Bedeutung der Kernwaffen und die Vorteile, die der Diplomatie auch aus einer nur zeitweiligen Überlegenheit auf diesem Gebiet erwachsen konnten, voll begriff. Die Doktrin der massiven Vergeltung, welche der Westen jetzt mit Recht aufgibt, war zu Dulles'Zeiten die richtige Anwendung der damaligen militärischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten auf das diplomatische Ringen, weil zu jener Zeit die Vereinigten Staaten den Kern der Sowjetunion verwüsten konnten, während die Russen nicht in der Lage waren, das gleiche mit Amerika zu tun. Die Doktrin zeitigte bessere Resultate bei Anwendung aus einer Verteidigungsposition heraus (wie im Falle von Quemoy-Matsu), als bei Vorliegen einet Offensivposition (obwohl man die Tatsache, daß sie nicht angewandt wurde, um den aufständischen Arbeitern und Studenten in Budapest Hilfe zu bringen, wohlwollend mit dem Zustand äußerster Verwirrung erklären kann, in die der Westen durch die Suez-Affäre geraten war). Unter normalen Umständen jedoch war die Doktrin in der Lage, den Status quo und damit den Frieden aufrechtzuerhalten, da das Manövrieren am Rande des Krieges auf einer exakten Bewertung der beiderseitigen Kräfte basierte. Als der erste Sputnik erkennen ließ, daß das Kräftegleichgewicht im Begriff stand, sich zugunsten der Sowjetunion zu verschieben, bemerkte Dulles dies sehr bald und begann sogleich den langsamen Rückzug auf eine andere militärische und politische Position.

Dulles hatte durch die Drohung mit massiver Vergeltung, so lange diese glaubwürdig war, eine Weltordnung konsolidiert, die sinnvoll wirkte und es auch war. Sie wurde gemeinsam von den beiden Blöcken getragen, von denen der eine durch die Abschreckung daran gehindert wurde, Krieg außer in Form des Exports umstürzlerischer Ideen zu führen, während der andere den Krieg ausschließlich nur noch als Mittel der Notwehr akzeptierte (wie sich im Herbst des Jahres 1956 auf sehr krasse Weise zeigte). Die kommunistische Propaganda attakkierte die „imperalistische Blockpolitik" als eine Bedrohung des Weltfriedens. Das Gegenteil war stattdessen der Fall: die Existenz zweier fester und im Gleichgewicht befindlicher Blöcke war friedenserhaltend. Diese Tatsache wurde vermutlich sogar im Kreml stillschweigend anerkannt.

Meinte es Chruschtschow ehrlich, als er Ende 1958 den Vorschlag machte, eine vertragliche Grenze zwischen Ost und West mit Hilfe der vertraglichen Teilung Deutschlands fest-zulegen, und damit andeutete, daß eine solche Maßnahme den Frieden auf dem Kontinent fest verankern würde? Vermutlich schwebten ihm die Vorteile eines Waffenstillstands mit dem Westen vor, in dessen Verlauf die Sowjetunion ihre wirtschaftliche und politische Situation konsolidieren konnte. Es ist aber unwahrscheinlich, daß für das Berlin-Ultimatum des Jahres 1958 allein „konservative" Beweggründe maßgebend gewesen sind, selbst wenn andere Handlungen und Gesten Chruschtschows erkennen lassen, daß seiner Politik entsprechend der gegenwärtigen Position der Sowjetunion in der Welt ein „konservativer" Zug innewohnt. Der Nachdruck darauf, daß ein Krieg nicht unvermeidlich sei, die kürzliche Betonung der Unverletzlichkeit der Grenzen — seien es zaristische Grenzen in Asien oder durch das Potsdamer Abkommen in Europa gezogene Grenzen — und vor allem die Unterstützung für den Plan einer Beschränkung des Besitzes von Kernwaffen auf die bereits „Besitzenden" enthüllen das sowjetische Interesse daran, den augenblicklichen Stand der Dinge in der Welt zu verewigen, also einen Zustand, in welchem — mehr oder weniger entsprechend den Gedankengängen von Dulles — jede der beiden Großmächte die Ordnung in ihrem Drittel der Welt weiter aufrechterhält, während das letzte Drittel der Gegenstand ihrer Konkurrenzkämpfe — mit alleiniger Ausnahme eines Krieges — bleibt.

IV.

Die Verewigung des Zwei-Block-Systems als Grundlage einer Weltordnung wäre vielleicht nicht schlecht, obwohl die Chinesen sie wohl kaum als revolutionär bezeichnen würden. Die Frage erhebt sich, ob eine solche Weltordnung angesichts des sich wandelnden Bildes der menschlichen Gesellschaft nicht bereits zu einer veralteten Vorstellung geworden ist.

Innerhalb der letzten fünf Jahre zeigte es sich, daß in beiden Blöcken ein schrittweiser Erosionsprozeß vor sich geht. Aus verschiedenen Gründen, die weiter unten im einzelnen untersucht werden sollen, scheint die Führung in beiden Blöcken nicht mehr die gleiche Autorität wie in der Vergangenheit zu besitzen. Es ist zu Fällen offener Rebellion gekommen — Frankreich auf der einen und China und Albanien auf der anderen Seite — sowie zu einer Reihe von kleineren Fällen der Insubordination in beiden Bereichen Die beiden Gebilde, die in den fünfziger Jahren anscheinend einen mololithischen Charakter hatten, ähneln nunmehr eher Kesseln brodelnden unterirdischen Magmas, dessen dumpfes Grollen die Bildung tiefer und breiter Spalten erkennen läßt. Dieser Fluktuationszustand spiegelt sich in der internen Situation verschiedener Staaten des westlichen Bündnisses wider. Die ideologischen und parteipolitischen Trennungslinien, welche bis vor ein paar Jahren sehr scharf gezogen zu sein pflegten und in den meisten Fällen mit der Abgrenzung zwischen den Freunden der Vereinigten Staaten und denen der Sowjetunion identisch waren, sind heute weniger deutlich und zeigen sogar die Tendenz, völlig zu verschwinden. Das entsprechende Phänomen im Osten, obgleich weniger klar sichtbar, ist das Hervortreten revisionistischer oder prochinesischer Gruppen innerhalb der kommunistischen Parteien. Außerdem zeigt sich eine dauernde Wechselwirkung zwischen diesen neuen Trends und anderen, die sich auf einem andersartigen Gebiet abspielen: unter der Führung ihrer eigenen Päpste bricht die römisch-katholische Kirche aus ihrer mittelalterlichen Festung hervor, in dem Bemühen nach Einheit unter den christlichen Kirchen und unter Zubilligung von Toleranz für andere Religionen (einschließlich der kommunistischen Religion, wie es manchmal scheint). In einer derartigen Atmosphäre der Verschmelzung und Versöhnung wird es wiederum immer schwieriger, die Annahme der dogmatischen Glaubenssätze ebenso wie früher zu erzwingen; und Jewtuschenko ist in der Lage, im Osten den Kampf um die intellektuelle Freiheit zu führen, der im Westen inzwischen etwas schal geworden ist.

Ich möchte nun versuchen, die Motive aufzuzeigen, die der westlichen wie der östlichen Gesellschaft mehr oder weniger gemeinsam eigen sind und möglicherweise zu diesen sichtbaren Veränderungen geführt haben. Um mit dem weniger wichtigen zu beginnen: das erste Motiv kann in der Tatsache gesehen werden, daß der Unterschied zwischen der wirtschaftlichen und technischen Kapazität der führenden Nation und derjenigen der anderen Nationen im Block sich verringert, über kurze Zeiträume hinweg kann es sogar dazu kommen, daß gerade die führende Nation eine wirtschaftliche Krise durchstehen muß. Auf diese Weise ist eine der früheren starken Antriebs-kräfte für die Einheit jedes der beiden Blöcke heute weniger wirksam. Finanziell und wirtschaftlich ist Europa auf sich selbst angewiesen. Das gleiche läßt sich nicht von den kleineren COMECON-Ländern sagen. Dennoch ist das Rußland von heute unter dem Druck einer ernsten landwirtschaftlichen Krise und auf der Suche nach langfristigen Krediten gewiß nicht in der Lage, ihnen Kapital in dem für ihre künftige industrielle Entwicklung erforderlichen Ausmaß zur Verfügung zu stellen (von China ganz zu schweigen).

Der zweite Hauptgrund für die Erosion in beiden Blöcken ist die Tatsache, daß die Wirksamkeit des von jeder der beiden führenden Nationen gewährleisteten Schutzes nachläßt und daß die Furcht vor der Anwendung atomarer Repressalien als Strafe für politische Missetaten dahinschwindet, de Gaulles Theorie hinsichtlich des ersten Punktes ist wohlbekannt. Ohne ganz so weit wie er in dieser Argumentation zu gehen, ist es für jedermann offensichtlich, daß die Schwelle für die Anwendung von Atomwaffen sich immer weiter nach oben verschiebt, so daß nur Ereignisse von absolut vitaler Bedeutung zum Einsatz der Abschrekkungsmittel führen könnten. Die wachsende Erkenntnis dieser Tatsache hat bestimmt erheblichen Einfluß auf Chinas Kontroverse mit der Sowjetunion ausgeübt. Welche Sicherheit kann Peking haben, daß im Falle einer Bedrohung Chinas durch Kernwaffen die Sowjetunion bereitwillig das Risiko, selbst vernichtet zu werden, auf sich nehmen würde? Die Führer von Peking müssen davon überzeugt sein, daß China ein eigenes Kernwaffenarsenal braucht, um überleben zu können; und wenn die Chinesen es nicht von der Sowjetunion bekommen können, werden sie alles in ihren Kräften Stehende tun, um es mit Hilfe eigener Anstrengung zu erringen. Wenn diese Annahme zutrifft, besteht keine Hoffnung, daß China einem Vertrag gegen die Ausbreitung von Atomwaffen beitreten wird. Und wenn ein solcher Vertrag nur auf Kontinental-Europa — Frankreich ausgenommen — und auf unterentwickelte Erdteile Anwendung fände — welchen Nutzen könnte er dann noch haben? Diejenigen Nationen, die für sich einen untergeordneten Status akzeptiert haben, brauchen solche Verpflichtungen nicht einzugehen; die anderen wiederum werden, sobald sie dazu in der Lage sind, ihnen keine Beachtung schenken.

Andererseits gibt es inzwischen genug Beweise dafür, daß sich sogar ein schwaches Land von einem Block lösen und entweder die Seite wechseln oder isoliert bleiben kann, ohne dadurch mehr als nur wirtschaftliche Schwierigkeiten zu haben. Jugoslawien, Kuba und Albanien sind derartige Fälle. Warum und in welchen Grenzen dies möglich ist (die Sowjetunion schritt sehr schnell gegen Ungarns Versuch, den Warschauer Pakt zu verlassen, ein), läßt sich durch die Tatsache erklären, daß im Atomzeitalter die Großmächte Verbündete viel weniger dringend als früher brauchen. Die Verbündeten mögen einen psychologischen, wirtschaftlichen oder Propagandawert darstellen; ihr militärischer Wert ist jedoch heute gering, und sogar die Bedeutung, die ihre geographische Lage für die Errichtung von Atomwaffen-Stützpunkten gehabt haben mochte, ist angesichts der Entwicklung interkontinentaler und von Schiffen abschießbarer Raketen praktisch aufNull zusammengeschrumpft. Rein strategisch gesehen haben Verbündete, und daher auch die Blöcke an sich, immer mehr nur noch eine Randbedeutung.

Der dritte Grund für die Aushöhlung des Blocksystems findet sich in einer Reihe von psychologischen Faktoren. Nach fünfzehn Jahren der Spannung sehen sich die führenden Gruppen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nicht mehr in der Lage, ihre Völker in einem Zustand aktiver ideologischer Mobilisierung zu halten. Die Maßnahmen zur Verringerung der Spannungen haben eine Multiplikator-Wirkung gehabt. Das Schlagwort von der „imperialistischen Umzingelung" war von dem Augenblick an keine Ausrede mehr für Mißernten oder für die Knappheit von Verbrauchsgütern in der Sowjetunion, da Kennedys Lächeln die Verkörperung der Vereinigten Staaten zu werden begann. Ebenso hörte die „Drohung der sowjetischen Aggression“ auf, eine wirksame Wahlkampfparole für Rechtsparteien zu sein, seitdem Stalins tödlicher Sarkasmus durch Chruschtschows Gleichnisse und Scherze ersetzt wird. Ein Mitglied der Bourgeoisie darf heutzutage „pro-amerikanisch“ oder „pro-de-Gaulle" und ein Mitglied der kommunistischen Partei (allerdings nicht im Osten selbst) „pro-russisch“ oder „prochinesisch" sein, obgleich der Gaullismus und China gar keine wirklich glaubwürdigen Alternativen darstellen. Im Bereich des individuellen Gewissens wächst das Bedürfnis, nicht nur in Richtung auf einen ungenau definierten „Frieden" voranzuschreiten (der auch im Frieden des Todes gefunden werden könnte), sondern Möglichkeiten zu finden, um die eigene Persönlichkeit zu verwirklichen, um seine Nachbarn kennenzulernen und zu verstehen, um mit ihnen den Kontakt für irgendwelche neue Unternehmungen aufzunehmen, um Brüderlichkeit auch anderswo als nur auf Soldatenfriedhöfen entstehen zu lassen und um in der ganzen Welt zu Hause zu sein.

Mehr als alles andere aber beginnt die Furcht, dieses starke Bindemittel der Bündnisse, zu verschwinden, und zwar sowohl aus den Beziehungen zwischen den Mitgliedern des je-welligen Blocks als auch aus den Beziehungen zwischen den beiden Blöcken selber. Man hat aufgehört, den Großen Bruder wegen seiner Größe zu fürchten oder wegen seiner Brüderlichkeit zu lieben. Der hartnäckige Kapitalismus ebenso wie der unnachgiebige Kommunismus beginnen beide zu veralten und aus der Mode zu kommen. All dies deutet auf etwas Neues hin — denn etwas muß die so entstehende Leere ausfüllen.

V.

Ebenso wie in der Innenpolitik die Menschen die Extreme verabscheuen, werden nun auch in der internationalen menschlichen Gesellschaft neue Positionen modern. Diese Positionen könnte man als Neo-Nationalismus und Neo-Neutralismus bezeichnen (ähnlich dem Nationalismus und Neutralismus des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, aber nicht identisch damit). Manche neo-nationalistischen Länder, wie de Gaulles Frankreich, haben sich entschieden, zunächst einmal Mitglied eines Blocks zu bleiben, und fast alle neo-neutralistischen Länder empfinden früher oder später die Unfruchtbarkeit ihrer Lage und versuchen, sich in einem „Nicht-Block" zusammenzufinden, um ihren Einfluß auf die Vorgänge in der Welt zu vergrößern. Grundsätzlich aber wird die Position beider durch den Glauben aufrechterhalten, daß in unserer sich wandelnden Welt eine Nation ihr Heil am besten darin findet, sich auf ihre eigenen Anstrengungen und Hilfsquellen zu verlassen. Dieser Trend weist daher, wenn ich mich nicht sehr täusche, auf eine schrittweise „Atomisierung" der internationalen Gesellschaft hin.

Vor einer Betrachtung der Bedeutung einer solchen Entwicklung sollte man die Frage stellen, ob dieser Trend nicht etwas Vorübergehendes darstellt und ob das alte System nicht letzten Endes doch ohne allzu große Schwierigkeitenwiederhergestelltwerden wird Wenn ich dies trotz allem, was ich über die Vorzüge des Zwei-Block-Systems zu sagen hatte, ernsthaft bezweifele, so aus der Überlegung heraus, daß wir, um nochmals eine bipolare Welt zu schaffen, einen Weg finden müßten, uns von dem Nichtvorhandensein Chinas zu überzeugen. Diese Leistung kann vielleicht noch eine Zeitlang in den Vereinten Nationen vollbracht werden, ist aber bestimmt nirgendwo anders möglich. Die führenden Mächte der beiden Blöcke konnten eine bemerkenswerte und sehr seltene Kombination von drei Gegebenheiten für sich ausnutzen. Sie hatten die ausschließliche Kontrolle über die „letzten" Waffen. Sie hatten wirtschaftliche Hilfsquellen zu ihrer Verfügung, welche es ihnen gestatteten, den Nationen ihrer jeweiligen Gruppe Hilfe zu leisten. Sie waren im Genuß der Stellung ideologischer Überlegenheit, die ihnen als Ergebnis ihres Sieges im Kriege beziehungsweise ihres Sieges in der Revolution zustand, so daß die von ihnen vertretene Ideologie ohne Schwierigkeiten zu der Ideologie der betreffenden Gruppe wurde. Diese drei Bedingungen sind im Begriff zu veralten, und in ihrer Kombination sind sie bereits überholt. Es kann der Versuch gemacht werden, mit Hilfe eines Vertrages die Kontrolle über die Kernwaffen in den Händen der „beati possidentes" zu belassen. Er bedeutet aber nichts für China, vermutlich auch nichts für Frankreich und ebensowenig für diejenigen Nationen oder Gruppen von Nationen, die sich auf den chinesischen und französischen Präzedenzfall berufen werden. Wirtschaftliche Hilfe von der führenden Nation des jeweiligen Blocks wird in immer geringerem Maße benötigt werden. Schließlich wird auch die ideologische Führung immer häufiger angegriffen werden (wie es sich schon jetzt ankündigt). Menschen, die aufhören, Angst zu haben oder in Not zu sein, bleiben nicht von der ideologischen Überlegenheit anderer überzeugt.

Alle Anzeichen scheinen demnach auf eine Änderung der Weltordnung hinzudeuten. Wie immer stehen an der Spitze einer solchen Bewegung wirkliche Revolutionäre. In unseren Tagen wird diese Rolle von de Gaulle und Mao gespielt, die beide offen gegen die festgelegte Ordnung revoltiert haben. Was aber wirklich anzeigt, daß der Wind aus einer anderen Richtung weht, ist die Tatsache, daß das Weltsystem selbst die Veränderung des psychologischen, wenn auch noch nicht des politischen Klimas wahrnimmt, In verschiedenen Gebieten, als Reaktion auf verschiedene Arten von Druck, und mit verschiedenartiger Zielsetzung haben John F. Kennedy ebenso wie Johannes XXIII. und Nikita Chruschtschow kraftvolle Impulse dazu gegeben, die in der Welt seit dem Jahre 1947 herrschende Ordnung umzubilden.

VI.

In gewisser Hinsicht ist es ein tröstlicher Gedanke, daß innerhalb so kurzer Zeit und über ein so großes Gebiet des geographischen und geistigen Herrschaftsbereichs der Menschheit hinweg der Trend zu einer neuen Ordnung positiv ausgenommen worden ist. Die Gefahren, die mit einer lang hingezogenen Periode der Veränderungen verknüft sind, liegen klar auf der Hand. Wie Walpole, Metternich und Salisbury ebenso wie andere schon zu ihrer Zeit feststellten, kann es kaum zu irgendeiner Veränderung des internationalen Gleichgewichts kommen, ohne daß nicht auch gleichzeitig die Möglichkeit eines Krieges gegeben ist. In unseren Tagen würde eine derartige Möglichkeit so ungleich viel mehr furchtbare Zerstörungen und Not mit sich bringen, daß die Zeitspanne der Veränderung möglichst auf ein Minimum reduziert werden sollte.

Das erste und gefährlichste Resultat der Schwächung des Zwei-Block-Systems ist, wie ich bereits sagte, die „Atomisierung" der internationalen Gesellschaft — oder wird es sein. Die kombinierte Wirkung von Nationalismus und Neutralismus — der beiden Kräfte, welche die Blöcke langsam zur Auflösung bringen — wird nicht nur in Südamerika und Afrika, im Mittleren Osten und Asien zu spüren sein, sondern auch in Europa selbst, und zwar sowohl in Ost-wie in Westeuropa. Das Beispiel Ungarns wird sich nicht leicht oder bald wiederholen lassen, aber das Beispiel Jugoslawiens oder Albaniens könnte leicht Nachahmer finden und zwar unter Bedingungen und Umständen, die nicht vorhersehbar sind. Die politische Ausrichtung Schwedens und Finnlands ebenso wie die der Schweiz und Österreichs könnte in Zusammenhang mit einer weltweiten ideologischen und politischen Entspannung eine größere Anziehungskraft gewinnen. Der Neutral-Nationalismus (die Theorie des Heils durch eigene Bemühungen oder, wie man sagen könnte, der moderne politische Protestantismus) wird die Barrieren der Hautfarbe, Rasse und Geographie überschreiten. Einheit ließe sich vielleicht eher in diesem Glaubensbekenntnis suchen, wie es von Tito und anderen vertreten wird, als in den geographisch-rassischen Faktoren, wie es Sukarno vorschlägt. Und das mit Recht, weil Ideen ebenso wie Raketen nicht an Staatsgrenzen Halt machen. Wir werden in der Tat immer häufiger die (nicht immer mit Erfolg gekrönten) Versuche bestimmter Mächte beobachten können, jenseits desjenigen Bereichs zu agieren, der als ihre normale Einflußsphäre anzusehen ist — China in Südamerika, Kuba in Afrika, Frankreich in dem Teil Asiens, aus dem es vor zehn Jahren mit Gewalt vertrieben wurde.

Die Schlacht zwischen Gut und Böse findet weiterhin statt, jedoch mit weniger hell klingenden Fanfaren und mit gemäßigterem Alarmgeschrei. Eine offizielle Neutralität in dieser Schlacht wird jedoch nicht als bedenklich angesehen. Dulles wurde, als er noch im Amt war und auch nachher, oft vorgeworfen, daß er den Neutralismus als unmoralisch brandmarken wolle. Er hätte tatsächlich das Wort «Hors de l’Eglise pas de salut» — es gibt kein Heil außerhalb der Kirche — zur Richtschnur nehmen können, eine durchaus berechtigte Vorschrift für die römisch-katholische Kirche während des offenen Kampfes gegen die Reformation, aber nach Meinung der Führer der Ökumenischen Bewegung weniger geeignet für eine religiöse Patt-Situation. Es kann jedoch auch gut möglich sein, daß Dulles in Übereinstimmung mit seiner Auffassung von der Weltordnung nicht so sehr gegen Neutralität war, weil er sie für unmoralisch hielt, sondern vielmehr weil er ihre ansteckende Wirkung erkannte.

Ebenso kann man nicht von der wahrscheinlichen Atomisierung der internationalen Gesellschaft darauf schließen, daß die Freiheit zu eigener Bewegung, die sie den kleinen und großen Mächten ermöglichen wird, an sich schlecht ist. In gewisser Hinsicht kann sie sogar wertvoll sein. Diese Freiheit der Bewegung birgt aber, wenn sie ihrer natürlichen Entwicklung überlassen wird, die Gefahr häufiger Kollisionen in sich. Im weltpolitischen System der fünfziger Jahre war das Kriegs-risiko begrenzt. Es war unwahrscheinlich, daß ein globaler Konflikt zufällig entstehen konnte, und es gab keine möglichen " agents provocateurs". In Berlin, Korea, Vietnam und Ägypten wurde das langsame Hinaufschaukeln zum Kriege hin durch das stillschweigende Einvernehmen der beiden Weltmächte verhindert. Es erscheint zweifelhaft, ob dies in einer Welt weiterhin so bleiben kann, in der fünf oder sechs weitere Atommächte existieren und in der außerdem der Mangel an Verantwortungsgefühl fast jedes Staates unzählige Anlässe zu Konflikten hervorrufen könnte.

Ich will mir nicht anmaßen, hier aufzuzeigen, nach welchen Gesichtspunkten die neue internationale Ordnung errichtet werden sollte, damit das Schlimmste verhütet werden kann, sondern möchte nur darauf hinweisen, daß die Hauptverantwortung für einen friedlichen und schnellen Übergang bei den gegenwärtigen Großmächten liegt. Es ist ihre Aufgabe, zu erkennen, daß die vordringlichste Forderung darin besteht, die Anzahl der unbekannten Faktoren in der internationalen Gleichung zu reduzieren. Sie sollten, wo und wann immer möglich, die Bildung von Einheiten fördern, die größer als die traditionellen Nationalstaaten (oder als die künstlichen in Afrika und Lateinamerika geschaffenen Staaten) sind.

Der Nutzen, den ein wirklich geeintes Europa für die Stabilisierung des Friedens und für die Verhinderung abenteuerlicher Unternehmungen in einem der anfälligsten Gebiete der Welt haben könnte, liegt heute für viele klar auf der Hand. Wir wollen hoffen, daß er eines Tages in Moskau ebenso klar erkannt wird wie heute in Washington. Ähnliche Lösungen sollten aufmerksam als späteres Ziel einer schrittweisen Entwicklung im Mittleren Osten oder in dem Gebiet, das sich vom malaiischen Archipel über Neuguinea bis zu den Philippinen erstreckt, ins Auge gefaßt werden. Solange die Bildung derartiger größerer und verantwortungsbewußterer politischer Einheiten sich nicht vollzogen hat, sollten regionale Organisationen des Typs gefördert werden, der in der Charta der Vereinten Nationen empfohlen wird. Sie müßten in einem Maße gestärkt werden, daß sie in der Lage wären, in ihren jeweiligen Bereichen für die Erhaltung des Friedens zu sorgen: die NATO im nordatlantischen Raum und der Europarat in Europa, die Organisation Amerikanischer Staaten in Nord-und Südamerika, die Organisation für Afrikanische Einheit in Afrika und die SEATO in Südostasien. Bei einem Rückblick auf die Ereignisse auf Zypern kann niemand übersehen, wie nützlich eine starke regionale europäische Organisation hätte sein können, um sowohl die kurzfristige als auch die langfristige Krise beizulegen.

Vom realistischen Standpunkt aus muß jedoch zugegeben werden, daß den Bemühungen, Macht und dadurch Verantwortung in verschiedenen Gruppierungen von Nationen zu konzentrieren, um so die Möglichkeiten der Anarchie in der Welt zu verringern, offensichtliche Grenzen gesetzt sind. Könnten die Vereinten Nationen dabei mithelfen, etwas Ordnung in diese restliche Anarchie zu bringen? Die Antwort auf diese Frage muß lauten — wie es auch der amerikanische Außenminister Rusk in seiner Rede an der Columbia-Universitätim letzten Januar betonte —, daß die Vereinten Nationen in ihrer gegenwärtigen Form, gegründet auf die juristische Fiktion gleicher Rechte und gleicher Pflichten für jeden einzelnen Mitgliedstaat und ohne verfügbare Hilfsmittel für die Erzwingung irgendeiner Art von Ordnung, in der Praxis stattdessen gerade die Anarchie in einer Gemeinschaft fördern, die sich aus einer Vielheit von Staaten ohne Verantwortung zusammensetzt. Die Bemühungen, den friedenserhaltenden Mechanismus der Vereinten Nationen, so wie es Außenminister Rusk vorschlug, zu verbessern, gewinnen daher lebenswichtige Bedeutung. In der Tat läßt es sich schwer absehen, wie die Weltordnung in der zweiten Hälfte der sechziger und Anfang der siebziger Jahre aufrechterhalten werden soll, wenn die Vereinten Nationen nicht einer gründlichen Überholung unterzogen werden. Es ist durchaus nicht undenkbar, daß die beiden gegenwärtigen Supermächte eines Tages in der Überzeugung übereinstimmen können, daß eine Stärkung der Vereinten Nationen im beiderseitigen Interesse liegen könnte, so daß diese ihnen dabei helfen könnten, die Verantwortung für die Erhaltung des Friedens zu tragen, zu deren Übernahme die beiden Großmächte nicht länger in der Lage sind. Es könnte durchaus ihrem eigenen Vorteil dienen (wie Außenminister Rusks Vorschlag zeigt, das Prestige und die Macht des Sicherheitsrats und insbesondere der Länder mit dauerndem Sitz darin zu erhöhen), wenn sie einige ihrer Funktionen an andere Länder oder Gruppen delegieren, damit diese ihrerseits einen Anteil an der Last der Supermächte in der Weltarena mit übernehmen, wenngleich sie deren wirkliche Stärke — nach den Maßstäben des Raketen-zeitalters — wahrscheinlich nicht erreichen werden. Wenn es dazu kommen sollte, brauchte die zukünftige Organisation der Welt im Prinzip gar nicht sehr von der Organisationsform abzuweichen, die vor zwanzig Jahren in Dumbarton Oaks von den Siegern des zweiten Weltkrieges entworfen wurde.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Roberto Ducci, Gesandter im italienischen Außenministerium, vormals Berater der italienischen Delegationen bei der NATO und der OEEC, Vorsitzender des vorbereitenden Ausschusses für die Verträge von Rom 1956/57, von 1958 bis 1962 italienischer Botschafter in Finnland; geb. 8. Februar 1914 in La Spezia.