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Gedanken über die politische Verantwortung des Lehrers in der heutigen Demokratie | APuZ 39/1964 | bpb.de

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APuZ 39/1964 Situation und Krise der heutigen Universität Gedanken über die politische Verantwortung des Lehrers in der heutigen Demokratie

Gedanken über die politische Verantwortung des Lehrers in der heutigen Demokratie

Wilhelm Wortmann

Es geht um den Nachwuchs Welcher Chef in Partei und Betrieb, Armee und Behörde wünschte sich nicht aus der jungen Generation Mitarbeiter, die über den Nutzen den Dienst, über den Buchstaben den Geist zu stellen bereit sind, die sich auch jenseits der Anweisung gefordert sehen und sich auch außerhalb der Kontrolle verantwortlich fühlen, kurz, die politisch erzogen und gebildet sind? Verläßt der junge Mensch heute mit Wertvorstellungen der angedeuteten Art die Schule? Weiß er, was die Gemeinschaft von ihm mit Recht erwartet, wenn er in die demokratische Lebensordnung hineinwächst? Vor allem: Ist er zu solcher freiwilligen Verantwortung innerlich bereit? Ist er sich wirklich darüber im klaren, was das „Politische" in einer Demokratie bedeutet? — Erfüllt also, so spitzt sich die Frage zu, die Schule ihren politischen Auftrag? Kann sie das überhaupt? — Und der Lehrer? Ist die Forderung seiner politischen Verantwortung in der heutigen Demokratie überhaupt erfüllbar? Bringt er dazu die notwendigen Voraussetzungen mit? Ist er nicht bereits voll ausgelastet, wenn er seine Fächer redlich vertritt und dem Schüler das geistige Werkzeug an die Hand gibt, die diesen berechtigen, an den Segnungen der Wohlstandsgesellschaft teilzunehmen?

Bleiben wir nicht in der Theorie stecken, im freundlichen Gerede, wenn wir das Thema bedenken? Bauen wir nicht immer wieder . Utopia"?

Unsichere Grundlagen In Berlin fand vor nicht langer Zeit die Tagung eines Arbeitsausschusses für politische Bildung statt. Dazu waren einige hundert Menschen aus der Bundesrepublik und West-Berlin eingeladen; Menschen aus allen Berufen, Parteien und Konfessionen; jüngere und ältere Menschen beiderlei Geschlechts; Menschen, die bereits als politisch aufgeschlossen galten. Am Schluß viertägiger Gruppenarbeit wurde im Plenum die Summe gezogen. Die Diskussion richtete sich auf die Grundfrage: Was ist das eigentlich, das Politische? Und wieder fand sich keine befriedigende Antwort. — Schon bei den Grundvokabeln, bei den das politische Wesen des Menschen tragenden Begriffen wie Freiheit, Gemeinwohl, Demokratie, fängt die Unklarheit und Vieldeutigkeit an. Diesen Mangel im Bildungsbegriff und im Bildungsbewußtsein muß jeder erfahren, der sich mit der gestellten Aufgabe befaßt.

Daraus ergeben sich Schwierigkeite i, Mißverständnisse und leider oft auch Unwille; wahrscheinlich ist die Ablehnung, die die politische Erziehung im Bereich der Schule heute nach wie vor erfährt, mit auf solche Zustände zurückzuführen. Wer da zu einiger Klarheit gelangen will, muß sich durch widerwärtiges Gestrüpp kämpfen; da gibt es keine Harmonie, keine Idealität als Bildungsziel; das politische Wesen des Menschen — insbesondere heute — bestätigt sich in einer realen Welt, in der Disharmonien und Diskrepanzen bestimmend sind.

Nach einer zähfließenden Tradition im Bildungsbewußtsein unseres Volkes werden Politik und Beschäftigung mit Politik seit eh und je zu den unangenehmen Notwendigkeiten des Lebens gerechnet, denen man sich klugerweise entzieht, die man am besten allein den Politikern überläßt. Politik ist für den Gebildeten — besser: für den großen Teil jener, die meinen, gebildet zu sein — immer noch suspekt. Demokratie fordert aber einen Bildungsbegriff, in dem das Politische und das Wissen um die Dinge der Politik unübersehbar eingeschlossen sind. Diese Forderung wird ernstlich heute zwar kaum jemand in Abrede stellen. Jedoch: ist sie auch in der praktischen Arbeit unserer Bildungseinrichtungen realisiert?

Es ist ferner eine Tatsache, daß die Wissenschaft von der Politik an unseren Universitäten noch keine klar bestimmbare Heimat gefunden hat. Das neue Fach Gemeinschaftskunde der Gymnasien hängt mit seinen politischen und soziologischen Aspekten in der Luft, weil es ein politisch-soziologisches Fach im geistigen Bereich der höheren Schule nicht gibt. Wenn auch der Wille vorhanden ist, dieses Fach stofflich, geistig und methodisch zu erfüllen, so fehlt es dem Lehrer doch offenbar an ausreichender Zeit und an Möglich-keifen, sich darauf vorzubereiten. Er muß sich, wenn er die Sache redlich treiben will, mindestens die Grundzüge eines Faches neu erarbeiten, muß wissenschaftlich Getrenntes zu einem neuen Ganzen zusammenfügen und steht damit in einer Verantwortung, die ihm zumindest neu ist. Wer optimistisch meint, solche Aufgabe ordne sich mit der Zeit schon in das herkömmliche Gefüge der Schule ein (etwa allein durch Fortbildungslehrgänge oder Druckschriften), irrt sich vermutlich.

Ein Weiteres belastet die politische Verantwortung des Lehrers. In der öffentlichen Meinung unserer Bürgerschaft gilt Politik weitgehend immer noch als charakterverderbende Tätigkeit, und der Politiker ist ein Mensch, bei dem man es nicht so genau nehmen darf, der wohl erwarten kann, daß man ihm manches nachsieht, daß er sich notwendigerweise an der Grenze der Legalität oder gar außerhalb bewegt.

Bei solcher Einstellung kann Demokratie nicht gedeihen.

Die politische Unkenntnis der Bürger, ihre lückenhaften oder gar fehlerhaften Vorstellungen vom Wesen unserer gesellschaftlichen Existenz, ihr leichtfertiges Verhalten gegenüber den einfachsten politischen Notwendigkeiten, aber auch gegenüber den hohen Werten der Menschenrechte untergraben die Fundamente unserer gesellschaftlichen Ordnung mehr, als es Fehler in der großen Politik vermögen.

Rückgriff in die Geschichte Wenn man den Ursachen nachgeht, aus denen sich solche Ignoranz und Trägheit erklären lassen, kommt man zu folgendem Ergebnis: Ein subjektives politisches Verantwortungsbewußtsein tritt in der Geschichte zuerst da auf, wo sich demokratische Ansätze zeigen. In der neuen deutschen Geschichte hebt solches Denken und Gestalten im 19. Jahrhundert an und tritt erst 1918 in die politische Praxis unseres Volkes ein. Die Ideen des Freiherrn vom Stein, der durch Selbstverwaltung zur Selbstverantwortung erziehen wollte, und die Gedanken der Abgeordneten des deutschen Volkes in der Frankfurter Paulskirche (1848) blieben in der politischen Wirklichkeit unserer Geschichte ohne wesentliche Wirkung; im geistigen Leben unseres Volkes waren sie zwar Lehrgegenstand des Bildungsprozesses, sie wuchsen aber nicht zu Realitäten im Bildungsbewußtsein heran, mit denen die Republik hätte verwirklicht werden können, als sie 1918 proklamiert wurde.

Die beiden deutschen Ansätze zur Demokratie (1918/19 und 1946/49) geschahen in politischer Ohnmacht des Volkes, nicht im Zustande seiner Souveränität. Dieses historische Verhängnis wirkt sich auf unser politisches Bewußtsein belastend aus.

Politik als der Raum, in dem sich die souveräne Nation betätigt, drang in den Vorstellungsbereich unseres Volkes nicht auf organischem, historisch-kontinuierlichem Wege, auch nicht als Ergebnis einer kraftvollen geistigen Auseinandersetzung oder einer wirtschaftlich-technischen Leistung ein, sondern im Zustande der Ohnmacht. Grob gesagt: bei einer Vielzahl konkurrierender Parteiprogramme, leidenschaftlicher Wahldemonstrationen und Klassenfeindschaften blieben die Deutschen nach 1918 ein Volk, das seinen freien Staat 1933 ahnungslos im Stich gelassen hat. Die Geschichte hatte festzustellen, daß das Volk — auch in seinen gebildeten Schichten — nicht gewußt hat, was damals geschah; es war politisch ungebildet, darum nicht fähig, politische Verantwortung zu tragen.

Es gibt auch heute die Frage: Wie würden sich die Deutschen in der Bundesrepublik verhalten, wenn dieser Staat in eine ernste Krise geriete? Was würde das Volk tun, das mit Fleiß und unbestreitbarer Tüchtigkeit in einer günstigen weltpolitischen Lage ein imponierendes materielles Aufbauwerk geleistet hat? Weder Meinungsforschung noch historische und politische Wissenschaft halten allzu-viel von unserer demokratischen Standfestigkeit. Unsere politische Hypothek ist ohne Zweifel groß, und es sollte unter den Denkenden niemand sein, der sich dafür nicht verantwortlich fühlte.

Was fordert — ganz allgemein formuliert — politische Erziehung und Bildung in unserer Gegenwart konkret? Sie muß nachholen, was der rasante Prozeß des materiellen Wieder-aufbaues versäumt und zum Teil auch verdorben hat. Dazu führt: Die redliche Erarbeitung und das sichere Wissen von Wesen und Wirken der politischen Kräfte und Ordnungen und die Bildung eines subjektiven Existenzbewußtseins, in dem die Pflicht vor dem Anspruch rangiert.

Das geht über politische Schulung und staatsbürgerlichen Unterricht wesentlich hinaus, es stellt sich als vordringlichste Aufgabe dar, der andere Bildungsbereiche zugeordnet werden sollten. Die Polarität von Freiheit und Bindung Wir müssen die Dringlichkeit, ja Unabweisbarkeit solcher Forderung noch von einem anderen Denkansatz her aufzeigen.

Der Politik und damit auch der politischen Verantwortung ist der Mensch heute in doppelter Weise verpflichtet: er ist ihr in freier Art verbunden und er ist von ihr abhängig ganz und gar. Zuerst: Er ist ihr als Geschöpf einer geistigen und natürlichen Ordnung in freier Art verbunden. In dieser freiwilligen Bindung liegt natürlich auch das Recht des Menschen begründet, in Freiheit zu entscheiden, ob er politische Verantwortung als für seine Person verbindlich ansieht. Es kann in der Demokratie keinen Zwang zum politischen Engagement geben. Anderseits gerät Demokratie immer dann in Gefahr, wenn die Freiheit als Willkür mißverstanden wird. Freiheit und Bindung in ihrem polaren Verhältnis zueinander sind das Fundament der Demokratie, Willkür und Zwang ihre Entartung. Darin, daß der Bürger sich im freien Entschluß zu seinen demokratischen Pflichten bekennt, liegt das einzige Heilmittel gegen Kollektivismus und Diktatur.

Bei Eröffnung des 6.deutschen Studenten-tages in der Berliner Kongreßhalle (4. 4. 1960) sagte der Regierende Bürgermeister in Anlehnung an die These „Mut zur Politik", die zur Erörterung stand, daß es nicht ausreiche, Mut zur Politik zu verlangen; es sei vielmehr dringend erforderlich, die Pflicht zur Politik zu fordern.

Der Mensch ist nicht nur ein vernunftbegabtes Wesen, sondern ein politisches Wesen. Diese althergebrachte Erkenntnis besagt nicht in erster Linie, daß der Mensch eingefügt sei in Gruppen, Klassen und Massen, in Städte und Staaten, sondern daß er ein Einzelwesen sei, eine unauswechselbare Person, begabt mit einem Gefühl für Verantwortung und mit dem Willen zur Gestaltung der „Polis“.

Mit dem Begriff „Polis", der weiter ist als Staat und jede politische Gemeinschaft umschließt, sind wir im Quellgebiet unseres politischen Denkens. In den wechselvollen Formen staatlicher Ordnungen allerdings trat zu allen Zeiten das politische Wesen des Menschen am augenfälligsten und am anspruchsvollsten hervor. Um den Staat hat der Menschengeist seine großen Gedanken entwickelt, nächst der Kirche hat er an ihn seine schöpfe-

richsten Werke verschwendet, für den Staat wurden die meisten Menschen geopfert, und im Staat suchten die Menschen zu allen Zei-ten Sicherheit und Frieden; das ist heute nicht anders.

Das politische Wesen des Menschen und die politische Form des Staates — diese Polarität muß man sehen und werten — sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Daraus folgt: Ein Mensch, der sich der politischen Verantwortung im Staate entzieht, begibt sich einer seiner Grundqualitäten, er begibt sich seines politischen Wesens; ein Staat, der das politische Wesen der Menschen mißachtet, hat seine Legitimierung und seine Legitimität verloren. Für unsere Überlegungen ist wichtig: diese Koordination ist im Denkund Glaubensbereich, in dem wir existieren, unaufhebbar. Das kann auch trotz der Technisierung und Vermassung unseres äußeren und wahrscheinlich auch weitgehend unseres inneren Daseins nicht anders werden.

Freiheit zur Politik, Mut zur Politik, Pilicht zur Politik: das ist eine Entscheidungskette im Bereich der politischen Verantwortung des Menschen überhaupt, insbesondere aber des Lehrers.

Zum zweiten ist der Mensch heute, mehr als in früheren Zeiten, in unfreier Art von der Politik abhängig, ob er das sieht oder nicht, ob er es wahrhaben will oder es leugnen möchte. Der Raumbegriff und der Zeitbegriff haben eine Veränderung erfahren, die mit dem Wort Einengung nur angedeutet ist. Jeder kann jederzeit in das politische Geschehen in jedem Teil der Erde einbezogen werden. Die politischen Weltverhältnisse sind derart übermächtig, den Menschen niederschlagend, daß man fragen muß: wo sind denn für die Person noch Raum und Zeit gegeben, in denen sie frei existieren könnte? Wenn man diese Frage nur einseitig rational bedenkt und einen Schuß von der allgemeinen Welt-angst hinzumischt, dann bleibt nicht viel anderes als Resignation. Wenn man solcher Frage unpolitisch entgegentritt, ist man der Situation ausgeliefert. Jedoch aus dem politischen Wesen des Menschen, der mitdenkt, mittut und mitverantwortet, sind Rat und Hilfe möglich. Die schöpferische Kraft, die in den drei Tätigkeiten: mitdenken, mittun, mitverantworten liegt, sollten wir in ihrem ursprünglichen, ganz lebendigen, ganz organischen Wachstum zu fassen versuchen; dann werden wir begreifen, was das Politische ausmacht: Die Fähigkeit des Menschen, die Spannung zwischen dem Ich und der Gesellschaft zu bewältigen, der Person und der Gemeinschaft gleichermaßen zu dienen. Ist diese Spannung so groß, daß sie zur Last wird, so versucht der Mensch auszuweichen, das heißt, er versucht, den in jeder Freiheit liegenden Trend zur Willkür, zum Individualismus, zum Ohne-mich-Dasein oder der in jeder Bindung verborgenen Lockung zum Kollektiv, zur Masse, zum Herdendasein zu folgen. In solchen Zeiten, zu denen vornehmlich Übergangsepochen gehören, bekommt das Politische in der Rangordnung der 'Werte eine Spitzenqualität— es wird vordringlich. Wer als Lehrer auch Erzieher sein will, und wer wollte anders Lehrer sein, sollte sich darüber klar werden, daß Menschenformung heute ohne politischen Bezug — ohne politische Verantwortung also — ein Ausweichen oder ein Selbstbetrug ist.

Keine idealistische Schwärmerei Man verstehe nicht falsch: zu vorschnellem Optimismus ist auch bei solcher Einsicht in das Gefüge unserer Zeit kein Grund vorhanden. Nüchternheit und Skepsis sind notwendig, wenn man sich durch Mißerfolge nicht entmutigen lassen will. Das Politische ist im Wesen des Menschen als Qualität zwar unauslöschbar; aber zwischen Wollen und Vollbringen liegt auch hier dieselbe Kluft wie bei allen menschlichen Tugenden. Wir wissen schon von Plato: Die ideale Ausprägung des Politischen, die wahre Demokratie, wird es auf Erden nicht geben, sie kann nur immer in Gedanken bestehen. Sogar Rousseau ist wie Plato der Meinung, daß demokratische Staatslehre im wesentlichen Erziehungslehre sei, das heißt, daß der Mensch als politisches Wesen sich stets auf dem Wege befindet, um den Auftrag zu erfüllen, der ihm gestellt ist: die Form zu schaffen, die für den Augenblick die jeweils erreichbare ist.

Man sollte nie außer acht lassen, daß es die Spannung zwischen Aktivismus und Indifferentismus schon immer gegeben hat, selbst bei Perikies schon und in der Blütezeit der römischen Virtus, daß der Ohne-mich-Standpunkt auch damals Tagesgespräch gewesen ist. Was heißt das aber? Es kam und kommt immer aui die Heranbildung einer aktiven Minorität an und darauf, daß der Kreis der zu dieser Minderheit gehörenden stets und stetig erweitert wird. Demokratie gedeiht um so besser, je größer die Zahl der bewußt für sie Tätigen ist. Ich bin der Überzeugung, daß es im Kreis von Gebildeten darüber gar keine Diskussion geben dürfte, ob man dazu gehören solle oder nicht. Allein das Maß an Verantwortungsbewußtsein für das allgemeine Wohl, nicht ein Privileg, auch nicht eine Stellung oder ein Amt entscheidet, ob man dazu gehört.

Wo sind aber Möglichkeiten politischen Wirkens?

Das sind Erkenntnisse, die jeder Gutgesinnte unterstreichen wird. Was heißt das aber praktisch? Wo vermag der einzelne Bürger in diesem verwalteten Staat seinem politischen Auftrag nachzukommen? Wo vermag er seine politische Verantwortung praktisch zu üben? Bleibt dem Menschen, seiner Einsicht und Bildung entsprechend, neben der Erfüllung seiner Berufspflichten überhaupt eine andere Wirkungsmöglichkeit als sein Wahlrecht? Lohnt es sich da überhaupt, einzusteigen? Ist nicht der Dirigismus der Apparatur bereits derart übermächtig geworden, daß man ihn am besten gewähren läßt und sich mit kleinen Raffinements dem Zugriff zu entziehen versucht, solange das eben geht — „denn eines Tages kommt ja doch der Knall", „wie soll das gutgehen?" — Wir alle kennen solche hilflose Argumentation!

Bedenken wir solche Fragen nicht aus falscher Sicht, zu sehr von oben her, sehen im Staat nur die gegebene Verwaltung, die institutioneile Autorität, die Obrigkeit, die zwar nicht gerade zu achten ist, der wir aber in negierendem Respekt doch gehorchen, weil wir ihr ausgeliefert sind, weil sie Gewalt über uns hat? Wir hängen mit solchem Verhalten in einer historisch-politischen Verkettung, in der Würde und Freiheit des Menschen tatsächlich in Frage gestellt werden — trotz grundgesetzlicher Verbriefung!

Staat und Bürger Demgegenüber gilt folgendes: Der Staat ist nicht nur Machtäußerung, nicht nur Gesetzes-kraft und Verfügungsgewalt, der Staat ist auch Personengemeinschaft, und der demokratische Staat ist vor allem Diener des Menschen, der ihn geschaffen hat. Wo er solches nicht bleibt, ist das nach Theorie und Praxis Schuld des Bürgers und zwar seine allein, nicht die der Funktionäre, an die der Bürger die Macht delegiert hat. — Der Rang des Staates ist in der Person des Menschen angelegt, ist ein Stück seiner Natur; man sollte darum die Würde des Staates nicht nur gelten lassen, sondern sie zu mehren suchen. Der Lehrer — insbesondere in seiner Qualität als Beamter — ist dem Staate zuerst von der Sache her verpflichtet; ebensosehr jedoch steht er für die Würde des Staates in personaler Verantwortung: sein Dienen gilt dem Menschen in der staatlichen Ordnung.

Wir müssen diesen Gedanken vertiefen: Der Staat und seine Behörden sind Institutionen, die stets und überall geneigt sind, sich als Zentrum, nicht als notwendige Werkzeuge der Gesellschaft und ihrer Ordnungsformen zu verstehen. Die Folge davon ist: Das überragende Machtzentrum „Staat" schockiert die politisch einsatzwilligen Kräfte der Gesellschaft und stößt sie schließlich ab; das um so leichter, als sich der Bürger von Haus aus, wegen seiner individualen Interessen, aus Bequemlichkeit, aus mangelhafter Kenntnis oder aus fehlendem politischen Bewußtsein der Dominanz der verwaltenden Macht oft nur als Querulant entgegenstellt, weil er die ihm zustehende echte Kontrollfunktion nicht sieht, geschweige denn erfüllt. Das ist ein gefährlicher Teufelskreis!

Dem Menschen der industriellen Massengesellschaft tritt der soziale Rechtsstaat mit seiner massenhaften Abfertigung von Regulierungs-und Leistungsbedürfnissen fast nur in der Gestalt der Subalternbürokratie gegenüber. Das führt zwar zu Wechselbeziehungen von großer Dichte und Intensität, aber auch von gefährlicher politischer Indifferenz. Das politische Engagement des Bürgers erschöpft sich meist schon in diesem erlebnisnahen Bereiche. Es ist nicht leicht, der Jugend deutlich zu machen, daß diese Vorgänge in der Massendemokratie unumgänglich, jedoch mit dem demokratischen Gemeinwesen selber nicht zu identifizieren sind, daß man aus ihnen also keine Kriterien für das Wesen einer politischen Ordnung gewinnen kann.

Eine sachgerechte Analyse des Verwaltungsgefüges entmyhisiert die Staatsgewalt, rückt sie ins rechte Verhältnis zum Bürger und den Bürger ins rechte Verhältnis zu ihr. Hier liegt ein zentraler Erziehungsauftrag der Demokratie vor, der ebenso den latenten Widerstand wie die Verantwortung des Bürgers gegenüber den Ordnungsformen des Gemeinwesens im Auge behalten muß. In der Weimarer Republik fehlte diese bewegende und kontrollierende Kraft des Volkes weitgehend. Man wird sagen dürfen: gegen das Aufkommen und die konsequenteste Handhabung der Diktatur wuchs deshalb kein erfolgreicher Widerstand heran, weil dazu in der Demokratie nicht rechtzeitig erzogen worden war. Es gab eine funktionierende Verwaltung mit allen notwendigen Apparaturen — sie erstarrte im Apparatismus, weil die gestaltenden Kräfte des Verfassungssouveräns nicht mobil waren. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den beiden Aspekten? Einige Beispiele sollen aufzeigen, was konkret gemeint ist.

Das erste Beispiel Die Exekutive des Staates wirkt durch Behörden! Deren Maßnahmen sind vorwiegend reglementierender und statischer, nicht schöpferischer Art, das heißt, sie handeln die Fälle nach Normen ab, die den Denkprozeß zwar voraussetzen, aber nicht seiner Dynamik unterworfen sind. Daraus ergibt sich die Gefahr einer Tyrannei des Institutioneilen über das Personale. Der Mensch — auch der in der Verwaltung — wird Opfer der verwaltenden Maschinerie; ohne daß seine Menschenrechte formal verletzt werden, kommen seine Freiheit und Würde in Gefahr. Die Aufgabe des politisch bewußt lebenden Bürgers ist es, die notwendige Technik des Verwaltungsvorganges nicht nur sachlich denkend zu begleiten, sondern sie auch in ihrer politischen Bedingtheit zu begreifen, das heißt, die staatliche Autorität, den Machtvollzug, immer wieder auf den Ausgangspunkt, den Menschen, zurüdezuführen. — Das ist ein zentraler Vorgang in politischer Verantwortung.

Konkret: Eine Schule hat Ärger wegen ihrer neuen Spielplätze, die offensichtlich Mängel aufweisen. Die Schule hat die Mängel festgestellt, sorgfältig bedacht und der verantwortenden Behörde mitgeteilt. Die Antwort: Die Spielplätze sind in Ordnung! — Die Verantwortlichen der Schule prüfen noch einmal nach, finden die gleichen Mängel und legen sie dem Behörden-Apparat erneut vor. Die Antwort: Die Spielplätze sind ordnungsgemäß erstellt, aber wir werden sie in Ordnung bringen. Der authentische Text: „Der Hartplatz ist ebenfalls ordnungsgemäß hergestellt worden. Die vorhandenen rauhen Stellen sind an sich unvermeidbar, wenn vermieden werden soll, daß ein solcher Platz zu Rutschgefahr Anlaß gibt. Die von Ihnen bezeichneten unerwünschten Stellen werden nachgearbeitet!"

Es handelt sich hier nicht allein um Behördendeutsch, sondern um Unsinn im Interesse einer ialschen Sachbezogenheit von Seiten einer Behörde, die meint, als Institution recht haben zu müssen. Hier ist ein Stück des alten Obrigkeitsstaates auszuräumen, und das kann tatsächlich nur der mithandelnde und mitverantwortende Bürger vollbringen. Summa: Die Delegation der politischen Autorität des einzelnen durch den Wahlakt an den Abgeordneten, die Bündelung dieser Autorität im Parlament und die Übertragung der Macht-funktion an die Exekutive enthebt den einzelnen Bürger nicht seiner mitverantwortenden Verpflichtung. Zur Wahlfunktion gehört untrennbar die Kontrollfunktion. Fehlt diese, so ist jene sinnlos.

Das zweite Beispiel Wir haben die Dinge, welche die Reform der höheren Schule, insbesondere die politische Bildung betreffend, oft mit Unbehagen kommentiert. Die Notwendigkeit, Schule zu reformieren und sie den veränderten Weltverhältnissen anzupassen, ist bereits in den fünfziger Jahren erschöpfend diskutiert worden. Warum aber hinken wir trotzdem mehr als ein Jahrzehnt nach? Die Antwort, die hier versucht wird, ist nur hinlänglich befriedigend, aber sie macht den Sachverhalt klar, um den es geht.

Wir erinnern uns der Zeit, als die Fragen der politischen Bildung schlagartig in den Vordergrund gerückt wurden — nach den Schmierereien an jüdischem Eigentum in Köln und anderswo. Die Entrüstung der Öffentlichkeit (die Schule hat Schuld!) schockierte die Kultusverwaltungen. Die Folge war ein Verfügungsregen. Dieser Niederschlag hat uns einige Sorgen bereitet; er war zwar notwendig, trat uns aber völlig unvorbereitet, obwohl die Problematik seit einem Jahrzehnt gegeben, wissenschaftlich untersucht und geklärt war.

Das ist ein Beispiel für stagnierenden Funktionalismus im Schulbereich, für Mangel an Mut und initiativer Einsicht in den notwendigen Entwicklungsprozeß, dessen Faktoren nicht von der Schule und ihren pädagogischen Notwendigkeiten, sondern von der Struktur und dem Strukturwandel der Gesellschaft abhängig sind.

Solche Feststellung schließt nicht aus, daß dennoch in der Schule fleißig und treu gearbeitet worden ist, aber sie zeigt unübersehbar, daß die Situation unseres Bildungswesens mehr verlangt als Dieses Fleiß und Treue im Amt.

Mehr würde ich die politische Verantwortung des Lehrers nennen.

Das dritte Beispiel befaßt sich mit der Freiheit der Betätigung unseres politischen Handelns und führt in ein umfassendes Verhältnis. In einer Untersuchung über die Mängel unserer Parlamente, das heißt, über jene Körperschaften, an die der Bürger seine Macht-und Kontrollbefugnisse delegiert, wird nachgewiesen, daß die Volksvertretungen der Bundesrepublik nicht mehr ganz im Sinne der Gewaltenteilung arbeiten. Sowohl die gesetzgeberische als auch die kontrollierende Funktion seien nicht mehr im Sinne der Verfassung wirksam. Das bedeutet: Zwischen der Form unserer Verfassung und der gelebten Wirklichkeit ist eine Funktionsverschiebung im Gange, die den Grundsinn der Verfassung trifft. Wie reagieren wir Bürger heute auf solche Erscheinungen? Anders als zur Zeit des Weimarer Staates? Ich darf daran erinnern, daß Hitler mit Hilfe der Verfassungsnorm von Weimar seine eigene Staats-Wirklichkeit entwickeln konnte.

Hat der einzelne — so müssen wir fragen — auf solche, die Fundamente unseres Staates berührenden Vorgänge gar keinen Einfluß? Ist er ihnen ausgeliefert?

Die Qualität der Regierung hängt ab von der Qualität des Parlamentes, die Qualität des Parlamentes von der Qualität der Abgeordneten, die Qualität der Abgeordneten von ihrer Auswahl, nicht von der Wahl. — Wer aber wählt die Abgeordneten aus? Nicht ein repräsentativer Prözentsatz, sondern nur 1-— 2 Promille der Wähler; im wesentlichen bestimmen die Funktionäre und Vorstände in den Organisationen der Parteien den Abgeordneten. Es kommt in diesem Beispiel darauf an, die vertane Chance zu erkennen. Es ist eben nicht allein der Wahlakt, sondern sicher auch die Beeinflussung der Auswahl der Kandidaten ein unaufgebbares Recht des politischen Bürgers. Und wenn es heißt: Wahlrecht ist Wahl-pflicht, dann müßte die Konsequenz lauten: Auswahlrecht ist Auswahlpflicht. Müßte man nicht unser Versagen und unsere Verantwortung auch in diesem Punkte ernstlich und gemeinsam bedenken?

Macht und Moral Die Freiheit kann in unserer Massengesellschaft nur gesichert werden, wenn sie institutionalisiert wird — das bedeutet den entscheidenden Unterschied unserer Zeit gegenüber der Neuzeit, deren Ende seit Guardinis Erkenntnissen ja nicht mehr zu bagatellisieren ist. Man kann nicht übersehen, daß Bildung und Besitz, wie sie uns aus dieser beendeten Neuzeit überkommen sind, der Freiheit heute keinen Schutz mehr bieten. Wir müssen erkennen und anerkennen, daß die Verbraucher-und Interessengruppen die bestimmenden Faktoren geworden sind und es bleiben werden. Wer frei sein will, kann nicht gegen diese Gruppierungen der Massengesellschaft leben oder sie ignorieren, sondern Freiheit ist heute nur in der Masse und mit der Masse zu erhalten. Die Massen unserer Industriegesellschaft sind noch weitgehend amorph, vorerst nur soziologisch und nach Interessen strukturiert; aber so werden sie nicht bleiben; sie sind im Begriff, sich politisch aufzuladen und wirkungsvoll zu institutionalisieren. Zur soziologischen Neuordnung der modernen Gesellschaft wird die politische kommen. Von welcher Bedeutung organisierte Interessengruppen werden können, haben wir erlebt. Ihre Macht kommt jener Gewalt beängstigend nahe, die in der Lage ist, eine alte Ordnung aus den Angeln zu heben. Dieser Teil der zweiten industriellen Revolution steht uns noch bevor oder besser: wir sind mitten darin befangen. Wer das nicht sieht, ist ein Träumer.

Es ist nach wie vor förderlich, bei den Griechen in die Schule zu gehen und am überschaubaren Modell die Elemente des Staates und des staatsbürgerlichen Bewußtseins zu erkennen. — Die Elemente! nicht weniger, aber auch nicht mehr. Nichts ist gefährlicher als dieses Modell über die Massendemokratie von heute zu stülpen und diese daran messen und werten zu wollen. Mit einem noch so radikalen neuhumanistischen Geschichtsbild bekommt man die Gegenwart nicht mehr in den Griff!

Wir haben noch nicht einmal gelernt, den Parteienstaat herkömmlicher Art in seinen Möglichkeiten zu bestimmen. Wie soll das erst werden, da die Entwicklung eine Richtung nimmt, die über den Parteienstaat alter Provenienz hinaus in Formen strebt, die entscheidend von den strukturierten Massengruppen bestimmt sein werden.

Noch deutlicher: Der erste Satz unseres Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Dann folgt der Katalog der Freiheiten, die in unserem Grundgesetz einklagbares Recht sind.

Die Front dieses Kataloges der Grundrechte blickt auf den Staat. Das ist aus der Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts gedacht und in diesem historischen Bezug richtig. In unserer politischen Wirklichkeit aber ist das nur noch zum Teil richtig. Gesetzesanwendung durch den Staat ist stets auch Machtanwendung, und diese ist immer so beschaffen, daß sie Gewalt werden kann und damit die Freiheiten usurpiert. — Die weit größere Gefährdung droht der Meinungs-und Entscheidungsfreiheit des Menschen aber offensichtlich durch die Interessensverbände, die ihrerseits nun wieder in Artikel 9 des Grundgesetzes ein einklagbares Recht besitzen, ohne in eine politische Verantwortung für die Verfassung gebunden zu sein. Man geht nicht fehl, wenn man sagt: Das Grundgesetz entstand aus einer Denkwelt, die nicht mehr in voller Weise existent ist, aus einem historischen Bezugssystem, das von der neuen industriellen Revolution überspielt wird. — Die „Verbandsherzöge" hört man sagen, entscheiden, was im Staat geschieht! Mag das noch polemisch oder provokatorisch gemeint sein, es deutet auf eine Wirklichkeit, .der wir gewachsen sein müssen; der die Jugend, die wir erziehen, gewachsen sein muß!

Wir schneiden mit dieser impulsiven Äußerung die Frage der Macht an. Die Spannung zwischen Macht und Moral muß bei der politischen Verantwortung des Lehrers in ihren sich ständig wandelnden Formen ernstlich bedacht werden. Der Hauptton ist dabei auf die Unruhe zu legen, in die der politische Mensch durch diese Diskrepanz jedesmal wieder geraten muß. Auch in die Schule wirkt diese Diskrepanz heute bedrängend hinein; und wenn der Lehrer in seinem eigenen Bereiche, dem der Erziehung, überhaupt mitgestalten will, dann ist es notwendig, diese Dinge in ihrer politischen Bedingtheit zu sehen und sie in politischer Verantwortung aufzunehmen.

Das Arbeitsfeld der Schule über Ausmaß und Methode des Hineinredens und Hineinwirkens „schulfremder“ Mächte und Machtgruppierungen der modernen Gesellschaft in ihr Arbeitsfeld sind die Lehrer oft erregt, und das mit gutem Grund. Ist diese Erregung immer berechtigt? Waran dem leichtfertigen Vorwurf, der die Schule vor Jahren bei den Schmierereien an jüdischem Eigentum traf, gar nichts richtig? Hat die Schule aus sich heraus ihre politische Bildungsaufgabe wirklich gesehen, geschweige denn erfüllt? — Konnte sie also diese Aufgabe überhaupt erfüllen?

Schule ist zur Bildung eines politischen Bewußtseins erst dann in der Lage, wenn sie sich nicht nur als Institution der übergeordneten politischen Ordnung versteht, sondern wenn sie auch ein eigenständiger pädagogisch-politischer Organismus geworden ist. Natür-lieh ist Schule Institution des Staates und steht unter seiner Kontrolle, der Lehrer — als Funktionär dieser Einrichtung — unterliegt dem heteronomen Bildungsauftrag, der ihm weitgehend vorschreibt, was er zu lehren hat und wie er zu lehren hat. Solche Verpflichtung ist leicht zu erkennen und relativ leicht zu erfüllen. — Viel schwieriger ist es, Schule als einen Organismus im gekennzeichneten Sinne zu fassen, als ein Wesen, das außer dem institutioneilen Bildungsauftrag in Freiheit eine autonome Erziehungsaufgabe enthält und dadurch erst jenen spezifischen Geist erzeugt, der Lehrer und Schüler prägt, das heißt eine Schule, die aus sich heraus ein geistiges Gemeinwesen ist, nicht nur ein intellektuelles Bildungsunternehmen im Auftrage des Staates. Die autonome Aufgabe, von der hier die Rede ist, läßt sich in gar keiner Weise in behördliche Verfügungen fassen; sie meint die existenzielle Seite der Schule, kurz: Schule nicht als Institution, sondern als Person.

Was sich hier als Möglichkeit aufdeckt, ist nichts Neues, aber etwas selten Geübtes, indes in der demokratischen Ordnung eine Lebensnotwendigkeit. Es geht über das Dienst-geschäft des Beamten hinaus und wird in keiner Dienstvorschrift gefordert. — Konkreter: Der Lehrer ist nicht nur Funktionär mit nachgewiesenen pädagogischen und wissenschaftlichen Qualitäten, der in redlich mühevoller Pflichterfüllung Wissen vermittelt, sondern er ist auch als Lehrer Bürger einer gesellschaftlichen Ordnung, die aus der Mitgestaltung der politisch aktiven Bürger ihre Wirkung erhält. Es gehört somit in die politische Verantwortung des Lehrers, eine Schule zu schäften, in der politische Bildung nicht als Lehre allein, sondern als politisches Bewußtsein erlebbar wird. Und dieses ist das Entscheidende, nicht die Lehre!

Solcher Vorgang steht in Analogie zur Lebenserfahrung unserer Demokratie überhaupt, die eben nicht nur aus dem Gesetz, aus der Ordnung, dem Befehl, der dienstlichen Pflicht lebt, sondern aus der personalen (autonomen) Gestaltungskraft ihrer Bürger. Das Grundgesetz ist Abstraktion eines politischen Willen; seine Piaktizierung durch den selbständigen Willen der Bürger erst gibt ihm Leben. Schul-Verfassung, Verordnungen usw. sind ebenfalls nur Abstraktionen einer ordnenden Potenz; erst durch die autonome Verantwortung des Lehrers werden sie Leben.

Das Urteil ehemaliger Schüler Was frühere Schüler über die autonome, die personale politische Verantwortung des Lehrers denken, wie sie sie erlebt oder vermißt haben, können die folgenden Äußerungen dar-tun, die aus einer Gesprächsreihe mit Abiturienten der Jahrgänge 1950/51 bis 1959/60 — das sind 9 Jahrgänge — stammen. Aus der Fülle der Äußerungen, die das Gespräch erbrachte, wurden jene ausgewählt, die Wissen und Erfahrung mit ausreichender Selbstkritik verbunden haben.

Es sind Stimmen von jungen Menschen, die heute also 22 bis 31 Jahre alt sind, zum Teil noch studieren, zum Teil schon im Beruf stehen.

„In der politischen Erziehung hängt der Erfolg nicht so sehr vom Fach, sondern von Wesen und Art des Lehrers ab."

„Das Entscheidene war, daß bei einigen Lehrern ein politischer Geist vorhanden war, der sich beinahe unbewußt auf die Schüler übertrug."

„Ein Erfolg aber wird letzten Endes immer von der Überzeugungskraft des Lehrers abhängen."

„Von entscheidender Wichtigkeit ist, daß gerade die Lehrer von Zeit zu Zeit zu erkennen geben, daß sie keinesfalls unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit politisch indifferent sind. Ein Lehrer, der darin ein verantwortungsbewußtes Vorbild ist, trägt mehr zu diesem Ziel bei, als ein zu diesem Zwecke eingesetztes Fach."

„Einzelne Lehrer, die den geistigen Abstand von der Vergangenheit gewonnen und den Mut zum Bekenntnis aufgebracht haben, schufen die Grundlagen eines politischen Bewußtseins. Die Schule als Institution hat den Schritt zur Sicherung einer politischen Bildung noch nicht vollzogen."

„Die vordringliche Forderung ist eine politische Willensbildung der Lehrer aller Fächer, in deren Bereich eine Erziehung der Schüler zum Staatsbürger liegen muß.“

„ 1. Mehr Mut zur Verantwortung beim Lehrer.

2. Entsprechende Ausbildung des Lehrer-nachwuchses.

3. Schule als Institution soll Mut zur Politik zeigen."

„Das ist es, was mancher vermißt hat, die konsequente Darstellung eines Standpunktes, der auch überzeugend im Leben reali-siert war und so beweisen konnte, daß er lebensfähig, ja mehr, daß er selbst Leben war. Wie selten kommt es vor, daß ein Lehrender sein politisches Wissen und seine Überzeugung im Mittun zum Wohle aller einsetzt."

„Die Grundvoraussetzung für die Zukunft ist ein auf irgendeine Weise wachgerufenes lebendiges Interesse der neuen Lehrergeneration an politischen Vorgängen."

„Die zukünftigen Lehrer müssen schon während ihrer wissenschaftlichen und praktischen Ausbildung dazu angehalten werden, sich intensiver mit Politik zu beschäftigen.“

„Wichtiger ist das Vorbild des Lehrers.

Wenn dieser sich in der Mitverwaltung der Kommune engagiert, wird der Unterricht die Wirkung haben, die beabsichtigt ist.

Wenn fast das ganze Kollegium der Tagespolitik, der Schülermitverwaltung etc. Desinteresse entgegenbringt, kann auch ein guter gegenwartskundlicher Unterricht nur kümmerliche Früchte zeitigen."

„Die politische Persönlichkeit des Lehrers muß wirksam werden. Mittelbar auch auf das Elternhaus."

Diese Äußerungen sind objektive Erwartungen; ihre geistige und praktische Linie deckt sich mit den entwickelten Vorstellungen über die politische Verantwortung des Lehrers in der heutigen Demokratie.

Der vorgegebene gesetzliche Rahmen Verantwortungsbewußter Freimut, gelassenes Selbstvertrauen, der in unserer Geschichte seltene Mut, ja Trotz vor dem Thron charakterisieren die Tugenden, die der politischen Verantwortung Würde verleihen. Ohne diese sittliche Bezogenheit ist politische Verantwortung wohl nicht zu denken oder doch nur ein angeordneter Funktionalismus.

Wenn man aus solchem Anspruch heraus den Willen des Gesetzgebers zu dieser Frage kritisch untersucht, so wird man feststellen dürfen, daß ein hinreichender gesetzlicher Rahmen gegeben ist, in dem sich das personale politische Verantwortungsbewußtsein des Lehrers auswirken kann. Solche Feststellung befreit jedoch nicht von der Notwendigkeit, die andere Seite kritisch im Auge zu behalten und zu sagen, daß auch der Gesetzgeber und die ihm gehorchenden Ämter aufgefordert bleiben, ihre eigene politische Verantwortung permanent zu überprüfen und durch Entwicklung zeitgerechter Möglichkeiten zu erweitern.

Sofern das nicht oder nur zögernd geschieht, bat der Bürger (hier der Lehrer) durchaus die Pflicht, gegebene gesetzliche Formen mit neuem politischen Leben zu erfüllen, an das bei Verabschiedung des Gesetzes noch nicht gedacht werden konnte. Der Übermut der Ämter, ihre rechthaberische Manier bis zur letzten Instanz, ihr aus der Buchstabenstarre der Obrigkeit genährtes mangelndes Verständnis für die praktischen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Daseins bedeuten eine ebenso ernste Gefahr für die Demokratie, wie die Ignoranz der unpolitischen Bürger. Wir können gegen diese Haltung nicht scharf genug angehen. „Wir" meint beide Seiten: die Behörde und den Staatsbürger, der dies demokratische Dilemma erkannt hat und zu Konsequenzen bereit ist.

Die gegenwärtige schulpolitische Situation bietet uns drei konkrete Ansatzpunkte:

1. Die Lehrerkonferenz, die als bestimmende und formende Begegnung aller Qualitäten aller Lehrer aufzufassen ist;

2. die Schülermitverwaltung, die als Verwirklichung partnerschaftlicher Ideen zu begreifen ist;

3. die Elternpflegeschaften, die als wesentlicher und bewegender Teil unserer gesellschaftlichen Struktur anzusehen sind.

Das alles steht und fällt mit dem Lehrer und seinem politischen Verantwortungsbewußtsein, aber — es sei wiederholt — diese drei Bereiche bieten ihm einen hinreichenden gesetzlichen Rahmen, in dem sich sein politischer Impetus auswirken kann. Und in diesem gesetzlichen Rahmen ist auch Raum für neue Formen, die in verantwortungsbewußter Freiheit gewonnen werden können; etwa für freiwillige Arbeitsgruppen besonders interessierter und erregter Fachleute aller Lehrrichtungen, die bereit sind in „übergreifender“ Sicht, den Wust unserer Bildungstraditionen beiseite zu tun und das wesentlich Notwendige zu entwickeln. Die Lehrerkonferenz, von Ladenhütern vergangener Bildungsvorstellungen befreit und erregt von Gegenwarts-und Zukunftsaufgaben, ist die geistige Zentrale, in der die politische Verantwortung des Lehrers angesprochen, kritisch beurteilt und gefördert (gebildet) wird. Nicht die Vielzahl der Stunden, in denen man zusammensitzt, sondern Thematik, Konzentration und Gesprächsführung bestimmen ihren Wert. Die Fähigkeit des Menschen, durch sachkundiges Studium und offene Diskussion zum Wesentlichen zu kommen und die Tugend, Kritik taktvoll zu üben und ohne Verstimmung anzunehmen, schaffen ein Klima, in dem politische Tugenden, Fähigkeiten und Formen zur Reife gedeihen können.

Die Schülermitverantwortung ist eine sehr ernst zu fassende Aufgabe und vom Gesetzgeber genau so gewollt. Sie bedarf der vordringlichen Sorgfalt und Pflege durch alle Lehrer. Von ihrer Notwendigkeit muß daher jeder überzeugt werden; keiner sollte ausgenommen sein, denn die Einstellung zu diesem Versuch, junge Menschen frühzeitig in den politisch-pädagogischen Organismus der Schule mitverantwortend einzufügen, darf als Kriterium für die politische Bildung und Verantwortungskraft des Lehrers betrachtet werden. Die SMV steht nicht neben der Schule, sondern in ihr; sie ist nicht Anspruch, sondern Dienst. Die Wahl des Vertrauenslehrers und des Schulsprechers sind entscheidende Akte im Schulleben, sie dürfen keine Zufallsergebnisse sein, und die Schule als Institution hat ihnen äußeren Rang zu geben. Beide Positionen werden nur anerkannt, wenn sie fordern, nicht wenn sie für Wege geringsten Widerstandes sorgen. — Das Schülerparlament verdirbt den Sinn der politischen Erziehung, wenn es zum Podium schäbiger Unwichtigkeiten wird. Die Sinnerfüllung der SMV ist nur dort möglich, wo ein Lehrerkollegium jugendlich handeln kann und wo die Schüler auch vom Elternhaus her etwas mitbringen von jener Maxime, daß Dienen, wenn es in Freiheit geschieht, den Menschen adelt.

Damit wird die Wechselwirkung von Elternhaus und Schule angedeutet. Das Elternrecht muß wesentlich in diesem Verstände interpretiert und ausgeübt werden. Die Elternpflegschatten erfassen einen wesentlichen, wohl den aktivisten Teil unserer Gesellschaft. Die politische Verantwortung des Lehrers kann an dieser Stelle weit über die Schulmauern hinweggreifen, sie kann unmittelbare, Anregung spendende Wirkung in der res publica geben. Das alles steht und fällt mit einem Lehrer, der sich 1.seiner erzieherischen Kapazität, 2.seiner gesellschaftlichen Würde, 3.seiner politischen Verantwortung zugleich bewußt ist.

Nur wenn diese drei Faktoren — berufliche Leistung, gesellschaftliche Stellung und politische Verantwortung — sich dauernd ergänzen, durchdringen und kontrollieren, ist dieser Lehrer ein demokratischer Erzieher im Sinne des Themas.

Ein existentieller Notstand Wenn man solchen Überlegungen folgt und feststellt, daß ihnen schwerlich zu widersprechen ist, wenn man schließlich zu der Einsicht gelangt, daß hier wahrhaftig ein existenzieller Notstand gegeben ist, dann will man sich als denkender Mensch nicht versagen. Natürlich nicht, denn fachliches und sittliches Verantwortungsbewußtsein rufen beide danach, diese politische Aufgabe anzupacken. Jedoch zwischen Entschluß und Tat türmen sich sogleich entmutigende Hindernisse: die Fülle der Arbeit, die unbewältigte Stoffmasse, die Hast des Schulalltags — eben all jene Erscheinungen, die den Lehrer zum geistigen Roboter machen.

Wie aber geht es weiter? Es muß ja weiter gehen! Diese Frage überhaupt sehen, ihre Bedeutung erkennen und der Versuch, eine Antwort zu finden, sind ja bereits der erste Schritt. Nur der Lehrer selbst kann die Antwort finden! Solange wir den demokratischen Rechtsstaat wollen, kann das nicht anders sein. So wollen die Ansätze zur Beantwortung der Frage in diesen Überlegungen verstanden werden.

Drei Dinge aber sollen zum Abschluß unmißverständlich klar gesagt sein:

1. Die Forderung nach der politischen Verantwortung des Lehrers ist am klarsten und weitgehendsten in den Richtlinien für Geschichte und Gemeinschaftskunde für höhere Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen ausgesprochen worden. Dort steht:

„Politische Bildung und Erziehung ist als Unterrichtsprinzip Aufgabe aller Fächer der Höheren Schule.“ Was heißt das anders als: Jeder Lehrer der höheren Schule, gleich welcher Sparte oder Fachrichtung, trägt politische Verantwortung. Stellt man diese Richtlinienforderung in den verfassungsrechtlichen Rahmen der Bundesrepublik und der Länder, in dem politische Erziehung gesetzlich allen Schulen zur Aufgabe gemacht wird, dann erweitert sich politische Erziehung als Unterrichtsprinzip aller Fächer auf alle Schulen bis zur Universität. Einen objektiven Einstieg in den derzeitigen Stand der politischen Verantwortungsfähigkeit des Lehrers erhält man, wenn über den Satz „Politische Bildung und Erziehung ist als Unterrichtsprinzip Aufgabe aller Fächer" ein Gespräch angestellt wird. Man erkennt bald die gefährliche, zentrale Schwäche, unter der die politische Verantwortung des Lehrers leidet. Aus solchen kritischen Erkenntnissen können Ansatzpunkte für neue Wege gefunden werden. 2. Wenn die Einsicht wesentlich und die Absicht redlich ist, dann dürfen sie nicht in dem würdelosen Gerede versinken: Der Staat soll helfen, die Behörden sollen anordnen, regeln, bestimmen, verfügen! Kritik an Staat und Behörde ist notwendig, das wurde dargelegt; sie muß jedoch aus klarer personaler Position, nicht aus Arroganz und Ignoranz, nicht aus Befehlsempfänger-Mentalität, sie muß aus aktiver Bereitschaft geschehen. 3. Eine andere Gefahr, nicht minder groß, weil sie den Schein geistiger Haltung für sich hat, bietet die folgende Verhaltensweise. Das Gewissen — selbst bei Einsicht in die notwendigen Dinge — läßt sich beruhigen, wenn man in Redlichkeit tut, was das Unterrichtsfach von einem fordert. Das Fach — die Enge der spezialisierten Meisterschaft — dient als Ausrede, als Ausweiche, als Flucht vor der wirklichen Verantwortung dem Ganzen gegenüber. Entnehmen Sie die mögliche Konsequenz aus solcher Haltung einem Wort Max Schelers: „Der Mensch könnte auch bei idealer Vollendung des positiv wissenschaftlichen Prozesses als Geistwesen noch absolut leer bleiben, ja er könnte bis zu einer Barbarei zurücksinken, im Verhältnis zu der alle sogenannten Naturvölker wahre Hellenen wären. Die wissenschaftlich unterbaute Barbarei wird sogar die furchtbarste aller nur denkbaren Barbareien."

Fussnoten

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Wilhelm Wortmann, Dr. phil., geb. 13. Februar 1908 in Haustenbeck (Lippe-Detmold), Studienrat am Leopoldium I in Detmold. Studium: Geschichte, Deutsch, Erdkunde, Leibeserziehung. Veröffentlichungen über Fragen der politischen Erziehung in . Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" und in „Gesellschaft — Staat — Erziehung*.