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Die Bundesrepublik nach fünfzehn Jahren | APuZ 28/1964 | bpb.de

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APuZ 28/1964 Die Bundesrepublik nach fünfzehn Jahren Artikel 1

Die Bundesrepublik nach fünfzehn Jahren

Joachim H. Knoll

Vorzüge und Mängel einer demokratischen Ordnung

Die deutschen Verfassungen sind eigentlich nie so recht zum Anlaß von würdigen Festlichkeiten geworden. Alle Versuche, zumal in der Weimarer Republik, so etwas wie einen nationalstolzen Verfassungstag zu dekretieren, sind an dem lustlosen Desinteresse der Staatsbürger gescheitert. Im Kaiserreich rankte sich das staatliche Selbstbewußtsein der Bürger an den kriegerischen oder dynastischen Festivals empor, die mehr für das andächtige Gemüt und für ein sentimentales Gefühl hergaben. Kaisers Geburtstag, der Sedan-Tag, die Regierungsjubiläen waren die Höhepunkte im politischen Selbstbewußtsein und in der kleinbürgerlich engmaschigen Selbstdarstellung. Die Verfassung, der Reichstag, das waren die tolerierten Schnörkel einer sich konstitutionell gebenden Monarchie, die den nüchternen Parlamentarismus kaum in sich aufzunehmen verstand. Herbe Sachlichkeit und durchglühte Emotionalität standen einander feindlich gegenüber. Die Wahl wurde der Wilhelminischen Ära leicht. Daß an der nationalen Gläubigkeit viel Geborgtes, viel Künstliches und zäh Erhaltenes war, haben damals nur wenige erkannt oder wahrhaben wollen. Walther Rathenau, Max Weber und Heinrich Mann, um nur einige der mit nüchternem Scharfsinn begabten Zeitkritiker zu nennen, haben auf die politischen Fragwürdigkeiten, auf die nichtige Festlichkeit und auf den bramarbasierenden National-rausch aufmerksam gemacht. Aber deren Worte fanden kaum Gehör. Nörgelei — so nannte man das damals.

Im Jahre 1918 rollte die Krone ziemlich kläglich in den Staub, das Bürgertum war mit einem Male seiner Orientierung beraubt, die hierarchische Gesellschaft — so wohlgeordnet und scheinbar krisenfest — war nur noch eine Karikatur ihrer selbst. Die Demokraten waren überrascht, daß ihnen ein so totaler Neubeginn in den Schoß fiel. Mit dem optimistischen Elan begeisterter Republikaner sind sie dann aber an die Arbeit gegangen und haben eine Verfassung entworfen, in die sie alle ihre Träume und vagen Zukunftshoffnungen investierten. Aber die Verfassung und der Staat von Weimar haben die Herzen nicht zum Schwingen gebracht, dankbare Festlichkeit, die dem Neubeginn zugekommen wäre, wollte sich nicht einstellen, und schließlich hat man gar boshaft gemeint, daß mit dem Geburtsschein der Republik die Todes-urkunde sogleich mit ausgefertigt worden sei.

Gefühlsbindung an ein Provisorium

Nach 1945 war dann wahrlich zu Festlichkeit kein Anlaß mehr. Konnte, was sich da mühsam zur Staatlichkeit zusammenfügte, was sich von vornherein als provisorisch verstand, eine Verfassung entwickeln, die mit zukunftgewisser Gläubigkeit rechnen durfte? Konnte diese rationale Struktur von purer Zweckmäßigkeit wenigstens eine nüchterne Zustimmung erwarten? Nun, solche Fragen sind heute schon fast ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte, und man erinnert sich ihrer nur dann, wenn das Gefühl satter Selbstverständlichkeiten überhand nimmt.

Fünfzehn Jahre sind seit der Gründung der Bundesrepublik ins Land gegangen. Aber haben diese fünfzehn Jahre dem neuen Staat auch geschichtliche Patina gegeben, haben sich ein überzeugtes Bürgerbewußtsein und ein klares Einverständnis mit diesem Staat ausgebildet? Angesichts vieler politischer Mißlichkeiten möchte man das gelegentlich in Zweifel ziehen. Aber kann dieser Staat, der sich doch in seiner zeitlichen Existenz selber in Frage stellt, eigentlich mehr erwarten? Ein Provisorium, das Treuebindungen erhofft, verlangt vielleicht zuviel. Es kann schwerlich ein bundesrepublikanisches Nationalgefühl geben, und ein partielles Staatsbewußtsein wird sich gewiß nicht ausformen lassen. Eduard Spranger hat in diesem Zusammenhang seine Besorgnis vor uns hingestellt: . Was wird aus unserem deutschen National-bewußtsein? Läßt sich das so ohne weiteres leisten, was uns jetzt allenthalben unter dem Stichwort . Abschied von der bisherigen Geschichte'entgegenklingt?" Gewiß, wir können uns das nicht leisten, denn der Staat, der ohne die verantwortungsbereite und tätige Zustimmung existiert, ist auf Sand gebaut. Er kann aus der dürren Rationalität eines Provisoriums nicht leben. Nun ist es gewiß ein ander Ding, ob man im klaren Bewußtsein des selbstgesetzten Provisoriums diesen westdeutschen Staat mit politischer Stabilität versieht, oder ob man das Provisorium ständig und lauthals proklamiert und im Grunde doch mit der staatlichen Teilexistenz zufrieden ist. Theodor Heuss hat seinerzeit im Parlamentarischen Rat das rechte Verständnis formuliert, als er im Plenum sagte: „Wir begreifen dieses Wort . provisorisch’ natürlich vor allem im geographischen Sinne, da wir uns unserer Teilsituation völlig bewußt sind, geographisch und volkspolitisch. Aber strukturell wollen wir etwas machen, was nicht provisorisch ist und gleich wieder in die Situation gerät: heute machen wir etwas, und morgen kann man es wieder ändern, und übermorgen wird eine neue Auseinandersetzung kommen. Wir müssen vielmehr strukturell schon etwas Stabileres hier fertigzubringen versuchen, auch etwas, was eine gewisse Symbolwirkung hat, und wenn auch bloß in der Abschattierung, so daß wir den Besatzungsmächten, daß wir auch den Leuten im deutschen Osten sagen: wir sind nun eben auf einem Wege begriffen, dessen Ende noch nicht erreicht ist. Ich bin in Sorge, ob nicht das, was in Herrenchiemsee vorgeschlagen wurde, dieses Gebilde aus diesen politisch-psychologischen Gründen . Bund deutscher Länder'zu nennen, etwas sehr Zufälliges hat. Wir sollen keine Angst haben vor der Magie des Wortes. Ich würde bitten, in die Diskussion hereinzunehmen, daß wir uns heute einfach . Bundesrepublik Deutschland'nennen, weil damit schon eine starke moralische Attraktion für die jungen Menschen mit drinsteckt, die in diesem . Bund Deutscher Länder’ ja nur ein Ausweichen vor sich sehen. Das wird auch im deutschen Osten verstanden werden."

Heute, fünfzehn Jahre nach diesen Worten, geht die Bezeichnung „provisorisch" vielen Festtagsrednern allzu leicht und unreflektiert von der Zunge. Aber was meint provisorisch im Angesicht von fünfzehn Jahren relativer Stabilität? Bonn ist nicht für den Abruf gebaut; es hat eine sich stets verfestigende Solidität erhalten, und vielleicht ist das nicht einmal von Nachteil. Die Bundesrepublik, die sich dem politischen Wertneutralismus der Weimarer Republik nicht angeschlossen hat, ist dabei, ihren Symbolgehalt zu vermehren. Daß das vielfach allzu forciert, allzu linkisch und allzu traditionalistisch vonstatten geht, sollte man einem vergleichsweise jungen Staat nicht sogleich verübeln. Aber es scheint ebenso wenig wie in der Weimarer Republik zu gelingen, das Grundgesetz in das Symbol-reservoir einzufügen. Wer kennt schon die Verfassung genauer, wer wußte etwa um die Rechtsnatur der Grundrechte, bevor ihre ungenauen Fraglichkeiten angerührt wurden? Liegt es an der Verfassung selbst, an ihrer Konstruktion, an ihrem allzu juristisdien Entwurf oder an der Situation eines provisorischen Neubeginns? Man kann über die mangelnde Gelühlsbereitschaft heute nach der relativ kurzen Spanne der Verfassungsbewährung noch nicht recht urteilen. Die Mängel und auch die Vorzüge des Grundgesetzes sind noch kaum erlitten oder erprobt, weil uns kritische Situationen im Übermaß bislang erspart blieben. Und letztlich ist für diese staatliche und politische Selbstdarstellung nicht in erster Linie das geschriebene Wort verantwortlich, sondern das, was aus ihm gemacht wird und was sich an Leben aus ihm heraus entwickelt.

Das Gespenst von Weimar

Der Parlamentarische Rat hat oft allzu ängstlich nach Weimar geschaut und hat verglichen, geprüft, verworfen, wollte alles und jedes perfekt regulieren, und ein zweites 1933 sollte schon durch die Verfassung ausgeschlossen sein. So ist ein juristisches Gesetz und kein Volksgesetz zustandegekommen. Was man der Verfassung von Weimar vorwerfen kann, war, daß sie sich weltanschaulich entblößte, daß sie kein politisches Credo formulierte, daß sie eine unverbindliche und weite Toleranz zur Staatsmaxime erhob. An diesem Nachteil ist das Bonner Grundgesetz vorbeigekommen, wie Eduard Spranger in einem Vergleich gezeigt hat: „Trotz aller Grundrechte, die die Weimarer Verfassung in ihrem II. Teil sanktioniert, konnte sie in dem fatalen Lichte erscheinen, völlig wertneutral zu sein. Sie übertreibt die Duldung der verschiedenen politischen Weltanschauungen, die gewiß eine Urtugend der demokratischen Staatsform ist, so sehr, daß sie selbst ohne jede ethisch-politische Substanz — mindestens zu sein schien. Jedem einzelnen und jeder Gruppe war es erlaubt, eine politische Grundeinstellung zu ha-ben. Nur der Staat selbst sollte völlig weltanschauungslos sein. Er sieht dem Treiben in seinem Inneren gleichsam nur zu. Er bietet nichts an als einen technischen Apparat, der es bald dieser, bald jener Richtung ermöglicht, die Majorität zu gewinnen, wobei es unsicher bleibt, ob sich echte Überzeugungen ausbreiten oder nur propagandistisch hervorgerufene Suggestionen. ... Das Bonner Grundgesetz aber stellt sich von vornherein auf den Boden eines ethischen Bekenntnisses, das — im Hinblick auf die Rechtsgrundlagen des Staates — eben schon Vorentscheidung ist, an der hinterher keine Majorität mehr rütteln kann. Dies ist, wie man Bekenntnis weiß, vielstrahlig. Seinen Kern aber könnte man so aussprechen: . Vorordnung des persönlichen Gewissens vor den Staat.'liegt eine Darin Überzeugung vom Wesen des Menschen, die religiös-ethischen Ursprungs ist, und ein entschiedener zur sittlichen Kontrolle der Macht.“ Aber solch bedächtiger Analyse zum Trotz will die Klage, wollen Furcht und Sorge gegenüber Weimar nicht verstummen. Vielfach wird das Jahr 1933 auf die allzu leichte Formel „Die Weimarer Verfassung hat die Probe nicht bestanden" verkürzt; nicht die Verfassung, so scheint mir, sondern die Weimarer Liberalität hat die Probe nicht bestanden. Gerhard Leibholz hat im Anschluß an dezidierte staatsrechtliche Überlegungen gemeint: „Die Weimarer Verfassung hat ihre Probe nicht bestanden. Auch die, die dieser Verfassung innerlich verbunden waren und ihr auch heute noch die Treue halten, können nicht umhin, zuzugeben, daß der Zusammenbruch der Verfassung, der zwar durch Hitler ausgelöst, aber doch nicht ohne bereitwilliges Mitwirken der Mehrheit des deutschen Volkes vollziehbar war, ein totaler war. Dieser Zusammenbruch kann auch nicht hinreichend mit dem Hinweis auf die Belastung der Verfassung mit der Hypothek des Versailler Vertrages und der Weltwirtschaftskrise von 1929 erklärt werden."

So ist das Gespenst von Weimar durch die Räume des Parlamentarischen Rates gegeistert. Diesmal sollte alles viel, viel besser gemacht werden; jede nur erdenkliche Panne wurde mehrfach erwogen und sollte hinfort verfassungsrechtlich ausgeschlossen sein. Da man so angestrengt, so emsig und so überlegt an die Arbeit gegangen ist, konnte der Vorwurf nicht ausbleiben, daß die Verfassung keinen Schwung, keine republikanische Leichtigkeit atmet, daß sie nur einem übereifrigen Perfektionismus nachgelaufen sei. Werner Weber hat von diesem Gespenst „Weimar“ gesagt: „Wie die geisterhafte Erscheinung eines nach verfehltem Leben unglücklich Abgeschiedenen hat die Weimarer Verfassung die Bonner Beratungen erfüllt und bedrückt. Der Parlamentarische Rat hat seine Kraft wesentlich darin verbraucht, dieses Gespenst zu bannen, die Not Unruhe zu seiner erfahren und zu beheben. Ob es ihm gelungen ist, den von seinen Fehlschlägen getriebenen Geist zu erlösen, oder ob er ihn nur durch Versperren seiner Wanderwege in noch größere Unruhe gedrängt hat, wird die Prüfung des Bonner Werkes und wird dessen Bewährung erschließen. Sicherlich aber war die Wirkung, die von Weimar nach Bonn ausstrahlte, tief, und sie äußerte sich offenbar weithin als eine beängstigende Last."

Gediegene Improvisation

Die fatale Hypothek einer gescheiterten Republik darf nicht übersehen werden, wenn man sich erklärend oder kritisch dem Bonner Grundgesetz nähert. Aber letztlich gibt der Vergleich doch nicht allzuviel her, da sich ein Verfassungsverständnis nur aus der je eigenen und unverwechselbaren historischen Situation ergibt. Der fortgesetzte Blick von Bonn nach Weimar droht, uns eine gegenwartsoffene Einsicht zu versperren.

Der Parlamentarische Rat, dem wir in den Sachüberlegungen gewiß Vorbehalt manchen entgegenbringen können, braucht einen Vergleich mit der Verfassunggebenden Nationalversammlung von Weimar gewiß nicht zu scheuen. Denn in ihm waren viel politischer Verstand und verfassungsrechtliche Weisheit versammelt. Geht man heute die stenografischen Berichte des Parlamentarischen Rats mit wachem Sinn durch, so überkommt einen bisweilen eine geheime Wehmut, mit welcher Weite des Blicks und mit welch präziser Kenntnis dort diskutiert wurde. Die kleinen und kleinlichen Besorgnisse unserer Gegenwart wollen dagegen nicht recht zählen. Da befand sich noch eine historisch ehrwürdige und zugleich wirklichkeitsoffene Tradition im Gespräch, da gab es noch die eindeutigen Fragen, die sich aus der politischen Überzeugung entwickelten, da verschwendete sich selbst noch im Detail eine geistreiche Diskussion. Gewiß gab es zuvor schon mancherlei Erörterungen, auf die man sich beziehen konnte. Es gab fruchtbare Gedanken an anderer Stelle, und es gab Landesverfassungen, die da und dort verpflichtend wirkten. Aber das schmälert die Originalität nicht.

Im Juli 1948 hatten die Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen die Ministerpräsidenten der Länder autorisiert, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen Wir haben uns angewöhnt, an diese keineswegs selbstverständliche Mitwirkung der drei westlichen Alliierten nicht mehr zu den-ken. Fünfzehn Jahre wiegen in unseren hektischen Zeitgängen offenbar doch recht viel. In dem Dokument der westlichen Alliierten war nur ein allgemeiner Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die Verfassungsberatungen ablaufen sollten: „Die verfassunggebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeifen, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft, und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.

Wenn die Verfassung in der von der verfassunggebenden Versammlung ausgearbeiteten Form mit diesen allgemeinen Grundsätzen nicht im Widerspruch steht, werden die Militärgouverneure ihre Vorlage zur Ratifizierung genehmigen. Die Ministerpräsidenten mit den haben sich westlichen Alliierten auf die Bezeichnung „Parlamentarischer Rat" und „Grundgesetz“ geeinigt, und 65 Abgeordnete gingen an die Arbeit. Das klingt zunächst sehr einfach. Man erinnert sich dabei wohl an Humboldts unkonventionelle Äußerung bei der Gründung der Berliner Universität, man brauche nur ein paar tüchtige Leute, und die Sache werde sich dann schon recht entwickeln. Improvisation unter gescheiten Männern ist meist recht gediegen.

Die Beratungen haben dann mit der 3. Lesung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 ihren Abschluß gefunden, und am 24. Mai 1949 ist das Grundgesetz in Kraft getreten, über diesen nüchternen Daten wollen wir die Debatten, die mit Überzeugung vorgetragenen Einwände, den verhaltenen Zuspruch und die harten Gegensätze nicht vergessen. Da und dort sind Entwicklungen vorausgeahnt worden, die uns heute als Abweichungen von der Verfasssungsnorm bedrängen. Diese Vorausschau soll in unserer Darstellung nicht unterdrückt werden. Es wird sich dabei empfehlen, einige Verfassungsartikel im einzelnen zu überprüfen.

Zunächst: Wir haben in scheinbar unbedachter Selbstverständlichkeit immer von Verfassung geredet, wo es doch rechtens Grundgesetz heißen müßte. Dieser allgemeine Be-griff Grundgesetz, der im „Basic Constitutional Law“ eine Entsprechung hat, ist aus einer doppelten Überlegung gewählt worden, er soll nämlich einmal anzeigen, daß eine endgültige Lösung nicht beabsichtigt war und daß sich dieses Verfassungswerk nicht auf ganz Deutschland beziehe. Der Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten hatte daher schon vor den Beratungen des Parlamentarischen Rates im Chiemsee-Entwurf geäußert: „Der Begriff . Grundgesetz'ist vieldeutig. Er kann nach dem Sprachgebrauch eine Verfassung bezeichnen, also das rechtliche Gefüge und die Grundnormen eines Staates. Es ist aber ebenso möglich, daß mit der besonderen Wahl dieser Bezeichnung — anstatt des präziseren Wortes . Verfassung'— von den Ministerpräsidenten zum Ausdruck gebracht werden wollte, daß die Aufgabe des Parlamentarischen Rates nicht darin bestehen solle, die rechtliche Ordnung für einen Staat im vollen und strengen Sinn des Wortes zu schaffen, sondern für ein hoheitliches Gebilde, dem gewisse Merkmale fehlen, die nur Staaten im vollen Sinne des Wortes eigentümlich sind." Aber leider mangelt dem Grundgesetz in dieser Hinsicht die Konsequenz. Denn in Artikel 5 des Grundgesetzes wird die „Treue zur Verfassung" gefordert. Also werden offenbar Grundgesetz und Verfassung zum mindesten an dieser Sielle synonym verstanden. An diesem Sachverhalt ist viel herumgedeutelt worden, vor allem von jenen Verfassungsinterpreten, die der Arbeit des Parlamentarischen Rates mit erheblicher Skepsis gefolgt sind. Aber in Erinnerung an die Präambel des Grundgesetzes scheint mir dieser Einwand nicht allzu schwer zu wiegen.

Aus den stenografischen Berichten des Parlamentarischen Rates läßt sich ablesen, unter welch erheblichen Anstrengungen die endgültige Fassung der Präambel zustandegekommen ist. Es mußte in ihr einmal ein beträchtliches Maß an Stabilität sichergestellt und gleichzeitig mußte doch der exzeptionelle Charakter des Grundgesetzes deutlich gemacht werden. Der dabei errungenen Formel wird man einen hohen Grad verfassungsrechtlicher Würde nicht absprechen können. Den gelegentlichen Vorwurf, daß man bei der Proklamation des Provisoriums in der Feierlichkeit und im Pathos zu hoch gegriffen habe, vermag ich nicht zu teilen. Ein wenig Glanz sollte auch ein ansonsten rational gedachtes Verfassungswerk ausstrahlen dürfen.

Unmittelbare Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte

Glanz geht auch von dem Katalog der Grundrechte aus, die in besonderer und ausdrücklicher Weise Freiheit und Menschenwürde garantieren. Die Grundrechte sind stets in die deutschen Verfassungen als obligates Dekor eingegangen, als etwas, das eben dazugehört, aber mit dem man auch nicht recht umzugehen verstand. Grundrechte gleichsam als Konvention, als verfassungsrechtliche Anstands-etikette. Das war 1848 so und hat sich unter freilich anderen Verhältnissen 1919 wiederholt. In diesen Grundrechten sollte etwas von der unbeirrten Gläubigkeit, von der demokratischen Zukunftserwartung spürbar werden, ohne daß ihnen freilich allzu große Verbindlichkeit zukam, Diesmal, im Bonner Verfassungswerk, verfuhr man anders; die Grundrechte wurden in ihrer Rechtsnatur klarer umschrieben. So heißt es denn in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. — Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. — Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht." Entscheidend an diesem Artikel 1 ist der letzte Absatz, der die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht klärt. Diese erhöhte Rechtsqualität ist durchaus zu begrüßen, aber man sollte die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten nicht leichtfertig übersehen. Die Grundrechte basieren auf den Überlegungen des Naturrechts. Sie können daher mit den Verfahrensweisen des Rechtspositivismus in Widerstreit geraten. Dieser Konflikt ist auch gelegentlich schon eingetreten. Wie ist etwa die Würde des Menschen zu definieren, wo beginnt sie, wie ist sie im Falle der Verletzung wieder herzustellen? Man wird die Richter nicht beneiden, die zu derartigen Gedankengängen genötigt werden. Hierzu ein praktisches Beispiel aus jüngster Zeit: Ein Bürger überschreitet einen Fußgängerweg, obwohl die Ampel rotes Licht zeigt. Weit und breit ist kein Fahrzeug zu sehen, das ihn beim überqueren der Straße gefährden könnte. Ein Polizist beobachtet aus einiger Entfernung den Vorgang und stellt dem Passanten eine gebührenpflichtige Verwarnung aus. Dieser bezahlt aber nicht, sondern wählt den Rechtsweg. Er argumentiert, seine Menschenwürde sei hier verletzt worden, denn er habe einem Apparat, eben der Ampel, Folge leisten sollen, obwohl keine Gefährdung vorlag. Man könne und müsse wohl einem Polizisten in seinen Anweisungen folgen, nicht aber einer Apparatur, die zu sinnvollen Anweisungen nicht befähigt sei. Dieser Fall beschäftigte sämtliche Instanzen. Er mag kurios und besonders ausgefallen sein, aber er zeigt sehr deutlich, welche Schwierigkeiten sich bei der Auslegung der Grundrechte einstellen können.

Problematische Tabus

Es traten weitere Schwierigkeiten hinzu, die sich aus der Tatsache ergeben, daß man unter den rechtlich beengten Verhältnissen von 1948/49 die weitere Entwicklung der Bundesrepublik nicht voraussehen konnte und daß man sich unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Unrechtspraxis einige Tabus auferlegte, die erst später wieder gebrochen werden mußten. Ich denke hier etwa an den unbedachten Widerstand gegen den Aufbau einer demokratischen Bundeswehr, die nicht zuletzt wegen der künstlich errichteten Tabus einen schwierigen Start hatte. Es ist natürlich durchaus verständlich, daß man sich in der unmittelbaren Nachkriegssituation nicht gern auf militärpolitische Überlegungen einlassen wollte. Die damaligen Äußerungen heute prominenter Politiker lassen sich nur allzu leicht polemisch auswerten. Da sollte die Hand verdorren, wenn jemals ein Deutscher wieder zur Waffe greifen müsse, da wurde das Militär pauschal diffamiert, und da wurde von der Unvereinbarkeit von Demokratie und Militär in Deutschland geredet. Dadurch hatte man, als die Bundeswehr aufgebaut wurde, vor sich Barrieren errichtet und geradezu zu gegenseitiger Denunziation herausgefordert. Im parlamentarischen Rat war aber schon die bedachte Stimme zu vernehmen, die kommende Entwicklungen in Rechnung stellte. Bei der Erörterung des Satzes „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, erläuterte Theodor Heuss damals: „Wir sind nämlich jetzt dabei, ein Werk der Demokratie zu schaffen. Die allgemeine Wehrpflicht ist das legitime Kind der Demokratie, seine Wiege stand in Frankreich Mir scheint es unmöglich zu sein, daß wir in diesem Augenblick, in welchem wir eine neue Fundamentierung des Staates vornehmen wollen — auch wenn ich mir durchaus darüber klar bin. daß wir kein Militär mehr im alten Sinne bekommen werden; ich will das auch nicht —. daß wir in dieser Situation nun mit einer solchen Deklaration kommen. Sie ist dann eine berechtigte Angelegenheit, wenn man sich entschließt, das in irgendeinem Gesetz zu machen, wie es für die Quäker, die Mennoniten usw in der angelsächsischen Welt vorliegt. Aber wenn wir jetzt hier einfach das Gewissen einsetzen, werden wir im Ernstfall einen Massenverschleiß des Gewissens verfassungsmäßig festlegen. Denn mit diesem Wort allein ist das Problem nicht gedeckt. Was mir in der jetzigen Situation noch besonders ungeschickt erscheint, ist, daß der Kriegsdienst mit der Waffe von dem anderen abgetrennt wird. Mir scheint, wenn jemand mit einer Knarre irgendwo zur Bewachung von irgendeinem Gegenstand steht oder zu Verteidigungszwecken herangeholt wird, ist das lange nicht so militärisch, als wenn jemand mit hohem Akkordlohn eine Bombe nach der anderen fabriziert, also keine Waffe trägt, aber kriegspolitisch viel schlimmere Dinge tut. Ich bin also der Meinung, daß wir diesen Satz aus der Verfassung herausnehmen sollten, daß aber der künftige Gesetzgeber in dem Sinne, wie das in England und in Amerika möglich ist, ein solches Gesetz macht, wie es früher auch bei uns für die Mennoniten gegolten hat."

Nicht eben unproblematisch waren auch die in Artikel 7 formulierten Regelungen, die sich mit dem Schulwesen befaßten. Es konnte sich hier natürlich nur um allgemeine Hinweise handeln, da die Kulturpolitik aus fraglos guten Gründen der Kompetenz der Länder zugeordnet war. Einige Teile dieses Artikels 7 haben sich erst in der Praxis mühsam ihre Zustimmung erringen müssen. So darf etwa kein Lehrer gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. Er kann diesen Anspruch rechtlich vom Artikel 7 herleiten. Aber es hat sich gelegentlich empfohlen, auf diesem Anspruch nicht allzu starr zu beharren. Eine Verfassung kann eben die ungeschriebenen Gesetze der sogenannten guten Sitten und Gepflogenheiten nicht ausschließen. In jüngster Zeit hat sich die Öffentlichkeit besonders für den Artikel 10 des Grundgesetzes interessiert, der das Post-und Fernmeldegeheimnis für unverletzlich erklärt. Der Problemgehalt dieses Artikels ist in letzter Zeit einer breiteren Öffentlichkeit bewußt geworden. Wir können es uns an dieser Stelle versagen, auf diese Aktualität näher einzugehen. Eines scheint mir in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll, daß sich nämlich die allgemeine Aufregung hätte vermeiden lassen, wenn man aus der im Grundgesetz angezeigten Beschränkungsmöglichkeit (Artikel 10: Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden) rechtzeitig die Konsequenzen gezogen hätte.

An die Grundrechte könnten noch mancherlei Überlegungen angeschlossen werden, und zwar nach zwei Seiten hin: Wie sie nämlich einmal von den Bundesbürgern beharrlich ausgenutzt werden, und wie wenig präzis sie an einigen Stellen gefaßt sind. Man denke nur an die Pressefreiheit, die in ihren Grenzen nicht bestimmt ist. Das diese Grenzen klärende Pressegesetz ist noch immer nicht vorhanden. Auf diesem Hintergrund hatte die übereilte Aktion gegen den „Spiegel“ auch ihr Gutes, da sie nämlich auf eine Lücke in der Verfassung und in der Gesetzgebung aufmerksam machte.

Entscheidende Rolle der Parteien

Aber nicht nur in den Grundrechten, vielleicht in ihnen sogar noch am wenigsten, weichen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit voneinander ab. Es gibt gewiß auch einige Fälle, bei denen sich aus dem Verfassungstext eine von ihm abgehende Wirklichkeit ausgebildet hat, die sogar von Vorzug ist. Aber diese Fälle sind naturgemäß spärlich. Wir können hier nicht die Verfassung im einzelnen nachzeichnen und alle Veränderungen registrieren. Es kann sich nur um eine beschränkte Auswahl handeln, der zudem eine bewußt gewollte Subjektivität anhaftet.

So sprechen wir zunächst von den politischen Parteien: Sie sind in einem ganz neuartigen Verständnis dem Kanon des Grundgesetzes eingefügt. In der Weimarer Reichsverfassung war von ihnen nur an einer Stelle die Rede und da auch nur nebenbei und unscharf. Es hieß dort nämlich: Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei. Das war alles. Aber die Wirklichkeit sah eben anders aus. Zwar eröffnete die Weimarer Reichsverfassung viele Möglichkeiten zur unmittelbaren Entscheidung des Volkes, die jedoch alsbald nur mit Überdruß wahrgenommen wurden. Aber letztlich wurde auch schon damals die Willensbildung von den Parteien getragen. Der Parlamentarische Rat hat gut daran getan, in eindeutiger Konsequenz der Entwicklung den Artikel 21 im Grundgesetz zu formulieren: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben. — Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig, über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“

Schon bei flüchtiger Lektüre fällt auf, daß dieser Artikel die Stellung der Parteien noch nicht exakt erfaßt und daß die Parteien selbst den Anforderungen dieses Artikels nicht in allen Punkten Genüge leisten. Es ist für meine Begriffe zu wenig gesagt, wenn man von Mitbeteiligung an der Willensbildung spricht, und es wäre wohl besser gewesen, wenn man die Funktion der politischen Parteien dahingehend geklärt hätte, daß von ihnen die Willensbildung ausgeht und getragen wird, über diesen eindeutigen Sachverhalt ist inzwischen viel Polemik vorgetragen worden. Wenn wir von der Einsicht ausgehen, daß die politischen Parteien die Träger der Willensbildung sind, dann müssen wir auch den Tatbestand akzeptieren, daß nur ein geringer Teil der Bevölkerung beispielsweise an der Kandidatenaufstellung beteiligt ist, nämlich nur der, der die Mitgliedschaft in einer politischen Partei nicht scheut, und das dürften nicht viel mehr als 5— 10 Prozent sein. Vielleicht ist daher ein Verfassungskommentar ein wenig optimistisch, der sagt: „Nur in Unterordnung unter die Notwendigkeit einer lebendigen Volksgemeinschaft sollte man das Wirken der Parteien und der Interessenverbände im Staate sehen. Die Parteien brauchen nicht im Gegensatz zu dieser Forderung zu stehen. Ihr Ziel kann nicht ein gegenseitiger Vernichtungskampf sein, sie sind Glieder des Volksganzen, die im gegenseitigen Wettbewerb sich zu ergänzen haben. Sie sind keineswegs überflüssige oder gar schädliche Träger der Zwietracht, sondern die notwendigen Organisatoren von Millionen politischer Einzelwillen, die sich in ihnen gruppieren und nur so wirksam zur Geltung kommen können. — Wesentlich härter stößt sich im politischen Raum der Gedanke der Volksgemeinschaft mit der Existenz der Interessenverbände, die bewußt nur Gruppenbelange vertreten und denen es wesensfremd ist, sich am Gemeinwohl auszurichten. Sie spielen heute in allen demokratischen Staaten eine bedeutende Rolle. Ob sie je die Volksgemeinschaft sprengen können, hängt weitgehend davon ab, ob die Parteien die ihnen in der Verfassung zugesprochene Rolle als Willensträger des ganzen Volkes ausfüllen. Deshalb ist eine gesunde Parteienbildung und die enge Verbundenheit der Parteileitungen mit einer breiten Mitgliederschicht lebenswichtig für die moderne Demokratie." Da sollte man sich doch eher den herben Erläuterungen von Werner Weber und Theodor Eschenburg anvertrauen, oder den Aufforderungen, die die Parteienrechtskommission an die politischen Parteien ergehen ließ. Mit der Auskunft über die Finanzquellen der Parteien ist wohl in nächster Zeit nicht zu rechnen. Hier ist mit moralischen Postulaten rein gar nichts auszurichten. Ob der Aufbau der politischen Parteien immer den demokratischen Prinzipien entspricht, ist ebenfalls schwer überprüfbar. So hat sich jüngst der Parteiführer der Christ-lichen Demokraten und vormalige Bundeskanzler Konrad Adenauer für ein stärkeres Mitspracherecht der Führungsgremien bei der Kandidatenaufstellung zu den Bundestagswahlen ausgesprochen. Eine ähnliche Einflußnahme wird in den anderen Bundesparteien eben-falls gewünscht schon praktiziert. Damit wird aber eindeutig ein Auswahlverfahren, sich von her aus den Verbänden unten lokalen heraus vollzieht, eingeengt. Aber man sollte auch den anderen Gesichtspunkt nicht übersehen, daß durch ein solches Mitspracherecht der Führungsgremien mehr Männer in den Bundestag gelangen könnten, die dort wegen ihrer Sachkenntnis erwünscht sind, sich aber in der begrenzten Einsicht der lokalen Gruppen nicht durchsetzen können. Ein seinerzeit viel diskutiertes Beispiel gibt Max Weber ab, der bei der Kandidatenaufstellung einem zweitklassigen Funktionär unterlag, und zwar nur, weil er sich nicht emporgedient hatte. Hier hatte der kurzsichtige Kleinmut engstirniger Funktionäre gesiegt. Aber zugleich würde sich mit der vermehrten Einflußnahme der Führungsgremien auch der Vorwurf der sogenannten Mediatisierung verstärken, über den Werner Weber mit beklemmender Überzeugungskraft geschrieben hat: „Es gibt nach dem Bonner Grundgesetz keine institutioneile Möglichkeit mehr, die öffentliche Meinung als Ganzes, unmittelbar und etwa in ihrem Bezug auf einen Staatsmann oder auf ein bestimmtes verfassungspolitisches Faktum zur Darstellung zu bringen. Das Volk hat nur noch eine Funktion: den Bundestag zu wählen. Diese Wahl aber hat wiederum nichts anderes zum Gegenstand, als zwischen den schon organisiert vorhandenen Parteien und den von ihnen präsentierten Mandatsbewerbern zu optieren und kraft dieser Option den Parteien ihr parlamentarisches Gewicht zuzuteilen. Damit ist offenbar: Das Volk ist vollständig und ausnahmslos durch die politischen Parteien mediatisiert.“

Nun ergibt sich daraus als einleuchtende Konsequenz, daß der, der sich mitbeteiligen will, sich politischen Partei anschließen muß. einer Dem stellt sich allerdings eine psychologische Überlegung entgegen, nämlich die, daß die politischen Parteien bei uns nicht gerade auf intensive Sympathie rechnen können. Eduard Spranger hat diese Einstellung auf die plausible Formel reduziert: „Das deutsche Volk ist bekanntlich wesensmäßig geneigt, die heiklen Dinge der Politik von denen verrichten zu lassen, die dazu Lust haben, sich selbst aber mit allem Fleiß der schaffenden Arbeit hinzugeben oder in rein geistigen Himmeln zu verweilen.“ n)

Warum keine Institutionalisierung der Verbände?

Wenn nun aber die wahlberechtigte Bevölkerung der Bundesrepublik ihre mitentscheidenden Befugnisse so stark an die politischen Parteien delegiert, dann wird, wie Gerhard Leib-holz gesagt hat, die Demokratisierung der politischen Parteien zu dem entscheidenden Problem der Massendemokratie. Hier bedrängt uns nun eine weitere Sorge, daß sich nämlich in den Parteien bisweilen politische Überzeugungen mit wirtschaftlichen Interessen verbinden. Die Verflechtung von Politik und wirtschaftspolitischen Gruppenegoismen hat Theodor Eschenburg beschrieben. Er hat zwar hinter seinen Buchtitel „Herrschaft der Verbände" ein Fragezeichen gesetzt, aber die in diesem Buche mitgeteilten Sachverhalte deuten doch klar auf einen Pluralismus oligarchischer Herrschaftsgruppen hin. Das ist ein Tatbestand, der zunächst nicht in polemische Kritik umgesetzt zu werden braucht. Wir können uns aber dann auch der Feststellung Werner Webers anschließen: „Das Gesamtbild dieser Oligarchien ist sehr bunt. An erster Stelle stehen die politischen Parteien, dann folgen die Gewerkschaften, dann Wirtschafts-und Arbeitgeberverbände und die Kirchen, um aus einer ständig wachsenden Zahl von Verbänden, Gruppen und Organisationen nur diese . Großen'herauszugreifen. In ihnen allen verkörpert sich eine soziale Mächtigkeit, die bei den politischen Parteien von vornherein auf politische Herrschaft ausgerichtet ist, während sie bei den anderen aus primär sachbezogenen Aufgaben sonstiger Art in den politischen Bereich einflußheischend übergreift. Daß die politischen Parteien in politischer Verantwortung stehen, bedarf keiner näheren Begründung. Der außerordentliche politische Einfluß der Gewerkschaften ist ebenfalls jedem evident. Bei den Unternehmer-und Wirtschaftsverbänden dagegen verschwimmt die politische Wirkungskraft in einer schwer greifbaren Anonymität, während sich bei den beiden großen Kirchen die alten Methoden der potestas indirecta immer häufiger mit akzentuiert politischem Hervortreten in der Öffentlichkeit verbinden. Jeder weiß oder ahnt es wenigstens, daß sich alle großen Entscheidungen in irgend einer geheimnisvollen Art im Kreise dieser Oligarchien bilden, und wer zu politischem Einfluß gelangen will, muß den Weg über eine von ihnen suchen."

Der Abb de Naurois hat in diesem Zusammenhang zutreffend von der „Kolonisation des Staates durch partikuläre Interessen" gesprochen. Das führt zu einer weiteren Überlegung. Wenn man nämlich diesen Verbandspluralismus als gegeben ansieht, und man kann ihn in der Weimarer Republik schon in mancherlei Verflechtungen ausmachen, dann hätte man ihm gegenüber institutionelle Vorkehrungen treffen können. Aber die Erörterung berufsständischer Interessen ist bei uns mit einem unguten Tabu belastet. Man will es nicht wahrhaben oder darf es kaum aussprechen, daß es zwischen bestimmten Parteien und ihnen nahestehenden Gruppen Querverbindungen gibt, die auf wechselseitige Verpflichtungen angelegt sind. Wie das im einzelnen aussieht, hat Theodor Eschenburg aus intimer Kenntnis erläutert. Wir greifen nur ein Beispiel heraus: „Man kann geradezu von einer Art erblicher Lehen sprechen — erblich nicht in Familien, sondern in Gruppen, wozu auch die Konfessionen gehören —, also von einer bestimmten Gruppe vorbehaltenen Lehen. Als Nachfolger des verstorbenen Bundestagspräsidenten mußte nicht nur ein Protestant gewählt werden, sondern die Protestanten in der CDU-Fraktion wählten zunächst allein den Kandidaten. Es wurde also nicht nur das Gruppenmerkmal vor der Wahl festgelegt, sondern auch der zuständigen Untergruppe ein gleichsam verbindliches Vorschlagsrecht eingeräumt. Die gesamte Partei übernahm den Vorschlag ohne weiteres und setzte ihn kraft ihrer Mehrheit im Parlament durch. Zwar ist der Bundestagspräsident nicht Beamter, aber das eben charakterisierte Verfahren zeigt sich auch hier."

Ich meine, daß man diese Verbandsinteressen gegenüber dem Bundestag hätte mildern können, wenn man neben den Bundestag und den Bundesrat eine weitere Institution gestellt hätte, die nach berufsständischen Gesichtspunkten, wie das im Bayerischen Senat der Fall ist, aufgebaut wäre. Walther Rathenau hat zu seiner Zeit aus Kenntnis der Wirtschaftsverbände den Vorschlag gemacht, eine solche dritte gesetzgebende Körperschaft, ein Wirtschafts-oder Berufsgruppen-Parlament einzuführen. Dadurch würde einmal die Volksvertretung für rein politische Entscheidungen frei, und die berufsständischen Gruppen würden durch den ihnen auferlegten Zwang zur Mitarbeit objektiviert, und sie würden, was noch wichtiger wäre, in ihrer undurchschaubaren Wirksamkeit eher überblickbar. Aber mit solchen Überlegungen, die wohl mehr theoretischer Natur sind, entfernt man sich allzu sehr vom Grundgesetz; wir müssen daher auch in Zukunft weiterhin damit rechnen, daß sich innerhalb der politischen Parteien und besonders der parlamentarischen Fraktionen die politischen Entscheidungen von den Einflüssen der Verbände nicht trennen lassen. In engem Zusammenhang mit dem Artikel 21 steht der Artikel 38, der neben anderem verfügt, daß die Abgeordneten an Weisungen und Aufträge nicht gebunden sind. Auch hier wird man sich vor allzu optimistischen Auslegungen hüten müssen; denn einmal sind die persönlichen Beanspruchungen der Abgeordneten durch Verbände und parastaatliche Mächte nicht unerheblich, und dann können sie sich auch vielfach nicht dem Fraktionszwang entziehen. Der Fraktionszwang ist in der öffentlichen Meinung zum Symbol antidemokratischer Verhaltensweisen hochgespielt worden. Aber es gibt sicher Situationen, in denen er notwendig ist, um einen Antrag durchzusetzen, und wir sehen gleichzeitig sehr oft, daß Anträge unter je wechselnden politischen Konstellationen eingebracht werden. Da stimmt dann der linke Flügel der CDU mit der SPD oder Abgeordnete der FDP mit Abgeordneten der SPD gegen die CDU, ungeachtet jedweder Koalitionstreue. Außerdem sollte man aber auch einsehen, daß eine Partei ihre Abgeordneten für ihre Ziele beanspruchen darf, worauf Frau Selbert schon im Parlamentarischen Rat hingewiesen hat: „Ich habe in meiner parlamentarischen Tätigkeit genug solcher Fälle erlebt und sehe nicht ein, daß man solche Leute unter einen besonderen Schutz stellen sollte, und zwar aus folgenden Gründen: Träger des politischen Lebens in einem Volk sind die Parteien, nichts anderes, und wenn wir uns zu diesen politischen Parteien bekennen, dann bleibt nichts anderes übrig, als daß derjenige, der durch eine politische Partei nominiert und nach oben getragen wird, dann auch — er soll nicht dogmatisch und nicht orthodox sein — im Rahmen dieser politischen Partei arbeitet. Sonst bekommen wir einen Schutz für Außenseiter und Einzelgänger.“

Bundesrat zwischen Länder-und Parteiinteressen

An dieser Stelle wollen wir nur kurz auf den Bundesrat eingehen, der im Gesamt unseres parlamentarischen Aufbaues die Interessen der Länder vertritt. In der dickleibigen Darstellung „Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes" wird über die Beratungen des Parlamentarischen Rates über die künftige Gestalt des Bundesrates sachlich festgestellt: „An die Bezeichnung in der Reichsverfassung von 1871 anknüpfend, hat der Parlamentarische Rat im Bundesrat das föderative Organ geschaffen, das die Mitwirkung der Länderregierungen bei der Willensbildung im Bund sichert. — Uber die Notwendigkeit einer zweiten Kammer, in der das Element . Land'vertreten sein sollte, bestand im Parlmentarischen Rat von vornherein Einverständnis. Man war sich darüber klar, daß ein solches Organ der verfassungsgeschichtlichen Überlieferung entspreche, da in Deutschland die territorialen Gewalten von jeher am Staatsganzen beteiligt gewesen seien." Nach 15jähriger Erfahrung wird man indes kritisch einschränken müssen, daß sich der Bundesrat nicht immer nur als Vertretung der Länder dargestellt hat. Er kann bei vielen, die Länder nicht unmittelbar berührenden Problemen die Rolle eines echten Gegengewichts — was ja die ureigene Aufgabe einer zweiten Kammer ist — nicht spielen, da er ebenfalls die parteipolitischen Auseinandersetzungen in sich austragen muß. Zwar sind die Mitglieder des Bundesrates zunächst Vertreter ihres Landes, aber ihre politischen Überzeugungen werden sie nicht ersticken können. Daß dabei Konfliktsituationen auftreten, ist mehr als einmal bekanntgeworden. Obwohl wir uns sonst den kritischen Gedankengängen von Hans Nawiasky, der so kenntnisreich an der bayerischen Verfassung mitgewirkt hat, nicht anschließen können, da er das Grundgesetz an der Elle akademischer Idealtypen mißt, wird man im Hinblick auf den Bundesrat seihe Befürchtungen nicht in den Wind schlagen können: „Es läßt sich demgemäß gar nicht voraussagen, ob der Bundesrat so ohne weiteres wirklich die ihm zugedachte Rolle, ein Anwalt des föderativen Gedankens zu sein, in vollem Maße erfüllen wird. Möglicherweise werden in seinem Schoße wenigstens bei Entscheidung von Einzelfragen die parteipolitischen Gesichtspunkte das Übergewicht erhalten und die staatspolitischen in den Hintergrund drängen."

Diskussion um das Staatsoberhaupt

Im Jahr der Wahl des Bundespräsidenten ist es fraglos zulässig, dessen tatsächliche und in der Verfassung angegebene Stellung zu charakterisieren. Wiederum aus Furcht vor Weimar, aus der trüben Erfahrung mit einem politisch unerprobten Feldmarschall, an dem sich politische Blindheit emporrankte, hat man das höchste Amt im Parlamentarischen Rat nahezu völlig entmachtet. Von ihm sollte hin-fort keine Gefahr mehr ausgehen. An die Stelle eines politischen Amtes ist eine staatliche Repräsentationsfunktion getreten. Aber das ist zu wenig, zumal, wenn man von dem politischen Glücksfall Theodor Heuss absieht. Er hat aus diesem Amt sicher mehr gemacht, als von den Vätern der Verfassung vorgeplant, wenn er auch die politischen Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft hat. Er hat vorgelebt und für viele vorgedacht, wie politischer Stil auszusehen habe und in welchen Formen er sich verwirklichen kann. Das hängt nicht mit dem verklärten Sozialprestige des Professors zusammen, sondern mit dem Einsatz einer kultivierten politischen Persönlichkeit, den die Öffentlichkeit durch innige Zustimmung honoriert hat. Seine erste Wahl war umstritten, bei der Wiederwahl einigte man sich nahezu selbstverständlich auf ihn. Selbst eine zweite Wiederwahl wäre ihm nach Abänderung des Grundgesetzes sicher gewesen, wenn sie nicht an seinem Widerspruch gescheitert wäre; er wollte seine Person nicht zum Anlaß einer Verfassungsänderung machen, da ja schon die erste Wiederwahl den Ausnahmefall im Grundgesetz in Anspruch genommen hatte.

Als er dann aus dem Amt schied, hatte er die Aufgabe des Bundespräsidenten, die Kontinuität zu wahren, erneut verständlich gemacht. Gegenüber der Öffentlichkeit sprach er die Mahnung aus, man solle die staatliche Kontinuität nicht in eine Ära Heuss und in eine Ära Lübke tranchieren. In der sich entfaltenden Demokratie stehe das Maß ihrer Beständigkeit im Vordergrund. Daß der nachfolgende Bundespräsident an ihm gemessen wurde, hat er indes nicht verhindern können.

Heinrich Lübke wollte anders als Theodor Heuss die politischen Möglichkeiten des Präsidentenamtes zur Geltung bringen. Aber diese Möglichkeiten sind eben sehr begrenzt, wie man diesem Kommentar entnehmen kann:

»Die Stellung des Bundespräsidenten ist im Verhältnis zu anderen Verfassungen schwach.

Vorschläge auf Einführung eines . Präsidial-systems'nach dem Muster der nordamerika-nischen und Schweizer Verfassung wurden abgelehnt. Der Bundespräsident ist aber auch erheblich schwächer als der Reichspräsident der Weimarer Verfassung. Vor allem fehlt ihm das Notverordnungsrecht, das dem Reichs-präsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung zustand. Ihm steht weiter das Recht der Parlamentsauflösung nur im beschränkten Maße zu; seine Stellung gegenüber Bundeskanzler und Bundesregierung ist erheblich geschwächt. Diese geschwächte Position wird auch durch die Entscheidung des Parlamentarischen Rats gegen eine plebiszitäre Wahl des Bundespräsidenten unterstrichen.“

Die vornehmste Aufgabe des Bundespräsidenten könnte es sein, als Mittler in den parteipolitischen Auseinandersetzungen aufzutreten und im Sinne einer pouvoir neutre zu wirken. Um sich aber von den politischen Parteien ganz freimachen zu können, ist seine Amtszeit zu kurz, wenn man eine Wiederwahl nicht von vornherein mit einkalkuliert.

Ängstlich hütet man sich davor, das Amt oder die Persönlichkeit in ein öffentliches Gespräch zu ziehen, weil man das höchste Amt im Staat durch eine unzulängliche Diskussion nicht entwertet sehen möchte. Daß diese Behutsamkeit nicht eben von Vorteil ist, wird gerade in den letzten Wochen und Monaten spürbar. Warum sollten eigentlich nicht mit unbefangenerOffenheit Kandidaten für die Bundespräsidenten-wahl genannt werden, warum sollte sich unbedingt ohne jedwede Diskussion der Ausnahmefall einer Wiederwahl durchsetzen? Darf, soll und muß nicht darüber gesprochen werden?

Meines Wissens ist Paul Sethe der erste gewesen, der diese Behutsamkeit durchbrochen hat und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machte, daß es im Grundgesetz heißt: „Anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig!“ Neue Namen wurden nun auch von anderen Beobachtern in die Diskussion gebracht und wieder verworfen, und unter dem Eindruck dieses öffentlichen und gegenüber dem jetzigen Bundespräsidenten fair geführten Gesprächs sind auch die politischen Parteien aus ihrer traulichen Reserve herausgetreten und haben sich überlegt, wen sie bei dieser Wahl präsentieren könnten. Ich meine, daß durch diese Diskussion der Würde des Amtes nichts genommen wurde, und wenn Heinrich Lübke doch wieder gewählt wird, dann wird man zumindest sagen können, daß seine Wiederwahl nicht durch Einfallslosigkeit oder Bequemlichkeit zusandegekommen ist. Mir scheint an diesem Gespräch ein weiteres erfreulich: daß dieses höchste Amt in seiner politischen Unzulänglichkeit und Ohnmacht deutlich geworden ist. Nicht jeder Präsident verfügt über geistige Noblesse oder über politische Selbstbescheidung, und es ist eine ungute Sache, wenn eine Verfassungsbestimmung nur auf den Glücksfall hin zurechtgemacht ist. In der gegenwärtigen Erörterung wird nun auch geprüft, wie die im Grundgesetz charakterisierten Befugnisse des Bundespräsidenten ausgeweitet und wie unabhängig von der jeweiligen Person das Amt mit einem größeren politischen Gewicht ausgestattet werden kann. Daß man dabei die Personenfrage nicht ausklammern kann, ist denen, die Reformvorschläge vorlegen, sicher bewußt. Aus der Fülle der zur Zeit vorgetragenen Überlegungen sei hier nur eine ausiührlich zitiert, die in einer Wochenzeitung unter der Über-schrift „Präsidentenwahl reformieren“ vorgetragen wurde: „Die Amtszeit des Staatsoberhauptes wurde von sieben auf fünf Jahre verkürzt. Seine Wiederwahl wurde nur einmal zugelassen. — Es wurde ferner die Möglichkeit geschaffen, den Bundespräsidenten mit Zweidrittelmehrheit des Bundestages oder des Bundesrates vor dem Verfassungsgericht anzuklagen — obwohl es eine vergleichbare Bestimmung für den machtvollen Bundeskanzler nicht gibt. Wie eigentlich sollte der Bundespräsident, bei seiner beschränkten Macht, die Verfassung brechen? — Daß er ein Gesetz aus verfassungsrechtlichen Bedenken zurückstellen kann, hat Lübke (beim Gesetz über den Belegschaftshandel) bewiesen. Niemand hat dagegen aufgemuckt. — Es wäre zuviel verlangt, in einem Zuge die ganze Konstruktion des Präsidentenamtes zu ändern. Manches wäre dafür zu sagen. Der Bundespräsident sollte, zum Beispiel, durchaus das Recht haben, die Regierung zum Handeln zu zwingen, wenn eine so wichtige Schlüsselposition des Staatswesens, wie das Amt des Bundesrechnungshof-Präsidenten, seit rund einem Jahr verwaist ist, weil sich die Koalition auf keinen neuen Kandidaten einigen kann. — In diesem Präsidenten-Wahljahr geht es vor allem um die Amtszeit des Staatsoberhauptes; auch hier haben die Väter des Grundgesetzes etwas übersehen: wenn ein regierender Bundespräsident die Möglichkeit der Wiederwahl hat, kann ihn die Partei, aus der er hervorging, nicht fallen lassen, ohne damit einzugestehen, er sei unfähig. — Das will die CDU von Lübke bestimmt nicht sagen. Die anderen Parteien aber möchten aus der inzwischen veränderten politischen Machtkonstellation ihren Vorteil ziehen. Daher das Tauziehen hinter verschlossenen Türen. — Man kann wohl, wie Carlo Schmid es 1949 als unterlegener Kandidat getan hat, als erster zum Sieger gehen und sagen: Sie sind jetzt unser Staatsoberhaupt, und jeglicher Kampf um dieses Amt gehört der Vergangenheit an. Man kann aber nicht den gewählten und damit überparteilich gewordenen Bundespräsidenten nach fünf Jahren wieder in die Arena des politischen Tageskampfes . herunterholen'und ihm sagen, er müsse jetzt um seine Wiederwahl kämpfen, um — vielleicht — nochmals auf den Thron'gehoben werden. — Man kann auch nicht das höchste Staatsamt in vertraulichen Gesprächen führender Politiker aushandeln. Das ist einer Demokratie nicht würdig. — Man könnte aber — und darüber machen sich jetzt in Bonn manche Politiker Gedanken — die Amtszeit des Bundespräsidenten auf sieben Jahre verlängern und zugleich eine Wiederwahl ausschließen. Man könnte auch vorschreiben, daß Kandidaten der einzelnen Parteien durch Wahl auf Parteitagen aufgestellt werden. — Eine solche Verfassungsänderung könnte frühestens 1969 in Kraft treten. Lübke ist mit der Möglichkeit der Wiederwahl gewählt worden. Das kann und will ihm niemand streitig machen.“

Solche und ähnliche Äußerungen geben dem Gefühl Ausdruck, daß die Stellung des Bundespräsidenten durch das Grundgesetz allzu sehr beschnitten ist und daß selbst kraftvolle Persönlichkeiten das Amt nicht recht politisch wirksam machen können. Vielleicht bestand nach der letzten Bundestagswahl eine Chance für den Bundespräsidenten zu einer politischen Demonstration insofern, als sich der Bundespräsident noch stärker, als er es tat, für eine Allparteienregierung hätte aussprechen können. Aber derartige Spekulationen sind im Nachhinein ziemlich müßig.

Die Macht des Kanzlers

In Umkehrung der Weimarer Verhältnisse hat man dem Bundeskanzler demgegenüber die politische Schlüsselstellung übertragen. Seine Position ist durch mehrere Verfassungsbestimmungen stabilisiert, zunächst dadurch, daß er die Richtlinien der Politik bestimmt und dann durch das konstruktive Mißtrauensvotum, durch das uns etwa die Wirren des vorgaullistischen Frankreich oder die permanenten Kanzlerwechsel der Weimarer Republik erspart bleiben. Der erste Bundeskanzler hat die ihm in der Verfassung angebotenen Rechte voll ausgeschöpft. Man hat ihm seine „einsamen Beschlüsse" verargt und auch seinen zielstrebigen Instinkt für die in der Demokratie mögliche Handhabung der Macht. Wir haben uns in Deutschland noch nie so recht mit dem Phänomen Macht arrangieren können. Wir haben uns meist nur für die extremen Ausprägungen entschieden: für die Verherrlichung der Macht bis hin zur Skrupellosigkeit oder für die Feindseligkeit gegenüber auch der geringsten Machtäußerung. Unsere derzeitige staatliche Stabilität ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Väter des Grundgesetzes die Macht im Staat dem Bundeskanzler übertragen und zur Macht ihr grundsätzliches Ja gesprochen haben. Allerdings kann sich diese Machtkonzentration auch nachteilig auswirken, wenn nämlich die Institution mit parteipolitischen Interessen und Rücksichtnahmen kollidiert.

Während der erste Bundeskanzler die Macht-möglichkeiten des Grundgesetzes voll ausschöpfen konnte, befindet sich der derzeitige Bundeskanzler in einer weit schwierigeren Situation. Der Satz, der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, ist wohl dann vergleichsweise leicht zu realisieren, wenn eine Ein-Parteien-Regierung zustande-kommt oder zumindest eine Koalitionsregierung, in der sich die Partner in weitgehender Einmütigkeit befinden. Bei einer Koalitionsregierung indes mit so disparaten Vorstellungen, wie wir sie gegenwärtig haben, wird dieser Satz auf dem Hintergrund des taktischen Koalitionsausgleichs fragwürdig. Die Machtmöglichkeiten des Bundeskanzlers finden am Koalitionsinteresse ihre Grenzen.

Anlaß zur Genugtuung

Wir haben hier an ausgewählten Artikeln des Grundgesetzes einige Tatbestände der Verfassungswirklichkeit darzustellen versucht. Die Befunde ließen sich durch weitere Untersuchungen verdichten. Wir wollen keine Kassandrarufe ausstoßen; denn die gelegentlichen Abweichungen von der Verfassung sind von der Öffentlichkeit genau wahrgenommen und dann meist rasch wieder korrigiert worden. Aber das vordringliche Problem, das uns gegenwärtig bedrängt, ist doch, wie sich im Rahmen des Grundgesetzes der politische Stil entwickelt, wie es diesem Teilstaat gelingt, Zustimmung und Vertrauen zu gewinnen. Somit kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Daß wir auf diesem Weg in den letzten zwei Jahren nicht vorangekommen sind, darf nicht verschwiegen werden. Die politische Bildungsarbeit ist trotz aller Mißlichkeiten fortgeführt worden, was gewiß kein leichtes Geschäft war. Aber diese zwei Jahre sollen die Entwicklung von 15 Jahren nicht völlig überdecken und beschatten. Diese 15 Jahre wären nämlich trotz allem ein Anlaß zu bescheidener Festlichkeit

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eduard Spranger, Kulturfragen der . Gegenwart, Heidelberg 1956, S. 122.

  2. Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, bearbeitet von Klaus-Berto von Doemming, Rudolf Werner Fußlein, Werner Matz. Tübingen 1951, S. 16.

  3. Eduard Spranger, a. a. O., S. 118 f

  4. Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S 63

  5. Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem. Stuttgart 1951, S. 7f.

  6. Entstehungsgeschichte, a. a. O., S. 2 f.

  7. Entstehungsgeschichte, a. a. O., S. 15.

  8. Entstehungsgeschichte, a. a. O., S. 77.

  9. In: Bonner Grundgesetz, Volks-und Schulausgabe, 23. Ausl. Baden-Baden 1963, S. 8 f.

  10. Werner Weber, a. a. O., S. 20. 11) Eduard Spranger, a. a O., S 117.

  11. Werner Weber, a. a. O., S. 49 f.

  12. Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände? Stuttgart 1963, 2. Ausl., S. 23 f.

  13. Entstehungsgeschichte, a. a. O.

  14. Entstehungsgeschichte, a. a. O., S. 379.

  15. Hans Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart-Köln 1950, S. 57.

  16. Entstehungsgeschichte, a. a. O., S. 399.

  17. „Welt am Sonntag“, 22. März 1964, S. 4.

Weitere Inhalte

Joachim H. Knoll, o. Prof, für Pädagogik an der Universität Bochum, Lehrauftrag an der Pädagogischen Hochschule Bonn, geb. 23 November 1932 in Freystadt/Schles. Veröffentlichungen u. a.: Führungsauslese in Liberalismus und Demokratie, Stuttgart 1957; Jugend, Politik und Politische Bildung, Heidelberg 1962; Pädagogische Elitebildung, Heidelberg 1964; Ansichten zur Gegenwart, Ratingen 1964.