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Der Streit um die Europapolitik | APuZ 47/1964 | bpb.de

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APuZ 47/1964 Artikel 1 Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6 Artikel 7 Artikel 8 Artikel 9 Der Streit um die Europapolitik Europa ohne Großbritannien?

Der Streit um die Europapolitik

Theo M. Loch

Uber Europa stehen drohend die Schatten eines neuen Zerfalls. Für viele scheint der Rückschritt in die Zeit des Nationalismus, eine Zeit, die Jean Monnet die „Jahre der Barbarei" nannte, unausweichlich zu sein. Der französische Staatspräsident de Gaulle hat erklären lassen, Frankreich werde der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fern bleiben, wenn bis zum Ende dieses Jahres keine Einigung über den europäischen Getreidepreis erreicht werde. Sein Außenminister Couve de Murville erklärte wenig später vor dem französischen Parlament, ohne gemeinsame Agrarpreise habe die seit 1961 in Brüssel, dem Sitz des Europäischen Ministerrates, geleistete Arbeit ihre wirtschaftliche Bedeutung verloren. Die Einigung über die Agrarpolitik der sechs EWG-Staaten sei die Voraussetzung für Verhandlungen über eine gemeinsame Außenpolitik und Verteidigung. Die wiederum müßten als die Bedingung für eine „Instutionalisierung der politischen Einheit der Sechs" angesehen werden.

Die Bundesregierung hat trotz der nicht länger zu leugnenden Schwierigkeiten mit der französischen Regierung am 4. November 1964 abermals solche Verhandlungen über eine enge Zusammenarbeit der sechs EWG-Staaten in der Außen-, Verteidigungs-und Kultur-politik vorgeschlagen. Sie befürwortete hierbei ein schrittweises Vorgehen, wobei in einer ersten Phase Konsultationen begonnen werden sollen, um „soweit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung zu gelangen". Ein beratender Ausschuß soll nach den deutschen Vorstellungen von den Regierungen ernannt werden, aber „allein den gemeinsamen Interessen dienen". Das Europäische Parlament soll in die politische Zusammenarbeit einbezogen werden.

Die Vorschläge der Bundesregierung sind nach Erklärungen in Bonn ausschließlich der politischen Wirklichkeit in Europa angepaßt. Das ist eine vernünftige Einstellung. Wenn man jedoch aus den neuen Vorschlägen der Bundes-regierung für die Europapolitik tatsächlich die politischen Realitäten Europas herausliest, erkennt man mit Erschrecken, wie bescheiden die Ziele für die Einigung Europas geworden sind. Aber auch die langschwelende Krise um Zypern, die Lähmung der NATO und die Zurückhaltung Großbritanniens vom europäischen Kontinent unter der Labour-Regierung haben die Zweifel an der europäischen Idee als eine zwingende politische Aufgabe genährt. Sind diese Zweifel berechtigt? Wie kam es zu den Schwierigkeiten?

Der Mangel an präzisen Formulierungen über die Ziele der europäischen Regierungen und das immer neue Spiel mit unklaren Forderungen — ein Spiel, das meistens zu einer Flucht in die Phrase verleitet — haben der Europapolitik größeren Schaden zugefügt, als Parlamentarier und Staatsmänner in den einzelnen europäischen Ländern zugeben wollen. Die politischen Gruppen streiten sich vielfach mit einer Heftigkeit, die unbegründet ist, wenn die einzelnen Begriffe geklärt werden. Sobald das Gewirr polemischer Behauptungen aufgelöst wird, zeigt der Streit über die politische Einigung Europas, daß viele der Überzeugtesten Anhänger im Lager der sogenannten „Gaullisten" und im Lager der „Atlantiker" sich zerstreiten, ohne zu wissen, wie sehr sie Wahrheit und politische Dichtung über einen Leisten schlagen.

Wenn dieser politisch gefährliche Zustand überwunden werden soll, muß als erstes die Frage gestellt werden: Wo steht Europa heute? Es ist zu prüfen, wieweit der wirtschaftliche Aufbau des Gemeinsamen Marktes — vorausgesetzt er wird fortgeführt — noch immer politische Impulse für eine gemeinsame Außen-und Verteidigungspolitik der EWG-Staaten freimacht. Es ist ferner zu klären, ob die Auffassungen des französischen Staatspräsidenten de Gaulle, die als „Europa der Vaterländer" klassifiziert wurden, nur einen Umweg zum alten Ziel der Vereinigten Staaten von Europa darstellen oder ob sie in die Irre führen.

Zuversicht in den Werkstätten der Integration

Wer kurz vor den Sommerferien des deutschen Bundestages die erregten Debatten über die Europapolitik verfolgte, war überrascht, daß der Streit über den französischen und über den atlantischen Kurs in den „Werkstätten der europäischen Integration", das heißt in der Hohen Behörde der Montanunion und in den Kommissionen der Europäischen Wirtschaftsund Atomgemeinschaft nur ein schwaches Echo fand. Der Verdacht lag nahe, daß die „Europäer" in den supranationalen Institutionen alle selbstsicher geworden waren, übersahen sie die Gefahren, die entstehen würden, wenn die Verwirrung über die europäische Politik nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch unter den Parlamentariern weiter zunimmt? Die Zurückhaltung in Luxemburg und Brüssel mag zu einem kleinen Teil darauf zurückzuführen sein, daß es schwieriger ist, eine europäische Politik in die Tat umzusetzen und die nationalen Interessen der Staaten in ein gemeinsames Handeln einzuschmelzen als über die Europapolitik zu parlieren. Wichtiger jedoch war die Überzeugung, daß für die wirtschaftliche Einigung Europas der vielgenannte " point of no return" überschritten war und daß jede Vertragstreue der EWG-Staaten zwangsläufig auch die Grundlagen für eine politische Union herbeiführen muß.

Während in der Bundesrepublik die Politiker immer wieder an den politischen Willen zur Einigung Europas appellierten, weigerten sich die Praktiker der europäischen Integration in Brüssel und Luxemburg, diesen politischen Willen als eine Art von Wunderwaffe zu betrachten. Der Präsident der EWG-Kommission, Walter Hallstein, sagte Ende Juli bei einer internationalen Studientagung in Marienberg, daß es ein gefährlicher Irrtum sei anzunehmen, neue Institutionen würden zu einer gemeinsamen Außen-und Verteidigungspolitik in Europa führen. Eine institutioneile Ordberg, daß es ein gefährlicher Irrtum sei anzuforderlich. Aber sie allein sei noch nicht ausreichend. Viel wichtiger sei eine Übereinstimmung der materiellen Interessen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft.

Zum Verständnis der europäischen Schwierigkeiten im Sommer und Herbst 1964 ist es notwendig, diese Sätze Hallsteins, der wie kaum ein anderer deutscher Politiker auf langjährige Erfahrungen in der Europapolitik zurückblicken kann und der noch immer als eine motorische Kraft für den Aufbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angesehen werden muß, sorgfältig zu lesen. Nach ihnen kann keine europäische Gemeinschaft, wie immer sie auch gestaltet sein möge und welche Art von Institutionen auch für sie geschaffen werden, an den Interessen der Staaten, seien sie politischer oder wirtschaftlicher Natur, vorbeigehen. Jede Ausflucht in die Utopie bleibt versperrt. Die Jahre der Zusammenarbeit in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben auch in Brüssel gezeigt, daß es nutzlos ist, die Augen vor den Interessen der nationalen Staaten zu verschließen. Es ist gefährlich, ihr legitimes Interesse und ihr Verlangen nach nationalen Vorteilen zu leugnen. Jeder Versuch, die wirtschaftliche Gemeinschaft der europäischen Staaten zu einer politischen Union auszubauen, muß deshalb auch von den politischen Interessen dieser Staaten ausgehen. Ohne Zweifel wurde diese Ausgangslage für jede politische Union in den vergangenen Jahren allzu oft übersehen.

Die zweite These, die in Brüssel vertreten wird, widerspricht der wichtigsten Forderung des Parteitages der CSU in München, wo die Auseinandersetzung um die deutsche Europapolitik im Sommer 1964 ihren Höhepunkt erreichte. Hallstein erklärte: „Es ist nicht wahr, daß wir eine politische Union brauchen, um die Verträge von Rom zu erfüllen. Diese Forderung macht es leicht, die Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufzuhalten und unerfüllbare politische Forderungen zu stellen, die scheinbar den Nachweis lür eine europäische Gesinnung liefern, in Wahrheit jedoch die Einigung Europas hemmen." Die Überzeugung, daß die Integration als politisches Prinzip in das wirtschaftliche und politische Leben Europas eingeführt und nicht mehr aus ihm entfernt werden kann, gibt den europäischen Behörden ihre Sicherheit. Sie bewahrt sie vor den vielerlei Zweifeln, die in den letzten Jahren die Politik der nationalen Regierungen lähmten und sie vergessen ließen, daß eine Einigung Europas ausbleibt, wenn der Appell Heinrich von Brentanos mißachtet wird. Er hatte vor zwei Jahren gefordert, daß die Europapolitik nicht nur als die Kunst des Möglichen verstanden werden dürfe, sondern daß sie auch als eine Politik zu betrachten sei, die das Notwendige möglich macht.

Erfolge und Gefahren in der EWG

Die innere Sicherheit der viel und zu Unrecht geschmähten Technokraten in Luxemburg und in Brüssel stützte sich bis zum Tage der Warnungen des französischen Staatspräsidenten de Gaulle jedoch vor allem anderen auf die wirtschaftlichen Erfolge, die bisher beim Aufbau des Gemeinsamen Marktes in Europa erzielt wurden. Nach einer fünfjährigen Übergangszeit der sechs nationalen Volkswirtschaften zu einer europäischen Wirtschaftsunion präsentiert sich heute die Wirtschaftsgemeinschaftmit einem expandierenden Markt, mit steigenden Wachstumsraten und mit einer ständigen Erhöhung des Brutto-Sozialprodukts. In den ersten fünf Jahren des Gemeinsamen Marktes erhöhte sich das Brutto-Sozialprodukt der Wirtschaftsgemeinschaft um 30 Prozent. Es überflügelte damit die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten (Erhöhung des Brutto-Sozialproduktes um 23 Prozent) und in Großbritannien (Steigerung um 16 Prozent). Die industrielle Produktion der EWG erhöhte sich in der gleichen Zeit um 40 Prozent. Der Handel zwischen den sechs Mitgliedstaaten der Gemeinschaft stieg von 1958 bis 1963 um 131 Prozent mit einer Steigerungsrate im Jahre 1962 um 17 Prozent.

Diese Zahlen verleihen nicht nur Sicherheit, sie können auch zu einer Überschätzung der bisherigen Erfolge und zu einer Unterschätzung der Schwierigkeiten führen, die von der Gemeinschaft der sechs EWG-Staaten noch gelöst werden müssen. Bisher hat die Gemeinschaft der Sechs nach einem festgefügten Zeitplan vornehmlich den Aufbau einer Zollunion forciert. Sie wagte unter politisch günstigen Konstellationen und mit der Rückendeckung der Vereinigten Staaten sogar beschleunigte Zollsenkungen, die zwei Jahre vor der Zeit zu einem Abbau der Binnenzölle um 65 Prozent führten. Seit die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft jedoch versucht, aus dem Aufbau einer Zollunion die notwendigen wirtschaftspolitischen Konsequenzen zu ziehen, und über die Zollunion hinaus eine Wirtschaftsunion mit einer europäischen Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten anstrebt, haben sich die Schwierigkeiten wesentlich vermehrt, überall dort, wo die Regierungen ohne verbindlichen Zeitplan entscheiden können, neigen sie dazu, die Schwierigkeiten, die einer gemeinsamen Politik im Wege stehen, vor sich herzuschieben. Dies gilt besonders für die Energiepolitik und für die gemeinsame Agrarpolitik, die ohne einen einheitlichen Getreidepreis eine kühne Konstruktion ohne festes Fundament bleiben muß. Bei einem Vorprellen in einem wirtschaftlichen Bereich erhöht sich die Gefahr der Stagnation und des Rückschrittes in anderen Zweigen. Die Spannungen wachsen in einem solchen Ausmaße, daß den nationalen Regierungen der Aufschub als letzter Ausweg erscheint.

Die zweite große Gefahr, die der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft droht, ist eine extrem unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten und ein Gefälle im Preis-niveau, das eine gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik ausschließt. Trotz rechtzeitiger Warnungen haben die EWG-Staaten die langen Schatten der Inflation zu wenig beachtet. Als die Entwicklung in Italien die anderen EWG-Länder dazu zwang, sich auf das Recht und auf die Notwendigkeit einer abgestimmten Konjunkturpolitik zu besinnen, zeigten die Uhren fünf Minuten vor zwölf. Vielleicht wurde der Beschluß des Europäischen Ministerrates, eine gemeinsame Konjunkturpolitik zu entwickeln, weniger laut gefeiert als der Übergang der EWG von der ersten zur zweiten Stufe des Gemeinsamen Marktes. Sicher aber hat die Erklärung des deutschen Bundes-wirtschaftsministers Schmücker in Brüssel, daß er keinen Weg sehe, eine erfolgreiche nationale Konjunkturpolitik zu entwickeln — eine Erklärung, der sich spontan die fünf Wirtschafts-und Finanzminister der anderen EWG-Länder anschlossen — zum erstenmal das Tor für eine europäische Wirtschafts-und Konjunkturpolitik weit geöffnet. Die Beschlüsse des Europäischen Ministerrates wurden bisher nicht mit dem gleichen Elan verwirklicht, mit dem sie in Brüssel gefaßt wurden. Aber die Entwicklung der letzten Monate hat gezeigt, daß das Prinzip der europäischen Solidarität bis heute seine Gültigkeit im Gemeinsamen Markt nicht verloren hat.

Eine Darstellung der vielfältigen Aufgaben, die in nächster Zeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gestellt sind, ist von der Sorge begleitet, daß sich die EWG übernehmen wird, wenn das Vorwärtsdrängen in Brüssel mit Zurückhaltung und Zögern in den einzelnen Hauptstädten beantwortet wird. So sind in der bereits erwähnten Energiepolitik, in der Verkehrspolitik, in der Wettbewerbs-politik und in der gemeinsamen Handelspolitik einschließlich einer wirklichen gemeinschaftlichen Politik gegenüber den Entwicklungsländern bis heute mehr Wünsche unerB füllt geblieben als verwirklicht werden konnten. Diesen Schwächen steht der Aufbau der Zollunion, die Formulierung einer gemeinsamen Agrarpolitik — ausgenommen der Preispolitik—, erfolgversprechende Arbeiten an der Harmonisierung der Steuern, eine mittelfristige Vorausschau auf die wirtschaftliche Entwicklung sowie die Anfänge einer gemeinsamen Konjunktur-und Währungspolitik entgegen. Hinzu kommen der neue Vertrag mit 18 afrikanischen Staaten, die Assoziierungsabkommen mit Griechenland und mit der Türkei, sowie der Handelsvertrag mit Israel.

Es ist merkwürdig, wie wenig die Parlamente in den europäischen Hauptstädten und die Öffentlichkeit in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die bisherigen Leistungen, die guten Absichten und die vielen Versäumnisse der sechs EWG-Staaten bei ihrer Zusammenarbeit im Europäischen Ministerrat zu Brüssel erkennen. Der in der Bundesrepublik oft wiederholte Vorwurf, in Europa geschehe nichts, und die Behauptung, die europäische Integration drehe sich im Kreise wie ein steuerlos gewordenes Schiff, ist nicht einmal die halbe Wahrheit.

Aus der Unkenntnis der Leistungen, die in Brüssel und in Luxemburg erreicht wurden, entspricht allzu oft die Neigung, die Europapolitik insgesamt als verfehlt anzusehen und damit auch die bisherigen Erfolge, die beim Aufbau des Gemeinsamen Marktes erzielt wurden. zu gefährden.

Ein gemeinsamer Markt in Europa ist jedoch nicht das Ziel, das sich die Europäer nach dem Kriege gesteckt hatten. Ihr Ziel, die Einigung der europäischen Staaten, kann über den Gemeinsamen Markt nur dann erreicht werden, wenn der Zwang zu gemeinsamen Entscheidungen und zum gemeinsamen Handeln nicht nur auf die Wirtschaftspolitik und auf die Sozialpolitik beschränkt bleibt, sondern sich auch auf eine gemeinsame Außenpolitik erstreckt. In Brüssel wird deshalb die Auffassung verteidigt, daß ein Teil der politischen Union bereits in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft enthalten sei. Diese Elemente freizulegen und zu ergänzen ist eine Aufgabe, die sich im letzten Jahr auch die Bundesrepublik gestellt hatte, ohne daß sie hierbei von den anderen EWG-Staaten in dem Maße unterstützt wurde, wie dies notwendig gewesen wäre. Noch immer will die deutsche Europapolitik die Wirtschaftsgemeinschaft weiter ausbauen, um von ihr aus eine gute Überleitung zur politischen und militärischen Zusammenarbeit der sechs EWG-Staaten zu finden. Im November 1963 sagte Außenminister Schröder in Paris unmittelbar nach den ersten Besprechungen zwischen Bundeskanzler Erhard und Staatspräsident de Gaulle, daß die Ansätze für eine politische Einigung künftig in Brüssel gefunden werden müßten. Dort sei durch eine gute Zusammenarbeit ein Klima zu entwickeln, das es ermöglichen würde, die Bedenken der EWG-Regierungen gegen die bisher vorgelegten französischen Pläne zu zerstreuen. Schröder hatte schon vorher versucht, mit der Methode der Synchronisation, das heißt einer Koppelung verschiedener nationaler Interessen, die Arbeit des Europäischen Ministerrates zu erleichtern. Die Idee der Synchronisation stieß jedoch teilweise in der EWG-Kommission auf einen harten Widerstand, denn sie befürchtete, daß mit dem Schlagwort „Synchronisierung“ grundsätzlich jedes nationale Interesse gegen ein andersartiges nationales Interesse ausgewogen würde und damit die Idee der Gemeinschaft ihren Sinn verlieren könnte. Diese Bedenken haben der Wirklichkeit nicht standgehalten. Sicherlich kann die Europäische Gemeinschaft nicht ausschließlich nach den Prinzipien des Gebens und Nehmens aufgebaut werden. Aber überall dort, wo das nationale Interesse sich mit dem Fortschritt und mit den Zielen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verknüpft, wird es leichter sein, Erfolge zu erzielen, als dort, wo der nationale Antrieb für eine wirtschaftspolitische Entwicklung ausgeschaltet wird.

Aus den gleichen Überlegungen hat sich die Bundesregierung am 4. November zusätzlich zu ihren Vorschlägen für eine engere politische Zusammenarbeit der sechs EWG-Staaten auch für eine lOprozentige Senkung der Binnenzölle auf dem gewerblichen und auf dem Agrarsektor bis zum 1. Januar 1965 eingesetzt. Die restlichen 20 Prozent sollten für den gewerblichen Sektor bis zum „ 1. Januar 1967 in Aussicht genommen werden, wenn auch die Vollendung der gemeinsamen Agrarpolitik zu übersehen ist“. Hand in Hand mit dem Zoll-abbau, so erklärt die Bundesregierung, sollten auch die Steuern harmonisiert und die Steuergrenzen bis zum Ende der Übergangszeit vollständig beseitigt werden. Deutlich folgt hier Bonn den Vorschlägen der EWG-Kommission, die sie in ihrer „Initiative 1964" dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat unterbreitet hat.

Fusion allein kann nicht genügen

Der Versuch, die Europapolitik nach Brüssel zurückzulenken, ist jedoch nur zum Teil gelungen. So verhandelte der Europäische Ministerrat ohne Endergebnis über die Fusion der europäsichen Gemeinschaften. Dabei sollen zunächst die drei Behörden der Gemeinschaft, die Hohe Behörde der Montanunion und die EURATOM-sowie EWG-Kommissionen zu einer einheitlichen Hohen Kommission zusammengelegt werden. In einer zweiten Etappe sind die drei europäischen Verträge zu vereinheitlichen.

Die Fusion der drei Gemeinschaften ist ein alter Plan, der seit vier Jahren teils ausgiebig diskutiert und teils in den Schubladen der Ministerien vergessen wurde. Solange er jedoch als Schlagwort benutzt wird, besteht die Gefahr, daß die Schwierigkeiten der Fusion übersehen und ein politischer Kassenerfolg erzielt wird, welcher die europäischen Gemeinschaften nicht stärkt, sondern ihnen schadet. Die Devise, aus drei Behörden soll eine Behörde werden, ist noch keine Lösung. Der ehemalige Staatssekretär Prof. Müller-Armack, einer der besten Kenner der Arbeitsmethoden der europäischen Gemeinschaft, erklärte deshalb im Frühjahr: „Ich habe nie verstehen können, wieso eine Reduzierung der Sitze in den europäischen Kommissionen eine Kräfte-steigerung bedeuten soll.“ Er fügte hinzu, die Folgerung, aus einem „Weniger" (an verantwortlichen Männern) könne ein „Mehr" (an Leistung) werden, sei in diesem Falle besonders zweifelhaft, weil der ganze Vorgang durch den Zwang der Entscheidung, wer nun ausscheiden und wer in der künftigen fusionierten einzigen Behörde bleiben solle, belastet sei.

Die personelle Besetzung einer europäischen Behörde, die nach der Fusion die Verantwortung für drei verschiedene Verträge zu übernehmen hat, ist eine Schlüsselfrage. Diese Behörde kann weder von Männern geführt werden, die glauben, Politiker und Technokrat sei ein Widerspruch, noch kann sie von Männern geleitet werden, die meinen, Politik sei ein Zauberwort, das fehlendes Fachwissen ersetzt. Wenn die künftige europäische Behörde für die wirtschaftliche Integration aufgewertet und nicht abgewertet werden soll, dürfen in dieser Behörde nur Politiker, die gleichzeitig Fachleute sind, Entscheidungen treffen.

Die Fusion ist jedoch nicht nur eine Frage der klugen Stellenbesetzung, sondern sie zwingt auch zu einer sinnvollen Organisation der fusionierten neuen Behörde. Deshalb werden in Luxemburg bei der Hohen Behörde der Montanunion Überlegungen angestellt, ob die Einrichtung von „Oberbehörden" nicht einen Ausweg aus den organisatorischen Schwierigkeiten bringen könnte. Für diesen Fall würden wirtschaftliche Sachgebiete zusammengefaßt — zum Beispiel Landwirtschaft, Verkehr, Energie —, über die ein politisch verantwortlicher Mann jeweils sinnvoller entscheiden könnte, als dies zur Zeit in Brüssel möglich ist, wo zahlreiche Entscheidungen nach dem Kollegialprinzip, aber im Umlaufverfahren gefällt werden. Die Chefs der Oberbehörden wären gleichzeitig Mitglieder der obersten Exekutive, deren Zahl sich dann vornehmlich nach den Oberbehörden richten würde.

Alle diese Vorschläge sind bis heute nicht zu Ende diskutiert. Deshalb könnten auch andere Konstruktionen gefunden werden, die so lange ernst genommen werden müssen, als sie eine Stärkung und nicht eine Schwächung der europäischen Gemeinschaften versprechen.

Der Rückzug der Parlamentarier hält an

Das zweite unerschöpfliche politische Thema, das dem Europäischen Ministerrat gestellt ist, ohne daß er bisher bereit war, ernsthaft Entscheidungen vorzubereiten, ist die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments in Straßburg. Hier liegen die Schwierigkeiten bei der Unsicherheit des Parlamentes, bei den Zweifeln der nationalen Parlamente und beim Widerstand der französischen Regierung.

Auf einer Sitzung im Frühjahr dieses Jahres erklärte der CSU-Abgeordnete Weinkamm in Straßburg: „Wir werden auch weiterhin nur bedeutungslose Unterhaltungen führen kön-nen, wenn wir nicht echte Befugnisse über den Haushalt der europäischen Gemeinschaften erhalten." Der Versuch des Parlaments, für die Zwischenphase der Fusion der drei europäischen Behörden und der drei europäischen Verträge wenigstens soweit vorzusorgen, daß die nationalen Regierungen im Europäischen Ministerrat von Straßburg aus kontrolliert werden können, wenn sie das zu erwartende große und politisch wirksame Eigenkapital der EWG ausgeben werden, blieb bisher in einem Gestrüpp von Hemmungen und taktischer Erwägung stecken. Man ist in Straßburg allzu oft geneigt, sich als Diplomat zu benehmen, anstatt sich auf die Pflichten und Rechte eines Parlamentariers zu besinnen. Diese parlamentarische Zaghaftigkeit spiegelt eine Entwicklung, die in der Blütezeit des europäischen Parlamentarismus die Abgeordneten sämtlicher Parteien auf die Barrikaden geführt hätten. Heute setzt der europäische Parlamentarismus in aller Stille einen Rückzug fort, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg begann. Die Römischen Verträge haben den Volksvertretern aller Mitgliedstaaten der EWG im Europäischen Parlament nur das Recht gelassen, zu debattieren und zu empfehlen. Die Kontrolle der europäischen Exekutiven und die Möglichkeit, ihnen das Mißtrauen auszusprechen, sind an so schwierige Abstimmungsverhältnisse gebunden, daß ein erzwungener Rücktritt einer der drei Behörden Theorie bleibt. Die Entscheidungen im Gemeinsamen Markt treffen in erster Linie die Minister der nationalen Regierungen. Die Bürokratie hat das erste Wort, gleichgültig, ob sie in den nationalen Ministerien oder in den europäischen Behörden zu Hause ist. Die Abgeordneten der nationalen Parlamente sehen ohne Protest zu, wie sie mit jedem weiteren Schritt in Richtung des Gemeinsamen Marktes mehr entmachtet und an die Peripherie der politischen Entscheidungen gedrängt werden.

Für den Bundestag hat sich zusätzlich die merkwürdige Praxis herausgestellt, daß die Parteien ihre Abgeordneten zu den Plenarsitzungen nach Straßburg und zu den Ausschußsitzungen nach Brüssel häufig ohne Weisung reisen lassen. Dort verabschieden sie Empfehlungen, die vom Europäischen Ministerrat vielleicht gelesen, meistens jedoch zur Seite gelegt werden, während die Fraktionen in den nationalen Parlamenten oftmals einen ganz anderen Standpunkt vertreten als die übernationalen Fraktionen im Europäischen Parlament. Die dortigen Abgeordneten sind für ihre Kollegen daheim Sektierer oder Außenseiter, im günstigsten Falle beneidenswerte „Europareisende". Die Entmachtung der Abgeordneten des Europäischen Parlaments ist deshalb nicht nur das Ergebnis der Verträge von Rom, sondern auch das Resultat der Haltung der nationalen Parlamente. Das Elend des Europäischen Parlaments wurzelt nicht, wie vielfach behauptet wird, im technokratischen Ehrgeiz und im Machtanspruch der Bürokratie, sondern in der Apathie der politischen Kräfte aller EWG-Staaten.

Diese Apathie ist gefährlich. Im Etat des Jahres 1963 wurden die Einnahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit 52 Millionen Dollar angegeben. Dies war jedoch noch ein Haushalt ohne Eigeneinnahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Experten sind bis heute nicht in der Lage, verbindliche Summen für die Einnahmen der EWG zu nennen, wenn ihr in nächster Zeit die Abschöpfungen (variable Einfuhrzölle) von landwirtschaftlichen Einfuhren aus dritten Ländern und — nach dem Aufbau der Zollunion — auch die Zolleinnahmen von Importen in den Gemeinsamen Markt unmittelbar zur Verfügung stehen werden.

Die Hohe Behörde der Montanunion rechnet für 1964/65 mit Einnahmen in Höhe von 29, 7 Millionen Dollar bei einem Etat in Höhe von 37, 4 Millionen Dollar. Nach der Fusion der drei Gemeinschaften würden auch diese Gel, der zusätzlich in die europäische Gemeinschaftskasse fließen. Deren Mittel werden Fonds zugeteilt und für strukturelle Aufgaben, für überdimensionale „Grüne Pläne" und für zahlreiche andere wirtschaftspolitische Zwecke verwendet werden. Die Eigeneinnahmen der Gemeinschaften, bei denen die Zuschüsse für die Europäische Atomgemeinschaft in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben können, werden immer mehr politisches Gewicht erhalten. Heute kann über die Verteilung dieser Gelder kein Parlament entscheiden. Allein die europäischen Behörden sprechen das erste, allein die Regierungen das letzte Wort. Dazwischen liegt das Vakuum unverbindlicher parlamentarischer Empfehlungen. Wenn die Bundesregierung in ihren jüngsten Vorschlägen eine Finanzhoheit für die EWG fordert, kann deshalb das Parlament nicht weiter an die Seite gedrängt werden.

Schon am 14. Juli 1963 forderten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments einmütig, daß die Haushaltsentwürfe für die Gemeinschaften künftig ausführlich politisch begründet und die Vorschläge der europäischen Behörden gleichzeitig dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament vorgelegt werden sollen. Die parlamentarische Kontrolle der Ausgaben sei zu verschärfen. Als Ziel verlangte das Parlament in Straßburg „das volle Entscheidungsrecht über den Haushalt, zusammen mit der Erschließung direkter Finanz-quellen für die Gemeinschaft".

Die Entschließung des Parlaments wurde dem Europäischen Ministerrat vorgelegt. Eine Entscheidung wurde jedoch bis heute verschoben. Führende Parlamentarier der Straßburger Versammlung glaubten, daß ein allzu heftiges Drängen im Rat nur zu Rückschlägen führen würde und den Argwohn des französischen Staatspräsidenten de Gaulle gegen das Europäische Parlament verstärken könnte. Diese Sorge vor de Gaulle und vor Entscheidungen im Elysee-Palast, welche die Schwungkraft des Europäischen Parlaments noch mehr lähmen könnten, als dies schon in den letzten Monaten der Fall war, wird nicht nur von deutschen, sondern ebenso von den französischen Abgeordneten geteilt.

Elf Monate später, im Mai 1964, zeigte sich das Straßburger Plenum deshalb schon zufrieden, wenn es innerhalb von sechs Wochen mit zwei Drittel Mehrheit seiner Stimmen dem Ministerrat einen korrigierten Haushaltsplan für die Wirtschaftsgemeinschaft zurückschicken dürfte. Höhere Ausgaben will das Parlament nach seinen eigenen Vorschlägen, die bis heute ebenso wenig genehmigt sind wie alle anderen Anregungen, nur im Einvernehmen mit der künftigen Hohen Kommission beschließen. Soll der Ministerrat die parlamentarischen Korrekturen befolgen, wenn die Regierungen die Vorschläge des Parlaments genehmigen? Soweit reicht der Mut der europäischen Abgeordneten noch nicht. Sie räumen dem Ministerrat auch in Zukunft das Recht ein, die Empfehlungen des Parlaments in den Wind zu schlagen, wenn der Rat einstimmig Vorschläge aus Straßburg ablehnt, die sich auf Eigenmittel und deren Ausgabe erstrecken. Für Verwaltungsausgaben genügt die qualifizierte Mehrheitsentscheidung des Rates. Man mag einwerfen, in der Beschränkung auf reale Ziele zeige sich der wahre parlamentarische Meister. Die Bescheidenheit des Europäischen Parlaments während der letzten Jahre, eine Bescheidenheit, die auch vor der Entscheidung über den Sitz des Parlaments immer wieder neue Umwege machte, hat diesen Satz jedoch nicht bestätigt. Sie brachte Europa nur das zweifelhafte Privileg, ein ambulantes Parlament zu besitzen, dessen Abgeordnete ohne echte parlamentarische Rechte ständig zwischen Straßburg, Brüssel, Luxemburg und ihren nationalen Hauptstädten hin und her pendeln. Es ist ein Parlament, das finanziell noch immer von den Regierungen ausgehalten wird und damit letztlich vom Wohlwollen und vom Verständnis dieser Regierungen abhängig ist.

Vorschläge im Deutschen Bundestag

Bei jedem ernsthaften Versuch, die europäischen Gemeinschaften auf ein demokratisches Fundament zu stellen, müssen diese Schwierigkeiten berücksichtigt werden. Die ständig wiederholte, aber verwaschene Forderung „Mehr Rechte für das Europäische Parlament!" und das Verlangen nach direkten europäischen Wahlen können jedoch noch nicht genügen, den Rückzug des Parlamentarismus in Europa aufzuhalten. Wichtig ist der Druck auf die nationalen Regierungen, um ihnen den Ausweg in allgemeine Versprechungen zu verbauen. Im Deutschen Bundestag hat die sozialdemokratische Fraktion inzwischen vorgeschlagen, dem Europäischen Parlament in Straßburg eine Kontrolle über den Haushalt der Organe der europäischen Gemeinschaften zu übertragen. Zur „Demokratisierung“ der europäischen Gemeinschaften soll der Europäische Ministerrat künftig jede abweichende Haltung gegenüber einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit gefaßten Beschlüssen des Europäischen Parlaments vor dem Straßburger Plenum begründen. Um den Abgeordneten der nationalen Parlamente in Europa die Rückeroberung verlorengegangenen Bodens zu erleichtern, hat die SPD außerdem angeregt, die immer wiederkehrenden Forderungen nach direkten

Wahlen für das Europäische Parlament — die im EWG-Vertrag vorgesehen sind und über die seit Jahren in einem permanenten Leerlauf diskutiert wird — soweit zu erfüllen, daß wenigstens in der Bundesrepublik mit den direkten Wahlen, wenn auch in gewandelter Form, begonnen wird. Schon bei den Bundestagswahlen 1965 sollen die deutschen Bundestagsabgeordneten, die künftig nach Straßburg gehen, in einer zweifachen Funktion — sowohl als Mitglieder des Bundestages als auch als Delegierte des Europäischen Parlaments direkt gewählt werden. Die SPD hofft, daß sich die Niederlande und Belgien dem deutschen Beispiel anschließen werden.

Die parlamentarischen Initiativen der SPD, über die in diesen Wochen in den zuständigen Ausschüssen beraten wird, haben neue Akzente in die Europapolitik gebracht. Die Christlichen Demokraten versprachen, die Anträge der Opposition sorgfältig zu prüfen. Sie vermieden es aber, sich festzulegen, wobei der Sprecher der CDU im Plenum des Bundestages, Professor Furier, eine paradoxe Situation zu meistern hatte. Die Urheberrechte für die Vorschläge der SPD, die von einem Antrag der FDP ergänzt wurden, so vor allem die Idee, daß der Europäische Ministerrat nur einstimmig die Konsultationsbeschlüsse des Parlaments unberücksichtigt lassen kann, gehören weitgehend Professor Furier. Er war in Straßburg entschieden dafür eingetreten, daß sich der Ministerrat verpflichten solle, nur mit Einstimmigkeit von einer mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen Stellungnahme des Parlaments abzuweichen. Furier hatte dabei das Vorschlagsrecht der EWG-Kommission vor Augen, über das sich der Rat ebenfalls nur mit Einstimmigkeit hinwegsetzen darf.

In diesem Prinzip verstecken sich wichtige supranationale Elemente. Es hat sich beim Aufbau des Gemeinsamen Marktes hervorragend bewährt. Die Christlichen Demokraten sollten es sich deshalb ernsthaft überlegen, ob die Vorschläge der Sozialdemokraten zu den Akten gelegt werden dürfen.

Die Bemühungen, die drei europäischen Gemeinschaften zu fusionieren und die Rechte des Europäischen Parlamentes zu vermehren, bleiben glücklicherweise nicht auf die eine oder andere Fraktion im deutschen Bundestag beschränkt. Bundeskanzler Erhard und Außenminister Schröder haben mehrfach erklärt, daß die Fusion und die Stärkung des Europäischen Parlaments von neuen Bemühungen, die Stagnation in der Europapolitik zu überwinden, nicht getrennt werden könnten. Bundeskanzler Erhard ging sogar noch einen Schritt weiter. Er versuchte, auch den Europäischen Ministerrat politisch aufzuwerten. Er kündigte an, er werde als Regierungschef an Sitzungen des Ministerrats in Brüssel teilnehmen. Dabei hoffte er, daß die Regierungschefs anderer EWG-Staaten seinem Beispiel folgen würden und sich unter dem Zeichen der EWG ein neues Treffen der sechs Regierungschefs arrangieren ließe.

Fusion, direkte Wahlen, Stärkung des Europäischen Parlaments und politische Aufwertung der EWG sind auch die wichtigsten Forderungen des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa, das von Jean Monnet geleitet wird. In ihm sind alle Parteien und die Gewerkschaften vertreten. Seine Entschließungen sollen nach den Statuten des Aktionskomitees den Kurs der europäischen Politik aller Parteien und Institutionen festlegen, deren Vertreter die Entschließungen unterzeichnen. Die letzte Resolution des Aktionskomitees vom 2. Juli 1964 ist deshalb als eine wichtige Grundlage für die deutsche Europapolitik zu bewerten. Vor allem die sozialdemokratische Fraktion hat mehrfach erklärt, daß die deutsche Europapolitik auf die Resolution des Aktionskomitees von Jean Monnet Rücksicht nehmen müsse. Um die Einzelheiten der Resolution richtig einschätzen zu können, und zur Abgrenzung der Vorschläge des Aktionskomitees gegenüber den bereits ausgearbeiteten Plänen für eine politische Union Europas ist es jedoch notwendig, die verschiedenen Strömungen und Vorstellungen über die politische Einigung Europas aufzuzeigen.

Im Labyrinth der politischen Pläne

Die Europäer in Luxemburg, in Brüssel und in den anderen europäischen Hauptstädten des Gemeinsamen Marktes, die meinen, daß die wirtschaftliche Integration Europas bereits einen Kern und einen wesentlichen Bestandteil der politischen Einigung Europas darstellt, versuchen, das politische Ziel durch eine intensive Zusammenarbeit in den europäischen Gemeinschaften zu erreichen. Ihren Auffassungen steht die Meinung gegenüber, daß die politische Union den wirtschaftlichen Bemühungen parallel geschaltet werden soll, um eines Tages den Gemeinsamen Markt zu überdachen. Freiherr von Guttenberg erklärte dazu: „Die EWG bringt eine europäische Innen-und Wirtschaftspolitik, die politische Union muß zu einer europäischen Außen-und zu einer europäischen Verteidigungspolitik führen.“

Der politische Druck auf die Bundesregierung, um neue Verhandlungen über die politische Union Europas zu erreichen, hatte sich im ersten Halbjahr 1964 ständig verstärkt. Das ist um so erstaunlicher, als Bundeskanzler Erhard von sich aus Anfang Januar im Bundestag ankündigte, er werde neue Initiativen ergreifen, um die Einigung voranzutreiben. Erhard hoffte, daß es ihm in Gesprächen in Rom, Brüssel, Den Haag und Luxemburg gelingen werde, den Widerstand Italiens und der Benelux-Staaten gegen eine Konferenz der sechs Regierungschefs, die schon seit Herbst 1962 aufgeschoben wird, zu überwinden. Erhard bemühte sich, unseren Partnern in der EWG zu zeigen, daß jeder Vorwurf ungerechtfertigt ist, Deutschland und Frankreich erstrebten auf der Grundlage ihres Konsultationsvertrages eine Führungsrolle. Erhard versicherte, er wolle das „Europa der Freien und Gleichen" erreichen. Er war bereit, durch seine Besuche in den Hauptstädten des Gemeinsamen Marktes zu beweisen, daß der Deutsch-Französische Vertrag erweitert und das Prinzip der politischen Konsultationen — mit oder ohne Vertrag — von allen Mitgliedstaaten des Gemeinsamen Marktes übernommen werden könne. Die Versuche von Bundeskanzler Erhard führten zu freundschaftlichen Gesprächen in einer politisch entspannten Atmosphäre. Durchgreifende Erfolge blieben ihnen dennoch versagt. Die Bedenken der italienischen Regierung gegen eine enge politische Zusammenarbeit mit der französischen Regierung unter de Gaulle konnten ebenso wenig aus dem Wege geräumt werden wie das niederländische Nein zu neuen politischen Verhandlungen, solange Großbritannien sich an diesen nicht beteiligen würde. Die belgische Regierung, vor allem Außenminister Spaak, zeigten mehr Verständnis für das deutsche Bemühen und eine größere Flexibilität. Sie reichte jedoch nicht aus, um die Stagnation in der politischen Zusammenarbeit Europas zu überwinden.

Das Zögern der europäischen Regierungen, dem Erhard in den Hauptstädten des Gemeinsamen Marktes begegnete, haben wesentlich zur Kritik an der Europapolitik beigetragen, die im Frühjahr 1964 zuerst von dem Landes-vorsitzenden der CSU, Franz Josef Strauß, und seinen Freunden erhoben wurde. Sie konnten darauf hinweisen, daß Europa weiter auf der Stelle treten würde, wenn Italien und die Beneluxländer bei ihrem Nein zu neuen Verhandlungen blieben. In den außenpolitischen Besprechungen am Tegernsee im Mai 1964 schlug Strauß Erhard deshalb vor, er möge notfalls auch allein mit Frankreich über eine politische Union verhandeln, die zu einer gemeinsamen Außen-und Verteidigungspolitik führen soll. Es ist unfair, wenn Strauß und seinen Parteifreunden unterstellt wird, sie forderten eine „Zweierunion". Die CSU hat nur erklärt, daß Frankreich und die Bundesrepublik notfalls auch allein ihre Politik und ihre Rüstung zum Kern einer späteren europäischen Union vereinen sollen. Strauß will dabei das Risiko auf sich nehmen, nicht nur Großbritannien und die anderen Mitgliedstaaten der Kleinen Freihandelszone (EFTA), sondern auch unsere Partner in der EWG durch vollendete Tatsachen „politisch herauszufordern", um sie hierdurch für die europäische Einigung und für eine europäische Atommacht aktiv werden zu lassen. Die Vorstellungen von Strauß sind eine Doublette der Vorstellungen Adenauers, der wenige Tage vor den Konsultationen zwischen Staatspräsident de Gaulle und Bundeskanzler Erhard in Bonn die Bundesregierung bedrängte, notfalls mit de Gaulle allein eine enge politische und militärische Partnerschaft zu wagen. Unausgesprochen, aber deutlich waren bei Strauß und bei Adenauer gewisse Bedenken über die langjährige Kontinuität der amerikanischen Verteidigungspolitik zu erkennen.

Die Auseinandersetzung über die deutsche Europapolitik, die unmittelbar vor den Parlamentsferien und während des Parteitages der CDU im Juli 1964 in München ihren ersten Höhepunkt erreichten, sind von persönlichen Antipathien und Machtkämpfen nicht zu trennen. Ungeachtet dessen dürfen die persönlichen Differenzen zwischen den führenden Politikern in der Regierungspartei nicht überschätzt werden, wenn es darum geht, die verschiedenartigen Standpunkte zur Europapolitik aufzuzeigen. Schröder ist der Meinung, daß ein stetiger Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der politischen Zusammenarbeit der europäischen Staaten am dienlichsten ist und auch England und die EFTA-Länder dazu zwingen wird, die aufgeschobenen Verhandlungen über einen Beitritt oder über eine Assoziierung an den Gemeinsamen Markt wiederaufzunehmen. Er versucht auf diesem Wege, sich der Alternative Freundschaft mit Frankreich oder Freundschaft mit den USA — eine Entscheidung, die infolge des weltpolitischen Kurses von de Gaulle für die Bundesrepublik noch schwieriger geworden ist — nicht nur durch einen wirtschaftlichen Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch durch eine Zustimmung zur Multilateralen Atomstreitmacht der NATO zu entziehen. Letzterer Entschluß hat jedoch zu ernsten Bedenken von Paris und wesentlich zu einer Abkühlung des deutsch-französischen Verhältnisses geführt, ohne daß damit die Multilaterale Atomstreitmacht das Stadium der Planung bereits hätte verlassen können. Adenauer und Strauß sind auf der anderen Seite der Überzeugung, daß die Bundesregierung unter keinen Umständen die Freundschaft Frankreichs verlieren darf. Adenauer wird nicht müde, darauf hinzuweisen, daß ohne diese Freundschaft die bisherigen Fortschritte beim Aufbau eines geeinten Europas ausgeblieben wären, während Strauß — entgegen früherer Meinungen — die Notwendigkeit einer gemeinsamen atomaren Verteidigung Europas besonders hervorhebt.

Wie es zum Fouchet-Plan kam

Im Widerstreit dieser Auffassungen und nach Drängen führender Politiker der CDU hat Bundeskanzler Erhard sich am zweiten Tage der deutsch-französischen Konsultationen in Bonn entschlossen, von sich aus die bereits zitierten Vorschläge für eine politische und militärische Einigung Europas ausarbeiten zu lassen. Er mußte sich bewußt sein, daß die Chancen für erfolgreiche neue Verhandlungen gering sind, solange sich die Meinungen der sechs EWG-Staaten wie bisher unüberbrückbar gegenüberstehen. Auf Grund der innenpolitischen Unruhe über die deutsche Europapolitik mußte er jedoch das Wagnis auf sich nehmen, neue Initiativen vorzubereiten, selbst wenn Staatspräsident de Gaulle erklärte, die französischen Vorschläge lägen seit langem auf dem Konferenz-tisch und es sei nicht die Absicht Frankreichs, sie zu korrigieren.

Diese Vorschläge, bekannt als erster und zweiter Fouchet-Plan, haben im Frühjahr 1962 die sechs EWG-Staaten entzweit, wobei sich eine Konstellation von fünf gegen eins, nämlich gegen Frankreich, entwickelte. Die deutsche Regierung kann jedoch am Fouchet-Plan 1. und 2. Fassung auch bei neuen Vorschlägen nicht vorbeigehen, wobei vor allem die zweite Fassung des Fouchet-Planes besondere Aufmerksamkeit verdient.

Der Fouchet-Plan war das Ergebnis von Verhandlungen, die mit Unterbrechungen vom 23. November 1959 bis zum 17. April 1962 geführt wurden. Im November 1959 hatten die sechs Außenminister in Straßburg erklärt, daß sie regelmäßig über „alle politischen Folgen der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft und über alle internationalen Probleme gemeinsam beraten wollten, ungeachtet der Konsultationen im Rahmen der NATO und der WEU". Diese Erklärung der Außenminister enthielt die erste konkrete Absicht der EWG-Staaten, die wirtschaftliche Einigung Europas auf das Gebiet der Außenpolitik auszudehnen.

Zehn Monate später, am 5. September 1960, gab der französische Staatspräsident de Gaulle auf seiner Pressekonferenz zum ersten Mal seine Thesen für die politische Organisation Europas bekannt. Er blockierte mit ihnen zunächst alle Versuche, die supranationale Methode, die für die Verträge von Rom gewählt worden war, auch für die politische Einigung Europas zu übernehmen. Er erklärte vielmehr: „Es ist eine Schimäre zu glauben, man könnte etwas Wirksames schaffen und die Völker könnten etwas billigen, was außerhalb oder über den Staaten stehen würde." Dies war die prägnanteste Definition de Gaulles für den viel zitierten Begriff vom „Europa der Vaterländer" (einem Begriff, den als erster der französische Ministerpräsident Debre geprägt hatte). Seit der Pressekonferenz de Gaulles am 5. September 1960 war es nie mehr möglich, eine klare Antwort auf die Frage zu erhalten, ob der französische Staatspräsident künftig bereit sein würde, den Leitgedanken der Integration, der zwangsläufig zu einer Supranationalität führen wird, für Europa in abgewandelter Form zu tolerieren oder ob jede „organisierte Zusammenarbeit", von der de Gaulle sprach, ausschließlich von den souveränen nationalen Regierungen ausgeführt werden sollte. De Gaulle hatte die Integration im Nordatlantischen Bündnis, der NATO, strikt abgelehnt. Er hatte nicht gezögert, seiner Ablehnung desintegrierende Befehle folgen zu lassen. Auf der anderen Seite hatte er bereits den Integrationsgedanken in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wenigstens soweit anerkannt, daß er in der politischen Praxis die EWG unterstützte. Zweifellos ist de Gaulle überzeugt, daß der Gemeinsame Markt Frankreich Vorteile bringen wird und daß deshalb sein Aufbau fortgesetzt werden sollte. Die gleiche Vorstellung hätte ihn auch bewegen können, für eine politische Union supranationalen Bausteinen die Zustimmung nicht zu verweigern. Bis heute ist dies jedoch nicht geschehen.

Im Februar 1961 trafen sich die Regierungschefs und die Außenminister der sechs EWG-Staaten in Paris, um über den von de Gaulle vorgezeichneten Weg zu beraten. Sie beschlossen, einen Ausschuß einzusetzen, der konkrete Vorschläge für die nächsten Treffen der Regierungschefs ausarbeiten sollte. Aber schon auf dieser Konferenz im Februar 1961 meldete der niederländische Außenminister Luns ernsthafte Bedenken gegen die französischen Wünsche an. Er befürchtete, Deutschland und Frankreich beabsichtigten, den kleineren Staaten vorzuschreiben, welcher Kurs in der europäischen Außen-und Verteidigungspolitik eingeschlagen werden sollte. Luns erklärte, entweder müsse für die geplante politische Organisation Europas eine supranationale Struktur geschaffen werden oder Großbritannien müsse von der ersten Stunde an in der neuen Organisation vertreten sein. Dabei mußte sich Luns im klaren sein, daß ein Beitritt Großbritanniens zu einer politischen Union Europas auf jeden Fall das Ausschalten supranationaler Lösungen bedeuten würde. Die niederländische Regierung glaubte jedoch, daß die Mitgliedschaft Großbritanniens in einer politischen Union die Gefahr einer deutsch-französischen Hegemonie beseitigen würde. Ohne Großbritannien konnte — nach niederländischer Meinung — dieser Gefahr nur mit supranationalen Bestimmungen, wie sie im starken Maße der Vertrag für die Montanunion und abgeschwächt der Vertrag für die EWG und für die Europäische Atomgemeinschaft enthalten, begegnet werden. Die niederländische Regierung hat bis heute an dieser Auffassung festgehalten. Damals, im Februar 1961, haben die Partner der Niederlande allerdings noch nicht erkannt, wie hartnäckig sich Den Haag jeder anderen Lösung widersetzen würde. Luns war auf der Pariser Konferenz 1961 über das Zusammenspiel zwischen Adenauer und de Gaulle und über einige Bemerkungen des deutschen Bundeskanzlers auch persönlich verärgert. Adenauer und de Gaulle erkannten das volle Ausmaß des niederländischen Argwohns erst am 18. Juli 1961 auf der Konferenz der sechs Regierungschefs in Bad Godesberg. Erst in der letzten Phase der Besprechungen gelang es, die niederländischen und die plötzlich auftauchenden belgischen Bedenken zu beschwichtigen und ein Kommunique zu verabschieden, in dem die Absicht der EWG-Staaten festgestellt wurde, eine gemeinsame Außen-und Verteidigungspolitik zu entwickeln. Dazu sollte der Ausschuß der sechs Regierungen die notwendigen Statuten ausarbeiten. Auf der Konferenz in Bad Godesberg erreichten die sechs EWG-Regierungschefs die bisher günstigste Plattform für eine gemeinsame Zusammenarbeit. Bis heute wurde ein gleicher Akkord der politischen Auffassungen — trotz der damaligen belgisch-niederländischen Einschränkungen — nicht mehr erreicht.

Der unter dem französischen Botschafter Fouchet tagende Ausschuß legte im November 1961 die erste Fassung eines Planes vor, in dem eine Union der europäischen Völker vorgeschlagen wurde. Sie sollte eine gemeinsame Außenpolitik der Mitgliedstaaten, eine enge Zusammenarbeit in der Wissenschaft und in der Kultur und eine gemeinsame Verteidigungspolitik gewährleisten. Als Organe der Union waren ein Rat, das Europäische Parlament und eine Europäische politische Kommission vorgesehen. Der Rat sollte alle vier Monate auf der Ebene der Regierungschefs und dazwischen mindestens einmal auf der Ebene der Außenminister zusammentreten. Seine Beschlüsse sollten für alle Mitgliedstaaten, die sich an der Annahme beteiligt hatten, verbindlich sein. Damit wurde im Fouchet-Plan — im Gegensatz zu den Römischen Verträgen — der Einstimmigkeit mit dem Recht der Stimmenthaltung der Vorzug gegeben. Die politische Kommission, in die von den nationalen Ministerien abhängige Beamte entsandt werden sollten, wäre nicht mit supranationalen Rechten ausgestattet worden.

Einer der umstrittensten Punkte des Fouchet-Planes war von Anfang an die Revisionsklausel. Sie bestimmte, daß die Statuten der Union nach drei Jahren geändert werden sollten, wobei diese Änderungen zu einer Stärkung der Union führen müßten. Die Union sollte allen Mitgliedstaaten des Europa-Rates offenstehen, also nicht auf die sechs EWG-Staaten beschränkt bleiben.

Der erste Fouchet-Plan und selbst seine zweite von der französischen Regierung am 18. Januar 1962 vorgelegte Konzeption enthält wesentlich stärkere Integrationselemente als der Deutsch-Französische Vertrag mit seinen unverbindlichen Konsultationen. Lange Zeit galt der Deutsch-Französische Vertrag deutschen und europäischen Politikern deshalb nur als eine schwache Ersatzlösung für den nicht verwirklichten Fouchet-Plan. Dennoch waren manche Warnungen gegen die Vorschläge der französischen Regierung, vor allem in der Art, wie sie im Januar 1962 formuliert wurden, berechtigt, überraschend hatte damals Paris vorgeschlagen, daß sich der Rat nicht nur mit Außenpolitik, Verteidigung und Kultur, sondern auch mit Wirtschaft zu beschäftigen hätte, um „alle gemeinsamen Interessen anzunähern, zu koordinieren und zu vereinheitlichen". Aus dieser Formulierung konnte zu Recht ein Anschlag auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft herausgelesen werden. Die Vorschläge für die militärische Zusammenarbeit enthielten keinen Hinweis, daß diese als letztes Ziel auch die Stärkung der NATO erreichen sollte. Die Rechte des Europäischen Parlaments blieben vage. Die Straßburger Versammlung sollte lediglich als Ratgeber und als Diskussionsforum dienen.

So war es verständlich, daß bei den Partnern Frankreichs die Sorgen überwogen, die politische Union werde die Verträge der EWG unterminieren, der NATO Schaden zufügen und den Europäischen Parlamentarismus noch mehr als bisher in eine Zuschauerrolle drängen.

Bis zum 17. April 1962 wurde im Ausschuß der Sechs, zunächst noch unter Fouchet, später unter dem Direktor des italienischen Außenministeriums, Cattani, über eine Harmonisierung der verschiedenen Auffassungen zum zweiten Fouchet-Plan gerungen. Die franzöB sische Regierung erklärte, daß der im Fouchet-Plan vorgesehene Rat die Verträge für den Gemeinsamen Markt nicht antasten und im wirtschaftlichen Bereich als Ministerrat der EWG zusammentreten würde. Um den italienischen Bedenken entgegenzukommen, wurde ein Passus ausgenommen, nach dem die Verteidigungspolitik zur Stärkung der NATO führen sollte. Dennoch gelang es nicht, die Bedenken der Niederlande und Belgiens zu zerstreuen, die sich verstärkt als Anwälte der britischen Forderungen präsentierten. Die italienische Regierung, die aus innenpolitischen Gründen eine Tuchfühlung mit de Gaulle scheute, schloß sich den Auffassungen der belgischen und niederländischen Regierung an.

An Frankreich führt kein Weg vorbei

Es konnte nicht ausbleiben, daß das neun Monate später erfolgende Veto des französischen Staatspräsidenten gegen den Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt die Bereitwilligkeit, eine politische Union zu gründen, zusätzlich einschränkte. Der Zusammenbruch der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien hatte soviele nachteilige politische Wirkungen, daß auch Bemühungen, die Gespräche über eine politische Zusammenarbeit der Sechs zu reaktivieren, als hoffnungsloses Beginnen angesehen werden mußten. De Gaulle hatte alle Schuld für das Ende der Verhandlungen mit Großbritannien auf seine Schultern genommen, obwohl es ein leichtes gewesen wäre, mit einer Zustimmung zur supranationalen Idee, wie sie in den EWG-Verträgen vorgezeichnet ist, die britische Regierung auszumanövrieren. Es gibt viele Gründe, um das einseitige Verhalten des französischen Staatspräsidenten zu erklären. Einer der wichtigsten ist die amerikanisch-britische Übereinkunft von Nassau, die Großbritannien aus der Sicht de Gaulles abermals für lange Zeit von der amerikanischen atomaren Vormachtstellung abhängig machte und jede Möglichkeit einer französisch-britischen Zusammenarbeit in der atomaren Rüstung ausschloß. Für die Schwierigkeiten, die Bemühungen um eine politische Union nach dem schwarzen Freitag im Januar 1963 fortzusetzen, war jedoch vor allem der Abschluß des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages entscheidend. Noch nie wurde ein Abkommen, das nicht nur der Zusammenarbeit von zwei europäischen Staaten, sondern dem näheren Zusammenrücken aller EWG-Länder dienen sollte, so falsch und mißgünstig beurteilt wie dieser Vertrag. Wer heute die Verdächtigungen und Unterstellungen nachliest, die bei der Unterzeichnung des Konsultationsvertrages und später auch bei seiner Ratifizierung in den Parlamenten von einem Großteil der europäischen und amerikanischen Presse erhoben wurden, wird angesichts der Schwierigkeiten der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Sommer und Herbst 1964 nur mit Kopfschütteln feststellen können, daß das Mißtrauen — es war besonders auf eine deutsch-französische Hegemonie gerichtet — in der westlichen Welt viel häufiger zu Gast ist als Vertrauen.

Die deutsche Regierung hat bei ihren neuen Vorschlägen die Vorgeschichte der politischen Union, die Einwände und das Zögern unserer Partner sowie die zahlreichen Anregungen, die von anderen Seiten gegeben wurden, berücksichtigt. Dies gilt auch für die jüngste Resolution der Parlamentarischen Versammlung der WEU, für die der ehemalige deutsche Bundesminister von Merkatz einen interessanten Bericht zusammenstellte und für die er gleichzeitig Empfehlungen ausarbeitete.

In ihnen wird die Gründung eines politischen Rates der Regierungschefs für die wichtigsten politischen Entscheidungen in Europa mit Ausnahme jener Fragen vorgeschlagen, die den Wirkungsbereich der Europäischen Gemeinschaft erfassen. Der Rat würde seine Beschlüsse nach dem gleichen System treffen, wie es im Fouchet-Plan ausgezeichnet wurde. Ihm stünden jedoch ein Generalsekretariat und ein „Rat der Weisen"

zur Seite, um die Arbeiten des Rates vorzubereiten.

Das Europäische Parlament würde in die politischen Debatten eingeschaltet werden, wobei gleichzeitig über die neuen parlamentarischen Rechte für das Plenum in Straßburg verhandelt werden sollte. Der Wert der Empfehlung der WEU liegt in der Tatsache, daß nicht nur die britischen Abgeordneten, sondern auch die Gaullisten für sie stimmten.

Die Abgeordneten in der parlamentarischen Versammlung dokumentierten damit, daß am Ende alle Ideen immer wieder in eine Einbahnstraße einmünden, für die der Fouchet-Plan noch immer die beste Wegebezeichnung ist.

Die Fülle der einzelnen Anregungen und die Bemühungen, sich durch das Labyrinth von Vorschlägen hindurchzufinden, dürfen uns jedoch nicht vergessen lassen, daß unabhängig von den verschiedenen Ausgangspositionen — hier politische Einigung aus der EWG heraus, dort politische Einigung parallel und zusätzlich zur EWG — die weltpolitische Entwicklung Europa zwingt, endlich seine politische Verantwortung zu übernehmen. Die Krise um Zypern hat bewiesen, daß nicht nur die politische Solidarität in sich zusammenfällt, sondern auch die militärische Partnerschaft bedroht ist, wenn ein anachronistischer Nationalismus neue Blüten in Europa treibt. Die verschiedenen Auffassungen der europäischen Staaten auf der Welthandelskonferenz in Genf, ihre eigenen Wege in der Entwicklungspolitik und nicht zuletzt die unsichere Haltung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei den Zollverhandlungen im GATT, der Kennedy-Runde, zeigen, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft trotz der weltwirtschaftlichen Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, noch nicht bereit ist, politisch und wirtschaftlich als Einheit aufzutreten. Sie wurde in den vergangenen Jahren mit vielen Vorschußlorbeeren bedacht. Sie schien geeignet, als ein Modell für staatliche Zusammenschlüsse zu dienen.

Trotz der politischen Rückschläge ist bis heute die Idee der Europäischen Gemeinschaft nicht widerlegt. Noch haben wir alle Chancen, daß die sechs EWG-Staaten wirtschaftlich und politisch ein Beispiel geben und das Wort Walter Hallsteins, des Präsidenten der EWG-Kommission, in die Tat umsetzen. Er sagte, daß die Widerstände, die auf dem Weg nach Europa liegen, nur durch menschlichen Willen geschaffen wurden; was aber menschlicher Wille geschaffen habe, das könne menschlicher Wille auch beseitigen. Es ist die Aufgabe der Regierungen, der Staatsmänner und der Parlamentarier, diesen Willen zu mobilisieren und mit seiner Hilfe die Aufgabe, die Europa in der Zukunft gestellt ist, zu erfüllen. Europa hat nicht mehr viel Zeit zu verlieren.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Theo M. Loch, geb. 1921 in Erlangen, war Chefredakteur der Zeitschrift „Europa" und in den letzten Jahren leitender Redakteur in der „Deutschen Zeitung". Seit der Fusion dieser Zeitung mit dem „Handelsblatt" ist er dort stellvertretender Chefredakteur und Leiter der politischen Redaktion. Er beschäftigt sich vor allem mit Fragen der europäischen Integration. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter die Bücher „Die Neun aus Brüssel", Köln 1963, und „Adenauer — de Gaulle", Bad Godesberg 1962.