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Reden zum Tag der Deutschen Einheit | APuZ 25/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 25/1964 Reden zum Tag der Deutschen Einheit Artikel 1

Reden zum Tag der Deutschen Einheit

Ernst Reuter Franz Böhm Johann Baptist Gradl Eugen Gerstenmaier Herbert Wehner Erich Mende

in der „Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung“ ist soeben ein Heft zum 17. Juni mit „Reden zum Tag der Deutschen Einheit" erschienen. Es enthält die Ansprachen, die unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 zum Gedenken der Opfer gehalten worden sind, sämtliche Reden am 17. Juni der Jahre 1954 bis 1963 anläßlich des Staats-aktes im Deutschen Bundestag und eine Reihe besonders bedeutsamer Reden von Politikern aus den Jahren 1955, 1962 und 1963.

Wir drucken daraus die Ansprachen von Ernst Reuter am 23. Juni 1953, von Franz Böhm am 17. Juni 1954 im Deutschen Bundestag und von Johann Baptist Gradl (1962), Eugen Gerstenmaier, Herbert Wehner und Erich Mende (alle aus dem Jahre 1963) ab.

Rede am 23. Juni 1953 vor dem Schöneberger Rathaus

Tief bewegt stehen wir alle hier, nicht zum erstenmal. Es ist kaum ein halbes Jahr vergangen, daß wir von dieser historischen Stelle aus ein Opfer begleiten mußten auf seinem letzten Gange, das gefallen ist in dem großen Freiheitskampf unseres Volkes. Heute haben wir vor uns sieben Särge und einen leeren Sarg, weil wir den toten Göttling heute nicht von hier aus begleiten können.

In uns schwingt — könnte es anders sein —, in jedem Berliner, in jedem Deutschen das Gefühl der Trauer und der tiefen, aufrichtigen Anteilnahme an denen, die hinterblieben sind. Wir können ihnen nur den einen Trost geben: Wir sind mit unserem Herzen bei ihnen, wir werden sie nicht vergessen, wir werden ihnen den Weg bereiten in die Zukunft und wir werden auch hier zeigen, wie die Berliner immer, alle zusammen, alle für einen gestanden haben, in den vielen langen Jahren der Not, in denen wir hier in Berlin ein neues Volk geworden sind. Aber die Trauer, die in unserem Herzen schwingt, geht auch hinaus in die sowjetische Zone; ich denke an meine Stadt Magdeburg, an die tapferen Arbeiter der Krupp-Gruson-Werke, die ihren Peinigern zum zweiten Male in kurzer Zeit gezeigt haben, wie sie wirklich denken. Wir gehen mit unseren Gedanken hinaus nach Leipzig, zu den Leuna-Werken, in das Gebiet des Uran-Bergbaus, überall da, wo die deutschen Arbeiter dem kommunistischen Regime gezeigt haben, daß sie eine freie Welt wollen und kein kommunistisches Regime. Wir wissen nicht, wie viele Opfer dort draußen dieser grausame, immer noch währende Kampf gefordert hat. Wir nehmen unser Herz in die Hände und geloben in dieser Stunde: Auch wir wer-B den mit ihnen zusammen nicht ruhen, bis wir das Ziel erreicht haben, daß wir nicht mehr trauernd an Särgen stehen müssen, an den Särgen jener, die im Kampfe gegen eine fremde, uns innerlich feindliche Macht ihr Leben lassen müssen.

Aber zu der Trauer kommt — und so muß es in Berlin auch sein — der Stolz darauf, daß unser deutsches Volk der Welt gezeigt hat, wo es wirklich steht. Die Frage: Wie denken denn die Menschen in der Zone, wie denkt denn die Jugend in der Zone? Diese Frage kann die Welt in Zukunft nicht mehr an uns richten. Auf diese Frage haben wir alle miteinander am 17. Juni in Deutschland die Antwort gegeben. Wir gehören als freies, stolzes Volk zur freien Welt, wir bekennen uns zur freien Welt und werden nicht ruhen und nicht rasten, bis wir unser Ziel erreicht haben, zu dieser freien Welt aus eigenem Entschluß, aus eigener Kraft, aus eigenem Willen zu gehören. Der 17. Juni 1953 ist — das ist unsere gemeinsame Überzeugung — das größte Ereignis der Geschichte, das wir seit langem erlebt haben. Niemand kann sagen, ob es uns heute oder morgen oder übermorgen zum Ziele führen wird, aber das wissen wir: Dieser elementar-wuchtige Aufstand unseres Volkes, dieser Marsch der deutschen Arbeiter, diese revolutionierende, entflammende Wirkung der deutschen Jugend unter dem totalitären System, dies alles hat die Welt aufgerüttelt, und die Bahn ist frei gemacht für eine bessere Zukunft.

Keine Macht der Welt, niemand wird auf die Dauer uns Deutsche voneinander trennen können, wir werden zusammen kommen, wir werden zusammenwachsen, wie wir seit langem in dieser Not innerlich zusammengewachsen sind. Unsere Stadt wird wieder eine Einheit werden, äußerlich wie sie es innerlich immer gewesen ist, und unser Land wird wieder eine Einheit werden in Freiheit, wie es nach unserem besten Wissen und Gewissen immer gewesen ist und immer hat sein sollen. Die Fahne auf dem Brandenburger Tor ist von unserer Jugend heruntergerissen worden, und diese Jugend wird eines Tages die Fahne der Freiheit auf dem Brandenburger Tor aufziehen. An dem Tage, an dem wir wie von einem Alpdruck von dieser furchtbaren Vergangenheit Abschied nehmen und ein neues Werk beginnen werden, unser Land aufzubauen, unsere Bahnen wiederherzustellen, unsere Fabriken wieder in Gang zu bringen, unseren Menschen Arbeit und Brot zu geben und vom Schlesischen Bahnhof aus und von all den Bahnhöfen aus den Vertriebenen die Möglichkeit zu geben, in die Heimat zurückzukehren. Wir haben in langen Jahren hier in Berlin alle miteinander Schweres durchmachen müssen, Leid hat uns geprägt, aber dieses Leid hat uns auch zusammengeführt und stärker gemacht als je zuvor. Wir haben gelernt, daß es nur ein Gut für den Menschen gibt, das er braucht, wenn er nicht zugrunde gehen will: Die Freiheit, als Mensch atmen und leben zu können und sein Haupt als Gottesgeschöpf zum Himmel zu erheben. Nicht als Geschenk des Himmels wird diese Gabe der Freiheit zu uns kommen, sondern unter unendlichen Mühen, Opfern und Nöten. Die, die hier gefallen sind, gehören zu den Opfern. Den Hinterbliebenen möchten wir an dieser Stelle sagen: Wir verstehen, was es heißt, plötzlich, scheinbar sinnlos, Abschied nehmen zu müssen. Aber doch, es ist auch vielleicht ein großer Trost, daß auch dieses Abschiednehmen Sie zusammenbringt mit Tausenden und Millionen von Deutschen, die mit Ihnen fühlen. Und dieses Gefühl, diese Überzeugung, daß Sie mit Ihrem Leid, das wir teilen und verstehen, beitragen zu einer besseren Zukunft, das möge Sie trösten.

Wir aber wollen stolz erhobenen Hauptes vor die Welt hintreten, vor unsere Unterdrücker und Peiniger, auch vor die freie Welt, die uns schon so oft geholfen hat, und wollen sagen: Wir Deutsche verlangen nichts anderes als jedes andere Volk dieser Erde, unser Recht, unsere Freiheit, unsere Einheit. Wir haben sie in unserem Herzen geschaffen, aus unserem Willen heraus wird diese Flamme überspringen auf die ganze Welt, und der 17. Juni wird in die Geschichte unseres Landes eingehen als der große Tag der nationalen Erhebung unseres Landes, der Erhebung, in der wir alle uns die Hände gereicht haben, um das Ziel zu finden, das nicht nur uns, sondern auch der ganzen Welt den Frieden geben kann. Denn ohne deutsche Einheit und ohne deutsche Freiheit kein Friede in der Weltl Wenn wir jetzt unter den Klängen des „Guten Kameraden“ unsere Gefallenen auf die Wagen heben, und wenn wir sie dann geleiten, dann wird uns der Klang unserer Freiheitsglocke mahnend, tröstend und stärkend begleiten. die zu einem Symbol für unser Berlin, die zu einem Symbol für die ganze freie Welt geworden ist. Unter ihrem Klang wollen wir entblößten Hauptes geloben, daß eine große Zeit uns immer auf unserem Posten finden wird, daß wir hier in Berlin und daß unsere Freunde in der Bundesrepublik, einander die Hände reichend, dieses große Ziel erkämpfen werden. In diesem Augenblick wird in ganz Deutschland, in jeder Weltstadt, wo deutsche Arbeiter und Angestellte zusammen sind, das Zeichen gegeben werden des Gedenkens an die Toten, das Zeichen des Gelöbnisses, zu wirken und zu schaffen, bis der Tag der Freiheit kommt für uns alle.

Rede am 17. Juni 1954 im Deutschen Bundestag

Am 16. Juni 1953 ging eine erstaunliche Nachricht durch die Welt. Zunächst in Ost-Berlin, dann aber auch in einer ganzen Reihe größerer und kleinerer Städte Brandenburgs, Sachsens, Thüringens und Mecklenburgs erhoben sich die Arbeiter, verließen ihre Betriebe, formierten sich zu Protestzügen und demonstrierten gegen die Regierung der „Deutschen Demokratischen Republik".

Der unmittelbare Anlaß war die Erhöhung der Arbeitsnormen um wenigstens 10 Prozent, die am 28. Mai durch eine Verfügung des Ministerrats angeordnet worden war. Das bedeutete, etwa im Baugewerbe, daß ein Maurer rund 30 Prozent, ein Tischler oder Zimmermann bis 42 Prozent seines bisherigen Lohnes verlor. Diese Maßnahme hatte eine lange Vorgeschichte. Zunächst setzten etwa um die Jahreswende Bestrebungen ein, die Belegschaften jeweils einzeln zu einer freiwilligen Erhöhung der Arbeitsnormen zu veranlassen. Man begnügte sich fürs erste mit einer Propaganda-Aktion. Sie hatte keinen Erfolg. Dann stellte die SED aus ihren Funktionären soge-nannte „Brigaden" zusammen, deren Aufgabe es war, Betriebsversammlungen einzuberufen und die Versammelten zu bewegen, stürmisch nach Erhöhung der Arbeitsnormen für den Betrieb oder für ganze Industriezweige zu verlangen. Wer in diesen Versammlungen widersprach, mußte damit rechnen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Aber auch gegen diese weniger harmlose Sorte von „Freiwilligen", die wir ja alle aus eigenem Erleben zu Genüge kennen, wehrte sich die Arbeiterschaft so stark, daß schließlich nichts anderes übrig blieb, als der nackte Regierungszwang. Natürlich ging die Regierung nicht kurzerhand obrigkeitlich vor — so etwas tut die Regierung in einer „Volksdemokratie" nicht —, sondern sie ließ sich erst von der Nation bestürmen. Hierzu wurden die Zeitungen aufgeboten Sie schrieben: „Hinweg mit den Bremsklötzen! Wir fordern von der Regierung Maßnahmen zur Erhöhung der Normen!" Nun, die Regierung ließ sich, wie gesagt, am 28. Mai erweichen und erlegte den ungehorsamen Arbeitern die Normen mit gesetzlichem Zwang auf. Aber nicht einmal dies wirkte völlig. Es kam zu erbitterten Diskussionen, ja, zu Arbeitsniederlegungen, so zum Beispiel in Eis-leben. in Finsterwalde, in Fürstenwalde, in Chemnitz-Borna und anderen Orten.

Der Tod Stalins mochte dazu beigetragen haben, daß der Widerstand gegen die Norm-erhöhungen so hartnäckig war. Nun aber trat noch ein weiteres Ereignis ein, das zum Ergebnis hatte, daß die Dinge sich zuspitzten Am 9. Juni brachte Ulbricht aus Moskau neue Direktiven mit, die das gesamte Steuer der Politik der Sowjetzone herumwarfen. Plötzlich hieß es, man sei über das Ziel hinausgeschossen, man habe Fehler gemacht, man müsse die Sache anders anpacken. Die Massenflucht aus der Sowjetzone nach dem Westen während der Monate Januar bis Mai 1953 hatte zu wirken begonnen. Die neuen Parolen lauteten: Verbesserung der Lebenshaltung, Stärkung der Rechtssicherheit, Krediterteilung an die Privatindustrie, Wiedereröffnung enteigneter und geschlossener Geschäfte, Aufhebung der Kollektivierung in der Landwirtschaft, Herabsetzung des Ablieferungssolls für die bäuerlichen Betriebe. Mit einer für östliche Verhältnisse ungewohnten Freundlichkeit und Milde wurden die Geflüchteten zur Rückkehr in ihre bisherige Heimat aufgefordert; man stellte ihnen die Rückgabe ihres Eigentums in Aussicht. Kurz, mit einem Schlage schien so etwas wie der lichte Frühling in der Sowjetzone anzubrechen Der Minisferral hob die Beschränkungen in der Ausgabe von Lebensmittelkarten auf, senkte die HO-Preise für zuckerhaltige Erzeugnisse, stundete der Privatwirtschaft die Rückstände für Steuern und Sozialversicherung, gab enteigneten Unternehmern ihre Betriebe wieder zurück, senkte die Fahrpreise und hob die Leistungen der Sozialversicherung und der Fürsorge und sagte eine Über-prüfung aller Verhaftungen, Strafverfahren und Urteile zu.

Merkwürdigerweise blieb aber mit den Arbeitsnormen alles beim alten. Der Beschluß vom 28. Mai wurde nicht aufgehoben. Ja, es setzten sogar neue Aktionen ein, die Arbeiter zu veranlassen, den Normerhöhungen öffentlich zuzustimmen. So wurde am 12. Juni den Arbeitern einer großen Baustelle in der Stalin-Allee zu ihrer Überraschung und Erbitterung mitgeteilt, daß sie sich mit einer Normerhöhung um 10 v. H., rückwirkend vom 1. Juni, einverstanden erklärt hätten. Diesmal kam es zu sehr heftigen Diskussionen; die SED-Funktionäre hatten alle Mühe, die erregte Belegschaft in kleine Diskussionsgruppen aufzuB splittern und so das Ganze im Sande verlaufen zu lassen. Der Zufall wollte es, daß gerade diese Belegschaft am gleichen Nachmittag einen Betriebsausflug auf dem Müggelsee unternahm. Auf diesem Ausflug fiel zum erstenmal das Wort Generalstreik. Es nahmen Abordnungen anderer Baustellen teil, darunter des Blocks 40 in der Stalin-Allee, von dessen Belegschaft dann der Anstoß zu den Ereignissen am 16. Juni ausging.

Zunächst freilich ging man noch recht zahm vor. Block 40 erwog eine Dankadresse an die Regierung wegen des neuen Kurses. Darin sollte nicht etwa die Forderung, sondern nur die Bitte ausgesprochen werden, die alten Normen wiederherzustellen. Aber auch das erschien der zuständigen Gewerkschaft viel zu kühn; sie verlangte, daß vor Absendung der Adresse ihre eigene Entschließung abgewartet werde. Die Arbeiter des Blocks 40 warteten, legten aber zugleich — am 15. Juni nachmittags — ihre Arbeit nieder. Am 16. Juni kam die Antwort der Gewerkschaft; sie war negativ und lautete: Erst mehr arbeiten, dann besser leben! Am gleichen Morgen erschien ein Artikel in der Gewerkschaftszeitung „Tribüne“, der forderte, daß der Ministerratsbeschluß über die Normerhöhung mit aller Kraft durchgeführt werden müsse.

Nunmehr beschlossen die Arbeiter des Blocks 40, daß die Adresse an die Regierung überbracht werden sollte, aber nicht, wie tags zuvor beschlossen, von zwei Delegierten, sondern von der gesamten Belegschaft. In dieser denkwürdigen Stunde ahnte noch keiner der Bauarbeiter des Blocks 4Ö, daß sich ihrem Marsch von der Stalin-Allee nach der Wilhelm-straße ganz Ost-Berlin anschließen sollte und daß sich tags darauf die ganze Sowjetzone erheben würde.

Wir wissen nicht, wer in den Reihen der Ost-regierung oder der SED den Gedanken gefaßt hat, ausgerechnet die Arbeiter von der Frühlingspolitik des neuen Kurses auszuschließen. Vielleicht gab es in den maßgebenden Kreisen der Zonenpolitiker Männer, die mit dem ganzen Frühlingskurs nicht einverstanden waren und sich stark genug fühlten, in der Zone Politik auf eigene Faust zu machen. Wie dem aber auch sein mag, das Stichwort war gegeben, und der 16. Juni brach an.

Als die Bauarbeiter des Blocks 40 am Morgen des 16. Juni ihren Marsch antraten, da ging es zunächst noch allein um die Arbeitsnormen. Die Demonstranten führten ein Transparent mit, auf dem die Worte standen: „Wir fordern Herabsetzung der Normen!“ Ich brauche die Ereignisse der jetzt folgenden Stunden hier an dieser Stelle nicht aufs neue vor Ihnen aufzurollen. Wir alle kennen den Verlauf im großen Ganzen; manche von uns haben sich ihn für immer efngeprägt: Stunde um Stunde, Stadt um Stadt! Wie sich an den ersten Zug andere anschlossen, wie einer Betriebsstillegung die andere nachfolgte, wie der Hauptzug aus allen Nebenstraßen unendlichen neuen Zuzug erhielt, was sich am Alexanderplatz, was sich vor der Staatsoper ereignete, die Ergriffenheit der Passanten, das fast völlige Ausbleiben irgendeiner staatsamtlichen und parteiamtlichen Gegenwirkung, die geteilte Stimmung bei den Volkspolizisten, die absolute, beinahe betonte Passivität der Besatzungsmacht, — das alles ist so oft mit dokumentarischer Treue dargestellt worden, daß es uns lebendig genug vor Augen steht. Gegen Mittag erreichte die Spitze des gewaltigen Zuges das Regierungsgebäude Ecke Wilhelm-und Leipziger Straße, die alte Trutzburg Hermann Görings. Das große Scherengitter vor dem Haupttor wurde niedergelassen, und die ersten Sprechchöre er-schollen: „Wo sitzen unsere Volksvertreter?'

Jetzt aber tritt eine Wendung ein, die den ganzen Charakter des bisherigen Geschehens verändert und die, gleichsam blitzartig, offenkundig macht, worum es an diesem 16. Juni eigentlich ging. Es war in den frühen Nachmittagsstunden, als endlich ein Regierungsvertreter, der Minister Selbmann, aus dem Gebäude zu den Demonstranten heraustrat, einen Tisch bestieg und eine von Pfiffen, Gelächter und Zwischenrufen unterbrochene Ansprache hielt. Danach schien es, als sei ein toter Punkt erreicht; man kam nicht weiter. Aber bei solchen Ereignissen kann die Entwicklung nicht stillstehen. Die Bewegung war zu groß, zu aufsehenerregend, zu gewaltig geworden, als daß die Parole „Wir fordern Herabsetzung der Normen!" noch ausgereicht hätte. Jeder einzelne unter den Tausenden und Abertausenden, die hier in der Wilhelmstraße versammelt waren und die Fensteröffnungen der Häuser ausfüllten, wartete darauf, daß jetzt das erlösende Wort gesprochen würde; aber jeder wußte auch, daß dann die Sache bitter ernst werden würde.

„Wir fordern freie, geheime Wahlen!“ Es war ein etwa fünfzigjähriger Steinträger, der dieses Wort sprach. Er bestieg nach einigen anderen Rednern den Tisch, schiebt den Minister mit einer Handbewegung beiseite und spricht in die sofort eintretende Stille hinein die Sätze, die aus einem Streik um Arbeitsnormen ein politisches Ereignis großen Stils gemacht haben, ein Ereignis, das in der Geschichte auf lange hinaus denkwürdig bleiben wird. Die Worte sind uns erhalten geblieben. Sie lauten folgendermaßen: „Kollegenl Es geht hier nicht mehr um Normen und Preise, es geht um mehr. Hier stehen nicht allein die Bauarbeiter der Stalin-Allee, hier steht Berlin und die ganze Zone." Und zum Minister Selbmann gewendet fährt er fort: „Was Du hier siehst, das ist eine Volkserhebung. Die Regierung muß aus ihren Fehlern die Konsequenzen ziehen. Wir fordern freie, geheime Wahlen!"

Es wird berichtet, welchen gewaltigen Eindruck diese Sätze auf die versammelten Massen gemacht haben. Ein unermeßlicher Beifallssturm erhob sich. Jetzt wurde es ernst Die Fenster des Regierungsgebäudes schlossen sich, die Regierungsleute und Beamten traten in das Innere der Zimmer zurück. Die Parole des Steinträgers war, kaum gesprochen, die Parole der Demonstration, wenig später die Parole des gesamten aufständigen Berlins und am Abend, als die Rundfunksendungen kamen, die Parole der ganzen aufständischen Zone geworden.

Damit war freilich zugleich auch das Schicksal des Aufstands besiegelt. Bisher hatte sich die Besatzungmacht in einer mehr als auffälligen Weise von der Berliner Regierung distanziert. Jetzt aber war die russische Deutschlandpolitik in Frage gestellt, von Stund an mußte sich die Besatzungsmacht genötigt sehen, hinter die Sowjetzonenregierung zu treten. Würden sich die Demonstranten mit ihren ursprünglichen Zielen begnügt haben, dann würden sie eine wahrscheinlich nicht einmal geringe Chance gehabt haben zu obsiegen. Denn es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die Russen den bisherigen Aufstand nicht etwa nur aus Überraschung geschehen ließen, sondern daß sie ihn geschehen ließen, weil sie ihn geschehen lassen wollten. Es paßte das in ihre Politik des neuen Kurses. Welch eine Chance, welch eine werbende Theaterpose vor der ganzen Welt wäre es gewesen, wenn sich die Russen als Schutzherren der deutschen Arbeiter gegen eine SED-Regierung aufgespielt hätten, der man dann kühlen Gemütes und dreister Stirn auf einmal den Vorwurf gemacht hätte, daß sie versagt habe und volksfremd geworden sei! Die Demonstranten hatten auf ihrem Marsch vom Osten bis ins Zentrum Berlins ihre Augen offen gehalten, sie waren an der russischen Botschaft Unter den Linden vorbeimarschiert. Sie waren russischen Soldaten und russischen Polizisten begegnet. Sie kannten ihre Chance, aber sie schlugen diese Chance aus.

Jetzt ging es um freie, geheime Wahlen. In diesen Wahlen sollte nicht über Arbeitsnormen, sondern es sollte über die künftige politische Daseinform der Deutschen in der russischen Besatzungszone abgestimmt werden. Es ging um die Wiedervereinigung Deutschlands, um die Zurückverlegung des Eisernen Vorhangs an die Ostgrenzen des russisch besetzten deutschen Landes, es ging um einen elementaren Kurswechsel der russischen Besatzungspolitik, um eine Anpassung dieser Politik an die Besatzungspolitik der anderen Besatzungsmächte, es ging um das Ende einer rußlandhörigen Trabantenregierung überhaupt, es ging um die Deutschlandpolitik Sowjetrußlands. Und über alle diese Fragen sollte in einem Verfahren abgestimmt werden, das allen „volksdemokratischen" Grundsätzen ins Gesicht schlägt, in einem wahrhaft demokratischen Verfahren — so wie man das Wort „Demokratie" seit jeher verstanden hat und wie man es auch heute noch in allen Teilen der Welt versteht, in denen man daran festhält, daß Worte die Wahrheit ausdrücken und nicht die dreiste Lüge maskieren sollen.

Der Berliner Aufstand hatte als Arbeiteraufstand begonnen; es war die Absicht, arbeitsrechtlichen Forderungen mit Hilfe einer Streik-demonstration Nachdruck zu verleihen. Er war inzwischen zu einem Volksaufstand geworden, an dem alle Schichten des deutschen Volkes in der Sowjetzone teilhatten. Aber er war auch nach dieser Verwandlung immer noch ein Arbeiteraufstand geblieben. Denn auch die neue Wendung war von Arbeitern herbeigeführt worden und wurde von der Arbeiterschaft getragen. Zum erstenmal in der neueren Geschichte erhob sich eine Revolution der Arbeiter gegen einen Staat und gegen ein System, die ihren Ursprung und ihr Daseins-recht aus einer Revolution der Arbeiter ableiten. Insofern behielt der Aufstand seinen Charakter einer sozialen Revolution bei. Diese Revolution richtete sich schlechthin gegen den Versuch und den Anspruch, die soziale Frage mit den Mitteln des Bolschewismus und des Terrors zu lösen. Die Arbeiter der Sowjetzone bekundeten vielmehr ihren Willen, in einem freien, demokratischen Staatswesen zu leben und ihre sozialen Ziele im Rahmen eines freien Staatswesens und mit den Mitteln eines solchen Staatswesens zu verfolgen. Bezeichnenderweise hat niemand, weder die Sowjetzonenregierung noch die Besatzungsmacht, auch nur den Versuch gemacht, die Arbeiterschaft zu trennen, demjenigen Teil, der sich von der Parole freier, geheimer Wahlen distanzierte, die größten Zugeständnisse zu machen und den anderen Teil mit brutaler Gewalt zur Räson zu bringen. Würden es — wie die offizielle sowjetzonale Sprachregelung behauptet — amerikanische oder bundesrepublikanische „Agenten" gewesen sein, die dem Aufstand die nationalpolitische Wendung gegeben hätten, dann würde dieser Versuch mit Gewißheit gemacht worden sein. Die Sowjet-zonenregierung und die Russen wußten, warum sie ihn nicht machten. Sie würden Mühe gehabt haben, unter den gesamten Demonstranten in der ganzen Sowjetzone auch nur einen einzigen Arbeiter zu finden, der sich jetzt noch mit einer Herabsetzung der Normen zufrieden gegeben haben würde. Und sie wußten das.

Tatsächlich schwenkten die Russen, nachdem die Parole freier geheimer Wahlen ausgegeben war — wenn auch erst nach einer erstaunlich langen Schrecksekunde —, zu der von ihnen bisher bloßgestellten Sowjetzonenregierung in die Front gegen die von ihnen bislang so auffällig hofierten aufsässigen Arbeiter um und erteilten an ihre Truppen in Döberitz und in anderen Garnisonen den Befehl zum Eingreifen am Mittag des nächsten Tages.

Möglich, daß sich nicht alle Demonstranten vor dem Regierungsgebäude in diesem Augenblick Rechenschaft von der ganzen Tragweite des Geschehens gegeben hatten. Aber man würde den Berlinern unrecht tun, wenn man glaubte, sie hätten die Parole „Wir fordern freie, geheime Wahlen" ausgesprochen in der Annahme, es könnte sich in der Spwjetzone ein Märchen ereignen. Die Menschen, die da den Vormittag über von weither anmarschiert waren, setzten sich aus den diszipliniertesten, besonnensten, erfahrensten, situationskundigsten, in den Künsten der Selbstbeherrschung geschultesten Arbeitern zusammen, die es in diesem Augenblick vielleicht in der ganzen Welt geben hat. Sie waren zudem Berliner, d. h. Menschen von hellem Bewußtsein und unbestechlichem Wirklichkeitsblick. Wenn irgendwann die Tragweite einer demonstrativen Erklärung voll und bewußt erfaßt worden ist, dann am Nachmittag des 16. Juni vor dem Zwing-Uri-Gebäude des ehemaligen Luftfahrt-ministeriums in der Leipziger Straße in Berlin. Was weiter geschah, das wissen Sie. Der Vormittag des 17. Juni sah in Ost-Berlin den Generalstreik und in zahlreichen Städten der Sowjetzone das gewaltige übergreifen des Aufstands; ja selbst in den Satellitenstaaten im übrigen Ostraum loderten Bewegungen auf. Am Mittag des 17. Juni setzte die Aktion der russischen Truppen ein. Der militärische Ausnahmezustand wurde erklärt, jede weitere Demonstration untersagt. Es floß Blut. Der Aufstand wurde, wie es angesichts der Machtverhältnisse nicht anders sein konnte, rasch und rücksichtslos unterdrückt. Aber was der Aufstand unter solchen Verhältnissen überhaupt zu bewirken hoffen konnte, das hatte er bereits bewirkt, ehe die Russen marschierten. Die Volksbewegung gegen den asozialen Fronvogtstaat und für ein in freien demokratischen Formen vereinigtes Deutschland war geschichtliche Tatsache geworden. Beides gehörte zusammen: Das Bekenntnis zur Freiheit von sozialer Unterdrückung und das Bekenntnis zur nationalen Einheit. Es war nicht die Meinung, das eine um des andern willen preiszugeben. Ein einiges Deutschland: Ja! Aber ein einiges Deutschland, das einen Eisernen Vorhang, wenn es denn sein muß, allenfalls an seiner Ostgrenze, aber unter keinen Umständen an irgendeiner seiner anderen Grenzen duldet, die es mit Nachbarvölkern teilt, die sich zur Einheit der freien Nationen bekennen. Was haben uns der 16. und 17. Juni gezeigt? Lassen Sie mich einige der wichtigsten Einsichten nennen, die wir diesen Tagen verdanken: Auch in einem totalitären Staat kann eine revolutionäre Situation entstehen und explodieren. Die bedeutendsten Staatsmänner, Politiker und Historiker freier Nationen waren bis zu diesem Tage geneigt, dies für unmöglich zu halten.

Der Aufstand hatte eine soziale, eine national-politische und eine weltpolitische Seite. Sie bilden eine Einheit und können nicht voneinander losgelöst werden.

Der soziale Aufstand richtete sich gegen die Ausbeutung des arbeitenden Menschen. Einmal gegen die Ausbeutung der Arbeiter eines besetzten Landes durch eine Besatzungsmacht, die von sich behauptet, ein sozialistisch-revolutionärer. nicht imperialistischer Arbeiterstaat zu sein. Zum anderen gegen die spezifische Form der Arbeiterausbeutung, wie sie für ein bolschewistisches System kennzeichnend ist Der nationalpolitische Aufstand richtete sich gegen den Mißbrauch der Besatzungsgewalt zu dem Zweck, eine Nation dadurch zu zerreißen, daß man der Bevölkerung einer ver-einzelten Besatzungszone eine Staatsform aufzwingt. die sie in das bolschewistische System gewaltsam integriert und sie dadurch von innen her aus dem Staatsverband loslöst, zu dem sie gehört und gehören will. Es war der Protest eines völkerrechtswidrig vergewaltigten Volksteils gegen das Verbrechen der Eisernen Vorhänge.

Der weltpolitische Aufstand richtete sich gegen den aggressiven bolschewistischen Terror schlechthin. Es war der erste volkstümliche, revolutionäre Massenaufstand unseres Jahrhunderts im Namen der Freiheit gegen den Terror. Er zeigte, welche Gewalt der Freiheitsgedanke heute wieder über die Herzen der Menschen gewonnen hat. Wir haben es alle miterlebt, welchen bestürzenden Niedergang dieser Freiheitsgedanke nach dem Ersten Weltkrieg erlebt hatte. Am 17. Juni aber haben wir es erlebt: Seine Zauber binden wieder!

Damit hat die Volkserhebung des 16. und 17. Juni den lähmenden Bann einer Ideologie gebrochen, die von sich behauptet, daß ihr mit gesetzmäßiger Zwangsläufigkeit die Zukunft gehöre, weil sie im Bunde sei mit den dialektischen Gesetzen des Weltgeistes selbst. In der Sowjetzone haben zum erstenmal unterdrückte Menschen dagegen rebelliert, daß die dialektische Theorie, die ursprünglich aufgestellt worden war, um die Herzen unterdrückter Menschen mit Hoffnung und Zuversicht zu erfüllen, von einem Interessenklub schein-sozialistischer Renaissance-und Gewaltpolitiker dazu mißbraucht wird, die Welt unter ihre Stiefel zu treten.

Der 16. und 17. Juni haben weiter gezeigt, welche Macht von dem gewaltlosen Wort der Wahrheit ausgehen kann, wenn dieses Wort von einem auf den Straßen versammelten Volk gemeinsam zur gleichen Stunde, in Gefahr des Leibes und des Lebens in eine gewalt-beherrschte Welt hineingesprochen wird. Wir begehen gewiß keine Blasphemie, wenn wir auch von diesem weltlich-politischen Ort den Satz aussprechen, der einmal auf unserem Boden vom Wort Gottes gesagt worden ist: Das Wort sie sollen lassen stan und kein Dank davon haben!

Eine der erstaunlichsten Tatsachen vor dem 16. Juni war der Übergang der Russen und ihrer Befehlsempfänger zum „Neuen Kurs" am 9. Juni. Die Sowjetregierung fühlte sich bemüßigt, mit der Bundesrepublik in den sozialen und politischen Leistungswettbewerb einzutreten. Nicht nur bessere Lebensbedingungen, sondern auch mehr Freiheit, mehr Privateigentum, mehr Rechtssicherheit, eine zivilisierte Gerichts-und Verwaltungspraxis sollten geboten werden. Es hätte nicht wenig gefehlt, und der Eiserne Vorhang wäre überflüssig geworden. Der Westen, die verlästerte Bundesrepublik, begannen bei den großen Menschheitsbahnbrechern des Ostens Schule zu machen.

Hier zeigte sich zum erstenmal, worin unsere eigentliche, stärkste und zudem unsere einzige offensive Waffe gegen die bolschewistische Weltmacht besteht und wie stark sie wirkt. Es war die wirtschaftliche Entwicklung, die Verbesserung der sozialen Verhältnisse, die sich seit 1948 in der Bundesrepublik vollzogen haben, es war das zunehmende Selbstbewußtsein, das neu erwachende Lebensgefühl, das sich in unserem unter schwierigen Verhältnissen improvisierten Staats-und Gesellschaftsleben herausgebildet hatte. Trotz der zunehmenden Massenflucht aus der Sowjetzone nach West-Berlin wußten wir noch nicht, wie groß die Anziehungskraft der Daseinsformen, die wir uns diesseits des Eisernen Vorhanges geschaffen hatten, auf unsere Landsleute im Osten war. Sie war jedenfalls so stark, daß die Sowjetzonenregierung, gestoßen durch einen etwas heftigen Wink aus Moskau, es für geboten hielt, ihr Rechnung zu tragen. Nun erfuhren wir es sozusagen amtlich.

Das zeigt aber auch uns selbst, was wir in Zukunft vor allem anderen zu tun haben! Denn nicht durch Reden von einer freien und sozialen Welt, sondern durch den tätigen Aufbau einer freien und sozialen Welt werden die großen Fragen unserer Zeit entschieden. Dies dürfen wir unter keinen Umständen über der Sorge um die Verteidigung und um unsere Außenpolitik vergessen. Die deutsche Einheit ist, so wie die Dinge heute liegen, nur auf zwei Wegen zu erreichen: Entweder kommt die Sowjetzone zu uns, oder die Bundesrepublik tritt zum Osten über. Die Bevölkerung der Sowjetzone hat am 17. Juni deutlich bekundet, wie sie sich selbst die Lösung denkt. Würde sie das getan haben, wenn sie der Ansicht gewesen wäre, daß Freiheit, Menschenwürde, Schaffenslust und Wohlstand unter den Formen des Ostens eine bessere Heimat hätten als unter den Formen, für die wir uns entschieden haben? Haben sie freie geheime Wahlen gefordert, weil sie uns für besser gerüstet hielten oder weil sie geglaubt haben, daß wir die besseren Diplomaten besitzen?

Die Menschen in der Zone wissen so gut wie wir, daß auch wir im Westen mit Wasser kochen, daß die freie und soziale Welt für uns ein Ziel, noch keineswegs eine vollendete Wirklichkeit ist. Aber sie haben gesehen, was wir auf diesem Wege während der vergangenen fünf Jahre getan haben, und sie haben gesehen, was ihnen drüben in den vergangenen fünf Jahren geschehen ist, und sie haben erklärt, daß sie unseren Weg zu gehen beabsichtigen — und nur unseren Weg.

Diese Entscheidung erlegt uns eine Verpflichtung auf. Es ist fast völlig eine innenpolitische Verpflichtung. Unsere Landsleute in der Zone sind gute Kenner des Ostens und seiner Methoden. Sie wissen, daß der Satz vom Primat der Außenpolitik für die weltpolitische Auseinandersetzung zwischen dem bolschewistischen Machtblock und den Völkern der freien Welt bei weitem nicht in dem Ausmaße gilt, wie er für den Austrag von Gegensätzen und Rivalitäten zwischen Staaten gelten mag, von denen einer aussieht wie der andere. Sie kennen den schwachen Punkt im System des Ostens. Sie haben ihn anderthalb Tage lang bloßgelegt, damit auch wir ihn erkennen. Und es hat anderthalb Tage gedauert, bis die Russen den Mantel der äußeren Gewalt über diese ihre Blöße zogen.

Die Russen haben sich getäuscht, wenn sie glaubten, einfach unsere Prinzipien nachahmen zu können, um verlorenen Boden wiederzugewinnen. Zwar lassen sich, wie wir Deutsche leider aus Erfahrung wissen, Menschen und Völker von totalitären Machthabern in puncto Herumwerfen der Parteilinie erstaunlich viel bieten. Der 16. und 17. Juni haben aber gezeigt, daß auch diese Technik ihre Grenzen hat — und dies ist ein großer Menschheitstrost. Die liberale Galauniform verfing nicht. Statt dessen gingen die Menschen auf die Straße und sagten: . Wenn schon Freiheit und Wohlstand, dann aus der redlichen Quelle!“ Der 16. und 17. Juni haben gezeigt, daß die bolschewistische Ideologie keinerlei werbende Kraft mehr besitzt, wo sie auf die Bevölkerung hochindustrialisierter und vollentwickelter Zivilisationsstaaten trifft.

Das aber widerspricht völlig der Voraussage des klassischen Sozialismus, der annahm, daß ein Land um so reifer für die soziale Revolution werde, je vollständiger bei ihm der Kapitalismus entwickelt sei Lenin war der erste Kommunist, der hieran zweifelte. Er dekretierte denn auch nach der Februar-Revolution, daß in Rußland die Phase des Kapitalismus übersprungen und die kommunistische Revolution mit Hilfe der vorkapitalistischen Bauern durchgeführt werden müsse. Die Vollindustrialisierung solle nicht die Voraussetzung, sondern ein Werk der kommunistischen Revolution sein. Auf dieser Bahn ist die russische Politik seither weitergeschritten. Die Machthaber in Moskau haben sich inzwischen vollends davon überzeugt, daß nicht im Westen ihr ideologischer Weizen blüht, wohl aber bei jenen unglücklichen Völkern, bei denen verarmte Bauernmassen in halbfeudaler oder halbkolonialer Abhängigkeit von korrumpierten Oberschichten leben und die man heute wegen ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit unterentwickelte Völker nennt. Auf diese Völker übt der Bolschewismus auch heute noch eine große Anziehungskraft aus. Sie sind die weichen Stellen in der Abwehrfront gegen den Terrorismus.

Fragt man nach den Gründen dieser Anziehungskraft, so wird man nicht nur an die Hoffnungen sozial verelendeter Schichten denken dürfen. Es kommt noch etwas anderes in Frage, nämlich der verletzte Stolz von Nationen, die sich von den zivilisierten Staaten gering geschätzt fühlen und ihr Augenmerk auf die bolschewistischen Reiche werfen, die von revolutionären Massen gegründet sind. Sie hoffen, unter der Führung dieser Reiche zu einer energiegeladenen, machtvollen Konzentration ihrer politischen Kräfte zu gelangen. Der Geltungstrieb ist eine mächtige nationale Triebkraft. Wir Deutsche wissen ein leidvolles Lied von der Gewalt dieses Triebes zu singen.

Es sind riesige Gebiete der Erdkugel, auf die der Bolschewismus in seinem Expansionsdrang ein Auge geworfen hat. Fast ganz Asien, fast ganz Afrika, große Teile Südamerikas, ja selbst wirtschaftlich zurückgebliebene Teile Südeuropas sieht er als mögliche und wahrscheinliche Beute seiner Aggression an. Für ihn bedeuten diese Gebiete militärisches Menschenpotential, Fabrik-und Kanonenfutter, Rohstoffquellen, Luft-und Flottenbasen und Aufmarschräume. Denn wenn sich der bolschewistische Mächtekomplex auf diesem Umweg über die halbe Erdkugel auch von der anderen Seite an die hochindustrialisierten Staaten der freien Welt herangetastet haben wird, dann soll der widerspenstige Rest mit Gewalt überwunden werden.

Welch eine seltsame Wendungl Anstatt abzuwarten, bis die nichtkommunistischen Industrievölker unter dem unwiderstehlichen Zwang eines geschichtlichen Gesetzes dem Kommunismus wie eine reife Frucht in den Schoß fallen, verbünden sich die kommunistischen Staaten, gerüstet mit allem Komfort neuzeitlicher terroristischer Technik, mit den Überbleibseln des Mittelalters, um Arm in Arm mit diesen bedauernswerten, zwangs-modernisierten Opfern bolschewistischer Fürsorgeerziehung die freien antikommunistischen Industrievölker mit Wasserstoffbomben zu vertilgen. Fürwahr eine erstaunliche Sorte von revolutionärer Dialektik! Ich möchte glauben, daß nicht einmal der erbittertste Widersacher des Sozialismus wird behaupten wollen, daß dieses Programm noch irgendetwas mit Karl Marx zu tun hat.

Leider ist dieses Programm, obwohl wahnsinnig, doch sehr real. Es wäre für uns gleich verderblich, wenn wir es nicht ernst nehmen oder wenn wir uns von seiner gewaltsamen Folgerichtigkeit behexen lassen wollten. Eine vermutlich langdauernde Periode des Halb-friedens, der Daseinsbedrohung, des Kalten Krieges und gelegentlicher heißer Aggressionen steht uns bevor. Schon melden sich wieder jene Aufgeregten mit schwachen Nerven, die mit dem panischen Satz hausieren gehen: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!“ Jene Menschen, von denen Bismarck sagte, sie begingen Selbstmord aus Furcht vor dem Tode. Und auch jene anderen Gestalten rühren sich wieder, die uns weismachen wollen, daß Totalitarismus nur durch Totalitarismus überwunden werden könne. Der demokratische, der humanitäre, der liberale Gedanke — so schreiben jene intellektuellen Ästheten — besitze die Härte nicht, die unsere Zeit erfordere. Diese Gedanken würden vielmehr von beiden elementaren Kräften des 20. Jahrhunderts mit einer Handbewegung beiseite geschoben. Der Autor, der dies geschrieben hat, versteht unter den beiden elementaren Kräften des 20. Jahrhunderts erstens einmal natürlich den Bolschewismus, zum anderen aber die nationalistischen Generals-diktaturen, die sich in einigen industriell schwach entwickelten Ländern etabliert haben. Weitere elementare Kräfte dieser Sorte sind in der Zwischenzeit — wahrscheinlich zum Bedauern des Autors — vom Schauplatz des 20. Jahrhunderts abgetreten.

Es ist höchste Zeit, daß solches törichte, aufgeregte und glaubenslose Gerede durch eine lebens-und geisterfüllte demokratische Wirklichkeit zum Schweigen gebracht wird. Hierzu ist aber vor allem erforderlich: geistiger Mut! Solchen Mut haben wir Deutsche in den Jahren seit dem Zusammenbruch bereits an den Tag gelegt. Er hat die Grenzen der Sowjetzone übersprungen und jenseits des Eisernen Vorhangs in drangsalierten deutschen Herzen neuen Mut erweckt. Die Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone hat uns diese Ermutigung am 16. und 17. Juni mit Zins und Zinseszins unter Gefahr des Leibes und des Lebens zurückgezahlt. Jetzt sind wir es, die mit diesem kostbaren Pfand politisch zu wuchern haben.

Die Staatsgewalt — so heißt es in freien Verfassungen — geht vom Volke aus. Auch der Mut und der Blick für die großen Zusammenhänge des politischen und sozialen Geschehens gehen vom Volke aus. Rufen wir uns in diesem Augenblick wieder den Steinträger vom 16. Juni ins Gedächtnis zurück! Er war kein Minister, er war kein hoher Beamter, er war kein Diplomat, er war kein Abgeordneter. Wir kennen nicht einmal seinen Namen. Versuchen wir, uns in seine Lage hineinzudenken. Stellen wir uns vor, was jeder einzelne von uns an jenem Tage getan und gesagt haben würde, wenn er auf dem Tisch vor dem Regierungsgebäude in der Wilhelmstraße gestanden hätte. Wer von uns — Hand aufs Herz! — hätte in diesem Augenblick diese Worte gefunden? Wer von uns würde das Herz gehabt haben, sie in einer von den Russen besetzten Stadt so zu sprechen?

Solches aber hat sich in der Geschichte der Völker immer und immer wieder in entscheidenden Momenten zugetragen, unmittelbar aus dem namenlosen Volk heraus. Und dies ist eben die elementare Grunderfahrung und Grundeinsicht der Demokratie. Mit dieser letzten Lehre, die uns der 16. und 17. Juni erteilten, lassen Sie mich schließen. Sie ist unseren honoratioren-und obrigkeitgeneigten Ohren vielfach noch immer nicht ganz geläufig, ja, manchen von uns vielleicht nicht einmal ganz wohlklingend. Sie zu beherzigen, sie uns voll, ich möchte sagen, im Geist und in der Wahrheit zu eigen zu machen, haben uns der 16. und 17. Juni als wichtigste aller Pflichten auferlegt. Es gehört sozusagen zu den Berufs-gefahren des Regierens und der Gesetzgebung, daß sie sich vom Volk entfernen. Eben dies ist der Sowjetzonenregierung und den Russen in einem krassen Ausmaß widerfahren. Der Juni-Aufstand war die Quittung. Lassen Sie uns in dieser Stunde den Willen festigen, daß uns selbst solche Entfremdung unter keinen, wie immer geschaffenen Umständen widerfahren soll. Lassen Sie uns dafür sorgen, daß unser eigener Staat den Wurzeln seiner Kraft nahebleibt. Lassen Sie uns in allen Stükken, auch und vor allem in der Politik, unser Vertrauen in die unbefangene Wahrhaftigkeit setzen, die keiner Vorgänge bedarf.

Halten wir uns an dieses wahrhaft realistische Programm — und hierzu rufen uns die Ereignisse des 16. und 17. Juni auf —, dann haben wir eine Verheißung, und diese Verheißung sagt uns, daß wir in diesem Zeichen unsere Einheit erlangen, daß wir in diesem Zeichen aber auch den Terror und seine Schrecken überwinden werden. Dann werden die Grenzen zwischen allen Völkern endlich werden, was Grenzen eigentlich sein sollten, nämlich selbstverständlich und gleichzeitig uninteressant.

Rede am 17. Juni 1962 in der Paulskirche zu Frankfurt

Seit vielen Jahren schon wird der 17. Juni in unseren Kalendern mit roten Ziffern als Feiertag gekennzeichnet. Trotzdem ist unser Verhältnis zu ihm zwiespältig geblieben. Der Feiertag soll, wie sein Name lehrt, unsere Gedanken auf die nationale Einheit konzentrieren. Also nicht auf etwas, was Wir haben, sondern auf etwas, was uns fehlt und — wie manche sagen — noch auf unabsehbare Zeit fehlen wird, über diesem 17. Juni 1962 liegt überdies ein besonderer Schatten. Er ist der erste 17. Juni seit jenem 13. August, an dem der politischen Teilung Deutschlands auch noch die menschliche Trennung hinzugefügt worden ist.

Kann da der 17. Juni das sein, was man gewöhnlich unter einem Feiertag versteht? Muß er nicht empfunden und gelebt werden als ein Tag schmerzlicher Besinnung, als ein Tag nationaler Trauer? Nicht wenige denken so in unserem Land; diese sind nicht die schlechtesten. Wer beobachtet, wie viele Menschen in der Bundesrepublik den Tag gedankenlos hinnehmen, nichts weiter in ihm sehen als einen zusätzlichen arbeitsfreien Tag, kann ohnehin ein bitteres Gefühl nicht unterdrücken.

Doch die tiefere Problematik dieses Tages liegt ja nicht im unwürdigen Verhalten zahlloser Mitbürger. Sie liegt in der Erfolglosigkeit des 17. Juni 1953, einer Erfolglosigkeit, die sogar acht Jahre später durch den 13. August 1961 noch unterstrichen worden ist.

Aber ist wirklich nur Erfolg beziehungsweise Mißerfolg der rechte Maßstab für den 17. Juni? Die brutale Gewalt hat zwar gesiegt an diesem Tage. Doch weiß die Geschichte von vielen Siegen, die in Wahrheit die spätere Niederlage vorbereiteten und die bei den Unterlegenen die Kräfte späterer Überlegenheit mobilisierten. Die Unterdrückung des Aufstandes des 17. Juni und die Mauer des 13. August sind Pyrrhussiege der kommunistischen Machthaber Mitteldeutschlands. Wer die Panzer einer fremden Macht braucht, um sich vor dem eigenen Volk zu behaupten, ist damit bereits gerichtet. Es ändert nichts an dem Urteil, wenn es zunächst nicht Vollstreckt werden kann. Und wer sich selber hinter einer Mauer einsperrt, der beweist damit, daß er Angst hat. Die tragenden Kräfte des 17. Juni aber — Wille, Mut, Wagnis, Opfer, Solidarität, Leidensfähigkeit, gewaltloses Widerstehen — sind und bleiben machtvolle Elemente auch dann, wenn sie nicht alsbald Erfolg haben. Betrachtet man das Geschehen des 17. Juni 1953 in dieser Weise, dann zeigt sich dieser Tag trotz seines Fehlschlages schon in einem anderen Licht.

In den Jahren nach dem Kriege fragten ausländische Beobachter so manches Mal, wie es denn komme, daß die Deutschen — diese Deutschen des Zweiten Weltkrieges — nicht die geringste Spur aktiven Aufbegehrens gegen die Besatzung zeigten. Zuweilen war in den Fragen ein spöttischer Unterton über die so fügsamen Deutschen. Nun aber, am 16. und 17. Juni 1953, geschah das Unerhörte. Es geschah ein Aufstand eben dieser Deutschen, und zumal in der Zone, die das härteste Besatzungsregime hatte. Diese Deutschen gingen auf die Straße, nicht auf Befehl, sondern aus eigenem Entschluß. Mit leeren, waffenlosen Händen protestierten sie gegen einen waffen-starrenden Polizeistaat. Sie behaupteten sich sogar, sie brachten den Apparat des Regimes zum Stillstand, die Machthaber des Regimes verkrochen sich. Diese waffenlosen Deutschen zwangen die sowjetische Besatzungsmacht, ihre ganze Stärke zu entfalten und einzusetzen, um die Ruhe wiederherzustellen — eine Friedhofsruhe. Ohne die sowjetischen Panzer wäre Ulbrichts Regime damals im Mülleimer der Geschichte geendet.

All das haben unsere Landsleute jenseits der Zonengrenze damals gewagt und getan für die Freiheit, für die Einheit, für die menschliche Würde. Sie haben dafür geblutet, und sie haben nachher zu Zehntausenden in den Zonengefängnissen und in sowjetischer Verbannung dafür gelitten. Da ist die Rechtfertigung, da ist die Weihe des 17. Juni als nationaler Feiertag der Deutschen. Von daher auch kommt das Recht, an diesem Tag sogar eine stolze Freude zu haben — natürlich eine Freude in Würde.

Den letzten Anstoß zu der Erhebung gab ein Streit um Arbeitsnormen und Löhne auf den Baustellen Frankfurter Allee beziehungsweise Stalin-Allee in Ost-Berlin. Dieser an sich nebensächliche Vorgang löste eine Explosion aus. Sie erfaßte in 24 Stunden das ganze Gebiet vom Erzgebirge bis zur Ostsee, von der Oder bis zur Elbe und Werra. Im Ostsektor von Berlin konnte alle Welt zusehen, beobachten, photographieren und filmen. Von hier haben wir jene packenden Bilder und Berichte, etwa von dem Aufmarsch vor dem ehemaligen Reichsluftfahrtministerium in der Leipziger Straße, von dem Zug der 6000 Hennigsdorfer Stahlarbeiter, von dem Fahnenwechsel auf dem Brandenburger Tor. Aber in derselben Weise erhoben sich die Menschen in Leipzig, in Magdeburg, in Rostock, in Erfurt, in Dresden, ja sogar in den abgelegensten Winkeln der Zone. Berlin — da war der freie Westen sichtbar, da gab es den Weg in die Westsektoren. Dort in der Zone war man wirklich allein.

Ein solcher Aufstand, spontan und alles erfassend, wäre niemals möglich gewesen, wenn es sich nur um materielle Dinge gehandelt hätte, um bessere Versorgung, um andere Arbeitsnormen, um Lebensstandard. Nein, die elementare Plötzlichkeit, Ausdehnung und Wucht sind der Beweis, daß hier viel mehr in Erregung und Bewegung gekommen war. Hier ging es nicht um den Inhalt des Portemonnaies. Hier war ein Aufbegehren des zutiefst verletzten Menschen. Hier brach die Qual des unterdrückten, zu Lüge, Verstellung, zum Schweigen gezwungenen Menschen durch, hier brach die Sehnsucht durch, aus der Verbannung eines volksfremden Systems befreit zu werden. Dies war es, was am Nachmittag des 16. Juni vor dem ehemaligen Luftfahrtministerium den Zonenminister Selbmann vom improvisierten Rednerpult fegte, weil er noch von Lohn und Norm sprach. Dies war es, was die Forderung nach freien Wahlen, dort ausgerufen von einem unbekannt gebliebenen Bauarbeiter, in diesem Augenblick zu dem erlösenden, das Ganze mitreißenden Wort werden ließ.

Bei uns wußte man, daß die Unzufriedenheit in der Zone groß war, daß die Bevölkerung schwer zu leiden hatte. Ab 1. Mai 1953 war die Ausgabe von Lebensmittelkarten für „nicht im Produktionsprozeß stehende Personen", für selbständige Gewerbetreibende und andere Bevölkerungsgruppen gesperrt worden. Alle diese Menschen, darunter die meisten alten Leute, wurden auf die staatlichen HO-Läden verwiesen; angesichts der hohen Preise bedeutete das die Verurteilung zum allmählichen Hungertod. In der ersten Hälfte des Mai 1953 wurden in Dresden allein 127 Familien-selbstmorde gezählt. Man wußte von der Verschärfung des kommunistischen Kampfes gegen die christlichen Kirchen und Gemeinschaften, zum Beispiel gegen die Junge Gemeinde, von der Beschlagnahme kirchlicher Anstalten.

Die Unruhe in der Arbeiterschaft über die willkürliche Senkung der Löhne durch Erhöhung der Arbeitsnormen war bekannt. Man merkte auch auf, als Ulbricht am 9. Juni 1953 durch Verkündung eines „neuen Kurses“ die Übertreibungen des Systems abzuschwächen und die Unzufriedenheit abzufangen suchte. Aber da die Menschen drüben so lange stillgehalten hatten, und da man auf unserer Seite abgestumpft war durch die ständige Wiederkehr der traurigen Nachrichten und Berichte aus der Zone, wurde man von den dramatischen Ereignissen völlig überrascht. So gingen die Ereignisse denn auch vorüber, ehe sie im Westen recht erfaßt wurden.

Es wird immer eine quälende Frage bleiben, ob mit ihnen nicht eine unerhörte Chance vorbeiging. Ob nicht etwa irgendwann zwischen den Nachmittagsstunden des 16. Juni und dem Mittag des 17. Juni — als der erste sowjetische Schuß in der Leipziger Straße abgegeben wurde — eine Gelegenheit gewesen wäre, zumindest in Ost-Berlin die Gruppe Ulbricht beiseitezuschieben und Raum für eine geordnete Form des freien Volkswillens zu schaffen, ohne dabei die Besatzungsmacht direkt herauszufordern, die ebenfalls überrascht war. Eine verläßliche Antwort auf diese Frage werden vielleicht die Historiker einmal geben können. Das jedenfalls ist sicher: Im Grunde ist die Lage der Deutschen in der Zone heute nicht besser als damals. Auch heute sind sie unterdrückt, der Allmacht der Partei ausgeliefert, dem Terror des Polizeiapparates, der pervertierenden Propaganda, der Lehre von Flaß und Feindschaft. Sie müssen zusehen, wie ein lückenloses Erziehungssystem die Seelen ihrer Kinder vergiftet, jugendliche Fanatiker heranzieht, die auch unmenschlichen Befehlen folgen. Es ist heute sogar noch schlimmer als damals 1953. Denn heute gibt es kein Entkommen mehr, der Weg ist vermauert. Und die Ungewißheit zwischen Hoffnung und Verzweiflung ist bedrückender denn je.

So ist also die innere, die heimliche Spannung im Zonenbereich auch heute sehr groß — auch wenn sie verhüllt wird durch die Müdigkeit des langen Wartens auf eine Schicksalswende und durch die Enttäuschung über den Westen. Unter so gespannten Verhältnissen sind Überraschungen auch künftig nicht ausgeschlossen. Unsere Generation weiß ohnehin, wie wechselvoll der Gang der Geschichte sein kann. Sie kann viel überraschender verlaufen, als Politiker, Diplomaten und Generale zu überschauen und im voraus zu regulieren vermögen. Niemand bei uns — die wir im gesicherten Port der westlichen Gemeinschaft leben — hat ein Recht, unsere Landsleute in der Zone aufzureizen. Es ist uns tiefster Ernst, wenn wir sagen, daß wir für die deutsche Frage eine Lösung in Frieden suchen. Aber ich sage ebenso ernst, daß ich mir nicht vorstellen kann, wir könnten uns bei einem neuen Verzweiflungsausbruch unserer gepeinigten Landsleute noch einmal auf die Rolle des Zuschauens beschränken. Eine der großen Lehren des 17. Juni ist es — und sie geht gerade auch die vier für Gesamtdeutschland verantwortlichen Mächte an: Die Teilung Deutschlands ist nun einmal keine Grundlage für Entspannung und Frieden. Der 17. Juni hat mit Blut bewiesen, daß die Teilung nicht eine eingebildete, sondern eine wirkliche Gefahr für den Frieden ist. Und dieser Blutbeweis wird seit 13. August immer und immer wieder erbracht, an der Mauer in Berlin und an den Todesstreifen der Zonengrenze. Wer Augen hat zu sehen, der sehe — er sehe rechtzeitig!

Ich sagte schon: der 17. Juni ist kein Feiertag der Erfüllung. Er ist ein Tag der Mahnung an eine Aufgabe, die noch immer unbewältigt ist. Diejenigen aber, an die die Mahnung geht, vor die die Aufgabe gestellt ist, auf die sich die Hoffnung richtet, das sind wir. Was können wir tun? Was kann der einzelne tun? Je mehr man von einer Sache erfüllt ist, um so mehr fällt einem ein und um so mehr kann man fertigbekommen. Hier aber, am Erfülltsein, fehlt es doch bei vielen von uns! Wir hier müssen ganz in unser Bewußtsein aufnehmen, was drüben den Menschen geschieht. Was die Mauer zumal, diese Sperre des letzten Aus-weges, für die bedeutet, die hinter ihr leben müssen: Dem System und dem Terror und der Primitivität seiner Funktionäre nun voll ausgeliefert zu sein. Sich der ständig rieselnden Haß-und Lügenpropaganda nicht entziehen zu können. Einen Militäreid ablegen zu sollen, der mit der sogenannten DDR auf die Spaltung Deutschlands und mit dem verfälschten Sozialismus auf ein Regime des Zwanges und der Gottlosigkeit verpflichtet. Zum Schaden der Trennung nun auch noch den Hohn der Machthaber hinnehmen zu müssen, die den Eingemauerten die Mauer als eine nationale und menschliche Großtat hinstellen. Und das alles ertragen zu müssen, ohne daß das Ende sichtbar ist.

Das muß sich jeder von uns immer wieder vor Augen halten und es in seiner ganzen Schwere zu verstehen suchen. Jeder kennt die Bilder der Mauer. Wenn in den Zeitungen, im Rundfunk und Fernsehen von irgendeiner halsbrecherischen Flucht berichtet wird, von einem Todesschuß, von einem Zwischenfall, dann sind wir einen Augenblick bei der Sache. Doch ein flüchtiges Bild, ein Augenblick genügt nicht, um diese furchtbare Wirklichkeit zu verstehen.

Genau so wenig wie das Gedenken an einem Tag im Jahr genügt, um die Pflicht im Dienst an der deutschen Einheit zu erfüllen.

Wer empfinden will, was die Menschen hinter der Mauer erleiden, der muß sich fragen, wie weit es wohl mit ihm selber kommen müßte, damit er für seine Flucht sein Leben riskiere.

Wer begreifen will, wie es hinter der Mauer aussieht, der stelle sich beim Anblick der Mauer vor, er solle den Sprung in die Freiheit vom Dach eines fünfstöckigen Miethauses wagen. Wenn man es so klar macht, sich selber und anderen, dann entsteht Verständnis dafür, wie unseren Landsleuten hinter der Mauer zumute ist. Dann entsteht daraus auch echte und bleibende Anteilnahme am Geschehen. Das Los der Menschen drüben muß uns innerlich erfassen und bewegen, nicht als Sensation, sondern als Leid, damit jeder von uns, damit unser ganzes Volk moralisch und politisch mobilisiert wird.

Natürlich kann der einzelne nicht eine geschichtliche Katastrophe aus der Welt schaffen, wie sie über uns gekommen ist. Er kann nicht die Hindernisse der großen Politik beiseite räumen. Er kann nicht die militärischen Machtpositionen überwinden. Das Empfinden, Denken und Wollen eines Volkes jedoch kann eine mächtige Realität sein. Der Wille eines Volkes aber ist der Wille seiner Bürger. Aus ihren millionenfachen Einzelbekundungen entsteht der politisch zu sammelnde Wille des Volkes. Wenn die einzelnen ergriffen, innerlich beteiligt, mit ihrem Fühlen und mit ihrem Denken bei der Sache sind, dann wird daraus nationaler Wille. Und dieser Wille kann so eindrucksvoll werden, daß er in der internationalen Politik auf die Dauer nicht zu umgehen ist.

Es geht nicht ohne den entschlossenen und beständigen Willen unseres Volkes, es geht _ so wie die Dinge um Deutschland kompliziert liegen — nicht ohne eine gewisse Gunst und Reife der Umstände und auch nicht ohne eine eigene Kraft, die dem Willen Achtung und Wirkung verleiht. Wann einmal die Umstände reif und günstig sein werden — das weiß heute niemand. Die Umstände für uns zu beeinflussen, bereit zu sein für einen Augenblick geschichtlicher Gunst und dem naB tionalen Willen Kraft und Unterstützung zu verschaffen, das ist Sache der Politik.

Dazu wäre vieles zu sagen und zu mahnen, doch das gehört nicht in diese Gedenkstunde.

Wohl aber müssen wir uns hier mit denen auseinandersetzen, die allen solchen Anstrengungen den Sinn überhaupt bestreiten. Ihn bestreiten, weil sie angesichts der Welt, wie sie sich heute darstellt, angesichts der sowjetischen Härte, angesichts auch des 13. August nicht mehr an die Wiederherstellung der nationalen Einheit glauben. Zunächst ein allgemeines Wort dazu. Der Erfüllung unseres Wunsches stehen in der Tat viele und große Hindernisse im Wege. Wenn wir wollen, können wir sie hinnehmen. Manch einer wäre darüber froh, nicht nur im Osten. Aber solche Haltung wäre nicht Realismus zu nennen, sondern Kapitulation, Kapitulation vor kommunistischem Unrecht und sowjetischer Gewalt. Neulich fiel mir der Text der Rede in die Hände, die Ernst Reuter am Tage des Beginns der Berliner Blockade, am 24. Juni 1948, also in einer nahezu verzweifelten Situation, gehalten hat. Damals sagte er:

„Immer gibt es Menschen, die in einer kritischen Stunde anfangen, davon zu reden, man müsse sich mit den Realitäten abfinden.

Dafür haben wir Deutsche bittere Erfahrungen genug gesammelt seit 1933. Immer wollte man Schlimmeres verhüten, am Ende lag Deutschland in Trümmern. Auch heute kann Deutschland nur leben, wenn es lernt, für seine Freiheit, sein Recht und für seine Selbstbehauptung zu kämpfen.“

Soweit Ernst Reuter damals.

Ich füge hinzu: das genau ist die Haltung, die auch heute notwendig ist. Eine der heute üblich gewordenen Formeln des Pseudorealismus spricht von dem, „was auf uns zukommt". Wer sich dem nicht anpasse oder füge, was da auf uns zukomme, der handle unklug, unrealistisch, halsstarrig, gefährlich. Aber Aufgabe einer Regierung, Aufgabe eines Parlaments, Aufgabe der Politik eines Landes ist doch nicht ein ergebenes Hinnehmen widriger Realitäten oder Tendenzen. Nicht einfach hinzunehmen, was schon ist oder unter Umständen noch auf uns zukommen will, sondern es abzuwehren, zu überwinden, es konstruktiv zu verwandeln, das ist die Aufgabe jeder Politik, auch der deutschen Politik, auch dann, wenn das mit Auseinandersetzungen verbunden ist, sei es nach dieser, sei es nach jener Seite.

Womit aber—das ist eine berechtigte Frage— kann man Zuversicht in die Wiederherstellung der nationalen Einheit verünftigerweise begründen? Es gibt eine ganze Reihe sachlicher Gründe, die auch bei nüchterner Betrachtung Zuversicht rechtfertigen:

1. Wir können uns auf ein in der ganzen Welt anerkanntes Recht stützen, auf das Selbstbestimmungsrecht. Nahezu vierzig neue Staaten sind auf Grund dieses Rechtes seit Kriegsende entstanden und in die Vereinten Nationen ausgenommen worden. Sogar die Sowjetpropaganda benutzt dieses Recht weltpolitisch. Wer wie wir ein solches Recht auf seiner Seite hat, hat eine starke Ausgangsposition. Die verkrampften Bemühungen der sowjetischen Agitation, der Widerspruch zwischen der sowjetischen Bejahung des Selbstbestimmungsrechtes im Ringen um Afrika und Asien und der Verneinung in Mitteleuropa sind ein sprechender Beweis für die Stärke unserer Rechtsposition.

2. Das Regime, das in Mitteldeutschland der Selbstbestimmung und damit der deutschen Einheit entgegensteht, ist ohne Fundament.

Es wird von der Bevölkerung abgelehnt. Unwiderlegliche Beweise sind insbesondere der 17. Juni 1953, der 13. August 1961, die mehr als drei Millionen Flüchtlinge — davon fast zwei Millionen zwischen diesen beiden Terminen — und die täglichen Fluchtversuche auf Leben und Tod seit der Errichtung der Mauer. Ein solches Regime ist trotz seines Gewaltapparates innerlich schwach, mag es sich auch noch so sehr spreizen wie gestern und heute mit seinem sogenannten Nationalkongreß. Ein solches Regime ist sogar für seine Freunde eine Last, und es hat keine solide, eigenständige Position im wechselvollen Spiel der internationalen Politik, in dem auch die Sowjets kalte Rechner sein können.

3. Die Sowjetunion selbst ist sich der heutigen Teilung Deutschlands nicht sicher. Die aggressive Politik gegen Berlin, die unentwegten sowjetischen Bemühungen, die Teilung Deutschlands durch einen Friedensvertrag, durch Nichtangriffserklärungen und dergleichen völkerrechtlich fundiert zu erhalten, das gereizte Mühen, unser Verlangen nach Selbstbestimmung als Revanchismus international zu diffamieren — das sind einige der unverkennbaren Zeichen für die deutschen Sorgen der Sowjets.

4. Die Sowjetunion hat zwar die Souveränität und Kraft einer Weltmacht. Aber auch ihre Bäume wachsen nicht in den Himmel. Wir wissen um die Differenzen und wachsenden Schwierigkeiten im kommunistischen Lager:

um den ideologischen Streit, um das Zehren des Polyzentrismus an der Moskauer Vormacht, um das problematische Verhältnis zu Peking, um die wirtschaftlichen Schwächen, um die Belastung durch den Rüstungswettkampf mit den USA, der gerade jetzt Chruschtschow zu einer recht unpopulären Antwort auf die Frage „Kanonen statt Butter“

gezwungen hat. Das alles sind nicht nur schwere, sondern auch langfristige Belastungen der Sowjetpolitik.

5. Die deutsche Frage stellt sich nicht in einem abseitigen Winkel des Erdballs, sondern in der Mitte Europas. Spannungen und Gefahren hier kann man weder durch Gleichgültigkeit noch durch einseitige Gewaltakte bewältigen. Diejenigen überdies, die die deutsche Frage stellen, sind nicht irgendein kleines Völkchen von nebensächlicher Bedeutung, sondern ein Volk von 70 Millionen mit tausendjähriger Geschichte und Tradition. Sie haben geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Rang und Einfluß in der Welt. Sie sind zwar keine Großmacht mehr, aber sie sind auch nicht mehr ohnmächtig.

Sie sind zudem ein Volk, das nicht allein steht, sondern in einem starken Bündnis mit Partnern, die sich zu seinen nationalen Anliegen vertraglich bekannt haben. Solange sich also die deutsche Frage stellt — und sie immer wieder zu stellen liegt ja in unserer Hand —, kann die deutsche Einheit nicht zu einer Sache der Vergangenheit degradiert und nicht unter den Tisch der Weltgeschichte gefegt werden.

6. Die deutsche Einheit präsentiert sich der Welt nicht nur als eine politische, sondern auch als eine menschliche Frage. Für politische Wünsche der Deutschen ist die Welt nicht so leicht zu gewinnen; die Hypothek unserer jüngsten Vergangenheit lastet noch immer auf uns. Die menschliche Not und die barbarische Verletzung der menschlichen Grundrechte, die sich — zumal seit dem 13. August — an den Todesstreifen der Zone und an der Mauer in Berlin so schreck-lieh offenbaren, verschaffen dem deutschen Verlangen in der Welt zusätzliche Aufmerksamkeit und Verständnis.

Das sind einige der Vernunstgründe für nationale Zuversicht, andere ließen sich hinzufügen. Ihre Existenz und ihre Potenz können nicht bestritten werden. Natürlich wirken sie nicht automatisch, sie ersparen nicht die politische Anstrengung, ihre Wirkung kann sogar vom Gegner behindert und verzögert werden. Aber sie sind da, sie können wirksam gemacht werden. Mehr noch, sie tragen in sich die Möglichkeit zu elementarer Wirkung. Diese Realitäten geben das Recht zum Glauben, daß die deutsche Einheit erreicht werden kann, und sie geben der Arbeit für dieses Ziel die reale Chance. Die Logik der Dinge, aus denen die Realitäten der Zukunft entstehen, spricht für uns.

Es läßt sich nicht voraussagen, wann die Sowjetregierung unter dem Eindruck und der Wirkung dieser und anderer Realitäten zu dem Entschluß kommt, ihre Politik in bezug auf Deutschland zu ändern. Wann sie zu der Einsicht kommt, daß Stacheldrahtverhaue quer durch unser Volk zum Schutz jenes Zonen-regimes der permanenten Erfolglosigkeit nur Gefahr und Last bedeuten. Die Mauer zum Schutze Ulbrichts zehrt am Prestige des Kommunismus in der ganzen Welt, sogar hinter dem Eisernen Vorhang. Die Mauer ist die häßlichste Visitenkarte des Weltkommunismus, die sich überhaupt denken läßt. Und das Zonenregime ist ein Mühlstein am Hals der sowjetischen Außenpolitik. Wann die Sowjetregierung das einsieht und wann sie weiter einsieht, daß eine Verständigung in der deutschen Frage auch zu ihrem eigenen Nutzen wäre, weil eine wesentliche Ursache für die Spannung und das Wettrüsten in der Welt beseitigt würde — wann das der Fall sein wird, wissen wir nicht. Aber wir wissen: in einem solchen Fall wäre der Weg zu einem freundschaftlichen Verhältnis frei, das das deutsche Volk auch mit der Sowjetunion wünscht. Und wir wissen, daß wir die Kraft zu wirtschaftlichen Gegenleistungen hätten.

Man tut bei der Deutung sowjetischer Politik besser, sich an ihre Handlungen zu halten. Die aber sind mit den Vorgängen in und um Berlin klar. Und so ist für uns heute das Nächstliegende die wichtigste Aufgabe, nämlich die Verteidigung Berlins. Die Freiheit Berlins ist die Freiheit Deutschlands. Berlin auch ist der Prüfstein, an dem die Stärke unserer Selbstbehauptungskraft und unseres nationalen Willens gemessen wird.

Dieser Wille ist entscheidend. Niemand kann unserer Sehnsucht nach deutscher Einheit heute eine sichere Perspektive, eine nahe Aussicht eröffnen. Um so mehr kommt es darauf an, im Willen fest zu bleiben und unseren Landsleuten drüben dadurch die Hoffnung zu erhalten. Wir sind doch schließlich die einzigen, an die sie sich halten können.

Jedermann kennt aus dem ersten Buch des Alten Testaments jene berühmte Frage: »Kain, wo ist dein Bruder Abel? ’ Jedermann kennt auch die Antwort: »Soll ich meines Bruders Hüter sein." Audi wir hier, wir im freien Teil Deutschlands, sind gefragt. Und wir werden vor unserem Volk und seiner Geschichte Rechenschaft abzulegen haben. Wir sind gefragt in jedem Augenblick: Deutscher, wo ist dein Bruder? Es genügt dann nicht, gelegentlich von Brüdern und Schwestern in der Zone gesprochen zu haben. Nein, wir werden nur bestehen, wenn wir mit unseren Gedanken und Anstrengungen unaufhörlich bei ihnen in der Zone sind. Denn wir haben die Hüter unserer Brüder drüben zu sein! Das auch ist ja der Sinn jenes Auftrages, den uns die Präambel unseres Grundgesetzes gibt: „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".

Rede am 17. Juni 1963 in New York

Als ich im Winter 1947/48 zum erstenmal in Ihr Land kam, gab es keinen einzigen Deutschen auf der Welt, der mit einer amtlichen Legitimation für Deutschland sprechen konnte. Ich war damals ein Mann, der amerikanischen Truppen seine Freiheit und amerikanischen Kirchen große Hilfe verdankte bei der Durchführung einer Hilfs-und Rettungsaktion für Hunderttausende von Vertriebenen, Heimatlosen und Kriegsopfern. Als Gast lutherischer Kirchen Amerikas kam ich in Ihr Land. Einige Wochen später empfing mich Ihr Präsident, Mr. Truman, im Weißen Haus. Die Aufnahme, die mir zuteil wurde und das Gespräch mit Ihrem Präsidenten inspirierten mich im Ringen mit den außerordentlichen Schwierigkeiten, denen sich mein Land gegenüber-sah. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie beglückt ich darüber bin, daß der Weitblick der amerikanischen Regierungen von Präsident Truman, General Eisenhower bis zu Präsident Kennedy und die Großmut des amerikanischen Volkes diese Politik ermöglicht haben. Sie hat aus Kriegsgegnern loyale Verbündete gemacht. Sie hat dabei große innere Distanzen überwunden und damit auch die innere Wandlung der Deutschen ermöglicht.

Diese Wandlung ist eine Tatsache, und sie ist zugleich das Fundament der bleibenden Verbindung Deutschlands mit den USA und der freien Welt. Es ist eine stabile und verläßliche Grundlage, die auch Regierungswechsel aushält. Dr. Adenauer überläßt seinen Nachfolgern ein wohlgegründetes und geglücktes Werk.

Eines freilich ist nicht gelungen. Deutschland ist nach wie vor geteilt. Ja, der Eiserne Vorhang zwischen uns in Westdeutschland und den 17 Millionen in Mittel-und Ostdeutschland ist in diesen 15 Jahren immer dichter geworden und die Berliner Mauer immer höher. Darum ist der Tag, der heute in Deutschland zum zehnten Mal gefeiert wird, kein nationaler Freudentag, sondern ein sehr gedämpfter Gedenktag, über ihm liegt eine Melancholie, die von Jahr zu Jahr schwerer wird. Sie wirft ihre Schatten über ein Ereignis, dessen dankbar und respektvoll zu gedenken gerade wir Deutsche besonderen Anlaß haben.

Unsere Geschichte ist, wie Sie wissen, zwar reich an Kriegen, aber Aufstände, blutige Volksaufstände sind bei uns selten. Und wenn sie ausbrachen, sind sie fast regelmäßig gescheitert. In der Geschichte unserer eigenen Generation scheiterte der Aufstand gegen Hitler am 20. Juli 1944, und viele gingen dafür an den Galgen. Am 17. Juni 1953 scheiterte der Aufstand gegen die Statthalter Moskaus in Ost-Berlin und Mitteldeutschland. Beide Male ging es nicht zuerst um materielle Wünsche und Notwendigkeiten, sondern um Freiheit und Menschenrecht.

Die Antwort darauf waren — genau wie drei Jahre später in Ungarn — sowjetische Panzer. Und die Folge: Tote, Verwundete, Gehenkte. Andere mehr oder weniger blutige Kämpfe, die nur teilweise bekannt geworden sind, wurden im kommunistischen Osten im Dienste der Gerechtigkeit ausgefochten. Deshalb sollte uns dieser Gedenktag immer auch an die erinnern, die jenseits unserer Grenzen die gemeinsame Sache der Freiheit verfochten haben und noch verfechten.

Viele sind dafür gestorben. Aber wir, die Lebenden, wir sind verpflichtet, für unsere Über-zeugung zu leben. Deshalb verträgt dieser Tag in Deutschland die Melancholie, die ihn bedroht, so schlecht. Auch das ehrerbietige Gedenken an die vielen Opfer der Teilung Deutschlands, zu denen übrigens mehr als 30 amerikanische Flieger gehören, darf diesen Tag nicht zum bloßen Trauertag machen. Der Trauertag gilt unwiederbringlich Verlorenem. Dieser Gedenktag aber soll die Augen und Herzen zumindest der Deutschen auf eine unvollendete Aufgabe richten.

Trotz der Verantwortung, die das deutsche Volk für Hitlers Untaten übernehmen mußte, glauben wir ein Recht auf das Zusammenleben unseres Volkes zu haben. Die große Mehrheit der Deutschen in beiden Teilen Deutschlands bejaht von Herzen sowohl die Einigung Europas wie das dauernde Zusammenleben Deutschlands mit der nordatlantischen Gemeinschaft. Aber wir können und wollen nicht für immer auf die Integration unseres eigenen Volkes verzichten. Wir glauben nicht, daß die übernationalen Integrationsgebilde gestärkt werden, wenn sie desintegrierte Nationen umspannen Die Einigung Europas wird nicht gefördert, sondern gehemmt durch die Teilung Deutschlands. Außerdem sind die 52 Millionen Deutschen in der Bundesrepublik es den anderen 17 Millionen in der sowjetisch-besetzten Zone Deutschlands einfach schuldig, alles Erdenkliche zu tun, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Die deutsche Politik in der Deutschlandfrage ist auf drei Ziele gerichtet:

1. Auf eine durchgreifende Humanisierung der Lebensbedingungen der Zone. Dazu gehört auch die Möglichkeit für die vielen zerteilten Familien, sich gegenseitig durch Mauer und Eisernen Vorhang hindurch besuchen zu können.

2. Auf die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts im Rahmen des Statuts der Vereinten Nationen auch für die Deutschen in der Zone.

3. Auf die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands.

Ich weiß, daß das alles von nicht wenigen Leuten in der Welt für hoffnungslosen deutschen Illusionismus gehalten wird. Wir sind anderer Meinung. Zwar haben alle im Bundestag vertretenen deutschen Parteien inzwischen erkannt, daß diese Ziele nicht zu erreichen sind in einem deutschen Alleingang zwischen Ost und West. Aber diese Zielstellung selbst halten wir nicht für illusionär, sondern für verpflichtend. Zugleich halten wir sie für eine der legitimen Aufgaben der Weltpolitik in unserer Zeit. Wir Deutsche lehnen den Krieg auch als Mittel der Wiedervereinigung Deutschlands klar und entschieden ab. Aber das stellt uns andererseits nicht davon frei, im Rahmen dieser Friedenspolitik alles zu prüfen und alles zu versuchen, um in der Deutschlandfrage auch mit dem Osten weiterzukommen. Vielleicht sieht der eine oder andere auch darin nur nationalen Egoismus oder deutsche Widerborstigkeit gegen den Gang der Geschichte. Die nachdenklichen und gewissenhaften Leute in meinem Lahde haben sich niemals darüber Illusionen gemacht, daß die Leiden und Verbrechen der Hitlerzeit vom ganzen deutschen Volk bitter bezahlt werden müssen. Den sogenannten Friedensfreunden in der Welt — von dem Philosophen Russel in England bis zu dem Theologen Hromädka in der Tschechoslowakei und manchem politisch Bedeutsameren — aber muß ich sagen, daß wir, die gewandelten und zu Freiheit und Frieden entschlossenen Deutschen auch moralisch nicht frei sind, ja und amen zu sagen zu einem Zustand, der Millionen Deutschen ihre menschlichen Grundrechte vorenthält. Wir sind auch nicht frei, uns mit einem Zustand im Herzen Europas ab.

zufinden, der eine fortgesetzte Gefahr für den Frieden der Welt darstellt. Gefahr nicht deshalb, weil es jemand damit auf Krieg abgesehen hätte, sondern Gefahr deshalb, weil dieser Zustand den Krieg wie ein Verkehrs-unglück über die Welt bringen kann.

Es ist darum alles andere als „Realpolitik'

wenn man verlangt, daß wir Deutsche, oder sogar die freie Welt im ganzen, diesen Zustand auch noch feierlich anerkennen und mit der kommunistischen Satellitenregierung in Ost-Berlin diplomatische Beziehungen aufneh men sollen. Bei aller Bereitschaft zu Ausgleich und Versöhnung halten wir ein solches Verlangen nicht nur für politisch unrealistisch, sondern wir sehen darin auch eine unmoralische Zumutung. Deshalb brechen wir auch-bei aller Bereitschaft, mit jedermann in Frieden zu leben — unsererseits die Beziehungen zu den Staaten ab, die mit der Anerkennung der Kommunistenregierung in Ost-Berlin die Teilung Deutschlands als definitiv betrachten.

Das ist alles nicht bequem, und es trägt uns auch keineswegs das Lob der Welt ein. Wirverstehen ganz gut, daß sie Ruhe haben, möchte, und daß das geteilte Deutschland mit seinem Berlin, seiner Mauer und seinen Zwischenfällen auch für Sie hier in Amerika nicht der Nabel der Welt ist. Dieser 17. Juni hat für uns Deutsche indessen auch nicht den Sinn, uns oder der Welt dies zu suggerieren. Im Gegenteil, er soll uns Deutschen immer wieder zum Bewußtsein bringen, daß unser brennendstes nationales Problem schließlich nur ein Ausschnitt ist aus der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung zwischen dem totalitären Zwangsstaat und seiner Ideologie und dem freiheitlichen Rechtsstaat und seiner Ideenwelt.

Wir Deutsche sind kein sehr harmonisches Volk. Wir haben viele Meinungsverschiedenheiten. Aber wir sind uns landauf, landab mit wenigen Ausnahmen darin einig, daß wir es Ihnen, Ihrem Land verdanken, wenn Deutschlands größerer Teil nicht auch vom russischen Kommunismus überflutet ist. Der Dank dafür ist in Deutschland groß und tief. Ich bin gewiß daß Präsident Kennedy davon einen klaren Eindruck gewinnt, wenn er uns nächste Woche die Ehre seines Besuches erweist.

Der nach wie vor aggressiv gestimmte Weit kommunismus hat in unserer Zeit zwei wi tige Verbündete in der freien Welt. Der eine ist der Illusionismus, der sich in dem Irrtum wiegt, man könne es sich ruhig leisten, s Salamitaktik der Sowjets nachzugeben, S würden schließlich auch einmal satt. Der andere viel gefährlichere, weil viel verbreitetere Verbündete der kommunistischen Mächte ist die Bequemlichkeit. Wir Deutsche haben bei uns selber die Erfahrung gemacht, zu welchen Leistungen ein totalitärer Staat die Menschen nicht nur zwingen, sondern eine Zeitlang auch begeistern kann. Wir haben deshalb alle Ursache, die kommunistische Welt und die Gefahr, die sie bedeutet, nicht zu unterschätzen. Wir möchten sie allerdings auch nicht überschätzen. Das eine führt leicht zur Trägheit, das andere ebenso leicht zum Defaitismus. Wir möchten beides vermeiden durch Wachsamkeit, Bündnistreue und unsere Beiträge zur Behauptung der Überlegenheit der freien Welt. Ich möchte gern hinzufügen, daß wir dabei nicht nur an unseren militärischen und finanziellen Beitrag denken.

Es ist an der Zeit, daß wir auch unseren Beitrag leisten in der Gestalt politischer Ideen und Anregungen. Vielleicht können auch wir dazu beitragen, neue Lösungsmöglichkeiten zu finden für die Lebensfragen, die uns alle angehen. Eine aufrichtige Partnerschaft erfordert es jedenfalls, daß die Verbündeten ihre Auffassungen frei zum Ausdruck bringen. Ich sage das in der Gewißheit, daß unsere Gemeinsamkeit im wesentlichen so tiefgegründet und gefestigt ist, daß sie auch zeitweilige Meinungsverschiedenheiten in Einzelheiten verträgt, wie es gegenwärtig im Blick auf den Gemeinsamen Markt der Fall ist.

Wir Deutsche haben das Glück gehabt, daß eine Reihe ausgezeichneter Amerikaner uns durch ihr Wirken und ihre Person in Deutschland einen Eindruck von amerikanischer Fairneß, Großzügigkeit und Entschlossenheit gaben. Einige von ihnen sind heute unter uns. Ich bin gewiß, daß die Opfer und Mühen nicht vergebens sind, die Sie und Ihr großes Land auf sich genommen haben in Deutschland und wo immer es in dieser Zeit die Freiheit zu verfechten galt. Was uns Deutsche aber betrifft, so bin ich ebenso gewiß, daß mein Volk nach den schrecklichen Erfahrungen, die es gemacht hat, von ganzem Herzen zur Freiheit entschlossen ist. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß das auch für die überwältigende Mehrheit der hinter dem Eisernen Vorhang niedergehaltenen Deutschen gilt. Auch deshalb lassen sie nicht im Stich. wir Und auch deshalb appellieren wir nicht nur an diesem an Sie, an Völker der Tage die freien Welt: Vergeßt sie nicht, schreibt sie nicht ab, gebt sie nicht preis! Denn sie gehören zu uns, sie gehören zu Euch!

Oftmals bin ich in vielen Ländern gefragt worden: „Wohin geht Ihr nur, Ihr Deutsche, was habt Ihr fortan im Sinn?" Ich möchte — so wie ich es oft getan habe — darauf auch heute und hier mit Abraham Lincoln antworten: Wir möchten „mit Beständigkeit das Rechte tun, wie's Gott uns gibt zu sehen“. Dies jedenfalls war das Thema des 20. Juli 1944, des Aufstands Deutscher gegen Hitler. Und dies war das Thema des 17. Juni 1953, dessen wir heute gedenken. Und dies soll hin-fort Deutschland bestimmen in der Gemeinschaft der freien Welt.

Rede am 17. Juni 1963 in Hamburg

Alle Deutschen sind denen Dank schuldig, die am 17. Juni 1953 dort, wo es am schwersten war — nämlich im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands —, für das Recht aller Deutschen demonstrierten, in einem freien demokratischen Staat leben zu dürfen. Wenn wir, die wir im freien Teil Deutschlands leben, mehr tun wollen als dieser Tat in Dankbarkeit zu gedenken, so müssen wir ein Dreifaches tun:

Erstens haben wir alle Möglichkeiten nutzbar zu machen, damit überall in der Welt verstanden wird, in Deutschland wollen die Menschen als Demokraten leben, aber dort, wo die Kommunisten herrschen, erlaubt man es ihnen nicht.

Zweitens haben wir in allen Himmelsrichtungen das Menschenmögliche in Bewegung zu setzen, um unsere Landsleute, die in der Unterdrückung leben müssen, zu entlasten und zu kräftigen.

Drittens den des deutschen wir Anspruch Volkes, in einem vereinigten demokratischen Staate leben zu dürfen, zu einer Wiedervereinigungspolitik zu formen.

Die Freiheitskundgebungen, Streiks und Demonstrationen des 17. Juni 1953 haben mit Volkserhebungen in anderen kommunistischen Diktaturen gemeinsam, daß sie mit dem Standrecht und dem Einsatz von Panzern niedergeworfen worden sind. Aber während andere kommunistische Regime früher oder später durch Amnestien und mehr oder weniger stillschweigende Duldung des Gedenkens an die Opfer beider Seiten versucht haben, die Bürgerkriegswolken zu zerstreuep, hat das sowjetzonale kommunistische Regime noch zehn Jahre danach die unter seiner Gewalt lebende Bevölkerung eingemauert. Die Führer der deutschen Kommunisten wollen etwas erreichen, das sie mit ihrer politischen Kraft im demokratischen Ringen mit den anderen politischen Kräften des deutschen Volkes nicht zu erreichen hoffen können: Die als Staatsapparat organisierte und handelnde Kommunistische Partei will mit den ihrer Gewalt ausgelieferten Bewohnern der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands als kommunistischer deutscher Staat anerkannt oder wenigstens hingenommen werden. Ein Machtgebilde, mit dem man sich abfinden soll, weil es — mit Gewalt aufrechterhalten und jeden Eingriff durch die Drohung mit Gewalt beantwortend — die Furcht erzeugt, es werde ganz Europa und wahrscheinlich der größte Teil der Welt in einen Vernichtungskrieg gestürzt, wenn man sich dieser „Realität" nicht beuge. Standrecht gegen Selbstbestimmungsrecht. Faustrecht gegen Völkerrecht. Selbstbestimmungsrecht und Völkerrecht werden von beflissenen Dialektikern zweckgerecht für den kommunistischen Gebrauch manipuliert. Die als „Schutzmächte"

auftretenden kommunistischen Regierungen der Sowjetunion und der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes sind unermüdlich im Gewähren von „Feuerschutz" für das kommunistische Machtgebilde durch Noten, Propagandaoffensiven und entsprechende Anklagen und Drohungen gegen das wirkliche Deutschland. Sie bedienen sich dabei des antinazistischen Vokabulars und versuchen in der Welt den Eindruck zu erwecken, als sei das wirkliche Deutschland eine Gefahr für die übrige Welt, die nur durch das kommunistische Macht-gebilde „DDR" einigermaßen im Schach gehalten werde.

Die scheußlichen Realitäten des Standrechts, der Mauer, der Stacheldrahtzäune und Minen-gürtel können und werden durch die Realität des Willens aller Deutschen, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, in das gebührende Licht gerückt und schließlich überwunden werden. Wir im freien Teil Deutschlands haben ungezählte Mittel und Möglichkeiten, unsere privaten, geschäftlichen und amtlichen Beziehungen zu anderen Völkern intensiv nutzbar zu machen, damit die einfache Wahrheit überall verstanden wird: In Deutschland wollen die Menschen als Demokraten leben, aber dort, wo die Kommunisten herrschen, erlaubt man es ihnen nicht.

Für die Deutschen, die in der Unterdrückung leben müssen, ist der Gedanke, „abgeschrieben" zu sein, drückender als die Einsicht, daß zeitweilig die Machtverhältnisse eine grundlegende Änderung ihrer Lage nicht erlauben. Deshalb müssen wir im freien Teil Deutschlands darauf achten, daß — ungeachtet aller Diskussionen, die wir über unterschiedliche Auffassungen frei führen — für unsere Landsleute drüben immer erkennbar bleibt, wie sehr wir sie zu uns rechnen und bemüht bleiben, ihnen über ihre schwere Zeit zu helfen. Es entspricht unserer freiheitlichen Lebensart, bei uns auch in Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die von der Mehrheit nicht geteilt werden oder nicht die Auffassung der Regierung wiedergeben. Es’ entspricht umgekehrt der Denkweise derer, die jenseits von Mauer und Stacheldraht die Macht ausüben, sich nach Belieben dieser oder jener Äußerungen zu bemächtigen, um damit in ihrem Bereich den Eindruck zu erwecken, im Westen finde man sich endlich mit jenen „Realitäten" ab, die sie dort als die Attribute ihrer Staatlichkeit angesehen wissen wollen. Es kommt nicht darauf an, hier bei uns etwa zu versuchen, den Machthabern drüben keinerlei nützbare Anhaltspunkte zu liefern, sondern darauf, in wirklicher Freiheit die Meinungsäußerungen bei uns deutlich zu machen, daß bei uns die Einheit des politischen Willens in den Grund-und Lebensfragen der ganzen Nation notfalls auch aus der Diskussion umstrittener Themen immer neu und immer stärker gebildet wird. Damit werden wir auf längere Sicht auch überall in der Welt die lügnerische Behauptung der antideutschen Propaganda widerlegen, deren sich die kommunistischen’ Organe bedienen, daß die Deutschen angeblich gar nicht demokratischer Meinungsbildung fähig seien.

Auch wenn es unter den gegebenen Verhältnissen nicht tunlich erscheint, -einzelne Mög lichkeiten zu beschreiben, die zur Entlastung und Kräftigung unserer Landsleute in der Unterdrückung lebendig gemacht oder intensiviert werden können, wird doch der erkennbare feste Vorsatz dazu vor allem die seelische Widerstandskraft stärken. Der Bundeskanzler hat auf seine wiederholte Erklärung, die Bundesregierung sei bereit, über vieles mit sich reden zu lassen, wenn es sich darum handele, die Lage der Deutschen im kommunistischen Machtbereich tatsächlich zu verbessern, bisher keine Antwort von den sonst so redseligen Wortführern der anderen Seite bekommen. Ungeachtet aller politischen Gegensätze, die wir hier im freien Teil Deutschlands miteinander austragen, stehen wir alle hinter diesem Wort des Bundeskanzlers. Daß es bisher unerwidert blieb, ist wohl als ein Zeichen innerer Unsicherheit der kommunistischen Gegenseite zu werten.

In der von der Sowjetregierung bisher unbeantwortet gebliebenen Denkschrift der Bundesregierung vom 21. Februar 1962 erklärt worden:

»Wer die Deutschland-und Berlin-Frage ernsthaft lösen will, darf die Tatsachen nicht durch gekünstelte staatsrechtliche Konstruktionen und völkerrechtliche Fiktionen verschleiern. Mit Not-und Scheinkonstruktionen lassen sich große, das Leben der Völker auf lange Sicht bestimmende Fragen nicht lösen. Das Deutschland-Problem liegt tiefer, und wir werden es in der Tat nur bewältigen, wenn wir die allgemein menschlichen Ziele stets im Auge behalten.“

In den ersten fünfzehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Kulkulation fehlgeschlagen, den nicht unter sowjetische Gewalt geratenen freien Teil Deutschlands durch den Überdruck von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen zu einer Stätte sozialer Explosionen werden zu lassen. Unser Volk hat, im Gegensatz zu dieser Kalkulation, als eine Notgemeinschaft, aus Trümmern und Dreck wieder eine leistungsfähige Wirtschaft und die Grundlagen einer gesunden öffentlichen Ordnung gebaut. In dem Maße, in dem wir im freien — eingedenk Teil Deutschlands unserer gesamtdeutschen und europäischen Verpflichtung — das Gebot unseres Grundgesetzes erfüllen: „die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", werden wir Stütze und Heimstätte auch für alle jene Deutschen werden, die noch in der Unterdrückung leben müssen.

Auf zwei kann Ansprüche und wird der freie Teil Deutschlands nicht verzichten:

1. Auf das Recht aller Deutschen, in einem vereinigten demokratischen Staat zu leben.

2. Auf einen Friedensvertrag, der auf deutscher Seite von einer Repräsentation des ganzen deutschen Volkes ausgehandelt und unterzeichnet wird.

Hier im freien Teil Deutschlands können wir weder auf das Recht verzichten, das wir für diejenigen vertreten müssen, die es unter den ihnen auferlegten Lebensbedingungen nicht selbst wirksam vertreten und geltend machen können, noch können wir auf einen Friedensvertrag verzichten, der unser Verhältnis zur übrigen Welt in Ordnung bringt.

Wer in der Meinung, damit der Entspannung der Ost-West-Gegensätze dienen zu können oder einfach deshalb, weil er des Streitens müde ist, den Deutschen raten zu müssen glaubt, sie sollten sich mit gewissen Realitäten abfinden und einen erträglichen modus vivendi auszuhandeln der bedenken, versuchen, möge was wohl für die Welt damit gewonnen wäre, wenn die Deutschen sich entschließen könnten zu heucheln, Standrecht könne für Selbstbestimmungsiecht genommen und Faustrecht im gegebenen Fall als Völkerrecht anerkannt wer-B den. Kommunistischerseits möchte man jetzt auch noch mit einem dialektischen Trick die Bundesregierung zur einseitigen Anerkennung einer durch einen Willkürakt gezogenen Grenze nötigen, ohne dafür auch nur in Friedens-vertragsverhandlungen mit einer Repräsentation des ganzen deutschen Volkes gehen zu wollen. Dieser Trick wird nicht weniger übel, wenn er in Verbindung gebracht wird zu gegebenenfalls in Aussicht gestellten „Erleichterungen" in den Verhandlungen um den Status West-Berlins. Die kommunistische Seite möchte Deutschland in den Augen der Welt ins Unrecht setzen, indem sie vorgibt, die kommunistisch regierten Staaten seien für den Abschluß eines Friedensvertrags, aber die Bundesrepublik sei dagegen. Im Schatten dieses Schwindels möchte die kommunistische Seite ungestört weiter die Aufspaltung Deutschlands betreiben.

In der schon zitierten Denkschrift der Bundesregierung vom Februar 1962 ist vorgeschlagen worden, „die beiden Fragenkomplexe, die in unlösbarer Verbindung stehen, nämlich der Abschluß eines Friedensvertrags und die Beseitigung der unnatürlichen und ungerechten Zerreißung des deutschen Volkes, sollten im Zusammenhang gesehen werden. Es muß ein

Weg gefunden werden, der das deutsche Volk wieder zusammenführt und den Abschluß eines gerechten und dauerhaften Friedens mit ganz Deutschland ermöglicht".

Unser deutsches Problem — aber ich glaube auch das Problem des Westens — ist es, den Anspruch des deutschen Volkes, in einem vereinigten Staate mit freiheitlich-demokratischer Ordnung leben zu wollen, überall dort vorzubringen und einzubeziehen, wo es um die Ordnung der Beziehungen von Völkern geht. Das gebietet uns die gesamtdeutsche und europäische Verpflichtung der Bundesrepublik. Dabei befinden wir uns auch im Einklang mit den Verpflichtungen der drei Mächte im Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den drei Mächten.

Keine politische Partei allein kann geltend machen, ein für alle Situationen geeignetes Patentrezept zu besitzen. Wenn die Parteien des Deutschen Bundestages aber ihren guten Willen und ihre Bereitschaft Zusammenlegen, das Beste aus der Lage zu machen, so haben sie festen Boden unter den Füßen für eine deutsche Wiedervereinigungspolitik, die vor allem eines braucht: Daß wir Deutschen als ein Volk handeln.

Rede am 17. Juni 1963 in der Paulskirche zu Frankiurt

Am heutigen Tag versammeln sich zwischen Aachen und Helmstedt und in West-Berlin, zwischen Flensburg und den Alpen, in allen diplomatischen und konsularischen Vertretungen Deutschlands in der freien Welt, Männer und Frauen verschiedener Bekenntnisse, aller Stände, um des zehnten Jahrestages des Volksaufstandes in Ost-Berlin und Mitteldeutsch-land zu gedenken.

Die Vereinigten Staaten begehen den Tag der Proklamation ihrer Unabhängigkeit vom 4. Juli 1776! Die großartigen Formulierungen Thomas Jeffersons haben selbst für unser Volk und für diese Gedenkstunde eine Aussagekraft. „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich", so formulierte Thomas Jefferson am 4. Juli 1776, „daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören, daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten, daß, wenn immer irgend eine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten scheint"! Fürwahr, eindrucksvolle Formulierungen, die in diesen 200 Jahren seit ihrer Verkündung nichts von ihrer Aussagekraft eingebüßt haben, die im Gegenteil von besonderer Gegenwartsbedeutung sind, nicht nur für das deutsche Volk.

Frankreich feiert eine gelungene Revolution, den Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789.

Selbst die Sowjetunion begeht die Feier ihrer Oktoberrevolution von 1917, und Großbritannien ehrt an seinem Nationalfeiertag seine Königin.

So sind Sieg oder Ehrungen Inhalt der nationalen Feiertage der Völker. W’ir feiern keinen nationalen Feiertag im herkömmlichen Sinne, wir gedenken eines gescheiterten Volksauf-Standes, wir gedenken einer verlorenen Schlacht um Freiheit, Recht und Menschenwürde! Waren die Opfer des 17. Juni 1953 und der folgenden Tage sinnlos? Oder haben auch bei einer gescheiterten Revolution, bei einem gescheiterten Aufstand die erbrachten Opfer einen tieferen Sinn? Ist der 17jährige Lehrling Peter Heider aus Magdeburg, sind die Arbeiter Kurt Ahrend aus Eisleben, Heinz Sonntag und Walter Schädlich aus Leipzig, sind die Handwerker Hermann Stieler aus Bitterfeld und Alfred Diener aus Jena, sind die Volkspolizei-angehörigen Günter Schwarze aus Gotha und Ernst Markgraf aus Stralsund — um nur wenige zu nennen, die am 17. und 18. Juni 1953 Standrechtlich erschossen wurden —, sind sie sinnlos gefallen? Ihre Opfer, das Opfer noch vieler anderer, die später zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, das Opfer vieler, die ins Konzentrationslager und Zuchthaus gehen mußten, haben einen tiefen Sinn.

Zwei Beweise haben diese Opfer vor aller Welt erbracht: Sie haben bewiesen, daß das Regime in Mitteldeutschland nicht auf dem Volkswillen der dortigen Bevölkerung beruht. Sie haben zudem gezeigt, daß auch deutsche Männer und Frauen bereit sind, für Freiheit, Recht und Menschenwürde Opfer zu bringen, das höchste Opfer ihres Lebens. Wenige Jahre vorher war es das Opfer der Männer des 20. Juli 1944, die gegen den Tyrannen aufstanden aus ihrer Einsicht, daß man Gott und seinem Gewissen mehr gehorchen müsse als den Menschen. Damals war es eine kleine Gruppe von Offizieren, Gewerkschaftlern, Politikern; diesmal war es das Volk schlechthin, das in OstBerlin und Mitteldeutschland aufstand und bezeugte, daß auch in Deutschland Freiheit, Recht und Menschenwürde in guten Händen sind.

Dieses Opfer unserer Landsleute in Ost-Berlin und Mitteldeutschland hat wesentlich mit dazu beigetragen, das Antlitz Deutschlands in der Welt wieder heller erstrahlen und Narben verschwinden zu lassen, die eine unglückselige Vergangenheit in das deutsche Gesicht geprägt hat.

Auch was in der Paulskirche 1848 diskutiert und entschieden wurde, hat nicht zu einem unmittelbaren Erfolg geführt. Am 18. Juni 1849 wurde das Rumpfparlament in Stuttgart von württembergischem Militär aufgelöst. Gespött, Hohn, Verachtung und Gelächter an den Höfen! Und dennoch hat Freiherr von Gagern, der Präsident der Frankfurter Nationalversammlung, haben die Gebrüder Grimm, hat Ludwig Uhland, hat Ernst Moritz Arndt, hat der später in Wien erschossene Robert Blum nicht vergeblich im Rund der Paulskirche gesessen. Was damals über die Grundrechte, über die unveräußerlichen Menschenrechte diskutiert wurde, hat später Gestalt angenommen: In der Weimarer Verfassung und insbesondere in unserem Grundgesetz, das die Grund-und Freiheitsrechte als subjektiv öffentliche Rechte aufnahm, erstmals in der deutschen Verfassuntgsgeschichte, von jedermann einklagbar gegen jedermann, auch gegen den Staat! Der schönste Artikel dieses Grundgesetzes ist der Artikel 1: „Die Menschenwürde ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt!" An diesem Menschenbild teilt sich heute die Welt. Wir, für Menschenwürde eintretend, den Menschen als Ebenbild Gottes wertend, in der Gleichheit aller, die Menschenantlitz tragen, Inhaber unveräußerlicher Rechte. Drüben, der Mensch als Nummer, als Objekt der Ideologie! Hier, die Vermenschlichung des Staates als oberstes Ziel aller Politik. Du bist alles, du bist der Staat; der Staat ist die Summe aller Bürger, der Staat sind wir! Und so wenig Staat und Zwang wie unbedingt notwendig, und so viele Bürgerfreiheiten, Bürgerrechte, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung wie irgend möglichl Hier also die Vermenschlichung des Staates und drüben Verstaatlichung des Menschen: Du bist nichts, der Staat ist alles und die Partei hat immer recht! Drüben, wo man das Bild des Menschen mit den Füßen trat, seine Würde mißachtete, und wo man offenbar bestrebt zu sein scheint, jenes sarkastische Wort zu bestätigen, das da lautet: »Die scheint sich von der Humanität des 18. Jahrhunderts über die Nationalität des 19. Jahrhunderts in die Bestialität des 20. Jahrhunderts zu entwickeln.“

Eine Mauer von 41 Kilometern trennt OstBerlin und West-Berlin seit nunmehr bald zwei Jahren. Eine Zonengrenze mit umgepflügtem Streifen, mit freigeschlagenem Schußfeld, mit Minengürteln und Stacheldraht von 1386 km Länge trennt Deutschland von Deutschland und hindert an Trave, Elbe und Werra Deutsche, frei von Deutschland nach Deutschland zu gehen. Fürwahr, selbst dichterische Gestaltung kann nicht im Letzten das menschliche Leid zum Ausdruck bringen, daß durch diese Grenze und diese Mauer entstanden ist. Es bedarf der unmittelbaren Begegnung mit der Mauer, sei es am Brandenburger Tor, sei es in der Bernauer Straße oder am Potsdamer Platz, es bedarf des Hörens der Schreie eines verblutenden Peter Fechter, um das ganze menschliche Leid und Unglück zu ermessen, das in Berlins und Deutschlands Teilung begründet ist.

Aber es wäre verfehlt, wollten wir uns nur mit der Klage befassen! Wir haben als überlebende, als Männer und Frauen, die im freien Teil Deutschlands handeln dürfen, aus der Entwicklung in Mitteldeutschland und Ost-Berlin, aus Zonengrenze und Berliner Mauer eine Verpflichtung übernommen. Sie erst macht diesen Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes sinnvoll, sie erst gibt auch einer solchen Veranstaltung ihre letzte Rechtfertigung! Die Präambel unseres Grundgesetzes bringt zum Ausdruck, daß die Bundesrepublik Deutschland nur für eine Übergangszeit dem staatlichen Leben eine neue Ordnung geben will. Diejenigen, die im Parlamentarischen Rat dieses Grundgesetz erarbeitet haben, haben auch für jene gehandelt, denen — damals wie heute — mitzubestimmen versagt ist. Im Schluß der Präambel heißt es: „Das ganze deutsche Volk bleibt aufgefordert, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden!'Als wir 1949 zum erstenmal im Deutschen Bundestag zusammentraten, glaubten wir, wir würden nur wenige Jahre im Provisorium Bonn verweilen. Die Optimisten rechneten schon 1953 mit dem Umzug in die alte Reichshauptstadt Berlin, die Pessimisten nannten 1957 als Datum, an dem spätestens eine gesamtdeutsche freie Wahl das Selbstbestimmungsrecht in ganz Deutschland herstellen und den Organen des Bundes Gelegenheit geben würde, in die alte Hauptstadt Berlin wieder zurüdezukehren. Wir wissen, daß Optimisten und Pessimisten sich getäuscht haben! 14 Jahre nach dem ersten Zusammentreten des Deutschen Bundestages ist das Brandenburger Tor vermauert, wir sehen in der Frage der deutschen Einheit weniger klar denn je in den vergangenen Jahren. Wir wissen spätestens seit den harten und unerbittlichen Drohungen des sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow auf dem 6. SED-Parteitag dieses Jahres im Januar in Ost-Berlin und aus seiner Rede, die er anschließend in Fürstenberg an der Oder hielt, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nicht in einem Akt im Rahmen einer freien gesamtdeutschen Wahl heute oder morgen erreichbar sein wird, sondern daß sie nur noch in einem langfristigen Prozeß des Zusammenwachsens der getrennten Teile Deutschlands kommen wird; in einem langfristigen Prozeß, der uns viele Mühe, aber auch viele Opfer abverlangen wird! Das, was Chruschtschow bereit ist, an Zugeständnissen in dieser Stunde der deutschen Politik anzubieten, würde nicht zu einer Wiedervereinigung führen, wie wir sie uns vorstellen. Chruschtschow nannte als Bedingung eines sowjetischen „Ja“ zur deutschen Einheit, daß ganz Deutschland nach dem Modell der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik errichtet werden müßte, daß „Kapitalismus", „Revanchismus" und „Militarismus" in Westdeutschland beseitigt und ganz Deutschland so „friedliebend und so demokratisch" erstellt werden müßte wie die „DDR". Das deutsche Volk in seinem freien Teil, in allen Parteien, in allen Schichten, hat niemals die Wiedervereinigung Deutschlands um jeden Preis gefordert. Für uns war die Einheit Deutschlands niemals ein ausschließlich nationales Anliegen im früheren, im überkommenen Sinn. Für uns war die Wiedervereinigung nicht Selbstzweck, und sie ist es nicht, sondern für uns ist die Wiedervereinigung Deutschlands Mittel zum Zweck und zwar zur Wiederherstellung der Grund-und Freiheitsrechte für alle Deutschen, auch für jene 181/2 Millionen Mitteldeutschen und OstBerliner, die nicht im Besitze jener unveräußerlichen Menschenrechte, jener Grund-und Freiheitsrechte sind, derer wir uns erfreuen können. Eine Wiedervereinigung Deutschlands rst für uns daher nur denkbar, wenn dieses Deutschland von dem Grundrecht seiner Selbstbestimmung Gebrauch machen kann und nach jenen Lebensverhältnissen und nach jenen Formen geordnet werden kann, die wir als unabdingbar für ein menschenwürdiges Leben ansehen: Recht, Freiheit und Menschenwürde.

Wir wollen keine Einheit Deutschlands als Volksdemokratie unter Mißachtung des Menschenbildes, unter Mißachtung des Eigentums, unter Mißachtung von Freiheit und Recht, sondern unabdingbar fordern wir den Katalog der Grund-und Freiheitsrechte einer rechtsstaatlichen Ordnung.

Das Selbstbestimmungsrecht ist keine Phrase, es ist auch kein Schlagwort, mit dem die Politiker sich zu beruhigen pflegen. Es ist zum erstenmal durch Lenin selbst interpretiert worden, wenn auch in kommunistischem Sinne.

In einer Rede in Baltimore am 6. April 1918 stellte Wilson fest, daß das freie Selbstbestimmungsrecht der Nation ein Grundsatz ist, auf dem die ganze moderne Welt ruht. Das Selbstbestimmungsrecht hat nach dem Ersten Weltkrieg 1921 in Oberschlesien und Ostpreußen, 1935 und 1955 an der Saar eine eindrucksvolle Bestätigung erfahren. Es ist in der 6. Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1951 beantragt worden, das Selbstbestimmungsrecht in die Konvention der Vereinten Nationen aufzunehmen. Am 21. Dezember 1952 haben die Vereinten Nationen in der 7. Vollversammlung mit großer Mehrheit beschlossen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Voraussetzung einer Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte anerkannt und seine Wahrung allen Mitgliedstaaten empfohlen wird. Alle Völker und alle Nationen sollten das Recht auf Selbstbestimmung haben, insbesondere das Recht, frei ihre politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse zu bestimmen.

Bis zu diesem Zeitpunkt der letzten Entscheidungen und der Einräumung des Selbstbestimmungsrechts für das ganze deutsche Volk wird es einen möglicherweise langen Kampf der beiden Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden, darüber hinaus in der Welt geben. Das Gesellschaftssystemdes Kommunismus wünscht seine Übertragung auf ganz Deutschland, und Chruschtschow hofft, noch selbst seine Enkel über den Kapitalismus siegen sehen zu können.

Wir in der freien Welt hoffen auf die Kraft, die Freiheit und Recht in Jahrtausenden immer wieder gegen Unterdrückung und Tyrannei bewiesen haben. Dieser Auseinandersetzungsprozeß zwischen den beiden Systemen auf deutschem Boden wird nicht nur von materiellen Gütern entschieden werden; nicht so sehr durch Produktionsleistungen, mögen sie noch so imponierend sein. Viel stärker als die materiellen Güter werden die geistigen Werte den Prozeß der Auseinandersetzung zweier Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden entscheiden. Wer ausschließlich sein materielles Interesse, seinen Lebensstandard, die irdischen Güter des Daseins zum alleinigen Lebensinhalt macht, wer allein das Materielle zu seinem höchsten Gut erklärt und bereit ist, den Tanz um das Goldene Kalb in unserer Zeit neu zu beginnen, der hat den ersten Schritt zum Kommunismus schon vollzogen. Uber den materiellen Dingen stehen die geistigen Güter, und es wird von der Mobilisierung geistiger Werte abhängen, ob wir oder die Funktionäre hinter der Mauer eines Tages Deutschland ganz besitzen werden.

Ich weiß, daß die Jugend skeptisch gegenüber Idealen ist. Nach zwei Weltkriegen, nach dem Mißbrauch des Idealismus vieler junger Deutscher in der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft ist es schwer, allgemein gültige Wertvorstellungen und Leitbilder wieder der Jugend zu vermitteln. Wir haben eine grausige Vergangenheit zu bewältigen, aber wir dürfen vor der Verpflichtung, die Vergangenheit zu bewältigen, nicht die ebenso große Verpflichtung übersehen, daß auch Gegenwart und Zukunft bewältigt werden müssen! Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lassen sich nicht voneinander trennen! Vergangenheit, Gegenwa rt und Zukunft bilden ein unteilbares Ganzes, und es gilt, insbesondere bei unserer heranwachsenden Jugend, die Schatten der Vergangenheit zu verbannen und alles Menschenmögliche aufzuwenden, um zu verhindern, daß Rückfälle in die Barbarei eines Tages wieder möglich sein können. Es gilt, die Schatten zu verbannen! Es gilt aber auch, die Lichtseiten deutscher Geschichte der Jugend als Beispiele und als Leitbilder vor Augen zu halten. Seit 1933 sind 30 Jahrgänge herangewachsen, die politisch, rechtlich und moralisch nichts zu tun haben mit den entmenschlichenden und entartenden Erscheinungen der nationalsozialistischen Diktatur. Diese Jugend ist rein, rein im Herzen, rein im Gewissen. Es gilt, dieser Jugend aus der Vielfalt der deutschen Geschichte Impulse zu vermitteln, um ihr den Alpdruck zu nehmen, als ob die Geschichte des deutschen Volkes ausschließlich aus der grausigen Zeit der zwölf Jahre Hitlers besteht. Man fragt heute oft: Die da drüben haben Ideale — wenn es auch falsche Ideale sind —, wir haben doch aber einmal erlebt, wie eine Jugend bereit ist, verblendet, gutgläubig auch falschen Idealen zu dienen; welche Ideale haben wir?

Ideale, die sich in lautstarken Demonstrationen und Äußerlichkeiten erschöpfen, pflegen wir nicht, sie sind fade und schal beim näheren Hinsehen. Die Fassade ist nicht entscheidend kommt — auf das, was dahinter sich verbirgt, es an.

Die Frage nach dem Ideal, für das wir leben, und wenn es sein muß, zu kämpfen sich verlohnt, haben uns die Männer und Frauen des 17. Juni 1953 und die Toten der folgenden Tage und die Insassen der Zuchthäuser und Konzentrationslager beantwortet. Das Menschenbild, der Mensch als Ebenbild Gottes, der Mensch in seiner Würde und in der Gleichheit aller, die Menschenantlitz tragen, der Mensch in seinen unveräußerlichen Rechten, die Freiheit der Gestaltung seines Lebens und das Bewußtsein, daß man Gott und seinem Gewissen mehr gehorchen muß als den Menschen, das ist das Ideal der westlichen Welt, für das wir kämpfen müssen!

Zu diesem Ideal gehört auch ein neuer, ein geläuterter Patriotismus. Man kann nur aus der glücklichen Familie die Verbindung zur glücklichen Gemeinschaft seines Volkes und nur aus aus der Gemeinschaft seines Volkes einen glücklichen Weg zu überstaatlichen, zu europäischen, zu atlantischen Gemeinschaften finden. Vaterland, Vaterlandsliebe — manchmal schien es so, als wenn diese Begriffe in den Trümmern des Zweiten Weltkrieges, in den Kriegsgefangenenlagern, in den Konzentrationslagern, in den Haftanstalten Lntergegan-gen wären. Aber dem ist nicht so! Wir müssen davon Kenntnis nehmen, daß zur Erreichung der Wiedervereinigung Deutschlands auch ein gerüttelt Maß nationaler Würde, Selbstachtung und ein geläuterter Patriotismus gehören. So wie von der Paulskirche aus 1848 ein Patriotismus wellenartig sich über ganz Deutschland ausbreitete, so müssen Vaterlandsliebe, die Bereitschaft zur Hingabe an die Gemeinschaft und der Glaube, daß in ihnen ein moralisches Prinzip verankert ist, wieder Allgemeingut der deutschen Jugend werden! Und dieser neue, geläuterte Patriotismus soll dann eines Tages gekrönt werden von einem europäischen Patriotismus, wenn es uns einmal gelungen sein sollte, in ganz Europa die freie Bewegung für Menschen, Güter und Gedanken durchzusetzen. Denn mit Berlin ist Deutschland und mit Deutschland ist auch Europa geteilt.

Idi habe zwei Beispiele zur Unterstreichung dessen gewählt, was ich mit geläutertem Patriotismus und Nationalgefühl meine. Vor wenigen Jahren sind Parlamentarier aller drei Bundestagsfraktionen nach Warschau zu einer interparlamentarischen Tagung gereist. Sie waren überrascht, wie Warschau wiederhergestellt wird in den damaligen Formen, in denen es zerstört wurde. Die Palais der Fürsten von Pless und von Radziwill, Aristokraten-schlösser, Denkmäler der nationalen polnischen Geschichte, werden genau nach den früheren Modellen mit hohen Kosten wiederhergestellt. Die deutschen Parlamentarier fragten den polnischen Parteisekretär Gomulka bei einer Veranstaltung der interparlamentarischen Union: «Wie verträgt sich das mit dem Kommunismus? Walter Ulbricht sprengt bei uns Schlösser und Sinnbilder deutscher Vergangenheit und schematisiert das Bild der deutschen Architektur in Mitteldeutschland und Ost-Berlin. Sie aber bauen hier als Kommunist in Warschau alles auf, auch das, was aus der Zeit der konservativen, der reaktionären Politik Polens eigentlich für den Kommunismus unerwünscht sein sollte.'’ Daraufhin erklärte Polens Partei-sekretär Wladyslaw Gomulka: „Nun, Walter Ulbricht ist ja auch in erster Linie Kommunist und dann erst Deutscher; ich, Gomulka, bin erst Pole und dann Kommunist“, und er schloß: „auch diese Zeit ist ein Stück polnischer Geschichte, und wir wollen ihr unseren Respekt nicht versagen; denn kein Volk, meine Herren aus der Bundesrepublik Deutschland, kann leben ohne Tradition.“

Ein zweites Beispiel zur Verdeutlichung eines nationalen Solidaritätsbewußtseins, ja, vielleicht eines landsmannschaftlichen Solidaritätsbewußtseins aus dem fernen Asien. Eine Delegation des Deutschen Bundestages hatte Gelegenheit, Hongkong zu besuchen. Ich fuhr auch in die New Territories, das heißt in das Stück Festland, das die britische Kronkolonie Hongkong für 99 Jahre gepachtet hat und das an den Bezirk Kanton angrenzt, wo gerade im Mai vorigen Jahres über 130 000 Flüchtlinge aus der Volksrepublik China, insbesondere aus dem Bezirk Kanton, nach Hongkong flüchteten.

Viele konnten nicht ausgenommen werden, mußten von den Briten zurückgeschickt werden, weil die Kronkolonie Hongkong unter großem Wassermangel leidet. Nur etwa die Hälfte konnte in Hongkong verbleiben. Ich habe mich einen ganzen Tag an der unmittelbaren Demarkationslinie aufgehalten und durch die Führung eines seit 40 Jahren in China ansässigen italienischen Paters mir das Schicksal der Flüchtlinge erläutern lassen. Die Frage, die ich immer wieder stellte, lautete: „Ist hier an der Demarkationslinie schon einmal auf einen flüchtenden Chinesen von einem Posten der chinesischen Armee geschossen worden?" Man hat mich ungläubig angestarrt, man verstand die Frage nicht. Warum sollte man denn auf einen Flüchtenden schießen? Man schießt auf einen hilflosen Flüchtling nicht. Das Ergebnis vieler Befragungen, bestätigt durch den italienischen Pater, lautet: Es ist kein Fall an dieser Demarkationslinie aus den letzten 15 Jahren bekannt geworden, daß ein Chinese auf einen flüchtenden Chinesen geschossen hat. Als ich das hörte, war ich tief beschämt; denn in Berlin sind seit dem 13. August 1961 mindestens 60 Personen von Deutschen erschossen worden, weil sie von Deutschland nach Deutschland gehen wollten, vielleicht um zu ihrer Familie zu gelangen. Es möge die Zeit kommen, da wir uns nicht mehr derer zu schämen haben, die an der Mauer und an der Zonengrenze auf wehrlose Deutsche schießen. Wir haben zwar nicht das Glück, einen nationalen Feiertag im üblichen Sinne zu besitzen, wir müssen uns mit einem Nationalen Gedenktag begnügen. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, daß aus diesem Nationalen Gedenktag eines Tages der Nationalfeiertag des deutschen Volkes werden möge, der dann angebrochen ist, wenn das deutsche Volk im Besitze seines Selbstbestimmungsrechts über sein politisches Schicksal frei entscheiden kann. Wir haben nichts zu fürchten, wir sind zu jeder Kontrolle von freien Abstimmungen in Deutschland bereit.

Bis zu diesem Zeitpunkt gilt es, Mut, Entschlossenheit, Klugheit, aber auch den leidenschaftlichen Willen zur Wiedervereinigung zu pflegen. Denn die Welt wird uns die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes nicht als reife Frucht internationaler Verhandlungen auf dem Präsentierteller darreichen. Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes und damit die Freiheit für alle Deutschen werden nur kommen, wenn das deutsche Volk sich zum leidenschaftlichen Anwalt seiner eigenen Sache macht und die Welt, auch die Sowjetunion, eines Tages zur Kenntnis nehmen muß, daß das deutsche Volk sich niemals mit der Mauer und mit der Zonengrenze abfinden wird, und daß man dem deutschen Volk — den Nachfahren Goethes und Schillers, Immanuel Kants und Schopenhauers — ebensowenig das Selbstbestimmungsrecht auf die Dauer vorenthalten kann, wie man es auch den jungen Völkern, die lange Jahre unter der Kolonialherrschaft standen, heute nicht mehr vorenthalten kann. Die Sowjetunion wird immer stärker kritischen Stimmen ausgesetzt sein, sie wird die Mauer und Ulbricht mehr und mehr als Belastung empfinden. Audi die Sowjetunion kann auf die Dauer nicht jenen Widerspruch ertragen, der darin liegt, daß sie auf der einen Seite jungen Völkern das Selbstbestimmungsrecht einräumt, sie vom Kolonialjoch befreit sehen will, aber in Mitteleuropa einen neuen sowjetischen Kolonialismus errichten möchte.

Wir haben eine Nationalhymne, die in ihrer Aktualität einzigartig auf dieser Erde ist. Idi kenne keine Nationalhymne, die in dem Text so sehr das gemeinschaftliche Wollen eines Volkes zum Ausdruck bringt, wie es bei uns die dritte Strophe des Deutschlandliedes tut:

„Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland, danach laßt uns alle streben, brüderlich mit Herz und Handl’

Fussnoten

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