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Die Juli-Krise 1914 | APuZ 31/1964 | bpb.de

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APuZ 31/1964 Die Juli-Krise 1914 Artikel 1

Die Juli-Krise 1914

Ernst Deuerlein: Adam Wandruszka: Wladimir Dedijer: Wladimir M. Chwostow: Pierre Renouvin: Alan J. p. Taylor:

Die europäische Politik vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Der Westdeutsche Rundfunk hat Historiker aus den sechs Ländern, die die wichtigste Rolle beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges spielten, gebeten, die Politik der Regierungen ihrer Heimatländer in der Krise des Sommers 1914 zu schildern. Diese Einzeldarstellungen geben kaum ein Gesamtbild; dazu sind die Auffassungen und auch die methodischen Ansätze zu verschieden. Vielleicht liegt aber gerade darin der Reiz dieses Vorhabens.

Eine Sonderstellung unter den sechs Historikern nimmt der sowjetische Professor Chwostow ein. Entgegen dem Wunsch des WDR stellt er nicht die Politik der Regierung in St. Petersburg dar, sondern gibt die kommunistische Interpretation der Ursachen dieses „imperialistischen Krieges“, natürlich mit Nutzanwendungen auf die Gegenwart. Wir veröffentlichen auch diesen Beitrag, weil er zweifellos symptomatisch ist und ein Bild der kommunistischen Geschichtsschreibung vermittelt. Da Professor Chwostow zur Sache nichts sagt, hat der WDR Professor von Kuehnelt-Leddihn gebeten, die Darstellung der russischen Politik zu ergänzen.

Im August 1939, in den letzten Friedenstagen Europas vor dem Zweiten Weltkrieg, schrieb Alfred von Wegerer das Vorwort zu seiner zweibändigen Untersuchung „Der Ausbruch des Weltkrieges 1914“. Wegerer, langjähriger Leiter der „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen“ und Herausgeber der Zeitschrift „Die Kriegsschuldfrage'', versuchte eine umfassende Darstellung der Juli-Krise 1914 zu geben.

Während des Zweiten Weltkrieges, 1942/43, erschien in Mailand eine dreibändige Studie über die Ursachen des Ersten Weltkrieges des italienischen Publizisten Luigi Albertini.

Zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Werkes von Wegerer, 1959, veröffentlichte der Hamburger Historiker Fritz Fischer in der „Historischen Zeitschrift" einen Aufsatz, der die Frage der Verantwortung für den Verlauf der Julikrise 1914 streifte.

Mit dieser beschäftigte sich eingehend der Freiburger Historiker Gerhard Ritter in dem 1960 veröffentlichten zweiten Band seines Spätwerkes „Staatskunst und Kriegshandwerk“. Ritter gab zu erkennen, daß die vorliegenden Untersuchungen die Frage nach der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch nicht gültig beantwortet haben.

Entschiedener als Ritter vertrat diese Ansicht Fritz Fischer in seiner 1961 veröffentlichten

Deutschland

umfangreichen Darstellung „Der Griff nach der Weltmacht. Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18“. Fischer belebte durch Aufsatz und Buch die Diskussion über die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg INHALT Emst Deuerlein: Deutschland . . . S. 3 Adam Wandruszka: Österreich . . S. 8 Wladimir Dedijer: Serbien .... S. 11 Wladimir M. Chwostow: Rußland . S. 15 Erik Ritter v. Kuehnelt-Leddihn:

Rußland...................................................... S. 18 Pierre Renouvin: Frankreich ... S. 23 Alan J. P. Taylor: Großbritannien . S. 27 aufs neue. Sie ist heute, 50 Jahre nach dessen Beginn, abermals in vollem Gange.

Die Erörterungen kreisen mit erkennbarer Vorliebe um die Haltung des Kabinetts in Berlin, um die Einstellung des deutschen Kaisers und der deutschen Reichsleitung. Sie greifen vor allem drei Fragen auf: 1. Haben Kaiser und Reichsleitung auf Bildung, Formung und Festlegung der österreichungarischen Vorstellungen und Absichten richtunggebenden oder bestimmenden Einfluß genommen?

2. Haben Kaiser und Reichsleitung Form und Inhalt des österreichischen Ultimatums an Serbien gebilligt oder zugelassen?

3. Haben Kaiser und Reichsleitung die Vermittlungsvorschläge des britischen Außenministers Grey gegenüber der Regierung in Wien nachdrücklich vertreten, bagatellisiert oder absichtlich hintertrieben?

Die Beantwortung dieser drei Fragen bestimmt die Beurteilung der Politik von Kaiser und Reichsleitung im Sommer 1914.

Die Nachricht von der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand am Sonntag, dem 28. Juni 1914 in Sarajewo, löste auch im Deutschen Reich eine Welle der Anteilnahme, der Empörung, des Entsetzens und der Furcht aus. Von dieser wurde auch der Kaiser erfaßt, der 14 Tage vorher, vom 11. — 14. Juni, Gast des ermordeten Erzherzogs auf dessen böhmischen Landsitz Konopitsch war.

Wilhelm II. verlor in Franz Ferdinand einen Freund. In der menschlich verständlichen Erregung über das diesem zuteil gewordene Schicksal versah er den Bericht des deutschen Botschafters in Wien, Tschirschky, vom 30. Juni mit deutlichen Marginalien.

Die Feststellung Tschirschkys: „Hier höre ich auch bei ernsten Leuten vielfach den Wunsch, es müsse einmal gründlich mit den Serben abgerechnet werden", versah er mit der Bemerkung: „Jetzt oder nie." An den Rand der Mitteilung Tschirschkys: „Ich benutze jeden solchen Anlaß, um ruhig, aber sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu warnen", schrieb Wilhelm II.: „Wer hat ihn dazu ermächtigt? Das ist sehr dumm, geht ihn gar nichts an, da es lediglich Österreichs Sache ist, was es hierauf zu tun gedenkt. Nachher heißt es dann, wenn es schief geht, Deutschland hat nicht gewollt, Tschirschky soll den Unsinn gefälligst lassen. Mit den Serben muß aufgeräumt werden, und zwar bald."

Bedeuten diese Äußerungen eine Präjudizierung der deutschen Haltung? Nicht wenige Historiker sind dieser Meinung; andere vertreten die Auffassung, die Randbemerkungen seien Temperamentsausbrüche des durch die Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers schokkierten Kaisers. Selbst wenn man diesem eine außergewöhnliche Situation zubilligt, kann man die hinter seinen Anmerkungen stehenden Vorstellungen und Absichten nicht übersehen. Diese waren in Wien zunächst nicht bekannt. Am Ballhausplatz bestanden nicht geringe Zweifel an der Haltung des deutschen Bundesgenossen. Zu ihrer Klärung entsandte Außenminister Berchtold seinen vertrauten Kabinettschef Graf Hoyos nach Berlin. Dieser überbrachte zwei Schriftstücke, ein Handschreiben des Kaisers Franz Joseph und eine Denkschrift des österreichischen Außenministeriums. Ziel beider Schriftstücke war die Erkundung der deutschen Haltung. Uber das Eintreffen der beiden Schreiben unterrichtet, lud Wilhelm II.den österreich-ungarischen Botschafter in Berlin zum Frühstück in das neue Palais nach Potsdam ein. Bevor man sich zu Tisch setzte, las der Kaiser beide Schriftstücke; er erwiderte unmittelbar nach der Lektüre, er müsse sich vor einer endgültigen Antwort mit dem Reichskanzler beraten, da die angekündigte „ernste europäische Komplikation" bedacht werden müsse. Nachdem die Tafel aufgehoben war, versicherte Wilhelm II., auch in diesem Falle — im Falle einer „ernsten europäischen Komplikation" — könne Osterreich-Ungarn mit der vollen Unterstützung Deutschlands rechnen. Im Laufe seiner weiteren Ausführungen wiederholte er die Erklärung, Deutschland werde in gewohnter Bundestreue an der Seite Österreichs stehen. Am Nachmittag des gleichen Tages empfing der Kaiser den Reichskanzler Bethmann Hollweg und den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Zimmermann; er bemerkte, er sehe den Ernst der Lage, in die die Donaumonarchie durch die großserbische Propaganda gebracht sei, betonte jedoch, es sei nicht die Aufgabe Deutschlands, seinem Bundesgenossen zu raten, was er tun solle. Osterreich-Ungarn müsse darüber selbst befinden. Direkter Anregungen und Ratschläge sollte sich Deutschland um so mehr enthalten, als es mit allen Mitteln dagegen arbeiten müßte, daß sich der österreichisch-serbische Streit zu einem internationalen Konflikt auswachse. Kaiser Franz Joseph müsse wissen, daß Deutschland auch in ernster Stunde Osterreich-Ungarn nicht verlassen werde. Das deutsche Lebensinteiesse erfordere die unversehrte Erhaltung Österreichs.

Reichskanzler Bethmann Hollweg beschloß eine Niederschrift über diese Besprechung mit der Bemerkung, die Ansichten des Kaisers deckten sich mit seinen eigenen Auffassungen. Diese Vorstellungen, gerne als die „Entschei-düng von Potsdam" bezeichnet, wurden in den folgenden Tagen im Schoße der Reichsleitung erwogen, erörtert und schließlich bekräftigt. Osterreich-Ungarn wollte — nach deutscher Meinung — die Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers und seiner Frau zum Anlaß einer Abrechnung mit den Serben benutzen. Es war sich über die Einstellung seines deutschen Bundesgenossen dazu nicht im klaren. Der Kaiser und die Männer der Reichsleitung betonten auf Anfrage mit Nachdruck und Entschiedenheit, Deutschland werde zu Österreich-Ungarn stehen — auch in ernster Stunde. Sie begnügten sich jedoch nicht mit dieser Erklärung. In den Niederschriften über die Besprechungen zwischen Vertretern des Deutschen Reiches und Repräsentanten ÖsterreichUngarns stehen nebeneinander die Versicherung, die Reichsleitung könne ÖsterreichUngarn keine Empfehlungen über die zu ergreifenden Maßnahmen geben, und die Empfehlung, die vermeintliche Gunst der Stunde zur Klärung der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zu benutzen.

Die „Entscheidung von Potsdam“ wird in der Literatur als „Blankovollmacht" und „Blankoscheck" bezeichnet. Der bayerische Geschäfts-träger in Berlin, Schoen, sprach bereits in seinem Bericht vom 18. Juli 1914 von einer Blankovollmacht der Reichsleitung für Österreich-Ungarn. Die dem Grafen Hoyos erteilte Auskunft bedeutet vom Standpunkt des Deutschen Reiches aus die Respektierung vor dem in Fragen seiner Souveränität als Großmacht empfindlichen Bundesgenossen und die Betonung der Treue zu diesem. Sie ist durchzogen von Ermutigungen vor allem des Kaisers, der der Auffassung war, alle Anzeichen sprächen dafür, daß die Auseinandersetzung zwischen Osterreich-Ungarn und Serbien lokalisiert bleibe. Der Kaiser berücksichtigte zwar das Risiko einer Ausweitung des Konfliktes zu einem europäischen Krieg, hielt diese Entwicklung jedoch nicht für wahrscheinlich; variiert und modifiziert trat Reichskanzler Bethmann Hollweg dieser Auffassung bei.

Bedeutet diese Haltung des Kaisers und des Reichskanzlers eine Ermutigung Österreichs? Sie wird heute als solche angesehen. Zahlreiche Erklärungen und Versicherungen beweisen die Richtigkeit dieser Deutung. Zur Freilegung des dadurch berührten Problems ist zu fragen: Hätten der Kaiser und die Vertreter der Reichsleitung die Anfragen aus Wien anders beantworten können? Der Kaiser hätte Anspielungen auf die Gunst der Stunde unterlassen und sich auf die Betonung der deutschen Bündnistreue beschränken können. Er hätte unter Zusicherung der deutschen Bündnistreue auf die Gefahren eines militärischen Konflikts zwischen Österreich-Ungarn und Serbien hinweisen können. Er hätte schließlich die deutsche Bündnistreue in einer Weise bekräftigen können, daß Österreich-Ungarn maßvoller gegen Serbien vorgegangen wäre.

Diese spekulativen Erwägungen gehen an der geschichtlichen Situation des Jahres 1914 vorbei, sie enthalten berechtigte Kritik und unberechtigte Einwände der Nachgeborenen, sie verkennen jedoch die Problematik der Beziehungen zwischen Berlin und Wien und übersehen die Triebkraft des Emotionellen in der deutschen Politik.

Prohibitive Empfehlungen oder Weisungen nach Wien hätten das bereits stark angeschlagene Ansehen der Donaumonarchie weiter gemindert und die Beziehungen zwischen Berlin und Wien einer Vertrauenskrise unterworfen. Zur Unterdrückung österreichischer Zweifel und Skrupel wurden in der „Entscheidung von Potsdam" Worte benützt und Formulierungen gebraucht, die im Sinne einer Blankovollmacht verstanden werden konnten und auch verstanden wurden. Aus der Pression der allgemeinen Weltlage und aus der durch die Tat von Sarajewo ausgelösten Erregung heraus wurden Gedanken und Vorstellungen ausgesprochen, die im Drang der Gespräche und Beratungen verhalten, in den Analysen der Historiker jedoch gespenstisch wirken. Wilhelm II. trug ein Herz auf der Zunge; er übersah in den seltensten Fällen die Wirkung seiner Äußerungen. Der Respekt vor der verbündeten Großmacht hielt den Reichskanzler Bethmann Hollweg und den Leiter des Auswärtigen Amtes davor zurück, das Ausmaß der deutschen Bündnistreue zu beschreiben und zu detaillieren. Was der Kaiser zuviel sagte, sagten der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes zu wenig. Handelten diese dabei mit dem Blick auf einen europäischen Krieg, den sie für unausweichbar und zeitlich für günstig erachteten? Diese Frage läßt sich nicht aus den Akten beantworten.

Die eingangs gestellte Frage, ob das Deutsche Reich auf die Bildung, Formung und Ausprägung der österreich-ungarischen Vorstellungen nach der Tat von Sarajewo richtunggebenden oder bestimmenden Einfluß genommen hat, muß bei dem heutigen Stand der Forschung und der Diskussion dahingehend beantwortet werden, daß Kaiser und Reichskanzler Österreich zwar keine Blankovollmacht zur Auslösung eines europäischen Krieges ausgestellt, durch die wiederholte und unmißverständliche Betonung der deutschen Bündnis-treue Österreich jedoch zu einem entschiedenen Handeln animiert haben.

Nach der „Entscheideug von Potsdam" begab sich der Kaiser termingemäß auf seine Nordlandfahrt, die Reichsleitung gefiel sich in der Rolle eines Abwartenden. Staatssekretär von Jagow versicherte dem deutschen Botschafter in Wien am 11. Juli, zur Formulierung der Forderungen an Serbien könne er nicht Stellung nehmen, das sei Österreichs Sache. Er fügte jedoch Empfehlungen über die Form der diplomatischen Aktion gegenüber Serbien an. Jagow ließ in den Tagen des Zuwartens keine Zweifel an der deutschen Entschlossenheit, sich im Falle einer ernsten Komplikation hinter und neben Osterreich-Ungarn zu stellen, aufkommen. Zu einem besonnenen Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" über den österreichisch-serbischen Streit bemerkte er am 18. Juli in einem Telegramm an Botschafter Tschirschky, dieser solle dafür Sorge tragen, daß dieser Artikel in Wien nicht als ein Abrücken Deutschlands von seiner Bündnispflicht gedeutet werde.

Zu diesem Zeitpunkt war in Berlin der Inhalt, nicht aber der Wortlaut des österreichischen Ultimatums vom 23. Juli bekannt. Am 18. Juli meldete der bayerische Geschäfts-träger in Berlin, Schoen, dem bayerischen Ministerpräsidenten Hertling die wesentlichen Punkte, die ihm Unterstaatssekretär Zimmermann mitgeteilt hatte. Nach der Skizzierung der Forderungen versicherte Schoen: „Daß Serbien derartige, mit seiner Würde als unabhängiger Staat unannehmbare Forderungen nicht annehmen kann, liegt auf der Hand. Die Folge wäre also der Krieg. Hier ist man durchaus damit einverstanden, daß Österreich die günstige Stunde nutzt, selbst auf die Gefahr weiterer Verwicklungen hin."

Schoen sprach im Verlauf seines Berichtes nach München von der Ansicht des Auswärtigen Amtes, es handle sich für Österreich um eine Schicksalsstunde; man habe deshalb auf eine Anfrage aus Wien ohne Zögern erklärt, daß Deutschland mit jedem Vorgehen, zu dem man sich entschließe, einverstanden sei, dort auch auf die Gefahr eines Krieges mit Ruß-land hin.

Am gleichen Tage, dem 18. Juli, versicherte Staatssekretär Jagow dem deutschen Botschafter in London„Wir haben auch jetzt Austria nicht zu einem Enschluß getrieben. Wir können und dürfen aber ihm nicht in den Arm fallen. Wenn wir das täten, könnte Österreich (und wir selbst) uns mit Recht vorwerfen, daß wir seine letzte Möglichkeit politischer Rehabilitierung verwehrt haben". Jagow brachte die Erwartung zum Ausdruck, daß sich der Konflikt zwischen Österreich und Serbien lokalisieren lasse; er betonte jedoch gleichzeitig: „Läßt sich die Lokalisierung nicht erreichen und greift Rußland Österreich an, so tritt der Casus foederis ein, so können wir Österreich nicht opfern... Ich will keinen Präventiv-krieg, aber wenn der Kampf sich bietet, dürfen wir nicht kneifen."

Diese Gedanken und Ausblicke ziehen sich in monotoner Übereinstimmung durch alle Erklärungen der Reichsleitung. In ihnen sind die Hoffnung auf eine Lokalisierung des Konfliktes, die Überzeugung, sich auch einem europäischen Krieg stellen zu müssen, und die Ansicht, das Ansehen Österreich-Ungarns lasse nur eine harte Lösung der Krise zu, untrennbar miteinander verbunden. In Berlin waren die Besorgnisse über die Auswirkungen des österreichischen Ultimatums an Serbien klein, die Befürchtungen, Österreich könne im letzten Augenblick Angst vor seinem eigenen Mut bekommen, jedoch groß.

Die eingangs gestellte zweite Frage, ob das Deutsche Reich die Form der österreich-ungarischen Initiative gegenüber Serbien zugelassen oder gebilligt hat, muß deshalb dahingehend beantwortet werden: Die Reichsleitung war der Auffassung, Österreich müsse um seines Ansehens und seiner Zukunft willen gegenüber Serbien eine unnachgiebige Haltung einnehmen. Das Deutsche Reich wirkte nicht an der Erstellung des Ultimatums vom 23. Juli mit, es gab dafür jedoch allgemeine Empfehlungen und kannte frühzeitig seinen Inhalt.

Die Reichsleitung unternahm zunächst keine nennenswerten Anstrengungen, die zu erwartenden Folgen des österreichischen Schrittes vorbeugend aufzufangen. Sie konzentrierte, als die Kriegsgefahr nicht mehr geleugnet werden konnte, ihre Bemühungen auf Ruß-land und auf Großbritannien. Während sie die Versuche, Rußland zum Stillhalten gegenüber Österreich-Ungarn zu bewegen, skeptisch beurteilte, war sie der Meinung, Großbritannien habe keine Veranlassung, sich an einem europäischen Konflikt zu beteiligen. Dieser optimistischen Auffassung widersprach der deutsche Botschafter in London; er telegrafierte am 26. Juli an das Auswärtige Amt: „Ich möchte dringend davor warnen, an die Mög-lichkeit der Lokalisierung auch ferner zu glauben“. Vor der Beantwortung des österreichischen Ultimatums schlug der britische Außenminister eine Konferenz der Botschafter Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens über den österreich-serbischen Streit vor. Die Reichsleitung lehnte den Konferenzplan mit der Begründung ab, es könne dem Kaiser Franz Joseph nicht zugemutet werden, vor einer Art internationalen Schiedsgericht zu erscheinen. Sie gab ihn jedoch mit der Empfehlung nach Wien weiter, die österreich-ungarische Regierung möge den britischen Vorschlag erwägen; es fügte entschuldigend hinzu, durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würde Deutschland vor der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als der eigentliche Treiber zum Krieg hingestellt werden. Gegenüber dem österreich-ungarischen Botschafter in Berlin äußerte sich Jagow noch deutlicher. Dieser berichtete nach Wien: „Die deutsche Regierung versicherte auf das bündigste, daß sie sich in keiner Weise mit den englischen Vorschlägen identifiziere, sogar entschieden gegen deren Berücksichtigung sei und dieselben nur, um der englischen Bitte Rechnung zu tragen, weitergab Auch die weiteren britischen Vermittlungsvorschläge behandelte die Reichsleitung dilatorisch. Sie gab sie mit dringlichen Empfehlungen nach Wien weiter, diese waren jedoch nicht so entschieden, daß sie im Zeitpunkt der allgemeinen Mobilmachung eine Wende der österreichischen Politik herbeigeführt hätten. Die eingangs gestellte dritte Frage, ob die Reichsleitung die Vermittlungsvorschläge des britischen Außenministers Grey gegenüber der Regierung in Wien nachdrücklich vertreten oder absichtlich hintertrieben hat, muß deshalb dahingehend beantwortet werden, daß die Reichsleitung die britischen Empfehlungen zwar nicht hintertrieben, jedoch auch nicht mit dem sachlich gebotenen Nachdruck weitergegeben und vertreten hat.

Die Bilanz einer kritischen Betrachtung und Beurteilung der Haltung der Reichsleitung während der Juli-Krise 1914 ist heute, 50 Jahre später, nicht ermutigend. Aber die deutsche Politik der damaligen Tage kann nicht aus der Sicht und der Situation des gegenwärtigen Augenblicks gesehen und beurteilt werden, würde dadurch doch die zeitliche Bedingtheit aufgehoben. Diese erklärt viele, heute unverständliche Äußerungen, Handlungen und Unterlassungen, läßt aber auch zahlreiche Fragen und Probleme offen.

Blind für die Gefahren, taub für die Warnungen, stumm gegen unerfüllbare Forderungen und befangen in uns unverständlichen Vorstellungen handelten Kaiser und Reichs-leitung unentschlossen und kurzsichtig; beide sahen im Krieg nicht den großen Zerstörer, sondern den schicksalsbedingten Verwandler.

Österreich

Der Dichter Franz Werfel, der sich im Laufe seines Lebens vom jugendlichen Revolutionär der extremen Linken zum konservativen österreichischen Patrioten gewandelt hatte, schrieb in der verständlichen Verbitterung und Verzweiflung der erzwungenen Emigration im Februar 1939, also wenige Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, über die Ursachen des Ersten Weltkrieges: „Meiner Überzeugung nach wäre der Krieg von 1914 leicht zu vermeiden gewesen. Die Schuld an ihm trug eine ebenso schwächliche wie kraftmeierische, von Großpreußen gegängelte Oberschicht in Wien, von der ein Teil sich jetzt logischerweise des leidenschaftlichsten Führer-kultes befleißigen soll."

Ein ähnliches Urteil hatte schon Jahre vorher der Schriftsteller Emil Ludwig in seiner viel-gelesenen Reportage „Juli 1914" gefällt, in der er den „Wiener Kriegsgrafen", also dem Außenminister Graf Leopold Berchtold und seinen Mitarbeitern, den Grafen Alexander Hoyos und Johann Forgach, zusammen mit den Leitern der Außenpolitik des zaristischen Rußland die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges beimaß, der, wie auch Emil Ludwig unter Berufung auf das Urteil des Hamburger Reeders Albert Ballin meinte, sich leicht hätte verhindern lassen.

Sind diese Verdammungsurteile über die angeblich so leichfertige, ja frivole „KatastrophenPolitik" des angeblich so „morschen" Habsburgerreichs an der Donau Urteile, die man auch jetzt, in der Gedenktag-Publizistik des Attentats von Sarajewo, immer wieder lesen und hören kann, ein halbes Jahrhundert nach dem Juli 1914, angesichts der intensiven, jahrzehntelangen Erforschung der „Kriegsschuldfrage", der vollständigen Öffnung der Archive der einstigen Mittelmächte — der leider noch keine so vollständige Öffnung der Archive bei den einstigen Ententemächten entspricht, was das Bild natürlich noch immer etwas verzerrt —, sind also diese Verdammungsurteile wissenschaftlich heute noch aufrecht zu erhalten? Um die Antwort gleich vorwegzunehmen: Nein.

Der englische Historiker Herbert Butterfield, der gerade in diesen Tagen hier in der Bundesrepublik Vorträge über die Haltung Sir Edward Greys, des britischen Außenministers, in der Julikrise 1914 hält, hat vor Jahren ein-8 mal ein sehr kluges und einprägsames Wort über den Unterschied des politischen und des historischen Urteils formuliert. Das politische Urteil sei stets „melodramatisch", befasse sich mit „Helden" und „Schurken"; aber in dem Maße, in dem sich der zeitliche Abstand vergrößere, in dem Politik zur Geschichte werde, trete das „tragische Element" hervor, erkenne man, daß die Mächte und Menschen in der gegebenen Situation, in die sie das Schicksal hineingestellt hat, „nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten", im Grunde kaum anders handeln konnten, als sie tatsächlich gehandelt haben.

Unter diesem Gesichtspunkt soll versucht werden, die gestellte Frage zu beantworten — nicht im Sinne einer „Ehrenrettung" für einzelne Personen. Hier kann man das Urteil wohl ruhig dem Prozeß der geschichtlichen Forschung und Klärung überlassen, der langsam und nicht geradlinig, sondern „dialektisch", aber doch unaufhaltsam vor sich geht. So erscheint etwa die Gestalt des Generalstabs-chefs Conrad von Hötzendorf, dessen Ruhm noch zu seinen Lebzeiten und erst recht nach seinem Tode hell erstrahlte, auf Grund der Akten in einem immer problematischeren Licht. Andererseits ist dem vielgeschmähten Außenminister Gias Berchtold nun endlich durch die im vergangenen Jahr erschienene zweibändige Biographie von Hugo Hantsch Gerechtigkeit widerfahren, wobei sowohl das wohlabgewogene Urteil des Historikers wie die reichlich beigebrachten Selbstzeugnisse doch auch die Grenzen der geistigen und charakterlichen Statur Berchtolds deutlich erkennen lassen.

Doch nicht auf solche Korrekturen im Bild von Einzelpersöniichkeiten soll es hier ankommen, sondern eben auf die Frage der geschichtlichen Verantwortung einer ganzen Schicht oder zumindest einer Generation dieser Schicht, auf eine Frage der „Kollektivschuld" also, um ein späteres unheilvolles Schlagwort zu gebrauchen.

Man wird vielleicht, um jener von Werfel angeklagten „Oberschicht" überhaupt habhaft zu weiden, am besten zu dem banalen und in politischen Witzen seit jeher so beliebten Gegensatzpaar der „Pessimisten" und der „Optimisten" seine Zuflucht nehmen, wobei sich bald, ganz wie in jenen Witzen, der Unterschied als ein nicht grundsätzlicher, son-dem nur gradueller herausstellen wird. „Pessimisten" waren in diesem Sinne alle jene, die wie der greise Kaiser selbst, bei aller Liebe, Treue und Anhänglichkeit zu dem historisch gewordenen ehrwürdigen übernationalen Staatswesen an der Donau im Grunde ihres Herzens nicht an die Zukunft, jedenfalls aber nicht an die Erneuerungsfähigkeit dieses altehrwürdigen Staates glaubten. „Ich bin mir seit langem bewußt, wie sehr wir in der heutigen Welt eine Anomalie sind", hat Kaiser Franz Joseph in seinen letzten Lebensjahren zu einem österreichischen Diplomaten gesagt; und er hat in seinem Testament Verfügungen getroffen für den Fall, daß „die Krone nicht bei unserem Hause bleiben sollte“, und gewünscht, daß seine Tochter Gisela ihr Vermögen mit sich denn „es sicherer nehme, läge in Deutschland als wie in Wien". Dieser Pessimismus, der beim alten Kaiser selbst durch die Erlebnisse und Enttäuschungen seines langen Lebens und vor allem durch die von ihm nie verwundenen politisch-militärischen Niederlagen von 1859 und 1866 begründet worden waren, ist bei jüngeren staatstreuen Österreichern dann vor allem durch das Erlebnis des Nationalitätenstreits genährt worden und durch das Scheitern aller Versuche, diesen Nationalitätenstreit durch Kompromisse, Wirtschaftsund Kulturförderung, Gewährung des allgemeinen Wahlrechts usw. zu entschärfen. Selbstironie, Neigung zur Selbst-verkleinerung, neidvolle Bewunderung der national einheitlichen Staaten, und hier vor allem des in seiner inneren und äußeren Kraft überschätzten wilhelminischen Reiches, haben zur Verbreitung dieser Geisteshaltung gewiß beigetragen. Die politische Konsequenz, die man daraus zog, war die, daß die Doppel-monarchie jede Erschütterung vermeiden müsse, weil jede Erschütterung ihrem Zusammenhalt und damit ihrem Fortbestand verhängnisvoll werden könne.

Die genau entgegengesetzte Folgerung zogen die „Optimisten" aus den gleichen oder zumindest aus ganz ähnlichen Prämissen. Auch sie beneideten die Nationalstaaten um deren innere Geschlossenheit, auch sie sahen die Zukunft der Monarchie durch Panslawismus und Alldeutschtum, durch Irredentismus und den Selbständigkeitswillen der Nationalitäten gefährdet. Aber sie meinten, daß nicht ängstliches Stillhalten, sondern gleichsam nur eine „Flucht nach vorne" eine entschiedene Reformpolitik oder noch besser das „Blutund Stahlbad“ eines gemeinsam durchgefochtenen, siegreichen Krieges die Völker Österreichs wieder enger miteinander verbinden mußten. Exponent dieser Haltung schien vielen der Thronfolger Franz Ferdinand, von dessen Regierungsantritt viele der „Optimisten“ die Verwirklichung einer solchen radikalen Reform-und Erneuerungspolitik erhofften.

So war es im Grunde nur ein gradueller Unterschied oder besser, ein Unterschied im Temperament, zwischen einer Haltung „heroischer Resignation" der einen, einem ver auf -zweifelten Aufbäumen auf der anderen Seite, der die beiden Gruppen voneinander trennte. Wie bitter sind doch jene in der begreiflichen Erregung nach dem ersten mißglückten Attentat von dem Thronfolger kurz vor seinem Tode hervorgestoßenen Worte gewesen, er würde wundern, nicht der Atten sich wenn -täter schließlich noch einen Orden bekäme!

Man kann heute, in der Ruhe der historischen Betrachtung und im Besitz der Kenntnis der seither eingetretenen Entwicklung, mit guten Gründen die Auffassung vertreten, daß nicht nur die „Pessimisten", sondern ebensosehr und mit noch viel verhängnisvolleren Folgen auch die „Optimisten" die innere Situation der Donaumonarchie zu pessimistisch beurteilten. Historiker in Ost und West sind sich trotz aller anderen Unterschiede in der Auffassung gerade darüber längst einig, daß die überwiegende Mehrheit innerhalb aller Nationalitäten des Vielvölkerreiches den Fortbestand der Monarchie wünschte. Auch ist es heute leicht, auf den inneren Widerspruch zwischen Prognose und Therapie hinzuweisen, dessen sich die „Optimisten" schuldig machten, indem sie einem ihrer eigenen Meinung nach an einem Herzfehler leidenden Patienten zur Gesundung eine die äußerste Kraftanstrengung erfordernde Gewalttour anempfahlen.

Muß man doch gerechterweise auch das geistige Klima jener Jahre — und zwar in ganz Europa — berücksichtigen mit dem Kult des skrupellosen Macht-und Gewaltmenschen, des „Renaissance-Menschen", das geistige Klima aus Darwinismus, Biologismus, Aktivismus, der Philosophie Nietzsches, ein Klima, aus dem der Bolschewismus ebenso erwuchs wie die verschiedenen Faschismen; ein Klima, das eine so feinnervige und im Grunde ganz und gar unkriegerische Gelehrtenpersönlichkeit wie Josef Redlich dazu verführte, martialische Reden von der Gewalt als der Geburtshelferin der Geschichte zu führen und die Nachricht von dem leidenschaftlich herbeigesehnten Kriegsausbruch mit „Hurra" zu begrüßen. Der Tod des Thronfolgers mußte gerade jene »Optimisten“, die von Franz Ferdinand die Erneuerung des Reiches erhofft hatten, zu einem fatalistischen Kurzschluß führen. Da nun der Mann nicht mehr am Leben war, dem man noch einen friedlichen Umbau der Monarchie zugetraut hatte, schien das Schicksal selbst gebieterisch für Österreich nur mehr den anderen, blutigen Weg der Erneuerung offen zu lassen. Es kam also nun nur mehr darauf an, auch die „Pessimisten“ von der Unvermeidbarkeit des Krieges zu überzeugen; was um so leichter gelingen konnte, als jene, ohnedies längst von der Unvermeidbarkeit des Zerfalls der Monarchie überzeugt, in alt-ritterlicher Überzeugung einen „ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld“ einem „schimpflichen Strohtod“ vorzogen. Zur Beseitigung noch bestehender Bedenken der „Pessimisten" aber konnten die „Optimisten" erfolgreich den Einfluß des deutschen Bundesgenossen ins Spiel bringen.

Damit sind wir bei dem anderen Vorwurf Werfels, jene „ebenso schwächliche wie kraftmeierische" Oberschicht in Wien sei „von Großpreußen gegängelt" worden. Nun hat gewiß das Verhältnis zum deutschen Bundesgenossen, die noch immer nicht überwundene, sondern gleichsam nur verdrängte Rivalität von vor 1866, gerade bei den österreichischen Führungsschichten eine wichtige Rolle gespielt. Was man Schönerer und seinen Anhängern vorwarf, sie „schielten" nach Berlin, das traf, in einem anderen Sinne, erst recht auf die staatstreuen „Schwarz-Gelben" zu, und hier lag ja einer der Gründe dafür, warum man auf den provozierenden Irredentismus der Schönerianer so empfindlich reagierte. Hochmütige und taktlose Formulierungen von Seiten des deutschen Bundesgenossen, wie jene ge ade in den Wochen vor Kriegsausbruch gefallene Bemerkung, Osterreich-Ungarn müsse selbst wissen, ob es noch weiter eine Großmacht bleiben wolle, hatten unter diesen Umständen eine besonders verhängnisvolle Wirkung. Gerade weil die Angehörigen der Führungsschichten sich als Angehörige der deutschen Kulturnation fühlten, neigten sie dazu, die österreichische Schwäche stets an der deutschen Stärke zu messen und in der einen wie in der anderen Hinsicht zu übertreiben. Unter diesen Umständen aber erhielt das Bündnis noch mehr den Charakter einer geheimen Rivalität, als dies sonst ohnedies gewöhnlich bei Bündnissen der Fall zu sein pflegt, und die Handlungsfreiheit der Österreicher wurde noch weiter eingeschränkt. Denn gerade im Hinblick auf den kraftvollen deutschen Bundesgenossen glaubte man sich keine Zurückhaltung und Selbstbeschränkung leisten zu dürfen, die als Eingeständnis der eigenen Schwäche gedeutet werden konnte.

So ist in einem oberflächlichen, gleichsam nur die Außenseite des Geschehens betrachtenden Sinne die Anklage Werfels berechtigt, und für jedes der schmähenden Wörter — für das „Schwächlich", das „Kraftmeierisch", das „Gegängelt“ — mag man scheinbare Beweise in den Akten finden. Dennoch ist das Urteil im Sinne eines tieferen geschichtlichen Verständnisses ungerecht. Die österreichischen Staatsmänner befanden sich im Sommer 1914 in einer nahezu ausweglosen Situation. Wir wissen heute, daß die Entscheidung, die sie für die richtige hielten, gerade das herbeigeführt hat, was sie hatten vermeiden wollen. Dennoch widerstrebt es dem Historiker, das harte Wort „Schuld" niederzuschreiben; das dunkle Wort „Schicksal“, hinter dem der Glaube an das Walten unerforschlicher Mächte steht, erscheint allein dem tragischen Geschehen des Hochsommers 1914 angemessen.

Serbien

Nach einer sich über mehrere Jahre erstrekkenden Durchforschung jugoslawischer, österreichischer, deutscher und anderer Archive bin ich zu dem Schluß gelangt, daß die Ermordung Erzherzog Franz Ferdinands, des habsburgischen Thronfolgers, und seiner Gemahlin, der Gräfin von Hohenberg, am 28. Juni 1914 in Sarajewo von revolutionären Gruppen in Sarajewo organisiert und durchgeführt worden war, die man mit dem Sammelbegriff Jung-Bosnier zu bezeichnen pflegte, und zwar im geheimen Einverständnis mit dem Belgrader Geheimbund „Ujedinjenje ili srmt" (Vereinigung oder Tod), von seinen Feinden die „Schwarze Hand“ genannt. Die Motive der beiden Gruppen waren jedoch nicht die gleichen.

Für die Jung-Bosnier, Vertreter eines primitiven Rebellentums, hervorgegangen aus den bosnischen Bauernmassen, bedeutete der politische Mord einen Ausdruck ihrer Vorstellungen von der Umformung der Gesellschaft; die Jung-Bosnier lehnten sich gegen ihre eigenen Väter und ihre eigenen Lehrer auf. Princip und seine Komplizen hegten kaum eine persönliche Feindschaft gegenüber Franz Ferdinand — sie waren bereit, jeden habsburgischen Würdenträger zu töten, um gegen die kolonialherrschaftlichen Verhältnisse zu protestieren, in denen sich ihr Land befand. Sie hatten gegen Kaiser Franz Joseph, dessen Minister Burian und Bilinski und gegen alle bosnischen Gouverneure konspiriert.

Oberst Apis, Führer der Organisation „Vereinigung oder Tod" und Chef des serbischen militärischen Nachrichtendienstes, entschied sich aus anderen Gründen für die Ermordung des Erzherzogs. Apis war kein zum Anarchismus neigender junger Mann. Es liegen vielmehr alle Beweise dafür vor, daß er ein kühl abwägender, gut ausgebildeter Generalstabs-offizier war, der sich durchaus über die mißliche Lage der serbischen Armee im klaren war, die nach den beiden Balkankriegen der Jahre 1912 und 1913 und der albanischen Meuterei große Verluste unter den Offizieren erlitten hatte und deren militärische Ausrüstung erschöpft war. Es war nicht daran zu denken, unter diesen Bedingungen einen Krieg gegen Österreich-Ungarn zu riskieren. Die Unterlagen beweisen, daß Apis sich für die Beseitigung des Erzherzogs aus gegen seine Feinde in Österreich-Ungarn und in Belgrad gerichB teten taktischen politischen Erwägungen entschied. Von den verschiedenen Theorien über die Beweggründe, die Oberst Apis veranlaßt haben sollen, sich an dem Komplott gegen Franz Ferdinand zu beteiligen, erscheint die Version am wahrscheinlichsten, derzufolge er besorgt darüber war, daß Deutschland bei der Begegnung zwischen Kaiser Wilhelm und Erzherzog Franz Ferdinand Ende Oktober 1913 in Konopischt schließlich Osterreich-Ungarn zugestanden hatte, mit Serbien gewaltsam abzurechnen, obwohl Deutschland seit der Annexionskrise der Jahre 1908— 1909 bei verschiedener Gelegenheit versucht hatte, die Kriegs-partei in Wien zu beschwichtigen, welche den Angriff auf Serbien verlangte. Oberst Apis glaubte, durch die Ermordung des Erzherzogs Verwirrung unter seinen Feinden zu stiften und dadurch die Kriegspartei in Wien zu einer Verschiebung ihrer gegen Serbien gerichteten Pläne auf einen Zeitpunkt zu zwingen, zu dem Serbien und sein Verbündeter Rußland besser für den Krieg gerüstet sein würden.

Sobald er die Informationen über die Gespräche von Konopischt erhielt, beschloß Oberst Apis, Erzherzog Franz Ferdinand zum Ziel seiner Aktionen zu machen.

Am 2. Januar 1914, aus Anlaß des 50. Geburtstags des Erzherzogs, veröffentlichte seine Zeitung Pijemont einen Artikel der Münchner Zeitschrift Mürz aus der Feder Stefan Grossmanns, welchen der Herausgeber des Pijemont mit einem eigenen Kommentar versah, einer Drohung, die auf ein öffentlich proklamiertes Todesurteil für den Erzherzog hinauslief: „Wir haben diesen Artikel übersetzt, damit unsere Leser sehen können, wer dieser künftige österreich-ungarische Herrscher ist — was für ein Mensch er ist. Nach diesen Zeilen, die an Klarheit nichts zu wünschen lassen, können wir nur noch hinzufügen, daß sich die Opfer für unsere Vorbereitungen und Waffen als nicht zu teuer erweisen werden, da seine künftige Kaiserliche und Apostolische Majestät sie selbst an seinem Schicksalstage mit seinem Leben bezahlen wird."

Zur gleichen Zeit beschlossen auch die Jung-Bosnier, die von der Reise des Erzherzogs nach Bosnien gehört hatten, zu handeln. Sie stellten ihre Konspirationen gegen Gouverneur Potiorek ein und richteten ihre Vorberei11 tungen auf den Erzherzog. Da ihnen nicht genügend Waffen zur Verfügung standen, nahmen sie durch bosnische Studenten in Belgrad Verbindung zu einigen bosnischen jungen Männern auf, die in die Komitadje ausgenommen worden waren, irreguläre paramilitärische Einheiten unter der Führung Major Tankosics, der rechten Hand von Oberst Apis. Dieser technische Aspekt der Auftreibung der erforderlichen Waffen führte zu der Herstellung direkter Verbindungen zwischen den Revolutionären in Bosnien und Serbien.

Welche Haltung nahmen die damalige serbische Regierung und Regent Alexander gegenüber der Verschwörung von Sarajewo ein? Waren sie an ihr beteiligt oder wußten sie von ihr? Und wenn sie von den Vorgängen wußten, unternahmen sie dann irgendwelche Schritte, um sie zu verhindern oder die österreich-ungarischen Behörden zu informieren? Für die Geschichtsforscher sind dies einige der umstrittensten Probleme des Jahres 1914.

Die Beziehungen, die während der verhängnisvollen Wochen vor dem 28. Juni 1914 zwischen der serbischen Regierung, Oberst Apis und den Jung-Bosniern bestanden haben, lassen sich heute auf Grund der neuen historischen Beweismittel leichter umreißen.

Die Königlich jugoslawischen Regierungen veröffentlichten die offiziellen serbischen Dokumente über das Komplott von Sarajewo nicht, da weitgehende interne politische Rückwirkungen zu erwarten gewesen wären. In den Jahren 1903 bis 1914 war Oberst Apis die graue Eminenz des politischen Lebens in Serbien, eine Art Konigsmacher. Er wurde von Anbeginn durch die Radikale Partei und deren Führer Nikola Pasic, dem serbischen Ministerpräsidenten vor dem Ersten Weltkrieg, bekämpft. Ihre Meinungsverschiedenheiten traten im Mai 1914 zutage, als Apis die Entlassung Pasics durch König Peter provozierte. Die russische Regierung schaltete sich ein. Pasic wurde wieder in sein Amt eingesetzt. Am 10 Juni versuchte Apis einen Staatsstreich zu organisieren Sein Einfluß war jedoch im Schwinden begriffen, und seine alten Gefährten widersetzten sich seinen Anordnungen. In diesem Stadium griff Prinz Alexander in den Konflikt ein. indem er sich auf die Seite Pasics stellte Dies führte zur Abdankung König Peters Alexander wurde Regent. Für den 1 August wurden neue Wahlen angekündigt Trotz des Kriegsausbruchs verlor der Konflikt nicht an Bedeutung. Im Jahre 1917 wurden Apis und die führenden Männer um ihn verhaftet und im Prozeß von Saloniki des Attentatsversuchs gegen Alexander angeklagt; Apis und zwei seiner Anhänger wurden hingerichtet.

Angesichts dieser Ereignisse hätte jede Veröffentlichung relevanter Dokumente über die Ereignisse in Sarajewo im Jahre 1914 den Interessen der Krone ebenso wie denen der mächtigen Radikalen schaden können. Während des Zweiten Weltkrieges fielen nun den deutschen Truppen die jugoslawischen Archive in die Hände, und im Mai 1945 wurde eine Sammlung serbischer Dokumente in der Presse veröffentlicht. Diese Archive wurden nach Belgrad zurückgeführt; einige der entscheidenden Dokumente fehlen indessen noch heute. Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Apis in Belgrad im Jahre 1953 wurden die meisten Unterlagen enthüllt. Hans Ubersberger veröffentlichte ebenfalls in seinem Buch „Österreich zwischen Rußland und Serbien' im Jahre 1958 einige der serbischen Dokumente, wenn auch nicht in objektiver Form. Die kürzlich veröffentlichten Memoiren von Slobodan Jovanovic, einem der letzten Königlich jugoslawischen Ministerpräsidenten, einem Historiker von Ruf und Freund von Apis mit Verbindung zu König Alexander, trugen wesentlich zur Schließung einiger Lücken dieses historischen Fragenkomplexes bei. Major Tankosic half Princip und seinen Komplicen durch einen geheimen „Kanal“, einer Untergrundverbindung zwischen beiden Ländern, von Serbien nach Bosnien zu gelangen. Einige Männer arbeiteten damals gleichzeitig für die Untergrundgruppen des militärischen Nachrichtendienstes von Oberst Apis und für die Narodna odbrana, eine Gesellschaft, die für die Südslawen in Bosnien eine im wesentlichen kulturelle Funktion erfüllte und unter dem Einfluß der serbischen Regierung stand. Einer der Bauern, Jakov Milovic, der Princip half, die Grenze nach Bosnien zu überqueren, war gleichzeitig ein Vertrauensmann der Narodna odbrana und hatte sofort Boza Milanovic, seinen Verbindungsmann in Sabac, der serbischen Grenzstadt, davon in Kenntnis gesetzt, daß er zwei Schuljungen begleitet hätte, die vier Revolver und sechs Bomben mit sich geführt hatten. Milanovic sandte sofort eine dringende Mitteilung an seinen Vorgesetzten in Belgrad, General Boza Janovic, den Präsidenten der Narodna odbrana, der seinerseits den Innenminister informierte, und schließlich erreichte der Bericht Pasic. Pasic selbst stellte eine handschriftliche Zusammenfassung über den ersten Teil des Dokuments auf. Dieses Schriftstück existiert — undatiert — in den serbischen Archiven und wurde von übersberger im Jahre 1958 zusammen mit einem Faksimile des ersten Teils des Dokuments veröffentlicht, in dem die vollständige Mitteilung über die Überquerung der Grenze durch die Schuljungen enthalten war. übersberger ließ jedoch den zweiten Teil des Dokuments aus, der für die Feststellung der Verantwortlichkeit der serbischen Regierung am Verbrechen von Sarajewo von entscheidender Bedeutung ist. In den Korrekturfahnen für die deutsche Veröffentlichung der serbischen Dokumente vom Mai 1945 findet sich jedoch ein Faksimile, das den zweiten Teil des Dokuments enthüllt.

Diesem Bericht zufolge setzte sich Pasic mit dem Chef des Generalstabes in Verbindung und ersuchte ihn, Oberst Apis zu befragen, da der Bericht die Tatsache erwähnte, daß die Waffen auf Wunsch Rade Malobabics, des Chefgeheimagenten des serbischen militärischen Nachrichtendienstes für Bosnien, die Herzegowina und Kroatien, nach Bosnien geschafft worden waren. Apis verfaßte eine ausführliche (undatierte) handschriftliche Erklärung, in der er feststellte, daß Revolver und Bomben zum Schutze seiner Vertrauensleute im österreich-ungarischen Gebiet geliefert worden waren.

Pasic gab sich jedoch mit dieser Antwort nicht zufrieden und ordnete eine offizielle Untersuchung an, die durch den Leiter der Rechtsabteilung des Kriegsministeriums, Oberst Stanko Cvetkovic, durchgeführt wurde. Gleichzeitig gab der Kriegsminister einen Befehl an militärischen Grenzeinheiten, die die Überschreitung der Grenze nach Bosnien durch Personen oder den Transport von Waffen nicht zu gestatten, und die zivilen Behörden in Sabac begannen ebenfalls, Untersuchungen anzustellen und ähnliche Anweisungen herauszugeben. Die Narodna in odbrana sandte drei Fällen Mitteilungen an ihre Verbindungsmänner in Bosnien, um das Komplott zu verhindern. Angesichts dieser Umstände beschloß Oberst Apis, Princip und dessen Komplizen von ihrem Vorhaben abzuhalten. Einer seiner Leute setzte sich mit Danilo Ilic, einem Lehrer aus Sarajewo, dem technischen Hauptorganisator der Verschwörung, in Verbindung. Ilic tat sein möglichstes, um Princip dazu zu bewegen, sein Vorhaben zu verschieben, dieser widersetzte sich jedoch hartnäckig derartigen Vorschlägen. Wie die verfügbaren offiziellen Unterlagen zeigen, sprach Ilic während der Untersuchung und im Laufe des Prozesses über seine Differenzen mit Princip in dieser Frage.

Die ganze Angelegenheit erhielt jedoch eine neue Wendung: Sieben oder acht Tage vor dem 28. erschien Rade Malobabic in Bosnien und widerrief nach Informationen in einem unlängst veröffentlichten Buch von Dr. Drage Ljubibratic über Princip die ursprüngliche Entscheidung von Apis über die Aufgabe des Komplotts. Malobabic scheint genau an der Stelle gewesen zu sein, wo der Erzherzog getötet wurde.

Es erhebt sich die Frage, warum Malobabic so handelte: war er von Oberst Apis beraten worden oder handelte er im Auftrage eines Dritten? Die serbische Regierung befahl die Verhaftung Malobabics, sobald er wieder die Grenze nach Serbien überquerte, und klagte ihn öffentlich an, ein „österreichischer Spion" zu sein. Diese Beschuldigung wurde nicht bewiesen. Der Verfasser dieses Artikels vertritt die Auffassung, daß Malobabic im Auftrage von Major Vojin Tankosic gehandelt hatte, eines Mannes mit einem ungestümen Wesen, der außerordentlich beunruhigt darüber war, daß es Apis nicht gelungen war, sich während der entscheidenden Wochen vor dem 28. Juni Pasic gegenüber durchzusetzen. Diese Hypothese wird bestätigt durch die Erklärung Tan-kovics bei seiner Verhaftung nach der Ermordung des Erzherzogs. Auf Befragen, warum er dieses getan habe, antwortete er: „Um Pasic zu trotzen!“

Die serbische Regierung war nicht in die Verschwörung verwickelt. Sobald sie vom Grenzübertritt bewaffneter Männer erfahren hatte, tat sie ihr möglichstes, diese von ihrem Vorhaben abzuhalten, indem sie eine Untersuchung gegen Oberst Apis und die Grenzbeamten einleitete. Auch die österreich-ungarischen Untersuchungsbehörden in Bosnien und der Herzegowina fanden keinerlei Beweise für eine Verantwortung der serbischen Regierung für das Verbrechen. Ein besonderer Emissär des Wiener Außenministeriums, Friedrich von Wiesner, reiste am 10. Juli 1914 nach Sarajewo, um das Untersuchungsmaterial zu studieren, festzustellen, ob die serbische Regierung in irgendeiner Weise für die Ermordung verantwortlich war, und innerhalb von 48 Stunden das Ergebnis seiner Ermittlungen mitzuteilen. Am 13. Juli telegrafierte Wiesner: „Nichts deutet auf die Mit-B täterschaft der serbischen Regierung bei der Anordnung des Meuchelmordes, seiner Planung oder der Bereitstellung der Waffen hin. Es gibt keinerlei Veranlassung für eine solche Vermutung. Es liegen im Gegenteil Beweise vor, daß eine solche Mittäterschaft ausgeschlossen scheint.“

Interessant ist der Umstand, daß die deutschen Behörden zu einer ähnlichen Schlußfolgerung kamen. Der ehemalige Kanzler Bülow schreibt in seinen Memoiren: „Obgleich der schreckliche Mord das Werk eines über das ganze Land verzweigten serbischen Bundes ist, beweisen viele Einzelheiten, daß die serbische Regierung ihn weder angestiftet noch gewollt hat. Die Serben waren durch zwei Kriege ausgepumpt. Die größten Feuerköpfe unter ihnen dürften vor dem Gedanken eines Krieges mit einem Österreich-Ungarn zurückgeschreckt sein, das so unendlich überlegen war, besonders angesichts eines haßgeladenen Bulgarien im Rücken Serbiens, das sich gleichzeitig über die Unzuverlässigkeit der Rumänen im klaren war. So sah jedenfalls Herr von Griesinger, unser Gesandter in Belgrad, die Dinge, und so sahen sie auch die Belgrader Korrespondenten aller bedeutenden deutschen Tageszeitungen.“ Dennoch entschloß sich die österreich-ungarische Regierung in ihrer Note und dem Ultimatum an Serbien vom 23. Juli 1914 zu völlig anderen Schlußfolgerungen und behauptete, die serbische Regierung sei verantwortlich. Die serbische Regierung akzeptierte alle Forderungen mit Ausnahme des Artikels 6, der die Teilnahme österreich-ungarischer Beamten bei den Untersuchungen forderte, und betonte gleichzeitig ihre Bereitschaft, die Angelegenheit einem internationalen Gremium zu übertragen. Obgleich die serbische Antwort sogar in Berlin günstig beurteilt wurde, erklärte Osterreich-Ungarn Serbien am 28. Juli den Krieg, und innerhalb einer Woche waren alle großen europäischen Mächte in Feindseligkeiten verwickelt. Das tragische Geschehen von Sarajewo war für die Wiener Kriegspartei „ein Geschenk Gottes — genauer genommen ein Geschenk des Kriegsgottes". Endlich war die lang-gesuchte Entschuldigung für die Abrechnung mit Serbien gefunden. Conrad schrieb: „Dieses ist nicht das Verbrechen eines einzelnen Fanatikers; der Meuchelmord bedeutet Serbiens Kriegserklärung an Osterreich-Ungarn. ... Wenn wir uns diese Gelegenheit entgehen lassen, wird die Monarchie Explosionen süd-slawischer, tschechischer, russischer, rumänischer und italienischer Aspirationen ausgesetzt sein ... Osterreich-Ungarn muß aus politischen Gründen Krieg führen." In seinem vor dem Wiener Kabinett verlesenen Bericht unterstrich Potiorek, er habe seit zwei Jahren die Ansicht geteilt, daß Osterreich-Ungarn Krieg gegen Serbien führen müsse, wenn es sich auf dem Balkan behaupten wolle. Der österreichische Gesandte in Belgrad, Giesl, teilte Berchtold mit, daß der Mord ...... eine günstige moralische Ausgangslage für uns geschaffen hat".

Schließlich bleibt die Frage offen, warum Pasic nicht die österreich-ungarische Regierung vor der dem Erzherzog in Sarajewo drohenden Gefahr gewarnt hatte. Alle Zeugen bestätigen die Tatsache, daß der serbische Gesandte in Wien, Jovan Jovanovic-Pizon, in vager Form Besorgnisse im Zusammenhang mit der Reise des Erzherzogs nach Sarajewo in seiner Unterhaltung mit dem österreich-ungarischen Finanzminister Graf Bilinski zum Ausdruck brachte, unter dessen Gerichtsbarkeit Bosnien und die Herzegowina standen. Man könnte einwenden, daß die Warnung nicht ausdrücklich erfolgte, muß jedoch die Art des zwischen Osterreich-Ungarn und Serbien bestehenden Verhältnisses und die interne politische Situation in Serbien berücksichtigen. Wäre es nicht zu dem Attentat in Sarajewo gekommen, hätte man die serbische Regierung des Wunschdenkens und des Versuchs bezichtigt, Zwietracht zwischen dem Thronerben des Habsburgischen Reiches und seinen Untertanen zu säen. Ebenso spielte das Verhältnis zwischen dem serbischen Gesandten in Wien, Jovan Jovanovic, und Ministerpräsident Pasic eine Rolle. Wenn Oberst Apis mit seinen Bemühungen um einen Staatsstreich und den Sturz der Regierung Pasic im Juni 1914 Erfolg gehabt hätte, wäre Jovan Jovanovic einer der Kandidaten für das Amt des Außenministers der serbischen Regierung gewesen. Pasic wußte dies und behandelte Jovanovic mit Zurückhaltung, obgleich aus den Unterlagen hervorgeht, daß Jovanovic tatsächlich Bilinski eine Art von Warnung zukommen ließ. Hätte Pasic einen deutlichen Hinweis gegeben und die Geheimbünde Belgrads und Bosniens bezichtigt, gegen den Erzherzog zu konspirieren, wäre dies im Falle eines Scheiterns des Attentats von Oberst Apis und seinen Freunden als definitiver Beweis dafür bezeichnet worden, daß sich Pasic öffentlich auf die Seite Habsburgs gegen die Befreiungsbewegung der Südslawen gestellt habe.

Rußland

Der Westdeutsche Rundfunk hat mich ersucht, die Meinung eines sowjetischen Historikers über die Ursachen des Ersten Weltkrieges darzulegen. Ich habe mit Vergnügen meine Zustimmung erteilt und freue mich, einige Gedanken über den Ersten Weltkrieg aussprechen zu können.

Ein halbes Jahrhundert trennt uns von den schicksalsschweren Augusttagen 1914 — und was für ein halbes Jahrhundertl Schwerlich kann man in der Geschichte der Menschheit eine Periode finden, die reicher an Ereignissen ist. Und doch ist der Erste Weltkrieg bis zum heutigen Tage nicht nur den Historikern, sondern auch der ganzen Menschheit — oder jedenfalls jedem Europäer — in lebhafter Erinnerung. Das ist nicht verwunderlich. Dieser Erste Weltkrieg war ja der Beginn der tief-gehenden allgemeinen Krise der alten Welt, und diese Krise dauert bis heute fort und vertieft sich dabei immer mehr. Auf den ersten Weltkrieg folgte der zweite, und nicht selten hören wir, daß die Gefahr eines neuen, dritten Weltkrieges bestehe.

Kein Wunder darum, daß die Frage, aus welchen Ursachen es zu jedem der beiden Weltkriege gekommen ist, nach wie vor und auch heute uns zu denken gibt. Um die Antwort auf die Frage zu finden, warum der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist, muß man von der vorherrschenden Betrachtungsweise, vom Standpunkt, ob diese oder jene Regierung zu rehabilitieren sei, um die Schuld anderen Teilnehmern des Krieges in die Schuhe zu schieben, Abstand nehmen.

Ich freue mich, feststellen zu können, daß gerade in Deutschland — nicht nur in der Deuschen Demokratischen Republik, sondern auch in der Bundesrepublik — in den letzten Jahren grundlegende historische Werke erschienen, die mit einem solchen einseitigen Standpunkt brachen. Und man kann nur bedauern, daß diese Schriften, die den Krieg als Griff des Deutschen Reichs nach der Welt-macht zeigen, bisher bei den meisten westdeutschen Historikern keine Anerkennung gefunden haben.

Wenn wir schon von Kriegsschuldigen sprechen wollen, so sind es die Regierungen und die herrschenden Kreise aller jener kriegs-führenden Länder, die im August 1914 am Kriege teilgenommen haben. Ich glaube, dieser Standpunkt überwiegt in der sowjetischen Geschichtswissenschaft, und schon in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen haben die sowjetischen Historiker in ihrer Mehrheit den Versailler Leitsatz von der alleinigen Schuld Deutschlands abgelehnt. Das bedeutet keine Rehabilitierung des deutschen Imperialismus und der kaiserlichen Regierung, da ihre Schuld ja wirklich groß ist. Aber das bedeutet die Anerkennung, daß sie die Schuld am Kriege mit den anderen teilen. Deutschland hat den ersten Krieg begonnen; es hat ihn begonnen, um den von Rußland und Frankreich schon in Angriff genommenen neuen Rüstungen zuvorzukommen.

Eine völlige Ausnahme möchte ich für Serbien machen, was die Kriegsschuld angeht. Was man sich vom Standpunkt des monarchistischen Bewußtseins in Österreich-Ungarn und Deutschland von 1914, das noch bis zum heutigen Tage in den Geschichtsbüchern immer wieder zu finden ist, als unrechtmäßigen Anschlag auf die Integrität des Habsburger Staates vorstellte, kommt den Menschen von heute als das berechtigte Streben der Südslawen nach nationaler Befreiung vor.

Was aber die herrschenden Kreise aller anderen Teilnehmer am Ersten Weltkrieg betrifft, so hatten sie jahrzehntelang eine imperialistische Politik betrieben, Militärblöcke gegründet und das Wettrüsten entwickelt — und dieses hat dann auch schließlich zur blutigen Weltkatastrophe geführt.

Ich will nicht die Ursachen erwähnen, die Ende des vorigen Jahrhunderts zur Gründung von zwei einander entgegenstehenden Militärlagern in Europa führten: Deutschland und Osterreich-Ungarn einerseits, Frankreich und Rußland andererseits.

Wir wollen uamit beginnen, daß wir die Tatsache der Spaltung Europas in zwei einander entgegengesetzte Militärblöcke konstatieren. Außerhalb dieser Blöcke blieb eine Zeitlang England, das die Gegensätze zwischen den kontinentalen Mächten zur Erweiterung seines Kolonialreichs erfolgreich ausnützte. Aber dann kam der Moment, wo das Streben des Deutschen Reichs nach Kolonien und zu einer Umverteilung der Welt, zur Formierung einer erstklassigen Kriegsmarine in England — und nicht grundlos — als Gefahr für das britische Weltreich, für seine Kommunikationen und für die Versorgung Englands angesehen wurde. Als das geschah, wurde der französisch-russische Zweibund eine Dreier-Entente. Beide Blöcke achteten eifersüchtig darauf, ob sich der Gegner nicht verstärke; beide machten energische Versuche, neue Alliierte zu werben. Die tiefgehenden imperialistischen Gegensätze, der Kampf um die Kolonien, um die Teilung und dann Neuaufteilung der Welt, das gegenseitige Mißtrauen und die gegenseitige Angst vor einem eventuellen Über-fall des Gegners führten zum Wettrüsten, der crescendo anwuchs. Jede Maßnahme eines der rivalisierenden Militärblöcke zur Verstärkung seiner Kriegsmacht rief unverzüglich Gegenmaßregeln seitens der Mächte der gegenüberstehenden Gruppierung hervor.

So entstand ein Mechanismus des Wettrüstens. Er besteht darin, daß jede Maßnahme zur Verstärkung der Rüstungen, wo immer sie auch unternommen wurde, eine Kettenreaktion neuer Rüstungen in anderen Staaten zur Folge hatte. Einer von ihnen brauchte dabei nur weiter vorwärts als die anderen zu kommen, damit die Kettenreaktion der Gegenmaßnahmen sofort begann. Dieses wieder Phänomen kann man auch heutzutage beobachten Zum Kriege führte eine Reihe gegenseitig bedingter Entschlüsse der Machthaber verschiedener Staaten, diktiert durch imperiali-stische Eroberungsbestrebungen, durch den Verlaut des Wettrüstens, die Politik der Militärblocke mit ihrer eigenartigen und gefährlichen Logik, durch gegenseitiges Mißtrauen, durch Furcht und Haß. Gegenwärtig kann man unschwer ersehen, daß alle Regierungen und Staatsmänner, die die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg trugen, vom Standpunkt ihrer eigenen Interessen Fehler begingen. Die monarchistischen Regierungen Rußlands, Deutschlands und Osterreich-Ungarns kostete der Krieg ihre Existenz. In Rußland wurde nicht nur die Monarchie gestürzt, sondern nach ihr auch die ganze alte Gesellschaftsordnung; Osterreich-Ungarn hörte als Staat überhaupt zu bestehen auf; Deutschland wurde zerschmettert und geriet in eine schwierige und klägliche Lage; die Sieger England und Frankreich selber mußten den Vereinigten Staaten den ersten Platz überlassen und untergruben die Pfeiler des kapitalistischen Gesellschaftssystems, auf dem das Wohlergehen ihrer herrschenden Klassen beruhte.

Aber nicht alle haben aus dem Ersten Weltkrieg Lehren gezogen. Davon zeugt der deutsche Revanchismus, der Aufstieg Hitlers und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Davon zeugt heute die Abneigung mancher Kreise im Westen dagegen, daß der Schlußstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen werde.

Und die Völker, die Arbeiterschaft, die sozialistischen Kongresse in Stuttgart, Kopenhagen, Basel brandmarkten den Krieg und riefen das internationale Proletariat zum Kampf gegen die Kriegshetzer auf. Aber in der Stunde der Entscheidung, im August 1914, brach die Führung eines großen Teils der sozialistischen Parteien mit diesen Beschlüssen und unterstützte ihre Regierungen in dem von ihnen begonnenen imperialistischen Kriege. Von den sozialdemokratischen Parteien jener Zeit führten nur die russischen Bolschewiken mit Lenin an der Spitze konsequent den Kampf gegen den imperialistischen Krieg.

Heutzutage hat sich die Situation geändert.

Es gibt jetzt Kräfte, die dem Aggressor in den Arm fallen können. Es besteht die Möglichkeit, einen Krieg zu verhindern, wenn diese Kräfte gebührend schlagfertig und aktiv sind. Aber das bedeutet nicht, daß die Kriegsgefahr verschwunden sei. Manche Vertreter der akademischen reinen Wissenschaft bezweifeln, daß die Geschichte Lehren erteilen kann. Aber ich glaube, das ist nicht richtig. Erfahrungen der Geschichte müssen etwas lehren. Die Ereignisse, deren 50. Jahrestag wir dieses Jahr begehen, bleiben ein beredtes Zeugnis für die Gefahren, mit denen die Politik der Militärblöcke, des Wettrüstens, des gegenseitigen Mißtrauens und des Revanchismus und der dadurch hervorgebrachten internationalen Spannungen verknüpft ist. Möge die Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkrieges ein weiterer Ansporn sein, sich über diese Gefahren Gedanken zu machen. Der 50. Jahrestag des Krieges von 1914 erinnert an die längst herangereifte dringende Notwendigkeit, mit den Erscheinungen des heutigen Lebens Schluß zu machen, die heute wie vor 50 Jahren die Gefahr eines neuen Krieges in sich bergen, aber diesmal schon eines thermonuklearen. Mit diesen für den Frieden gefährlichen Erscheinungen kann man nur durch allgemeine und vollständige Abrüstung, Liquidierung der Militärstützpunkte und Militärblöcke aufräumen.

Möge die Geschichte der zwei Weltkriege zur Erkenntnis von der Verderblichkeit des Revanchismus und der Notwendigkeit verhelfen, so bald wie möglich die verspätete Friedensregelung und internationale Entspannung zu verwirklichen.

Erik Ritter v. Kuehnelt-Leddihn : Rußland

In der unheilvollen Verkettung der Umstände, die zum sinnlosesten aller Kriege, zum Ersten Weltkrieg, Quelle unseres ständigen Unglücks führte, spielten Russen — man darf hier nicht Rußland sagen! — die verhängnisvollste Rolle.

Letztendig sind es immer nur Menschen, die mit ihren Urteilen, ihren Leidenschaften, ihren Beschränkungen und, vor allem, mit ihren aus freiem Willen geborenen Entschlüssen reden und handeln und so den Gang der Geschichte leiten. Zwar gibt es auch „Umstände“, gibt es historische Rahmenwerke, die den Hintergrund oder die Grenzen des Dramas abgeben, aber der Mensch bleibt im Mittelpunkt — und nicht etwa die Rasse oder gar die Wirtschaft. Der amerikanische Historiker Sidney Fay hat in seinen Werk Origins of the World War sehr richtig darauf hingewiesen, daß die archivalische Forschungsarbeit des Historikers in Verbindung mit großen Kriegen alle möglichen Ursachen aufstöbert, aber fast nie auf wirtschaftliche Komponenten stößt, wohl aber auf nationalistische Komplexe, ein kollektives Ehrgefühl, militärische Gesichtspunkte, ideologische Vorurteile. Die „wirtschaftliche" Dechiffrierung des Geschichtsrätsels ist nun tatsächlich eine „falsche, aber klare Idee“, die dem kleinen Mann, der eine Lohntüte, eine Brieftasche und ein Sparkonto zu verwalten hat, leicht eingeht. Die Passionen und Ambitionen der Monarchen, Staatsmänner, Politiker, Diplomaten und Generäle sind ihm zu fern und zu vielschichtig ...

Derselbe Historiker schrieb auch: „Österreich in seiner Aktion gegen Serbien nahm die einzige Haltung ein. die ihm angemessen erschien um seine Weiterexistenz als Staat zu gewährleisten. Rußland hingegen, das vorgab, Serbien zu beschützen und eine Art Protektion über die Slawen des Balkans ausübte, war in seinen Lebensinteressen nicht bedroht; was Rußland wollte, war lediglich sein Prestige zu bewahren und zu stärken. Österreich faßte nur einen lokalen Krieg ins Auge. Rußlands Haltung machte jedoch einen europäischen Krieg unvermeidlich.“

Nun aber ist Rußland eine Abstraktion, und auch die zaristische Regierung im Jahre 1914 war kein Monolith, sondern setzte sich aus den verschiedensten Persönlichkeiten zusammen.

Zar Nikolaus II. war ein zwar nicht sehr gebildeter, auch wenig energischer und melancholischer Mann, der aber ein großer Friedens-freund war — er berief die Haager Welt-friedenskonferenz ein — und den Krieg ehrlich haßte. Wie fast überhaupt alle Monarchen aus alten Dynastien den Krieg nicht wollten, auch nicht Wilhelm II. (wie immer er auch geredet haben mag). Das traf aber selbstverständlich nicht für die einzigen wirklich „eingeborenen" Herrscherfamilien zu: die Petrovic-Njegos von Montenegro und vor allem die Karagjogjevic von Serbien. Die mußten noch ihren „Ruhm" begründen.

Kaiserin Alice, aus dem großherzoglich hessischen Haus, war eine Deutsche. Das Unglück, das das Haus Holstein-Gottorp verfolgte — die Romanows waren schon im 18. Jahrhundert ausgestorben —, ließ auch Nikolaus II. nicht ruhen. Sein einziger Sohn und Erbe litt an der Bluterkrankheit, und der einzige Mann, der den Blutstrom des Zesarewitsch stillen konnte, war der Starjetz Rasputin, der zwar kein Mönch war, aber über mesmerische und vielleicht sogar okkulte Qualitäten verfügte. Rasputin, der am Hof auch politischen Einfluß besaß, trat stets für den Frieden ein. Am 28. Juni — am Tage von Sarajewo — mißglückte das erste Attentat auf Rasputin.

Trotz des Bündnisses mit Frankreich (auf der geopolitischen Grundlage des Prinzips „Der Nachbar meines Nachbarn ist mein Freund") pflog Nikolaus II. enge Beziehungen zu den Höfen in Wien und Berlin. Das konservative Altrussentum, reaktionär und weltabgewandt, hatte kein Interesse, durch Eroberungen womöglich das unverdauliche Polentum innerhalb des Reichs zu stärken. Anders war allerdings die Einstellung panslawistischer, also nationalistischer und „fortschrittlicher" Kreise, die revolutionären Stimmungen zugänglich waren und das Bündnis mit der französischen Republik voll bejahten. In der Juli-Krise des Jahres 1914 hatten die Kriegstreiber die volle Unterstützung der „Konstitutionellen Demokraten'unter Miljukow. Die verhängnisvollste Rolle jedoch wurde in diesen Tagen der Entscheidung von Außenminister Sasonow und dem Generalstabschef Janusdikjewitsch und zum Teil auch vom Kriegsminister Suchomlinow gespielt. Auch die Rolle des Mobilisationchefs Dobrorolski verdient beleuchtet zu werden. Zweifellos war die Gefahr groß, daß Rußland zugunsten Serbiens militärisch intervenieren würde; ein derartiges Eingreifen war aber keineswegs unabwendbar eine . Fatalität". Es hätte auch anders kommen können ...

Da König Peter I. von Serbien geistig-gesundheitlich im Sommer 1914 nicht mehr ganz auf der Höhe war, schrieb der damalige Kronprinz Alexander an Kaiser Nikolaus II. einen Brief, in dem er ihn anflehte, Serbien zu Hilfe zu kommen. In seiner Antwort versprach der Zar Serbien lediglich seine moralische Hilfe. Auch wurde von Petersburg den Serben nahegelegt, unter Protest der rohen Gewalt zu weichen.

Kritisch wurde die Situation erst mit dem offiziellen Besuch des französischen Präsidenten Poincare, der schon lange geplant war. Poincare verließ St. Petersburg an Bord eines Kreuzers am 23. Juli, und an diesem Tage überreichte der österreich-ungarische Gesandte in Belgrad das Ultimatum. Nikolaus II., der dem deutschen Kaiser näher stand als Franz Joseph, bat Wilhelm II., auf Wien mäßigend einzuwirken, was auch wirklich geschah. Am 25. Juli lief das österreichische Ultimatum ab; die serbische Regierung weigerte sich im wichtigsten Punkt nachzugeben, und zwar in der Zulassung österreichischer Beamter auf serbischem Boden, die dort ihre Untersuchungen über die wahren Urheber des Attentats hätten fortsetzen sollen. Doch schon am 26. Juli begann der Kriegszustand in Rußland, der allerdings noch keine Mobilisierung bedeutete.

Nun folgte die Mobilisierung in der Donaumonarchie und die Zusicherung Wiens an Petersburg, im Laufe der Strafexpedition gegen Serbien keine Gebietserweiterungen an-zutreben. Tatsächlich hätte eine solche sowohl im Wiener Reichsrat als auch im Budapester Parlament schwere innenpolitische Probleme aufgeworfen. Nun wurde auch in Rußland am 28. Juli, und zwar in den Militärkreisen von Kiew, Odessa, Moskau und Kasan, eine Teilmobilisierung angeordnet. Nach völkerrechtlich-internationalem Gebrauch war eine Mobilisierung an den Grenzen eines mobilisierten bzw. kriegführenden Staates stets legitim. Dieser Befehl zur Teilmobilisierung wurde vom Zaren unterzeichnet, doch hatte der russische Generalstab keine echten Pläne für eine Teilmobilisierung gegen Osterreich-Ungarn allein, sondern nur gegen den Dreibund insgesamt.

Tatsächlich hatte sich inzwischen in St. Peters-burg eine „Kriegspartei* gebildet, deren Führer der Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch, ein fähiger General, und der Außenminister Sasonow waren. Sasonow war ein Schwager des ermordeten höchst begabten Innenministers Stolypin, der im Außenministerium schon unter Iswolskij gedient hatte — Iswolskij, derzeit russischer Botschafter in Paris, hatte aber, genau wie sein früherer Schützling, nie die Demütigung in der bosnischen Annexionskrise vergessen. Sasonow haßte genauso wie sein Vorgänger Österreich, das er in seinen Memoiren mit bejammernswerter geschichtlicher Genauigkeit als den „Erbfeind Rußlands" hinstellte.

Sasonow war mit dem Chef des Generalstabs Januschkjewitsch viel enger befreundet als mit dem Kriegsminister Suchomlinow, der überzeugt war, daß die zaristische Armee zwar einen Krieg von sechs bis acht Monaten, nicht aber in ihrem damaligen Zustand einen zähen Stellungskrieg führen konnte. Erst mit dem Jahre 1916 wäre die Schlagkraft der russischen Armee auf der Höhe gewesen. De facto befand sich damals die russische Armee in einem Prozeß der Reorganisation. Suchomlinow war, wenn auch weniger als sein Souverän, zum Losschlagen nicht geneigt. Sasonow aber, von dem Bombardement Belgrads am 28. Juli unterrichtet, verlangte die sofortige Attacke.

Der deutsche Generalstab erfuhr jedoch, daß sich die von Nikolaus II. angeordenete Teilmobilisierung nun auch auf die an Deutsch-B land grenzenden Gebiete erstreckte. Wilhelm II. protestierte bei seinem „Vetter Nicky" gegen diese unfreundliche Haltung. Doch schon in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli hatten sowohl Sasonow und Nikolaj Nikolajewitsch als auch Januschkjewitsch Nikolaus II. dazu gebracht, die einfach undurchführbare Teilmobilisierung in eine Totalmobilisierung umzugestalten, und ein diesbezügliches Telegramm wurde am 29. Juli zur Post gebracht. Nun langte das Telegramm Wilhelms II. an. Nikolaus befreite sich vom psychologischen Druck seiner Berater und widerrief die Totalmobilisierung. Es steht auch einwandfrei fest, daß der Befehl zur Totalmobilisierung im letzten Augenblick am Postamt storniert wurde.

Die weitere Entwicklung der Krise ist selbst heute vom Historiker nicht voll zu durchleuchten, denn das ganze Problem Teilmobilisierung versus Totalmobilisierung, das aller-wichtigste Kapitel in der pragmatischen Kriegsschuldforschung, ist äußerst schwer zu lösen. Hätte Rußland den Ersten Weltkrieg gewonnen, würden die Akteure dieses Dramas entweder geschwiegen oder Lorbeeren für sich in Anspruch genommen haben. Nikolaus II. wurde in Jekaterinburg ermordet und konnte uns nie die Wahrheit hinterlassen. Sasonow schrieb Memoiren, ebenso Suchomlinow. Von Januschkjewitsch haben wir die Prozeßakten aus dem Jahre 1918. Unbestritten ist die Hauptschuld Sasonows und Januschkje-witschs. Auch die Memoiren Sasonows lassen keine andere Deutung zu.

Tatsächlich gelang es der Kriegspartei, den Kaiser am 30. Juli noch einmal umzustimmen und die Erlaubnis zu einer Totalmobilisierung zu erhalten. Ebenso sicher ist es aber, daß die sogenannte Teilmobilisierung immer einen totalen Charakter hatte und nicht nur gegen Osterreich-Ungarn, sondern auch gegen das Deutsche Reich gerichtet war. Dies steigerte die Nervosität des deutschen Generalstabs, der Kaiser Wilhelm bestürmte, gegen Ruß-land zu mobilisieren, was jedoch Wilhelm II. verweigerte.

Er versuchte Wien zu bremsen, bat Berchtold direkt mit den Russen zu verhandeln und verkündete (von seiner Nordlandreise zurückgekehrt) lediglich den Kriegszustand. Der Berliner Lokalanzeiger hingegen, eine nationalistische Tageszeitung, verkündete fälschlich die Mobilisierung in einer Extraausgabe, und dieser Umstand wurde vom russischen Botschafter Serebrjakow nach Petersburg als Beweis einer deutschen Mobilisierung gemeldet. Das Dementi der Reichsregierung kam zwar sofort, doch die Übermittlung dieses Dementis wurde verzögert, und die Zeitungsente wurde von der Petersburger „Kriegspartei" als Argument bei Nikolaus voll ausgenützt.

Sasonow selbst erzählt uns, wie schwierig es war, seinen Herrn umzustimmen und welche psychologischen Mittel benutzt wurden, um ihn unter Druck zu setzen. Der Kaiser sah „Hunderttausende von Russen“ sterben, und diese Vision konnte nur dadurch „gebannt" werden, daß man ihm „bewies", der Mangel an Vorbereitung würde noch viel mehr Menschenleben kosten. Während das Deutsche Reich dank seiner Eisenbahnen gleichsam über Nacht mobilisieren könne, brauche Rußland mit seinen großen Entfernungen viel mehr Zeit. Indes ließ Nikolaus den Faden nach Berlin immer noch nicht abreißen, und der Telegrammwechsel zwischen Potsdam und Peterhof ist einzigartig in seinem tragischen Mißverständnis, denn Wilhelm II. (wie auch der ganze deutsche Generalstab) mußte annehmen, hintergangen zu werden. Die Information über den russischen Aufmarsch an der deutschen Grenze war lückenlos. Sir George Buchanan sagt in seinen Memoiren über den Befehl Nikolaus’: „Trotz seines kategorischen Befehls erlaubten die Militärbehörden der allgemeinen Mobilmachung ohne sein Wissen ihren Lauf zu nehmen" (but in spite of his categorical Orders the military authorities allowed the general mobilization to proceed without his knowledge). Und um das Deutsche Reich zu täuchen, suchte General Januschkjewitsch den deutschen Militärattache auf und gab ihm sein Ehrenwort, daß an der deutschen Grenze nicht mobilisiert würde. Der Militärattache (der sehr wohl von der Sachlage unterrichtet war), nahm das Ehrenwort nicht an, worauf ihm Januschkjewitsch das Ehrenwort schriftlich anbot. Auch diese Offerte wurde nicht angenommen.

Nachdem von Nikolaus II. die allgemeine Mobilmachung erpreßt worden war, deutete Sasonow seinem Mitverschworenen Januschkjewitsch an, er solle „sein Telefon zerbrechen und für einen Tag verschwinden" — ein Hinweis auf die Möglichkeit, daß der Monarch, von Gewissensbissen gepeinigt, wieder gegenteilige Orders geben könnte. Diese Worte sind historisch, fraglich ist es nur, ob Suchom-linow von dieser Sachlage vollkommen unterrichtet worden war. (Der neuerliche „Kriegsrat" dieser drei Männer ist nicht bewiesen und wurde vom ehemaligen Kriegsminister in Abrede gestellt. Sicher aber war der russische Militärattache in Berlin, General Tatischtschew, an der „Verschwörung" beteiligt — und unter diesen Umständen ist „Verschwörung" keineswegs ein zu hartes Wort.)

Am Tage darauf, am 31. Juli 1914 wurde die allgemeine Mobilmachung in den Straßen Petersburgs angeschlagen, und nun erhielt auch der deutsche Botschafter in Petersburg, Graf Pourtales, die Instruktion, die Demobilisierung der russischen Kräfte an der deutschen Grenze ultimativ zu fordern.

Der deutsche Generalstab, von der Furcht vor einem Zweifrontenkrieg gequält, war überzeugt, daß dieser nur gewonnen werden konnte, wenn man Frankreich schnell nieder-warf, um sich dann gegen Rußland zu wenden. Das „überrundetwerden“ von den Russen schon im Stadium der Mobilisierung schien dem Generalstab — mit Recht — von Anfang an einem verlorenen Krieg gleich. Kaiser Wilhelm und der Kanzler von Bethmann Hollweg konnten nun dem Drängen der Militärs nicht mehr standhalten. Wilhelm II. konnte seinem Vetter nicht mehr glauben, daß dieser bona fide sprach und handelte. Der Appell des Deutschen Kaisers, daß man doch nicht die Fürstenmörder des Balkans unterstützen könne — auch Alexander I. aus dem Hause Obrenovic und Draga Maslin hatte man dort auf dem Gewissen! —, war umsonst. Mit der Solidarität der drei Kaiser war es zu Ende und damit auch mit der Friedensära, die auf dem Wiener Kongreß fast hundert Jahre vorher inauguriert worden war.

Graf Pourtales suchte am 31. Juli den Außenminister Sasonow auf und bestand auf Beendigung des Aufmarsches. Dieses Ersuchen lehnte Sasonow ab, worauf der deutsche Botschafter ihm zitternd zwei Stücke Papier überreichte. Sie stellten Alternativen dar, im Falle der Annahme und der Ablehnung des Ultimatums — ein Irrtum, den Pourtales in seiner Erregung beging. Sasonow las sie erst später durch, denn nun brachte Pourtales die Kriegserklärung mit von Tränen erstickter Stimme vor. Dann lagen sich die beiden Männer in den Armen. Auch Sasonow mußte in diesem Augenblick die ganze Zukunft Europas in ihren höllischen Aspekten intuitiv aufgegangen sein...

Am 1. August brach so der wirkliche Weltkrieg aus. Die rein lokale serbische Phase war vorbei. Das Schicksal schritt nun unaufhaltsam wie eine griechische Tragödie weiter. Denn durch das russisch-französische Bündnis war es nur eine Frage von Stunden oder höchsten Tagen, bis Frankreich eingriff. Der deutsche Botschafter in Paris, Herr von Schoen, fragte offiziell beim Quai d'Orsay an, was wohl Frankreich nun zu tun gedenke. Es wurde ihm zu verstehen gegeben, daß Frankreichs Haltung von seinen Interessen abhänge. Informationen über Grenzverletzungen — echte und angebliche — brachten die deutsche Kriegserklärung. Ein dunkler Punkt war allerdings die Verletzung der belgischen Neutralität durch das Deutsche Reich, wodurch England in den Stand versetzt wurde, sein geheimes Bündnis mit Frankreich zur Geltung zu bringen. Dieses Bündnis war selbst nicht allen Kabinettsmitgliedern bekannt gewesen, und es sah vor, daß Großbritannien mit seiner Flotte Frankreich dann unterstützen würde, wenn dieses in Konflikt mit der deutschen Kriegsmarine käme. Ein Landkrieg mit gleichzeitigem Seefrieden ist jedoch undenkbar. Aus Protest gegen die Geheimabmachung traten zwei Kabinettsmitglieder in London zurück. Hätte der Weltkrieg nach dem österreichischen Ultimatum vermieden werden können? Es wäre nicht unmöglich gewesen. Hätten an der Spitze des Deutschen Reiches und Rußland harte, autokratische Männer gestanden, die dem Druck der Militaristen und ehrgeizigen Diplomaten widerstanden hätten, wäre es vielleicht sehr anders gekommen. Doch war am Anfang des 20. Jahrhunderts das . Kollektivinteresse“ der Monarchen schon zu schwach und ihre Angst, nicht genügend patriotisch oder national zu erscheinen, schon zu groß. Der Druck, der vom Volk ausgeübt wurde, war im Steigen begriffen. In Berlin gab es allenthalben patriotische Demonstrationen, in Wien, ja auch in Prag und Agram nicht minder. In Sarajewo wurden serbische Geschäfte von Moslems und Kroaten demoliert, und der Mob zerstörte die leere deutsche Botschaft in Moskau — derselbe „nationale“ Mob, der vier Jahre später die „Internationale" sang.

Harte, starke Männer aus dem Volk gab es dann später in Europa viel mehr. Sie ersetzten die romantischen Monarchen. Doch Leute wie Mussolini, Hitler und Stalin haben es in diesem Tale der Tränen viel, viel übler getrieben.

Frankreich

Man kann die Politik der verschiedenen Regierungen während der Juli-Krise von 1914 nur verstehen, wenn man sich den Spannungszustand vor Augen hält, der die Beziehungen der europäischen Großmächte in dem voraufgegangenen Jahrzehnt mehrfach belastet hatte: Die Drohungen eines allgemeinen Krieges bestanden 1905, 1909, 1911 und 1912/13 wegen der Marokko-Frage und anläßlich der Balkan-kriege. Ein Wettrüsten zu Lande und auf der See war die Folge dieser Spannung, vertiefte sie aber auch. In der Voraussicht eines Konflikts wollten die Regierungen ihre Allianzen verstärken. Wiederholt alarmiert, wurden die Völker nervös und machten sich mehr und mehr mit dem Gedanken an einen Krieg vertraut.

In welchem Maße war diese Beunruhigung nun am Vorabend des großen europäischen Konflikts in Frankreich spürbar?

Die französische Regierung hatte sich um eine Verstärkung der militärischen Mittel bemüht: Als Antwort auf das deutsche Gesetz vom Juli 1913 erhielt sie den dreijährigen Militärdienst. Sie legte die Verpflichtungen der französisch-russischen Allianz weiter aus als in der Vergangenheit, indem sie 1912 der russischen Balkanpolitik ihre diplomatische Unterstützung gab. Schließlich hatte sie die Entente cordiale mit England zu verstärken versucht. Raymond Poincar, der Präsident der Republik, betrachtete den Konflikt mit Deutschland als eine ziemlich unausweichliche Fatalität, der sich Frankreich nicht entziehen könnte und dürfte. Gaston Doumergue, Ministerpräsident im Winter 1913/14, sagte, die deutsche Mentalität schaffe „ein ständiges Kriegsrisiko“. Aber die führenden Kreise wünschten den Frieden zu wahren: Sowohl der russische Ministerpräsident, der im Januar 1914 nach Paris kam, wie Oberst House, der persönliche Abgesandte von Präsident Wilson, und der britische Außenminister hatten das übereinstimmend feststellen können. Und die Regierung zeigte mit den Verhandlungen über ein Abkommen mit der deutschen Regierung zur Frage der Eisenbahnen in der asiatischen Türkei, daß sie bereit war, den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands außerhalb Europas Rechnung zu tragen.

Die öffentliche Meinung war 1913 durch nationalistische Strömungen aufgewühlt worden. Die Debatten über das Militärdienst-Gesetz hatten zu einer Pressekampagne geführt, in der die Möglichkeit eines französisch-deutschen Krieges oft erwähnt worden war. Dennoch stellten selbst deutsche Beobachter fest, daß die Mehrheit des französischen Volkes in dem Militärdienst-Gesetz nur ein „defensives Instrument“ sah und nicht in ein „kriegerisches Abenteuer" gestürzt werden wollte. Tatsache ist auch, daß bei den allgemeinen Wahlen vom 26. April und 10. Mai 1914 die Sozialisten und Radikalsozialisten, die eine Aufhebung des „Gesetzes der drei Jahre“ auf ihrem Programm hatten, eine große Mehrheit erhielten. Am Tage nach der Wahl hielt es der deutsche Botschafter in Paris für sicher, daß die französische Außenpolitik „ruhig und friedlich“ sein würde.

Tatsächlich schien im Frühjahr 1914 der Friede weniger bedroht als ein Jahr vorher. Am 12. Juni schrieb Jules Cambon, der französische Botschafter in Berlin: „Ich bin weit davon entfernt zu meinen, daß in diesem Augenblick irgend etwas in der Luft läge, was eine Bedrohung für uns wäre; ganz im Gegenteil.“ Doch am 28. Juni führt das Attentat von Sarajewo zu einem österreichisch-serbischen Konflikt, der vom 25. Juli an die Drohung eines europäischen Konflikt heraufbeschwört. Die französische Regierung, die im Juli 1914 mit Schwierigkeiten der Innenpolitik zu schaffen hat und die Lücken in den militärischen Vorbereitungen durchaus kennt, wünscht sicher nicht einen Krieg. Angesichts der Drohung eines europäischen Konflikts ist sie bereit, sich den Vermittlungsversuchen anzuschließen. Am 27. Juli nimmt sie ohne Zögern den Vorschlag einer internationalen Konferenz an, den Großbritannien — vergeblich — macht. Nur in dem Maße, wie die vitalen Interessen Rußlands durch die österreich-ungarischen Entscheidungen verletzt werden, gerät die französische Politik in Bewegung. Der russische Außenminister erklärt: „Rußland kann es nicht hinnehmen, daß Österreich-Ungarn Serbien zerschmettert und die beherrschende Macht auf dem Balkan wird." Die Sorge um die Aufrechterhaltung der französisch-russischen Allianz muß Frankreich dazu führen, diese russische Politik zu unterstützen. Aber andererseits ist sich die Regierung aller Risiken bewußt, die das Land eingehen würde, wenn es in einen großen Konflikt einträte, ohne die Unterstützung der englischen Flotte zu haben, die für die Sicherung der Seeverbindungswege unerläßlich ist. Die Haltung Rußlands und die Absichten Englands sind während der Juli-Krise die entscheidenden Besorgnisse der französischen Politik.

Die Militärkonvention von 1892 hatte die Verpflichtungen des französisch-russischen Bündnisses festgelegt, die seitdem nur Änderungen im Detail erfahren hatten. Frankreich hatte sich verpflichtet, im Falle einer deutschen Mobilmachung gegen Rußland sofort zu mobilisieren und mit den Waffen einzugreifen, wenn Deutschland Rußland angriff. Wie hat die französische Regierung nun diese Verpflichtungen in der Juli-Krise interpretiert?

Während die österreich-ungarische Regierung das an Serbien zu richtende Ultimatum vorbereitet, befindet sich der französische Staats-präsident in Rußland. In St. Petersburg richtet er an den österreich-ungarischen Botschafter am 21. Juli folgende Warnung: „Serbien hat im russischen Volk sehr enge Freunde, und Rußland hat einen Verbündeten: Frankreich. Was für Komplikationen sind da zu fürchten!“ Er bekräftigt öffentlich die „unerschütterliche Solidität des französisch-russischen Bündnisses“ Doch deutet nichts darauf hin, daß er die russische Regierung ermutigt hätte, Initiativen zu ergreifen. Und als drei Tage später die Bedingungen des österreichischen Ultimatums bekannt werden, beschränkt sich Ministerpräsident Rene Viviani darauf, der russischen Regierung bekanntzugeben, daß er bereit ist.dessen Aktion zu sekundieren — „im Interesse des allgemeinen Friedens".

Am 28 Juli, nach der österreichischen Kriegserklärung an Serbien, gibt die russische Regierung ihre Absicht bekannt, eine gegen Osterreich-Ungarn gerichtete Teilmobilmachung anzuordnen Am anderen Tag warnt der deutsche Botschafter in St. Petersburg den russischen Außenminister, daß Deutschland gegen

Rußland mobilisieren werde, wenn die russische Armee mit der Teilmobilisierung fortführe. Die Regierung des Zaren weicht vor dieser Drohung nicht zurück und entscheidet, die militärischen Vorbereitungen noch zu beschleunigen. Welche Haltung nimmt die französische Regierung dazu ein? Sie verspricht, den Bündnisverpflichtungen nachzukommen, das heißt, Rußland zu unterstützen, wenn es angegriffen wird. Sie stimmt den geheimen Mobilmachungsmaßnahmen der russischen Armee zu, empfiehlt seinem Verbündeten aber, keine Maßnahme zu treffen, die eine deutsche Gegenmaßnahme hervorrufen könnte, nämlich die Anordnung der allgemeinen Mobilmachung. Doch am Nachmittag des 30. Juli geht die russische Regierung über diese Ratschläge hinweg und befiehlt die allgemeine Mobilmachung, die am Morgen des 31. Juli bekannt-gegeben wird. Die deutsche Regierung antwortet mit einem Ultimatum, richtet gleichzeitig aber an Frankreich eine dringende Warnung des Inhalts: ob Frankreich versprechen könne, im Falle eines deutsch-russischen Krieges neutral zu bleiben? Die französische Regierung erfährt die russische Generalmobilmachung und den deutschen Schritt fast zu gleicher Zeit. Sie weigert sich, dem nachzugeben und entscheidet nun auch die allgemeine Mobilmachung in dem Augenblick, wo sie in Deutschland proklamiert wird.

Als die französische Regierung schließlich in der Nacht zum 2. August erfährt, daß Deutschland Rußland den Krieg erklärt hat, gibt sie ohne Zögern ihrem Verbündeten die Zusicherung der Waffenhilfe. Aber in dieser Nachtstunde vom 1. auf den 2. August, wo die französische Regierung der russischen ihre Entscheidung bestätigt, Rußland mit den Waffen zu unterstützen, weiß sie noch nicht, ob sie auf Großbritannien zählen kann.

Die britische Regierung hatte sich stets geweigert, die 1904 geschaffene Entente cordiale in ein Bündnis umzuwandeln. So hatte Großbritannien auch nicht zugesichert, Frankreich im Falle eines deutschen Angriffs zu Hilfe zu kommen, und verpflichtete sich im November 1912 lediglich, zu einer „Abrede" mit der französischen Regierung, wenn der Friede bedroht wäre. Diese Drohung stand nun nach der österreichischen Kriegserklärung an Serbien unmittelbar bevor. Dennoch waren die zahlreichen Schritte, die der französische Botschafter in London unternahm, vergeblich. Sir Edward Grey hat ihm am 29. Juli geantwortet, Großbritannien müßte nicht eingreifen, wenn der Konflikt auf Osterreich-Ungarn, Serbien und Rußland beschränkt bliebe. Am 30. Juli teilte er mit, der Augenblick sei noch nicht gekommen, die Möglichkeit einer britischen Intervention ins Auge zu fassen. Am 31. Juli wiederholte er, die britische Regierung könne ein Eingreifen nicht garantieren. Selbst am 1. August, nach dem deutschen Ultimatum an Frankreich, beharrte er darauf, jeder Zusicherung auszuweichen. Als sich der französische Staatspräsident unmittelbar an den König wandte, beschränkte sich Georg V. darauf zu antworten, daß „die Ereignisse sich so schnell wandelten, daß man nicht voraussehen könne, was geschehen werde“.

Von Berlin telegraphiert Jules Cambon am 31. Juli nach Paris: „Das Abenteuer ist so fürchterlich, daß es vor dem Eingehen des Risikos notwendig sein wird, die Sicherheit einer englischen Waffenunterstützung für Frankreich unmittelbar nach einem Angriff zu haben". Diese Zusicherung hatte die französische Regierung in dem Augenblick, als sie Rußland ihr endgültiges Versprechen gab, noch nicht bekommen. Erst am Nachmittag des 2. August verschwand die Ungewißheit. Die britische Regierung gab die Versicherung, daß, „wenn die deutsche Flotte in den Ärmelkanal eindringt oder die Nordsee durchquert, um Kriegshandlungen an der französischen Küste oder gegen die französische Handelsmarine zu unternehmen, die britische Flotte jeden in ihrer Macht stehenden Schutz gewähren wird". Da im übrigen der Eintritt der deutschen das Truppen in Großherzogtum Luxemburg klar anzeigt, daß die deutsche Regierung entschlossen ist, die belgische Neutralität zu verletzen, erklärt Sir Edward Grey dem französischen Botschafter, daß diese Verletzung für Großbritannien den casus belli bedeuten werde.

Am Abend des 2. August, vierundzwanzig Stunden vor der deutschen Kriegserklärung an Frankreich, achtundvierzig Stunden vor dem Kriegseintritt Großbritanniens, sind also die wichtigsten Entscheidungen gefallen: die französische Regierung ist entschlossen, in den Krieg einzutreten, sobald Deutschland Ruß-land angreift, und sie kann auf die britische Unterstützung rechnen.

Aufs Ganze gesehen, hat die französische Politik in dieser Krise keine Entscheidung getroffen, die geeignet gewesen wäre, die Risiken des Konflikts zu erhöhen. Sie hat sich darauf beschränkt, angesichts der von Österreich-Ungarn und von Deutschland ergriffenen Initiativen Position zu beziehen. Der entscheidende Faktor dabei war das Schicksal des französisch-russischen Bündnisses. Bei einem Verzicht auf die Unterstützung der russischen Balkan-Interessen wäre Frankreich Gefahr gelaufen, diese Allianz zu zerstören. Aber indem es der russischen Politik eine totale Unterstützung gab, geriet es in Gefahr, in den Krieg hineingezogen zu werden, falls die Mittelmächte entschlossen waren, ihren Aktionsplan gegen Serbien vollständig auszuführen. Tatsächlich hat die französische Regierung der russischen zur Vorsicht geraten, doch setzte sich der Verbündete darüber hinweg. Hätte die französische Regierung, als sie der vollendeten Tatsache der russischen General-mobilmachung gegenüberstand, erklären können, sie bleibe neutral, weil Rußland ihre Ratschläge in den Wind geschlagen hatte? Die französische Regierung fürchtete, wenn sie diesen Weg einschlagen und als Zuschauer der Niederlage Rußlands beiwohnen würde, einem siegreichen Deutschland isoliert und ratlos gegenüberzustehen. Es ist diese Hauptsorge, nämlich die Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichts als eine entscheidende Bedingung für die Sicherheit Frankreichs, die seine Entscheidungen bestimmt hat.

Diese Politik hat im Juli 1914 die Zustimmung der öffentlichen Meinung gefunden. Es trifft zu, daß in Frankreich wie bei den anderen Großmächten diese öffentliche Meinung keinen Antrieb gegeben hat. Doch sobald die Drohung eines Konflikts ernst geworden war, hat sie sich „resigniert und entschlossen“ gezeigt. Diese Worte gebrauchte der deutsche Botschafter in Paris in einem Bericht vom 31. Juli. Die meisten Franzosen waren sich bewußt, daß die internationale Krise ihren Grund in dem Willen Osterreich-Ungarns hatte, Serbien zu vernichten, und daß Deutschland seinen Verbündeten unterstützt hatte. Sie betrachteten das Bündnis mit Rußland als einen entscheidenden Schutz. Die allgemeine Zustimmung war fast einstimmig. Die Gewerkschaftsführer, die in den voraufgegangenen Jahren oft wiederholt hatten, daß die Arbeiterklasse die Pflicht haben würde, auf einen Mobilmachungsbefehl mit einem Generalstreik zu antworten, haben am 29. Juli auf eine direkte Aktion gegen den Krieg verzichtet. Jean Jaures, der Sozialistenführer, hat zwar am 31. Juli, wenige Stunden vor seiner Ermordung, in der Unterhaltung sein Bedauern darüber geäußert, daß sich die französische Regierung durch eine „russische Intrige“ hin-schleppen lasse, verzichtete aber auf die geplante Massenveranstaltung gegen den Krieg. Warum geben diese Führer der Arbeiterbewegung ihr Programm auf? Weil sie die Pleite der II. Internationale konstatieren mußten, aber auch, weil sie den Elan des Nationalgefühls in der Arbeiterklasse sehen. Sie sind sich auch bewußt, daß sie von diesem Elan erdrückt würden, wenn sie versuchten, sich dem entgegenzustemmen. Das Gewerkschaftsblatt erklärt am 2. August, daß dieser Krieg Frankreich durch Österreich-Ungarn aufgezwungen worden sei. Wie die deutschen Sozialdemokraten am gleichen Tage stimmen die französischen Sozialisten am 4. August im Parlament einmütig für die Kriegskredite.

Großbritannien

Im Juli 1914 beunruhigte die Gefahr eines Krieges das britische Volk und die britische Regierung. Aber man befürchtete nicht einen europäischen Krieg, sondern einen Bürgerkrieg in Irland. Die „Home Rule", die Selbstregierung für Irland, sollte Gesetz werden. Ulster wollte daran nicht teilhaben. Die Männer von Ulster bewaffneten sich, um dieser Home Rule Widerstand zu leisten. Die irischen Nationalisten bewaffneten sich, um sie zu erzwingen. Auf die britische Armee in Irland konnte man sich nicht verlassen. Erst im März 1914 hatten viele ihrer Offiziere erklärt, sie wollten lieber entlassen werden als etwas gegen Ulster tun. In London konferierten die führenden politischen Persönlichkeiten, um ein Übereinkommen über Ulster zu erreichen. Es gelang ihnen nicht. Am 24. Juli ging die Konferenz erfolglos auseinander. Welch schreckliche Aussicht. Alle Augen waren auf die nächsten Ereignisse in Irland gerichtet. Niemand in England hatte Zeit, darüber nachzudenken. was sich auf dem Kontinent ereignete. Außerdem, warum sollte man? Die außenpolitische Situation schien ruhiger zu sein als noch vor kurzem. Die Briten hatten sich mit der Existenz einer großen deutschen Flotte abgefunden. Sie hatten festgestellt, daß sie mehr Schiffe bauen konnten als die Deutschen, auch ohne hohe Steuern oder wirtschaftliche Schwierigkeiten. Zwischen Großbritannien und Deutschland bestanden freundschaftliche Beziehungen. Die beiden Länder waren gerade erst übereingekommen, sich die portugiesischen Kolonien zu teilen.

Zusammen mit Frankreich hatten sie sich geeinigt, zur Finanzierung der Bagdadbahn beizutragen. Es sah so aus, als sei eine neue Partnerschaft der drei zivilisierten, hochentwickelten Mächte im Entstehen.

Großbritannien, Frankreich und Deutschland würden die Türkei neu beleben und sie zu einer festen Schranke gegen Rußland im Nahen Osten machen. Rußland wäre dann iso-B liert und harmlos. Das war eine angenehme Aussicht für die britische Politik. Deutschland hatte viele Freunde in England, Rußland nur wenige. Großbritannien war hauptsächlich durch Frankreich in ein Abkommen mit Ruß-land — die Entente — hineingezogen worden. Das lag der britischen Politik zugrunde. Die meisten Engländer wollten die Unabhängigkeit Frankreichs aufrechterhalten. Sie hatten Frankreich in den zwei Marokko-Krisen zur Seite gestanden. Außenminister Grey sagte den Franzosen im April 1914: „Falls Deutschland zu wirklich aggressiven und bedrohlichen Aktionen gegen Frankreich schreiten sollte, wäre es möglich, daß die öffentliche Meinung in Großbritannien die Regierung berechtigt, Frankreich zu helfen.“ Mit Rußland war es ganz anders. Die britische Regierung würde sicherlich nicht wegen Rußland in den Krieg ziehen, wie die bosnische Krise 1908 gezeigt hatte. Die Regierung in London wollte, daß Rußland Frankreich helfe und nicht umgekehrt. Genau so aber entwickelte sich die Juli-Krise von 1914, und deshalb stand die britische Regierung so hilflos beiseite. Sie wollte keine französische Niederlage, aber genausowenig wollte sie für etwas in den Krieg ziehen, was man als einen Streit „weit hinten in der Türkei" bezeichnete. Es war eine schreckliche Wahl zwischen lauter Übeln. Die britische Regierung vermied diese Wahl, indem sie die Augen schloß.

Die Ermordung von Franz Ferdinand erregte in England wenig Interesse. Die Leute sagten sich: das ist typisch für Serbien, diese Brutstätte für Attentäter.

Man erwartete, daß Osterreich-Ungarn Serbien irgendwie bestrafte, und man nahm an, daß im Fall eines Streites zwischen einer Großmacht und einem kleinen Land natürlich der Schwächere nachgeben müßte. Während der Wochen, in denen das österreich-ungarische Ultimatum ausgearbeitet wurde, enthielt sich die britische Regierung einer Stellungnahme. Außenminister Grey erfuhr die Bedingungen des Ultimatums am 24. Juli. Er las sie seinen Kollegen vor. Die serbische Antwort wurde am nächsten Tag, am 25. Juli, erwartet. Das war ein Samstag. Grey war nach den langen Konferenzen über Ulster sehr abgespannt, übers Wochenende fuhr er nach Hampshire zum Angeln. Als er am Montag, dem 27. Juli, morgens nach London zurückkehrte, erfuhr er, daß Rußland sich hinter Serbien gestellt hatte und mit der Mobilisierung drohe. Er kam auf den Gedanken, eine Art europäische Vermittlung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien vorzuschlagen. Aber ehe er diese Idee in die Tat umsetzen konnte, erklärte ÖsterreichUngarn, von Deutschland dazu veranlaßt, Serbien den Krieg. Das geschah absichtlich, um jegliche Vermittlung zu verhüten. Vor dem 12. August konnte die österreich-ungarische Armee nicht kriegsbereit sein. Auf jeden Fall vereitelte e Greys ziemlich schwachen Versuch.

Danach tat er nichts. Grey neigte immer dazu, sich Zeit zu lassen, in der Hoffnung, daß die Ereignisse selbst ihm seine Politik vorschreiben würden. Was konnte er auch tun? Er wollte nicht erklären, Großbritannien würde sich heraushalten. Das würde den Einfluß seines Landes als europäische Macht zerstören. Er konnte auch nicht erklären, Großbritannien werde Frankreich und Rußland unterstützen, selbst wenn er das gewollt hätte. Die öffentliche Meinung hätte es nicht zugelassen. In England wollte niemand, auch nicht einmal unter den Konservativen, Rußland unterstützen.

Und Grey war ja kein Konservativer. Er war Außenminister in einer liberalen Regierung, einer Regierung, die auf die Labour-Wähler und die irischen Stimmen angewiesen war. Viele Liberale, alle Iren und alle Labour-Anhänger waren gegen den Eintritt in einen europäischen Krieg, aus welchem Grunde auch immer. Wenigstens dachten sie das. Nach Greys Überlegungen war es wichtiger, die Einheit der Liberalen zu erhalten als Politik zu machen, auch wenn er sie selbst hätte machen können. Weder ihm noch irgend jemand anders kam der Gedanke, daß Eile geboten sei. Er dachte, auf dem Höhepunkt der Krise gäbe es noch genügend Zeit — wie ja die Vergangenheit gezeigt hatte.

Aus diesem Grunde rührte sich in England bis Ende Juli nichts. Am 30. Juli besuchte eine Abordnung von Bankiers den Schatzkanzler Lloyd George und verlangte von ihm, Großbritannien um fast jeden Preis aus dem Krieg herauszuhalten. Liberale Parlamentsabgeordnete kamen zu einer Konferenz zusammen und entschieden sich für die Neutralität. Auf die Bitte Greys wurde ihre Entscheidung nicht veröffentlicht. Während dieser ganzen Woche wurde die europäische Krise im Unterhaus nicht einmal erwähnt. Das Parlament war zu sehr damit beschäftigt, das Milch-und Molkerei-Gesetz zu diskutieren.

Am Freitag, dem 31. Juli, war der kommende Krieg klar erkennbar. Rußland machte mobil. Aber definierte Grey nun die britische Politik? Nein. Er ersuchte die deutsche Regierung, einen vernünftigen Vorschlag zu machen. Und dann wartete er darauf. Einen Routine-Schritt unternahm er jedoch an diesem Tag. Er fragte bei der deutschen und der französisdien Regierung an, ob sie die Neutralität Belgiens respektieren würden. Genau das gleiche hatte die britische Regierung im Jahr 1870 getan, bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges. Und damals hatten sowohl Deutschland als auch Frankreich die Frage bejaht. Das hatte Großbritannien in die Lage versetzt, sich aus dem Krieg herauszuhalten. Das erwarteten nun die Kriegsgegner im Kabinett — und sie bildeten die Mehrheit — auch wieder in diesen Juli-Tagen des Jahres 1914. Wir müssen uns an etwas erinnern, was damals niemand wußte: daß nämlich der deutsche Generalstab einen festen, unabänderlichen Plan hatte, durch Belgien zu marschieren. Wenn man sich das klar macht, wird es vielleicht verständlich, warum die meisten Engländer dachten, ihr Land würde nicht in die Feindseligkeiten verwickelt.

Am darauffolgenden Tag, am Samstag, dem 1. August, erklärte Deutschland Rußland den Krieg. In England schien sich die Stimmung gegen den Krieg zu verhärten. Eine Neutrality League, ein Neutralitätsbund, wurde gegründet, und die Liberalen traten ihm in Scharen bei. In Cambridge unterzeichneten 80 Professoren einen Brief, der sich für die Neutralität aussprach. Auch Grey wurde von dieser Stimmung erfaßt. Er erklärte dem deutschen Botschafter, Großbritannien bleibe neutral, wenn Deutschland Frankreich nicht angreife. Welch eine verpaßte Gelegenheit für Deutschland. Die Franzosen waren im Namen Rußlands zur Offensive verpflichtet. Daher hätten die Deutschen lediglich ein oder zwei Tage zu warten brauchen, um freie Hand in Europa zu bekommen.

Großbritannien wäre ja neutral geblieben. Statt dessen erhielt Frankreich ein deutsches Ultimatum. Die Franzosen baten um britische Hilfe. Das Gesuch wurde nicht beantwortet. Grey sagte, er müsse abwarten, wie sich das Kabinett, das Parlament und die öffentliche Meinung entschieden.

Am Sonntag, dem 2. August, mußte das Kabinett schließlich eine Entscheidung treffen. Lord Morley, der alte Radikale und Anhänger Gladstones, sprach zuerst. Er war dafür, der deutschen Flotte nicht zu gestatten, die Franzosen im Kanal anzugreifen — „sozusagen auf unserer Türschwelle", wie er sich ausdrückte. Wenn daher Deutschland eine entsprechende Warnung beherzige, könne Großbritannien neutral bleiben. Das Kabinett stimmte dem zu. Das war also kein Entschluß, Frankreich zu helfen, sondern das genaue Gegenteil, und er sollte eine Hilfe für Frankreich vermeidbar machen. Die Deutschen waren natürlich einverstanden: sie hatten keine Absicht, ihre Flotte in den Kanal zu schicken. Großbritanniens Neutralität schien nichts mehr im Wege zu stehen. Auf dem Trafalgar Square in London und in fast jeder Großstadt wurde gegen den Krieg demonstriert. Aber noch am Abend forderten die Deutschen die Erlaubnis, durch Belgien zu marschieren. Die belgische Regierung bat Großbritannien um diplomatische Unterstützung.

Am nächsten Morgen war das Kabinett bereit, sie zu gewähren. Aber niemand überlegte sich, daß man sich damit für den Krieg entschieden hatte. Man bildete sich immer noch ein, Deutschland werde Belgien in Frieden lassen, wenn Großbritannien darum bitte. Aber plötzlich gab es einen Stimmungsumschwung, überall waren Menschenmengen. Vor dem Buckingham Palast jubelten sie dem König zu und riefen: „Wir wollen Krieg!" Mit Bestürzung vergegenwärtigten sich die Minister, daß sie unbeliebt werden würden, wenn sie sich dem Krieg widersetzten. Morley jedoch änderte seine Meinung nicht. Er betrachtete den Kriegseintritt als einen Fehler. Er verließ das Kabinett ohne Warnung, so wie er auch im Jahr 1899 nur eine Protestrede gegen den Burenkrieg gehalten hatte. Danach schwieg er. Lloyd George, der sich ebenfalls gegen den Krieg gewandt hatte, winkte den jubelnden Massen zu, statt sie auf ihren Fehler hinzuweisen. Am Nachmittag erklärte Außenminister Grey dem Unterhaus, was sich bisher ereignet hatte. Sogar jetzt sprach er nicht aus, daß sich das Kabinett für den Krieg entschieden habe, und das stimmte auch. Das Kabinett hatte sich lediglich dafür ausgesprochen, die Deutschen zu ersuchen, Belgien in Ruhe zu lassen.

Nicht einmal jetzt — am 3. August — hatte es Grey eilig. Er unterließ es, in Deutschland eine Botschaft wegen Belgien zu überreichen, obwohl er genug Zeit dazu hatte. Er tat es erst am nächsten Morgen um 9. 30 Uhr — und auch dann handelte es sich nur um einen schwachen Protest ohne zeitliche Begrenzung und ohne jegliche Kriegsandrohung. Dieser 4. August war ebenfalls ein Feiertag. Die Menschenmengen waren größer und ungezügelter. Vielleicht wurde Grey sich darüber klar, daß die liberalen Minister und Parlamentsabgeordneten von der allgemeinen Erregung mit fortgerissen werden würden. Vielleicht geschah das gleiche auch mit ihm selbst. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, daß er ein Ultimatum an Deutschland ausarbeitete und es am Nachmittag um 2 Uhr abschickte, nachdem er es dem Premierminister Asquith gezeigt hatte. Bis Mitternacht wollte er eine Antwort haben. Andernfalls werde Großbritannien in den Krieg eintreten. Das schien endgültig zu sein. Aber Grey und die anderen Minister glaubten noch nicht daran. Sie hofften oder fürchteten, Deutschland werde schließlich doch antworten. Bis zum allerletzten Augenblick warteten sie auf die Antwort, die niemals kam. Warteten vielleicht diejenigen Minister, die eigentlich gegen den Krieg waren, auch darauf, daß sich die öffentliche Erregung bis Mitternacht legen werde? Wieder können wir es nicht sagen. Jedenfalls kam keine Antwort. Und die Menge jubelte weiter. Großbritannien erklärte den Krieg.

An der Oberfläche war es eine rationale Politik: Großbritannien trat nur zögernd in den

Krieg ein, und zwar für Belgien. Aber es gab auch beunruhigende irrationale Elemente: die jubelnden Menschenmassen, die sich steigernde Erregung. Angenommen, der 3. und 4. August wären keine Feiertage gewesen. Angenommen, die Menschenmenge hätte gearbeitet, statt sich in den Straßen zu versammeln. Hätte die britische Politik dann anders ausgesehen? Wäre Morley zurückgetreten? Hätte Lloyd George geschwiegen? Das Studium der Dokumente vermittelt eine Version der Geschichte. Eine andere Version — und ihr Studium ist ungleich schwieriger — stützt sich auf die Gefühle und Gedanken der Menschen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ernst Deuerlein, Dr. phil., Professor für Geschichte an der Phil. -Theol. Hochschule Dillingen/Donau, geb. 1918 in Rückersdorf bei Nürnberg. Adam Wandruszka, Dr. phil., o. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Köln, geb. 1914 in Lemberg. Wladimir Dedijer, früher Professor für Neuere Geschichte an der Universität Belgrad, seit 1959 Gastprofessor an britischen, amerikanischen und schwedischen Universitäten, z. Z. in Harvard. Wladimir M. Chwostow, Direktor des Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Pierre Renouvin, Professor für Geschichte und Politische Wissenschaft an der Sorbonne, geb. 1893 in Paris. Alan John Percival Taylor, Professor für Internationale Geschichte an der Universität Oxford, Fellow of Magdalen College, Oxford, geb. 1906 in Birkdale/Lancs.