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Osteuropäische Geschichtsrevision im Zeichen des Polyzentrismus | APuZ 32/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32/1964 Artikel 1 Die sowjetische Geschichtsschreibung im Dienst des Chauvinismus Osteuropäische Geschichtsrevision im Zeichen des Polyzentrismus

Osteuropäische Geschichtsrevision im Zeichen des Polyzentrismus

Harald Laeuen

Die osteuropäischen Staaten — mit Ausnahme der Sowjetunion — rüsten zu den 20-Jahr-Feiern ihres Bestehens. Hinter der vorrückenden Roten Armee bildeten sich im Herbst 1944 Regierungen, die von Kommunisten geführt oder kontrolliert wurden. Das war so in Lublin, Kaschau und Drebrecen. In Bukarest entledigte sich König Michael des Marschalls Antonescu und trat auf die Gegenseite über. In Sofia brach das Regime mit dem Einmarsch der Sowjetrussen zusammen. Jugoslawien geriet rasch gänzlich in die Hand der Tito-Partisanen. Hier leisteten die Sowjets im wesentlichen nur Hilfestellung in der letzten Phase. Jugoslawien hat daher unter den Staaten, die sich — aus Überzeugung oder Notwendigkeiten Rechnung tragend — um das Moskauer Zentrum scharten, von Anfang an eine Sonderstellung eingenommen. Es hat sich nie mit einer Verherrlichung der sowjetischen „Befreierrolle", wohl dagegen mit einer legendären Ausschmückung der eigenen Partisanen-taten befaßt.

Der sowjetische Eroberer, der Machtpolitik und politisches Sendungsbewußtsein ohne innere Hemmungen miteinander verband, hat den Völkern Ostmitteleuropas nicht nur seine wirtschaftliche und soziale Ordnung aufgezwungen, er hat ihre historischen und kulturellen Vorstellungen umgekehrt, um sie aus dem geistigen Zusammenhang mit Europa zu lösen. Schärfer ausgedrückt kann man sagen: er hat ihnen das nationale Rückgrat gebrochen. Als Mittel dazu diente vornehmlich eine Geschichtsumschreibung, für die sowjetische Historiker die Leitlinien angaben. Das aus dem Marxismus abgeleitete Schema: Urgesellschaft, Sklavengesellschaft, Feudalgesellschaft, kapitalistische Gesellschaft und sozialistische Gesellschaft bot gerade wegen seiner Primitivität der Macht, die nun die Geschicke der Osthälfte unseres Kontinents bestimmte, genügend Interpretationsmöglichkeiten, um sich selber als Spitzenreiter des Fortschritts und die Gefolgschaft der anderen Völker als historisch begründet hinzustellen.

Sowjetkommunistische Interpretation der osteuropäischen Geschichte

Wer wissen will, wie sich der Vorgang im einzelnen abgespielt hat, kann das heute in dem deutschen Dokumentarband „Polen und Deutschland“ nachlesen, der von dem polnischen Historikerkongreß 1950 in Breslau handelt Damals sind die Grundlagen für die Geschichtskonzeption in Polen geschaffen worden, die ein Jahrzehnt später bei den Tausendjahrfeiern des Staates offizielle Geltung erhalten sollten. In der Einleitung des Dokumentarbandes schildert der Herausgeber Herbert Ludat, daß die polnische Entwicklung, wie die Geschichte aller Völker im Sowjet-bereich, als ein sozial-ökonomischer Prozeß aufgefaßt wird, „in dem das Aufsteigen der siegreichen Klasse der kommenden Epoche das Gepräge gibt durch die sich vollziehenden Veränderungen der Produktionsverhältnisse". Die polnische Geschichtsschreibung, für die jahrhundertelange Auseinandersetzungen mit Moskau eine zentrale Bedeutung besaßen, erlebte unter dem neuen Blickwinkel erstaunliche Wandlungen. Ludat schreibt: „Der Klassenkampf vertritt die Rolle des Motors: er ist nach einem Worte Lenins der wirkliche Antrieb der Geschichte. Das polnische und das russische Volk treten ganz unabhängig voneinander aus dem Dunkel einer vieltausendjährigen slawischen Vergangenheit seit dem 6. und 7. Jahrhundert sofort in vorfeudalen Formen ins Leben. Die Stufe des polnischen Feudalismus reicht bis zum Jahre 1864 und fällt damit tast auf das Jahr genau mit dem Abschluß der russischen Feudalperiode zusammen.

Von diesem Zeitpunkt an datiert die bürgerlich-kapitalistische Stufe, die in Rußland bekanntlich mit der Oktoberrevolution endet, in Polen jedoch, durch das Eingreifen der kapitalistischen Mächte verzögert, erst mit dem Aufhören der deutschen Okkupation und der Befreiung durch die Rote Armee. Als Grenze zwischen den Zeiten, als Meilenstein auf dem Weg des polnischen Volkes in die letzte höchste Stufe der Menschheit hat man, auch das ist natürlich höchst bezeichnend, den Gründungstag des sogenannten Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung, den 22. Juli 1944. gewählt, womit das Verdienst dieser fortschrittlichen Kräfte im Ringen um die Freiheit des Sozialismus seine geschichtliche Anerkennung erhalten soll. Das ist der Rahmen, innerhalb dessen nun die polnischen Historiker den Stoff der polnischen Geschichte neu zu ordnen und zu interpretieren haben.“ Polen ist hier nur ein Beispiel. Die gewaltsamen Umdeutungen des Geschichtsverlaufs haben ebenso Tschechen, Ungarn und Rumänen betrotlen, von den baltischen Völkern, die wieder dem Sowjetstaat einverleibt wurden. nicht erst zu reden Das neue Geschichtsbild lieferte das geistige Fundament für die Umgestaltung der inneren Verhältnisse nach sowjetischem Vorbild; es trug dazu bei, ein Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber dem . großen Bruder" zu erzeugen, der in der Stalinzeit mit der Ausbeutung des Satellitenraumes nicht zimperlich war und dazu infolge seiner immer wieder bewunderten „Überlegenheit"

und „Fortschrittlichkeit" gewissermaßen ein moralisches Recht besaß. Das neue Geschichtsbild band die betroffenen Völker fest an das sowjetische Imperium, die neue „Lichtquelle der Menschheit“.

Die Ernüchterung, die mit der Entstalinisierung über die kommunistische Welt gekommen ist, hat auch vor der Geschichtsumschreibung nicht halt gemacht. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß dieser Prozeß jetzt im Dienste der neuen Machthaber steht. Anders ausgedrückt; durch die Berichtigung früherer Fälschungen und Retuschen zugunsten der Personen, die heute auf der Bühne stehen, wird Geschichtsschreibung als Ganzes noch nicht wahrer und ehrlicher. So wird zum Beispiel in den Neufassungen der offziellen sowjetischen Parteigeschichte ständig mehr die Autorität Lenins auf Kosten Stalins hervorgehoben, Stalin mit allen Fehlern der Vergangenheit persönlich belastet, während die Partei niemals von der richtigen Linie abgewichen sei Nicht ohne komische Züge ist das krampfhafte Bemühen, die militärischen Verdienste Chruschtschows zu erhöhen, hingegen die Marschall Shukows zu verkleinern. Beispiele für diese Art von „Parteilichkeit“ bei der Umschreibung der Geschichte ließen sich nicht nur aus dem Bereich der Sowjetunion beibringen.

Entstalinisierung der Geschichtsschreibung

Im Zusammenhang mit den Zwanzig-Jahr-Feiern ist wichtig, daß die Entstalinisierung auch der nationalen Geschichte der ostmitteleuropäischen Völker zugute kommt, wenigstens innerhalb bestimmter Grenzen In der Tschechoslowakei sind Bestrebungen im Gange, den Gründungstag der ersten tschechoslowakischen Republik im Jahre 1918, der als „bourgeoise“ Angelegenheit mit Nichtachtung gestraft wurde, wieder amtlich zum Feiertag zu erklären. Nach der bisher offiziellen Lesart verdankt die Republik ihre staatliche Entstehung nur der russischen Oktoberrevolution. Das Prager Parteiorgan „Rud Prävo'suchte einen Ausweg dadurch zu finden, daß es entdeckte, der am 28 Oktober von Masaryk begründete Staat sei schon am 14 Oktober durch einen Generalstreik von „linken Funktionären der Arbeiterbewegung" entstanden Auch Benesch wird nicht mehr so total negativ be-urteilt wie seit 1948. Die Tschechen und Slowaken, die im Zeiten Weltkrieg in den Reihen „imperialistischer“ Armeen im Westen gekämpft haben, werden allmählich in der Literatur besser behandelt; es wird anerkannt, daß ihr Kampf der Niederschlagung des Faschismus gegolten hat. Was die tschechische Widerstandsbewegung anbetrifft, so wird die Konstruktion einer Identität von Widerstand und Kommunismus nicht mehr aufrechterhalten. Auf einer Tagung des Instituts für Parteigeschichte in Prag im Juni 1963 sagte der Parteiideologe Gustav Bares, man müsse die bisherigen Scheuklappen fortwerfen und erkennen, daß neben den Widerstandsgruppen der Partei auch Benesch-Anhänger und rechtsstehende Gruppen in der nationalen Befreiungsbewegung tätig waren und diese nicht auf die kommunistische Bewegung reduziert werden dürfe

Diese Erklärung wurde abgegeben, nachdem auf einer Mailänder Konferenz von Historikern der Widerstandsbewegung (März 1961) den Tschechen vorgehalten worden war, die bewegende Kraft ihres Widerstandes sei gar nicht die Arbeiterschaft, sondern die Intelligenz gewesen Seitdem sind Historiker in Prag eifrig am Werk, um diese Behauptung wenigstens abzuschwächen.

Auch aus anderen Ländern ließe sich berichten, daß der Beitrag der Nichtkommunisten am Kampf um die nationale Befreiung um einiges gerechter gewürdigt wird, doch wird man einschränkend sagen müssen, daß die Entstalinisierung auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft im allgemeinen nicht tief greift, weil überall das Schema der Betrachtung und Bewertung aller früheren Epochen nach Klassenkämpfen und Produktionsverhältnissen erhalten geblieben ist. Aus dieser geistigen Gefangenschaft hat es keine Befreiung gegeben. Es ist tragisch, mitunter zu beobachten, wie in exakt wissenschaftlichen und ein gutes Niveau haltenden Einzeluntersuchungen der geradezu verzweifelte Versuch unternommen wird, die Tradition der objektiven Prüfung und Sichtung der Tatbestände peinlich zu wahren, ohne der offiziellen Geschichtskonzeption direkt entgegenzutreten.

Eine wohl einzig dastehende Art der Geschichtsrevision hat 1963 in Preßburg Aufsehen erregt. Der slowakische Schriftsteller Ladislav Mnacko, ein überzeugter Kommunist, war in den ersten Ngchkriegsjahren Gerichtsberichterstatter. Als solcher nahm er auch an politischen Prozessen teil. In den letzten Jahren ist Mnacko einer der Vorkämpfer innerhalb des Slowakischen Schriftstellerverbandes für Rehabilitierungen und größere kulturelle Freiheiten gewesen Er kam auf die Idee, einen Teil seiner Prozeßberichte in der Stalin-Ära über angebliche Volks-und Parteifeinde umzuschreiben, wahrheitsgemäß lügnerische Anschuldigungen und erpreßte . Geständnisse' zu schildern, über die man heute Bescheid weiß.

Daraus wurde ein kleines Buch mit dem Titel «Verspätete Reportagen“, das in Preßburg, trotz verhältnismäßig hoher Auflage, im Umsehen ausverkautt war. In der Mako-Schrift, die vorsichtshalber — so muß man wohl annehmen — nur die Schicksale kleiner Parteifunktionäre behandelt, steht der Satz: . Die Menschen schweigen heute nicht mehr wie einst. Heute weiß ein Freund den länderen] Freund in Schutz zu nehmen. Die Menschen sind von verschiedenen Illusionen ernüchtert und sich dessen bewußt, daß man sich gegen Unrecht wehren müsse, sonst trifft es mit der Zeit einen jeden.“ Diese Feststellung ist als Selbstbekenntnis eines alten Parteimitgliedes besonders bemerkenswert. Mnacko wird allerdings wohl ein Einzelfall bleiben, auch wenn weiter Rehabilitierungen der Opfer der Schauprozesse verkündet werden.

Aufwertung der nationalen kommunistischen Parteien

Eine politisch wirklich wichtige Geschichtsrevision vollzieht sich in einem anderen Rah-men, nämlich in dem der Parteigeschichts-

Schreibung. Dabei sind nicht rechtliche, humanitäre oder moralische Erwägungen maßgebend, sondern die Absicht, den Rang der kommunistischen Parteien Ostmitteleuropas gegenüber der sowjetischen Partei aufzubes-sern. In diesem Falle wird sogar eine Kritik an Anschauungen gewagt, die von Moskau vertreten worden sind. An drei Beispielen soll diese noch nicht lange zu beobachtende Tendenz erläutert werden: an der Neuein-Schätzung des Slowakischen Aufstandes von 1944, der Rolle der rumänischen Kommunistischen Partei im Jahre 1944 und der ungarischen Parteikritik an dem Film „Besitzergreifung", der das Ende der Horthy-Ära behandelt. Es mag auffallen, daß es in diesem Rahmen keine besondere polnische Problematik gibt, aber die polnische Widerstandsbewegung hatte eine Aufwertung durch Legendenbildung nicht nötig. Ihre Taten waren zu bekannt, als daß sie auch von den Sowjets hätten übersehen werden können. Der Streit ging hier nur darum, wem mehr Verdienst zuzumessen war, den kommunistischen oder nationalen Widerstandsgruppen.

Die Warschauer Parteigeschichtsschreibung verfolgt bis heute die Tendenz, die Rolle des kommunistischen Flügels auf Kosten des nationalen zu vergrößern und hervorzuheben, daß die Kommunisten allein die „richtige" Politik getrieben hätten. Aber das ist eine innerpolnische Angelegenheit, die das Verhältnis zwischen Polen und der Sowjetunion nicht berührt. In den heiklen Punkten: Okkupierung Ostpolens durch Stalin auf Grund des Paktes mit Hitler, Passivität der Rokossowski-Armee an der Weichsel während des Warschauer Aufstandes und Katyn-Morde, vertritt das Regime weiterhin die sowjetische Lesart.

Der polnischen Partei war es genug, als anläßlich des XX. Parteitages in Moskau der Beschluß über die Auflösung der alten polnischen KP durch die Komintern verurteilt und damit der Partei ermöglicht wurde, sich zu ihrer eigenen Vergangenheit zu bekennen. Die „Gleichberechtigung" der Parteien hat Gomulka seit 1956 stets verlangt und auf seine Weise praktiziert.

Auch in der Tschechoslowakei ist in der Einstellung zur Sowjetunion in der Nach-Stalinzeit im-Grunde keine Änderung eingetreten, es sei denn, man sieht in der bei einem Kolloquium von Historikern in Prag 1963 erhobenen Forderung an Moskau, endlich die Archive über die Zeit des Münchener Abkommens zu öffnen, ein Zeichen für einen Klimawechsel Die Feststellung, nichts aus der sowjetischen Presse von 1938 lasse darauf schließen, daß der Kreml bereit gewesen sei, einen Krieg zu riskieren, um die Tschechoslowakei zu retten, traf allerdings ein Franzose.

Der slowakische Aufstand von 1944

Die wichtigste Revision der Geschichte berührt das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken. Den Ausgangspunkt bildete dabei eine lange und leidenschaftliche Diskussion über den slowakischen Aufstand von 1944 Schon das 15. Jubiläum dieses Aufstandes war 1959 auffällig begangen worden. Von Entstalinisierung konnte zwar damals in der Tschechoslowakei kaum die Rede sein, aber es schien ungefährlich, den Slowaken durch die Geburt des Mythos eines „Nationalaufstandes" einen Getallen zu tun und dazu Sowjetgeneräle, die an den Kämpfen beteiligt gewesen waren, einzuladen. Im August 1944 hatten sich Tausende von Slowaken in der Mittelslowakei, wo fast keine deutschen Truppen standen, den dort schon lange operierenden sowjetischen Partisanen angeschlossen. Darunter haben sich überzeugte Kommunisten, aber auch, wie Ladislav Hory ausführt, der als Verbindungsoffizier zwischen ungarischen und deutschen Stellen einen gu-ten Überblick besaß, enttäuschte und erschrockene Nationalisten befunden, „welche die späteren politischen Entwicklungen fürchteten oder sich während der deutschen Besetzung und im ungarischen Landesteil durch Kollaboration kompromittiert hatten" Audi gute Patrioten und Idealisten gehörten zu den Partisanen, die für die Sache der unabhängigen Tschechoslowakei ihr Leben einzusetzen bereit waren. Ein „Slowakischer Nationalrat“ übernahm die politische Führung. Die regulären slowakischen Truppen in Neusohl entschlossen sich erst dann, zu den Aufständischen überzugehen, als ihnen durch Rundfunk übermittelt wurde, die Deutschen hätten den Staatspräsidenten Tiso gefangengesetzt Geflohene Gefangene, Fremdarbeiter und deutsche Deserteure vermehrten die bunten Reihen der Rebellen. Anfänglich erfolgreich, wurde im September und Oktober die Erhebung von deutschen Truppen niedergekämpft; die Führung floh in die Tatra. Im November waren dann aber die deutschen Rückzugsbewegungen so weit gediehen, daß auch die Slowakei aufgegeben werden mußte. Die Rote Armee drang ein, in Kaschau bildete Benesch die erste Nachkriegsregierung.

Die Prager Geschichtsschreibung hat später dafür gesorgt, die Bestrebungen des „Nationalrats" als bürgerlich-nationalistisch und separatistisch hinzustellen. Slowakische Kommunisten hatten — woran nicht gern erinnert wird — in Moskau den Anschluß des Landes an die Sowjetunion angeboten. Angesichts der neuen Entstalinisierungswelle, die 1963 besonders kräftig die Slowakei erfaßte, änderte sich die Einstellung zum Aufstand von 1944. Historiker bekannten jetzt, daß sie von Parteiseite falsch unterrichtet worden seien Die Slowakei, die verdächtig war, sich als übrigens von Moskau zunächst mit Sympathie betrachteter Satellit Hitlers wohlgefühlt zu ha-ben, hatte sich mit dem Aufstand rein gewaschen, hatte an Widerstandsgeist die tschechischen Länder überflügelt. 1963 ist der Aufstand in großer Form gefeiert worden. Der ZK-Sekretär der slowakischen KP Dubcek pries ihn als „größte nationale und soziale Erhebung in der ganzen Geschichte des slowakischen Volkes“. Als Inspirator und leitende Kraft bezeichnete er die kommunistische Partei Damit war der Anschluß an die Bedürfnisse der aktuellen Politik gefunden. Das diesjährige 20. Jubiläum wird noch großartiger gefeiert werden. In der Kremnitzer Münze wurde eine Gedenkmünze zu zehn Kronen geprägt

Den offiziellen Abschluß der Geschichtsrevision über den Aufstand bildeten „Thesen“ der Zentralkomitees der KP der Tschechoslowakei und der slowakischen KP, die im Prager „Rude Prävo“ und der Preßburger „Pravda“ im April 1964 veröffentlicht worden sind. Darin wurde u. a. festgestellt, daß der „Tschechoslowakismus" der ersten Republik die unabhängige Existenz des slowakischen Volkes negiert habe. Der slowakische Separatismus, der zum Hitlerschen Protektorat führte, wurde gleichfalls verdammt. Für die Lösung der slowakischen Frage habe nur die KP der Tschechoslowakei die richtige Einstellung besessen. Die führende Kraft bei dem slowakischen „Volksaufstand" seien die Kommunisten gewesen. Der Aufstand sei als ein „Meilenstein“ auf dem Wege zur politischen Reife der slowakischen Arbeiterklasse zu betrachten. Die dabei gewonnenen Erfahrungen seien von fundamentaler Bedeutung für die fortschrittliche Entwicklung der Nachkriegs-Tschechoslowakei gewesen. Betont wurde ferner der „internationale“ Charakter des Aufstandes, an dem allein „Tausende sowjetischer Partisanen“ teilgenommen hätten und der seinen Platz „neben den wichtigsten Ereignissen in dem Anti-Hitler-Widerstand während des Zweiten Weltkrieges" behaupte. Mit diesem Aufstand habe die nationale und demokratische Revolution in der Tschechoslowakei begonnen. In der Zeit des Personenkultes seien einige Vorgänge während des Aufstandes in einem falschen Lichte gezeigt worden

Neue Konzeption der rumänischen Nachkriegsgeschichte

Dient die slowakische Geschichtsumschreibung der Erhöhung des umstrittenen Ranges der eigenen Widerstandsbewegung, so ist rumänische ausschließlich als Auftrumpfen gegenüber der Großmacht des Ostblocks zu verstehen. Den Auftakt für die Bildung der neuen Konzeption bildete ein rein wissenschaftlicher, unscheinbarer Vorgang, nämlich eine Buchre-zension. In Moskau war 1961 von dem Historiker B. W. Uschakow eine Arbeit „Die Außenpolitik Hitler-Deutschlands" erschienen. Reichlich spät, in ihrem Dezemberheft 1962, beschäftigte sich die Bukarester Zeitschrift „Analeie", Organ des rumänischen „Instituts für die Geschichte der Partei", mit dieser sowjetischen Publikation. Die von A. Niri verfaßte Kritik erregte bei östlichen und westlichen Lesern in gleicher Weise Erstaunen. Uschakow wurde vorgeworfen, bei der Schilderung der Ereignisse in Rumänien im August 1944 „fundamentale Fehler“ begangen zu haben. So habe er nicht einmal das Datum des 23. August erwähnt, an dem doch der von der rumänischen KP „vorbereitete und geführte Aufstand“ begonnen habe, „welcher das faschistische Antonescu-Regime stürzte und die Umkehr der Waffen gegen Deutschland ... bewirkte“. Mit seiner Nichtbeachtung eines so wichtigen historischen Ereignisses habe Uschakow faktisch für die [„gesäuberte" ] „Pauker-Luca-Gruppe* Partei ergriffen. Sein Buch enthalte noch „andere Unklarheiten und Fehler". So gebe er fälschlich an, daß Marschall Antonescu „von einer neuen Regierung" in Haft genommen worden sei. An anderer Stelle wiederum sei die Behauptung zu finden, daß die Verhaftung Antonescus von der „Kommandantur der sowjetischen Truppen" vorgenommen wurde. „In Wirklichkeit" sei in Rumänien ein bewaffneter antifaschistischer Aufstand nach einem von der rumänischen KP ausgearbeiteten Plan am Nachmittag des 23. August mit der Verhaftung Antonescus und einiger seiner Minister eingeleitet worden. Antonescu und die übrigen Verhafteten seien in ein „konspiratives Haus“ der rumänischen KP in Bukarest gebracht worden, wo man sie bis Anfang September festgehalten und dann den einmarschierenden Sowjets übergeben habe. Ferner bestreitet der rumänische Kritiker, daß die deutsche Militärmission in Bukarest durch „eine neue Regierung“ interniert worden sei. Das sei ebenso unrichtig wie die Behauptung, daß Rumänien erst nach dem 12. September 1944 (Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Moskau) am Krieg gegen Deutschland teilgenommen habe. Tatsächlich habe es sich nicht nur um die Gefangennahme einer „Militärmission" gehandelt, sondern es hätten mit den in Rumänien stehenden deutschen Truppen „harte Kämpfe“ stattgefunden, an denen „patrio tische Formationen" neben der rumänischen Armee maßgeblich beteiligt gewesen seien.

Diese ungewöhnliche rumänisch-sowjetische Polemik war nur ein Anzeichen dafür, daß sich in dem Verhältnis der beiden Lände:

etwas geändert hatte und ein „SonderkursRumäniens im Ostblock begann, der die internationale Öffentlichkeit noch viel beschäftigen sollte.

Die Version von „Analele" haben Presse und Rundfunk in Rumänien übernommen. Mit der Rede des Politbüromitgliedes und ZK-Sekretärs Nicolae Ceauescu auf der Feier des Befreiungstages im August 1963 in Bukarest erhielt die neue Geschichtsthese ihre offizielle Weihe. Ceau? escu sagte wörtlich: „Unsere heroische Partei, die unermüdlich für die Schaffung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse und den Zusammenschluß der Kampffront aller antifaschistischen patriotischen Kräfte wirkte, war der Initiator, Organisator und Führer des bewaffneten Aufstandes vom 23. August 1944, der den Sturz der militär-faschistischen Diktatur, den Austritt Rumäniens aus dem an der Seite Hitlerdeutschlands geführten Krieg und den Übergang unseres Landes auf die Seite der Antihitlerkoalition zur Folge hatte. Die gesamte rumänische Armee kehrte die Waffen gegen den wahren Feind und kämpfte tapfer Schulter an Schulter mit der ruhmreichen Sowjetarmee im Krieg für die Befreiung des nationalen Territoriums des Vaterlandes von den faschistischen Eindringlingen, für die endgültige Vernichtung Hitlerdeutschlands. Das rumänische Volk stellte all seine Kräfte und Ressourcen in den Dienst dieser gerechten Sache und leistete dem Aufruf der Partei . Alles für die Front, alles für den Siegl'begeistert Folge. Der gemeinsam bis zum Endsieg geführte Kampf der rumänischen und sowjetischen Soldaten gegen den Faschismus festigte die brüderliche Freundschaft des rumänischen und des sowjetischen Volkes.“

Durch die Akzente, die Ceau^escu verteilt, rückt die „Selbstbefreiung“ des Landes durch die einheimischen Kommunisten in den Vordergrund, die Rolle der Sowjets wird zweit-rangig. Der Sturz Antonescus und der Front-wechsel Rumäniens werden in einer Form dargestellt, daß von König Michael, zusammen mit seinen militärischen Ratgebern die Hauptfigur des Umsturzes, dem Stalin darum den sowjetischen Siegesorden verlieh, überhaupt nicht mehr die Rede ist. Das entscheidende Verdienst gebührt der damals noch nicht tausendMitglieder zählenden rumänischen KP, von deren bewaffneter Erhebung man bisher nichts gewußt hatte. Früher war in Bukarest immer die „Befreiung" Rumäniens durch die Sowjetarmee gefeiert worden. Auch alle Lese-und Geschichtsbücher sind auf diesen Ton gestimmt. Als Beispiel für die übliche Sprechweise sei die in Bukarest erscheinende Zeitung „Neuer Weg" zitiert Dieses deutschsprachige Blatt schrieb am 7. Oktober 1953 zum „Monat der rumänisch-sowjetischen Freundschalt": „In diesem Monat das bringt rumänische Volk seine grenzenlose Dankbarkeit und seine heiße Liebe zur Befreierin unseres Vaterlandes und besten Freundin, der großen Sowjetunion, mit noch größerer Kraft zum Ausdruck ... Unser Volk, das sich unter der Führung der Rumänischen Arbeiterpartei eine lichtvolle Zukunft aufbaut, ist mit vollem Recht auf die großen Erfolge stolz, die es in den Jahren der Volksmacht beim Aufbau des Sozialismus errungen hat. Es weiß, daß all dies ausschließlich der selbstlosen Hilfe der Sowjetunion zu verdanken war."

Um diese noch den Tod Stalins überdauernde Servilität zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß die rumänische Partei, bis 1944 nichts als eine kleine Verschwörerclique, über Nacht durch die sowjetischen Bajonette in einem Lande zur Regierung gekommen war, das genau so eine antirussische Tradition besaß wie Polen. Das Bewußtsein, der Verwurzelung im Volke zu entbehren, hat die rumänische Parteiführung auch dann nicht verlassen, als die Mitgliederzahlen unheimlich anschwollen. Die Partei ist soweit gegangen, sogar die Sprache zu verändern, indem sie ausgemerzte Slawismen der Volkssprache wieder in das Schriftrumänische einführte. Mehr konnte zur Abschwächung des romanisch-westlichen Nationalbewußtseins schon nicht mehr getan werden. Dadurch vergrößerte sich aber für die Partei die Gefahr, daß ihr Regime von der Intelligenz und auch von dem auf alles Russische empfindlich reagierendem Volk als Fremdherrschaft, als moskowitisches Statthaltertum empfunden wurde.

Nachdem die Stalinisten in Rumänien das Ruder in der Hand behalten haben, aber doch in dem Gebrauch von Methoden der vergangenen Ära Vorsicht walten lassen, hatten sie eine neue inhaltliche Begründung für ihr System dringend nötig. Da bot sich der Nationalkommunismus als die gegebene Lösung an, freilich kein programmatischer, aber ein praktischer Nationalkommunismus. Die Partei war sicher, daß jede Standhaftigkeit gegenüber Moskau in der Bevölkerung Resonanz finden würde. Eine volle Bestätigung lieferte dafür die Versammlungswelle, die von der Partei im Mai 1964 veranstaltet wurde. Zur Debatte stand der lange Beschluß des Bukarester ZK zum Ideologiekonflikt

Nach den in den Westen gelangten Berichten scheint die Zuhörer weniger die prinzipielle Stellungnahme als die nunmehr partei-amtlich zugegebene „Einmischung" der Sowjets in innere Angelegenheiten Rumäniens in der Stalinzeit, die Ablehnung des „Vaterund-Sohn" -Verhältnisses zwischen den Parteien und andere indirekte Kritik an der sowjetischen Politik interessiert zu haben.

Freilich ist dieses Auftreten nicht mehr mit der geltenden rumänischen Verfassung zu vereinbaren, die noch vom September 1952 stammt. Die Präambel dieser Verfassung spricht zwar von „Unabhängigkeit“ und „Souveränität", jedoch in dem Sinne, daß diese nationalen Werte durch die „Freundschaft und Allianz mit der großen Sowjetunion" und ihre „selbstlose Unterstützung" gewährleistet werden. Die Entstehung der rumänischen Volksrepublik wird „als Folge des historischen Sieges der Sowjetunion über den deutschen Faschismus und der Befreiung Rumäniens durch die glorreiche Sowjetarmee'erklärt. Diese Ereignisse haben — in der Darstellung des Verfassungsdokumentes — der rumänischen Arbeiterklasse die Möglichkeit gegeben, „ihren jahrhundertelangen Kampf für nationale Freiheit und Unabhängigkeit“ sowie „ihren heroischen Kampf gegen das kapitalistisch-feudalistische Regime und das imperialistische Joch" mit einem „heroischen Sieg zu krönen". Aus der Verfassung geht also hervor, daß Rumänien seine Freiheit und seinen Sozialismus der Sowjetunion verdankt. Wer zum Befreier, Garant der eigenen Existenz und Wohltäter erhoben wird, mit dem kann natürlicherweise nicht auf dem Fuß der Gleichberechtigung verkehrt werden. Seit langem schon werden Vorbereitungen für eine neue Verfassung Rumäniens getroffen. Man darf sicher sein, daß in ihr die Formulierungen, die in so krassem Widerspruch mit der heutigen Geschichtsauffassung der rumänischen Partei stehen, nicht wiederkehren werden.

Die historische Korrektur konnte Bukarest vornehmen, ohne einen Einspruch von sowjetischer Seite zu befürchten. Im Gegenteil. Zwar nicht gerade von dem bekanntesten sowjetischen Historiker und nicht gerade an der sichtbarsten Stelle ist sogar positiv auf die rumänische Kritik an dem Uschakow-Buch reagiert worden. E. D. Karpeschtschenko hat in der Zeitschrift „Nowaja i Nowejschaja Istorija“ die rumänische These über den 23. August im wesentlichen anerkannt, allerdings Wert darauf gelegt, die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Koordination im Ostblock zu unterstreichen, das heißt, von den Rumänen für das historische Zugeständnis ein Zugeständnis bei ihrer Sonderpolitik im COMECON zu erwarten. Die Sowjets sind sich offenbar darüber klar, daß jeder sachlich noch so begründete Einwand gegen die rumänische Verklärung der Rolle der eigenen Kommunisten im Zusammenbruch sie in eine ideologisch unhaltbare Position hineinmanövrieren würde.

Alle rumänischen Erklärungen zur Auseinandersetzung Moskau-Peking betonen mit besonderer Schärfe die Prinzipien der Gleichberechtigung und Souveränität. Der Kreml wird es strikt vermeiden, den Eindruck zu erwecken, als ob er deswegen Vorbehalte habe.

Abkehr von der sprachlichen Slawisierung Rumäniens

Die rumänische Geschichtsrevision wird von einer Beseitigung der Vorrangstellung der russischen Sprache unter den Fremdsprachen in Rumänien begleitet. Mitte September 1963 hat der Ministerrat in Bukarest den Beschluß gefaßt, das Pädagogische Institut Maxim Gorki dem Fremdsprachen-Institut der Bukarester Universität anzugliedern. Eine unscheinbar aussehende Maßnahme, die praktisch jedoch höchst bedeutsam ist. Das bisher selbständige, von den Sowjets geförderte Maxim-Gorki-Institut besaß eine Monopolstellung für russische Sprache und Literatur in Rumänien, wobei die ideologische Note nicht vergessen wurde. Jetzt ging dieses Institut in die slawische Fakultät eines neugeschaffenen Fremdsprachen-und Literatur-Instituts an der Universität auf. Eine Vereinheitlichung der Fremdsprachenlehrpläne im ganzen Lande ist geplant Im Zusammenhang damit ist die Abkehr von der sprachlichen Slawisierung in der ersten Nachkriegsepoche von Interesse.

Am 13. Januar 1964 brachte die Agentur Agerpress eine Meldung, der Meridian-Verlag habe kürzlich von Professor Alexander Graur einen Überblick über die Entwicklung der rumänischen Sprache herausgebracht, der vor allem für Ausländer gedacht sei. Der Autor erinnere daran, daß die rumänische Sprache aus dem Lateinischen hervorgegangen sei.

Umgeben von nichtrumänischen Sprachen, sei das Rumänische im Laufe der Jahrhunderte wohl vom Slawischen stark beeinflußt worden, es habe aber trotzdem den romanischen Grundcharakter behalten. Graur betont auch, daß im 19. Jahrhundert eine neue Welle der Beeinflussung von der lateinischen Sprache und den westlichen romanischen Sprachen ausgegangen ist. Viele internationale Wörter lateinischen und griechischen Ursprung seien in die rumänische Sprache übergegangen.

Wahrscheinlich bedeutet die auffällige An-zeige eines wissenschaftlichen Werkes, das inhaltlich nichts Neues bietet und anscheinend auch völlig unpolitisch ist, daß die ganzen Bestrebungen zur Wiederhervorholung slawischer Wortformen, die im Hochrumänischen schon außer Gebrauch gekommen waren, rückgängig gemacht werden sollen. Hinzuzufügen ist, daß neben dieser Besinnung auf die lateinische Herkunft der obligatorische Russisch-Unterricht in sämtlichen Schulen Rumäniens abgeschafft worden ist. Russische Buch-läden sind aus dem Bukarester Straßenbild verschwunden. Bei einer „Entpolitisierung“ der Kinos wurde eine Änderung der Namen vorgenommen, die sich auf kommunistisch-historische Daten oder Persönlichkeiten vornehmlich sowjetischer Herkunft bezogen. Die Kinos heißen jetzt „Modern", „Festival“ oder tragen einen anderen wertbeständigen neutralen Namen.

Die Rolle der ungarischen Kommunisten

Noch weniger als den rumänischen Kommunisten gelingt es den ungarischen, ein eigenes Verdienst bei dem Sturz des mit Hitler verbündeten Regimes und der Vertreibung der deutschen Truppen auszurechnen. Trotzdem ist auch dieser Versuch gemacht worden. Im Herbst 1963 wurde im ungarischen Fernsehen ein Film „Besitzergreifung“ ausgestrahlt, der nach einem bekannten Roman gedreht worden ist. Der Verfasser Bela Ilies war ein so guter Kommunist, daß er bei Kriegsende in sowjetischer Oberstenuniform in die Heimat zurückkehrte. Jetzt war jedoch sein Roman nicht mehr angebracht, denn er hatte wohl die Waffenstillstandserklärung Horthys und die Rolle des Generalobersten Miklos Dalnoki geschildert, der sich auf die sowjetische Seite stellte und eine provisorische ungarische Regierung bildete, aber über die ungarischen Kommunisten hatte er kaum etwas auszusagen gewußt. Chefideologe und Politbüro-mitglied Gyula Källai nahm mit seiner Kritik des Films in dem Parteiorgan „Nepszabadsäg“ die nunmehr nötigen Geschichtskorrekturen vor. Der Film, so heißt es in dem Artikel, löse bei Personen, denen die damaligen historischen Ereignisse nicht genügend bekannt sind, falsche Vorstellungen über das . Absprungmanöver Horthys (gemeint ist seine Waffenstillstandserklärung vom 15. Oktober 1944) und die Rolle Dalnokis aus. Sogar die Presse habe sich davon beeinflussen lassen. So habe ein Kritiker in „Nepszabadsäg“ geschrieben, daß „in der gegebenen Situation Dalnoki wohl der einzige militärische Führer gewesen wäre, der die Macht gehabt hätte, die nahende Tragödie zu verhindern“. Die Literaturzeitung „Eiet es Irodalom“ habe sich sogar soweit verstiegen, Dalnoki mit dem ungarischen Freiheitshelden von 1848, Kossuth, zu vergleichen. Dagegen werde in dem Film die Rolle der kommunistischen Partei nicht gewürdigt. Er bleibe die Erwähnung jener historischer Kräfte schuldig, „die in unserem Land den Faschismus und den Krieg konsequent ablehnten und unter ungeheuren Opfern den Kampf dagegen führten“. Källai spitzte diese Bemerkung sofort auf die Kommunisten zu: „Es lebt eine ganze Generation von Parteimitgliedern und Parteilosen in Ungarn, die stolz darauf sind, sich an diesem Kampf beteiligt zu haben ... Die illegale, verfolgte kommunistische Partei erfaßte und organisierte diese Kräfte.“ Sie habe sich keine Illusionen über das ehrlose Spiel Horthys gemacht, trotzdem aber alles unternommen, um die ungarische Reaktion zur Einsicht zu bringen. Noch fünf Minuten vor 12 habe sie eine Zusammenarbeit zwischen Horthy, der Armee und der ungarischen (Volks-]Front für möglich gehalten. „Unser Programm wäre geeignet gewesen, den Austritt Ungarns aus dem Krieg zu ermöglichen und sich gegen die Faschisten zu wenden.“ Das zur Verfügung stehende Material hätte den Produzenten des Films die Möglichkeit gegeben, all das und die Rolle der kommunistischen Partei „wenigstens teilweise anzudeuten“. „Bedauerlicherweise haben sie das nicht getan.“ Die Besitzergreifung sei nicht nur eine Frage militärischer Operationen, sondern auch ein gesellschaftlich-politisches Problem gewesen

Sowjetisch-chinesische Querelen

Kommunistische Geschichtsschreiber haben es bisweilen schwer. Im Zeichen des Polyzentrismus sind alle Hymnen auf die Sowjetunion vergessen, dafür muß die eigene kleine Partei in einem historischen Augenblick in den Mittelpunkt gerückt werden, wo diese noch gar keine entscheidende Rolle spielte und auch nicht spielen konnte. Eigentlich sollte man annehmen, daß die sowjetischen Historiker scharf die systematischen Versuche zurückwiesen, die sowjetischen Verdienste um den deutschen Zusammenbruch auf Kosten stark aufgeputzter Verdienste gerade sich formierender Parteigrüppchen zu verkleinern. Doch hüllt sich der Kreml — ausgenommen die schwache Reaktion auf die rumänische Kritik — vorerst in Schweigen.

Eine Konferenz von Historikern der Sowjetunion und der deutschen Sowjetzone, die im Juni 1964 in Moskau statttand, zeigte, daß man auf einem anderen Wege versuchen will, den der Vorrangstellung des Kreml abträglichen historischen Revisionstendenzen entgegenzutreten. Gegenstand der Konferenz war die Ostforschung in der Bundesrepublik. Dabei wurde festgestellt: . Der Zweck der Ostforschung besteht darin, den Einfluß der Befreiungsidee zu beseitigen, die durch die sozialistische Oktoberrevolution entstanden ist, und den Eindruck abzuschwächen, den die Befreiungsmission der Sowjetarmee, die die Zivilisation der Welt vor dem Faschismus rettete, auf die Völker der Welt ausübte.“ 21) Dieser verschachtelten Formulierung Dieser verschachtelten Formulierung ist die Absicht zu entnehmen, mit der Anzweiflung oder Verkleinerung der sowjetischen . Befreiungsmission“ die westdeutsche . Pseudowissenschaft“ zu belasten. So könnte — das ist wohl die Überlegung — am einfachsten und wirksamsten eine Geschichtsumschreibung, die den Auflockerungsprozeß im Ostblock begleitet, in Verruf gebracht werden. Nur werden Parteien, die glauben, daß ihre vitalen Interessen auf dem Spiel stehen, sich dadurch kaum von der ideologischen Untermauerung ihrer Politik abhalten lassen.

Mögen die Sowjets ihre Gegenoffensive auf europäischem Boden nur zögernd und verdeckt beginnen, gegenüber den Chinesen haben sie scharfe Polemik im Geschichtsstreit für notwendig gehalten. Die Weigerung, die Sowjetunion auch als eine asiatische Macht anzuerkennen, der Hinweis auf die zaristischen Eroberungen und die Notwendigkeit der Revidierung . ungleicher Verträge“, die mit dem früheren China abgeschlossen worden sind, bedeuten, daß Peking geschichtliche Anschauungen vertritt, die eine erhebliche Bedrohung des territorialen sowjetischen Besitzstandes darstellen. Tatsächlich hat Moskau an der Vertiefung der historischen Diskussion über Asien kein Interesse, denn es kann nicht leugnen, das Erbe des zaristischen Imperialismus angetreten zu haben. Den Chinesen erscheint die sowjetische Behauptung, die Eroberungen seien dadurch gerechtfertigt, daß Rußland nach Asien den . Fortschritt“ gebracht habe, nicht stichhaltig — sie empfinden sie als arrogant. Historisch-ideologisch befindet sich die chinesische Partei im Angriff; die Sowjets schlagen nur da zurück, wo sie glauben, daß der Gegner sich Blößen gibt. Der Streit hat sich an der Person des Mongolenherrschers Dshingis-Khan entzündet, dessen Heere im 12. und 13. Jahrhundert ihre blutige Spur durch Asien und Europa gezogen haben, über diesen Kult sagte im Juli 1963 der Direktor des Moskauer Instituts „Die Völker Asiens", Gafurow, in einem Interview mit der TASS-Agentur: „Die chinesischen Dogmatiker ... ersetzen praktisch die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft durch chauvinistische, ja sogar rassistische Konzeptionen.“ Sie idealisierten die Vergangenheit, die feudalen Methoden, die Bürgerkriege, die Eroberungen, die blutigen Einfälle, sie rühmten die Rolle von Dshingis-Khan, obwohl dieser Mann eine historische Tragödie für die Völker des Nahen Ostens, Vorderasiens und Osteuropas gewesen sei. Die Verherrlichung der . großen Eroberer" und der Dshingis-Khan-Personenkult seien nur ein Beispiel dafür, daß der Dogmatismus zu nationalistischer Beschränktheit führe 22). Chinesische Dynamik im Zeichen Dshingis-Khans ist für die Sowjets entsdiieden unbehaglich. Aber warum sollten die Chinesen ihre Vergangenheit nicht ebenso verherrlichen, wie die Russen das seit Stalin getan haben und weiter tun? Auch die kleinen osteuropäischen Völker halten sich im Zeichen des Polyzentrismus an dieses Beispiel. Leise wird dabei auch schon an das klassische marxistische Schema der fünf historischen Entwicklungsstufen der Gesellschaft gerührt. Bezeichnenderweise sind die ersten, die dagegen Einwände erheben, die Sinologen. Der Tscheche Timoteus Pokora hat in den „Literärni Noviny" darauf aufmerksam gemacht, daß diese Periodisierung für große Teile der Welt nicht anwendbar sei, zum Beispiel gelte sie nicht für China. Die Nichtexistenz einer Sklavenhalterordnung sei aber auch für die Germanen, das Kiewer Rußland und Bohmen und Mähren überzeugend nachgewiesen worden. Marx und Engels hätten das Sklavenhaltertum Griechenlands und Roms studiert; diese Erscheinung könnten wir jedoch . nicht als Regel für die Entwicklung der Menschheit ansehen, sondern gerade umgekehrt als Ausnahme, als eine Abweichung“. Pokora kommt zu dem Schluß: . Wenn also unsere Argumente richtig sind, so ändert sich wesentlich das Schema der Geschichtsentwicklung der Welt." Die Geschichtswissenschaft in den Ostblockländern hat noch nicht gewagt, diese Kritik aulzugreifen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Der Bann des Periodisierungs-Schemas, in das so bequem das Dogma von dem unrettbar zum Untergang verurteilten Kapitalismus eingeordnet werden kann, ist noch nicht gebrochen.

Der Prozeß der Geschichtsrevision ist noch nicht zu Ende

Gehörte es zur Geschichtskonzeption der Stalinzeit, daß das Geschehen in Osteuropa ebensosehr in den Vordergrund gerückt wiedas Geschehen Westeuropas vernachlässigt wurde, so sind auch hier Anfänge zu einer Sinnesänderung zu beobachten. In der Prager Zeitschrift „Nova Mysl" hat Josef Macek in einem Aufsatz . Drängende Piobleme der historischen Wissenschaft“ verlangt, daß der tschechoslowakische Leser mehr mit der mittel-und westeuropäischen Entwicklung bekanntgemacht wird, . da in der Vergangenheit das Schicksal unserer Länder sehr oft mit der Geschichte dieses Raumes eng verknüpft war“ Eine Isolierung der nationalen Geschichte von dei Weltgeschichte sei unmöglich. Das ist ein noch vereinzelter Vorstoß, jedoch wird sicherlich die Tendenz zur Überwindung der geisti-gen Abkapselung hinter dem Eisernen Vorhang verstärkt werden durch die Lockerung der Einreisevorschriften zugunsten des Fremdenverkehrs, den die devisenhungrigen Ostblockländer seit einigen Jahren nach Kräften fördern.

Der Prozeß der Umschreibung der Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Während in Westeuropa die Bemühungen zu einer universalen Geschichtsbetrachtung unter Klärung und Angleichung der verschiedenen nationalen Standpunkte im Gange sind, befindet sich der Kommunismus in einer Phase der Aufspaltung, wobei er sich von neuem mit einem Nationalismus durchtränkt, den er schon lange überwunden zu haben glaubt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Polen und Deutschland. Wissenschaftliche Konferenz polnischer Historiker über die polnischdeutschen Beziehungen in der Vergangenheit. Einführung von Herbert Ludat, Reihe 1, Heft 1 der Quellenhefte zur Geschichtswissenschaft in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, Köln-Graz 1963.

  2. Ebenda, S. 12 f

  3. Erwin Oberländer, Zur Parteigeschichtsschreibung nach Stalin, tn: Ostprobleme 1963, S 753 ff.

  4. Rude Prävo, 14 Oktober 1963

  5. Slezsk sbornik, Troppau 1963, Heft 3, zitiert nach Wissensdiaftlicher Dienst für Ostmitteleuropa, 1963, S 418

  6. Erklärung des amerikanischen Professors Knorr

  7. Zitat nach Die Presse, Wien 8. Januar 1964.

  8. Hansjakob Stehle Östliche Historiker werfen Stalins Schatten ab, in: FAZ. 14. September 1963.

  9. Der slowakische Partisanenkampf, in: Osteuropa, 1959, S. 779 ff.

  10. Helmut Klocke, Nationalbewußtsein in Osteuropa (II), Tschechoslowakei, in: Osteuropa, 1956, S. 375 ff.

  11. Prof. Milos Gosiorovsk vor der Slowakischen Historischen Gesellschaft am 10 Juni 1963, siehe: Wissenschaftlicher Dienst für Ostmitteleuropa, 1963, S. 296 f.

  12. Ceteka, 30. August 1963.

  13. Radio Prag, 9. Juni 1964.

  14. Rude Prävo, 26. April 1964

  15. Agerpress, Informationsbulletin, Bukarest, 14. Jg., Nr. 16, 31. August 1963.

  16. „Erklärung über die Einstellung der Rumänischen Arbeiterpartei zu Problemen der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung“, Agerpress, 27. April 1964.

  17. Die Presse Wien, 22. Mai 1964, und Neue Zürcher Zeitung, 24. Mai 1964.

  18. Nr. 2, 1963; siehe; Hinter dem Eisernen Vorhang, 1963, Heft 10, S. 12, und Wissenschaftlicher Dienst Südosteuropa, 1963, S. 61 f.

  19. Hinter dem Eisernen Vorhang, 1963, Heft 10, S. 37, und 1964, Heft 2, S. 35.

  20. Nepszabadsäg, 3. November 1963.

  21. Radio Moskau, 9. Juni 1964.

  22. Nr. 43 vom 26. Oktober 1963, zitiert nach Wissenschaftlicher Dienst Ostmitteleuropa, 1964, S. 17 f.

  23. Nr. 9, September 1963.

Weitere Inhalte

Harald Laeue n , Dr. rer. pol., Osteuropa-Redakteur des Norddeutschen Rundfunks, geb. 1902 in Stolp; zahlreiche Veröffentlichungen zur Politik, Wirtschaft und Geschichte der osteuropäischen Länder, darunter das Buch: Polnische Tragödie, Stuttgart 1958’.