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Mit Kommunisten sprechen | APuZ 48/1964 | bpb.de

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APuZ 48/1964 Artikel 1 Mit Kommunisten sprechen

Mit Kommunisten sprechen

Peter Coulmas

Von Kommunisten und Kommunismus zu sprechen, wird heute in weiten Kreisen fast als Verstoß gegen eine stillschweigend getroffene und unbedingt einzuhaltende Abrede angesehen. Die beiden Begriffe, so wird gesagt, seien polemisch gefärbt, mit Globalurteilen aus der Hochzeit des Kalten Krieges belastet und darum dem neuen Stil der Entspannung unangemessen. Der alte Einheitsbegriff decke nicht mehr die gegenwärtige zentrifugale, zum Polyzentrismus tendierende Entwicklung. Gomulkas Kommunismus sei ein anderer als Ulbrichts Kommunismus, der sowjetische und osteuropäische nicht der gleiche wie der chinesisch-asiatische und der Kommunismus Breschnews und Kossygins vermutlich nicht der gleiche wie der Chruschtschows. Wenn man diese Unterschiede aber ignoriere und fortfahre, die verschiedenen Spielarten des Kommunismus, der sich gerade auseinanderzufalten begänne, als eine Einheit aufzufassen, wirke man dem Zerfallsprozeß entgegen, von dem wir am meisten zu profitieren hätten.

So richtig diese Mahnung ist, so falsch ist es, darüber die Tatsache zu übersehen, daß es noch immer die eine kommunistische Weltbewegung gibt, so wie trotz des Schismas zwischen Orthodoxen und Katholiken und der Verselbständigung der protestantischen Kirchen das eine Christentum weiterbesteht. Die kommunistischen Staaten und Parteien mögen sich untereinander bekämpfen, sie sind doch insofern einig, und betonen das auch, als sie unverändert das gleiche Ziel verfolgen, nämlich den Westen zu besiegen und die Welt kommunistisch zu machen — wenn auch verschiedene Wege zu diesem Ziel führen sollen. Die konsolidierte und schon in gewissem Sinne konservativ gewordene Sowjetunion steuert auf diplomatischem Weg als vorläufiges Zwischenziel eine sowjetisch-amerikanische Welt-teilung bei einem stabilen nuklearen Gleichgewicht an und möchte die kommunistischen Bruderparteien und revolutionären Bewegungen der Dritten Welt ihren eigenen Weltmachtinteressen unterordnen; das noch ungesättigte, gleichsam geschichtshungrige China verurteilt diese nach seiner Auffassung stillschweigende Absage an die Revolution, die eine Kapitulation gegenüber dem Herrschaftsanspruch der „Imperialisten" über einen Teil der Welt und seine endgültige Anerkennung, das heißt eine Aufteilung der Welt in Einflußzonen auf dem heutigen Stand, impliziere, und fordert die aktive Fortführung der Revolution in allen Weltregionen und mit allen, auch kriegerischen Mitteln. So bedeutsam diese Unterschiede sind, so betreffen sie doch den Weg, nicht das Ziel, das beiderseits angesteuert wird.

Bei dieser Lage der Dinge, da die Fronten sich verschieben und die weltpolitische Szenerie sich zu neuen Konfigurationen verändert, erhebt sich in neuer und drängender Form die alte Frage der Kontakte mit den Kommunisten. Sollen wir die Möglichkeit nutzen, um die menschlichen, wirtschaftlichen und intellektuellen Beziehungen auszubauen oder sollen wir uns angesichts der fortbestehenden Feindseligkeit Zurückhaltung auferlegen? Sollen die Amerikaner an die Sowjetunion Weizen liefern und die Engländer Autobusse an die Kubaner? War es opportun, daß Frankreich China anerkannte? Und läßt es sich rechtfertigen, daß es — ungeachtet der Berner Konvention — der Sowjetunion sieben Jahre Kredit einräumt? Soll sich die Bundesrepublik Passierscheine durch politisches Entgegenkommen und juristische Geschenke erkaufen? Und sollten wir — womit wir zum speziellen Thema dieser Betrachtung kommen — ganz allgemein Gespräche mit Kommunisten intensivieren oder nicht?

Diese Frage stellt sich natürlich in der Bundesrepublik, wo Gespräche mit Deutschen aus Mitteldeutschland zugleich leichter und schwerer zu führen sind, anders als in westlichen Ländern, die im Unterschied zu uns traditionelle und unbelastete Beziehungen zu den osteuropäischen Nationen besitzen; anders in den USA, die trotz der Weltrivalität gemeinsame Interessen mit der Sowjetunion teilen, als in England oder Frankreich, die ihre eigene Vorstellung von einem Ausgleich mit den Kommunisten hegen.

Dennoch stellt sich für alle die gleiche Frage nach der Zweckmäßigkeit, Art und Begrenzung der von uns zu führenden Gespräche. Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir zuerst die allgemeinen Determinanten der kommunistischen Bewegung untersuchen und sie dann mit den Möglichkeiten und Chancen in Beziehung setzen, die sich aus der jüngsten Entwicklung des Kommunismus ergeben.

Expansion und Isolation

Die beiden im Hinblick auf die Außenbeziehungen wichtigsten Merkmale der kommunistischen Ordnung sind Expansion und Isolation.

Die kommandierten sozialistischen Revolutionen unter dem Schutz der Sowjetarmee und der Eiserne Vorhang, Partisanenkrieg außerhalb des sozialistischen Lagers und Zensur, Todesstreifen und Wachttürme auf der inneren Seite, Berlin-Ultimatum und Berliner Mauer bilden den sichtbaren, von Periode zu Periode wechselnden Ausdruck dieser unveränderten Prinzipien. Die beiden Merkmale sind nicht gleichwertig. Die Selbstabschließung gehört zur Natur jedes totalitären Systems, welcher ideologischen Observanz und politischen Couleur es auch sei. Das Expansionsstreben hingegen, das auch anderen, nicht-totalitären und nicht-kommunistischen Staaten eignet, ist dem Totalitarismus nicht immanent. Es gibt totalitär oder in milderer Form autoritär organisierte Ordnungen, die nicht darauf aus sind, ihr System oder ihre Idee auf fremdes Gebiet auszudehnen, die vielmehr in einigermaßen zufriedener Autarkie dahinleben und sich über die Nachbarn erhaben dünken, die ferngehalten werden, damit sie die eigene Ordnung nicht stören. Die Utopien des Thomas Morus und all seiner Nachfahren sind nach diesem, in sich kohärenten System konzipiert: eine vorbildhafte, paradiesgleiche -GesellschaftsOrdnung „in einem Staat". Nach diesem Strukturvorbild haben sich — zumeist auf engem, im Schatten oder Halbschatten der Geschichte liegenden Raum — totalitäre oder autoritäre, aber nicht expansive Ordnungen etabliert: angefangen von den Jesuitenstaaten am Paraguay des 17. Jahrhunderts bis zu den autoritärpaternalistisch regierten iberischen Staaten der Gegenwart.

Größere, mächtige Staaten erfaßt in der Isolation jedoch wohl zwangsläufig eine Art Claustrophobie. Die Staatsmänner, die die Grenzen selbst hermetisch zugeriegelt haben, beginnen von Einkreisung zu reden, glauben bald selbst daran; schließlich fühlen sie sich dazu getrieben, ihre und ihrer Völker Energien nach außen zu wenden, ihre Ideen zu propagieren und schließlich die Grenzen ihres Macht-und Einflußbereichs immer weiter vorzuverlegen. Faschistische und kommunistische Staaten haben sich in dieser Hinsicht gleich verhalten. Für die kommunistischen Staaten ist das Expansionsstreben überdies eine unmittelbare Folge ihrer missionarischen Ideologie.

Was die Isolation angeht, so erstreckt sie sich auf alle Gebiete des Lebens. Die Gemeinschaft, die ihren Führern freiwillig oder zwangsweise folgt, soll ganz aus sich selbst heraus leben, von einem einzigen Befehlszentrum geleitet werden, einer einzigen, in sich schlüssigen Weltanschauung unterworfen sein; sie soll ihre Rasse, ihre Nationalität, ihr Klassenbewußtsein oder welche Bestimmung immer rein erhalten und als monolithisches, zentralistisch durchorganisiertes Gebilde dastehen. Jeder Austausch von Menschen, Gütern und Ideen wird verworfen, und zwar in beiden Richtungen: das Fremde ist unerwünscht, das Eigene wird eifersüchtig gehütet. Jeder Kontakt mit Ausländern gilt als gefährlich, denn die Angehörigen des totalitären Systems werden dadurch unkontrollierbaren Einflüssen ausgesetzt und damit möglicherweise gar in ihrer Treue zum Regime wankend gemacht. Reisen ins Ausland bilden ein noch größeres Risiko. Während der Abwesenheit lernt der Reisende nicht nur fremde Welten, fremde Gebräuche und fremde Vorstellungen kennen, sondern er wird zugleich der Jurisdiktion seiner Führer entzogen, erhält sogar die — nicht selten genutzte — Gelegenheit zur Flucht in die offene Welt.

Die Furcht vor dem Fremden und den Fremden, die die Isolation durchbrechen könnten, hat anläßlich der Frage der atomaren Inspektion hochpolitische Formen angenommen. Seit Eisenhower vor zehn Jahren seinen damals als sensationell empfundenen Vorschlag des „Offenen Himmels" machte, haben die Sowjets mit Beharrlichkeit die Zumutung zurückgewiesen, ihr Hoheitsgebiet fremden Inspektoren zugänglich zu machen. Die strategische Situation hat sich im Verlaufe dieses Zeitraums infolge der Verschiebungen des Rüstungsgleichgewichts mehrfach dramatisch verändert (Raketenlücke, Polarisvorsprung); ebenso ist die Idee der gegenseitigen oder internationalen Kontrolle zu immer neuen Vorschlägen konkretisiert worden. Es lag danach — jedenfalls zeitweise — im direkten Interesse der Sowjetunion, die eine Verminderung der Rüstungslasten anstrebt, eine Kontrolle zuzulassen und mit den Amerikanern zu einem Abschluß zu gelangen. Das ist jedoch nicht gelungen. Weniger, weil die Sowjetführer den Informationsund Geheimhaltungs-Vorteil, den sie gegenüber einer offenen Gesellschaft unstreitig besitzen, nicht aufgeben wollen, als aus grundsätzlichen Erwägungen, ja aus einer offenbar kaum zu ändernden psychischen Grundbefindlichkeit. Allem Wandel der Verhältnisse zum Trotz haben sie ihr tief sitzendes Mißtrauen gegen eine Öffnung ihres Herrschaftsbereiches nicht aufzugeben vermocht. Sie wurden nicht irre in ihrer Entschlossenheit, die selbstauf4 erlegte Isolation — sogar unter erheblichen materiellen Opfern — aufrechtzuerhalten, um gefährliche, weil schwer kontrollierbare Einflüsse von außen auszuschließen. So blieben sie die Gefangenen ihres (schon rein begrifflich absurden) Slogans: Inspektion ist Spionage (absurd: denn Spionage wird ex definitione im geheimen, ohne Wissen und gegen den Willen des Gegners betrieben, Inspektion aber offen, mit Wissen und unter Zustimmung des Partners). Sie können sich einfach nicht mit der Vorstellung befreunden, ihre geschlossene Welt zu öffnen und die Bewohner ihres Territoriums mit Fremden in unbewachte Berührung kommen zu lassen und damit unbekannten, also unfaßlichen und unheimlichen Einflüssen auszusetzen. Es wird ein Zeichen eines tief-greifenden Wandels sein, wenn die Sowjets in dieser Frage Konzessionen machen. Neben dem vollen Kommando über die Menschen heischen die totalitären Führer in konsequentem Ausbau des Systems auch die volle Befehlsgewalt über die Wirtschaft. Der totalitär regierte, isolierte Staat ist bestrebt, von fremden Rohstoffquellen und sonstigen Zulieferungen unabhängig zu sein und seine Wirtschaft nach eigenen vorentworfenen Plänen, unbehindert von jeglichen Störeinflüssen, betreiben zu können. Er bildet sich darum zielstrebig in einen „geschlossenen Handelsstaat" um, der alle Außenbeziehungen abschneidet oder unter Kontrolle nimmt. Der freie Handel widerspricht dem Wesen dieser Ordnung. Güteraustausch mit dem Ausland wird zentral gesteuert und — als beklagenswerte Abweichung von dem Ideal der Autarkie — auf das Mindestmaß reduziert.

Geistige Autarkie

Schließlich strebt die totalitäre Gemeinschaft auch auf geistige Autarkie hin. Entweder wähnt sie sich im Besitze der absoluten („wissenschaftlichen“) Wahrheit, oder sie glaubt sich als unbedürftig fremder Geistigkeit, weil sie an der eigenen Geistesart genug hat. So oder so: was von auswärts kommt, ist verdächtig oder überflüssig, muß auf jeden Fall gesichtet, geprüft und gefiltert, am besten ferngehalten werden. Totalitäre Staaten verbieten oder verhindern darum soweit wie möglich die Einfuhr fremder Literatur, vor allem periodische Publikationen, das Abhören von ausländischen Rundfunksendungen, die Verbreitung von fremden Ideen in eigenen Veröffentlichungen (auch in der Form der Auseinandersetzung oder Widerlegung). Das geschieht ebensosehr aus Xenophobie wie aus Orthodoxie. Man mißtraut den fremden Ideen, weil sie fremd und weil sie falsch und für die Reinerhaltung der wahren Lehre abträglich sind. „Verhindert, daß in euren Zeitungen Lügen veröffentlicht und verbreitet, und daß die Unmoral dargestellt und gepredigt wird, dann werden wir erlauben, daß sie bei uns eingeführt werden", pflegen die Sowjets ausländischen Kritikern entgegenzuhalten, und proklamieren damit den Anspruch, daß die in ihrem Land geltenden Maßstäbe auch von den anderen als die allgemeingültigen und wahren anerkannt werden. Auseinandersetzungen mit fremden Ideen, Diskussion mit Vertretern abweichender Denkrichtungen verbieten oder erübrigen sich angesichts dessen von selbst. Die Wahrheit ist vorgegeben, es besteht keine

Veranlassung, nach ihr zu forschen. Es herrscht das Dogma.

Es ist angebracht, in diesem Zusammenhang einer polemischen Behauptung entgegenzutreten, die oft aufgestellt wird, aber offenkundig falsch ist: daß nämlich in totalitären Staaten grundsätzlich keine Diskussion stattfindet. Es trifft wohl zu, daß solche diskussionslosen Ordnungen entstehen (und natürlich nur unter totalitären Regimes entstehen können), sie bilden aber keineswegs die Regel. Stalin ist die Ausnahme, nicht Chruschtschow. Das totalitäre Regime ist nicht gleichbedeutend mit einer tyrannischen Alleinherrschaft, wie sie Stalin in Rußland aufzurichten verstand: Ein einziger, der keinen Widerspruch duldet, trifft die Entscheidungen, ein Heer von willenlosen Kreaturen führt sie aus.

Unter normalen Umständen, wie sie heute in fast allen Staaten des kommunistischen Lagers herrschen, bauen sich auch im totalitären Regime Gegensätze auf, die ausgetragen und ausgeglichen werden müssen. Verschiedene Gruppen vertreten voneinander abweichende Meinungen (Schwerpunkt Rüstung und Investitionsgüter oder Schwerpunkt Konsumgüter) oder verfechten partikulare Interessen (zum Beispiel einzelner Stände — Militär, Partei, Techniker —, einzelner Religionen und so weiter), mit denen bestimmte Persönlichkeiten das Glück ihrer Karriere verbinden, über diese Differenzen und Divergenzen kommt es regelmäßig in den Führungsgremien zu harten Auseinandersetzungen. Es wird also in totalitären Staaten durchaus diskutiert; die Diskussion hat jedoch eine an-B dere Funktion und einen anderen Stellenwert als in der pluralistischen Gesellschaft. In dieser wird in aller Öffentlichkeit diskutiert, weil ihre Angehörigen von der Vorstellung ausgehen, daß keiner im Besitze einer vorgegebenen Wahrheit ist. Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung, der prinzipiell zugestanden wird, daß sie wahr sein kann. Man nimmt dabei an, daß die Konfrontation von Meinungen und Standpunkten am Ende zur Wahrheitsfindung oder wenigstens -annäherung und zur Austarierung gegensätzlicher Interessen in einem harmonischen Gleichgewicht beiträgt. Im totalitären Regime ist die Wahrheit umgekehrt im vorhinein bekannt: Differenzen können sich darum nur auf Detailfragen beziehen, die sich bei der Auslegung der Grundwahrheiten und ihrer Anwendung auf die Tageswirklichkeit ergeben. Die Diskussion hat also keinen Selbstwert, sondern ist eine Notlösung — ebenso wie der Handel mit dem Ausland auch kein Selbstzweck, sondern eine Konzession an die Wirklichkeit ist. Diskussion wird nicht bejaht als eine Form der Selbstdarstellung der Gesellschaft in ihren verschiedenartigen, oft gegensätzlichen Kräften und Ideen und als Mittel zum Ausgleich notwendig bestehender Interessen-Konflikte, sondern wird nur in Kauf genommen als ein auxiliärer Prozeß, in dessen Verlauf die unausgegorenen, zum Teil irrigen Meinungen gleichsam abgestoßen werden (so wie Rousseau die Mehrheitsentscheidung als zwar unentbehrlichen, aber notwendigerweise unzulänglichen Kunstgriff zur Ermittlung der an sich evidenten und keiner besonderen Offenbarungsart bedürftigen volonte generale akzeptiert). Die Beiträge zur totalitären Diskussion werden also sozusagen nur ins unreine gesprochen, bevor die richtige Meinung zu der betreffenden Frage herausdestilliert ist. Angesichts dieser Auffassung versteht es sich von selbst, daß man das Hin und Her der Diskussion am besten verschweigt: wer trägt schon seine Konzepte mit allen Korrekturen auf den Markt? Die darin enthaltenen Irrtümer sind nur dazu angetan, die Gesellschaft zu verwirren. Das totalitäre System präsentiert sich daher nach außen grundsätzlich als geschlossene Ideenfront — wie im wirtschaftlichen Bereich als geschlossener Handelsstaat.

Nationale und Fraktionsdisziplin

Angehörige totalitärer Regimes verteidigen diese Praxis mit dem Hinweis darauf, daß in den pluralistisch organisierten Staaten die gleiche Politik, wenn auch nicht auf gleich hoher Ebene, geführt werde. Die einen übten nationale, die anderen Partei-und Fraktionsdisziplin. In beiden Fällen würden Meinungsdifferenzen ausdiskutiert, und man einige sich dabei auf eine gemeinsame Linie, die dann von allen Mitgliedern der betreffenden Gruppe nach außen hin vertreten werde.

Diese Darstellung, mit der Kommunisten gern und häutig guten Glaubens operieren, übersieht zwei wesentliche Unterschiede. Parteien und Fraktionen, die Disziplin üben, sind Meinungsverbände, das heißt Assoziationen, zu denen sich Gesinnungsgenossen freiwillig zusammenschließen. Infolge dieser Form der Verbindung ist von vornherein anzunehmen, daß sich unter den Mitgliedern — jedenfalls in entscheidenden Fragen — nur vergleichsweise geringe Abweichungen einstellen. Wer einer politischen Partei beitritt, tut es, weil er mit ihren Zielen und ihrer Arbeitsweise im großen und ganzen übereinstimmt. Die auftauchenden Meinungsgegensätze und Interessenkonflikte sind, wenn auch oft heiß umstritten, eher taktischer Natur: man streitet über den Weg, der einzuschlagen, nicht über das Ziel, das zu erreichen ist.

Noch wichtiger ist ein zweiter Umstand — die Tatsache nämlich, daß Meinungsverbände ihrer partikularen, fragmentarischen Natur nach nicht allein stehen; eine Partei setzt die Existenz einer oder mehrerer anderer voraus (der Ein-Parteien-Staat ist ein definitorischer Widerspruch; er ist ein Kein-Parteien-Staat oder die Herrschaft einer Partei über andere, die unterdrückt werden); eine Fraktion ist ein Ausschnitt in einem vielfältigen Meinungsspektrum. Bevor jemand solch einem Verband beitritt, kann er also immer zwischen mehreren wählen, die um ihn werben; wer ihm angehört, behält die Freiheit, aus-und gegebenenfalls zu einem anderen überzutreten. Partei-und Fraktionsdisziplin übt man also in der pluralistischen Gesellschaft immer bis auf Widerruf und unter dem stillschweigenden Voi behalt, sich umzubesinnen.

Wer hingegen „nationale Disziplin" üben muß (gleich ob in „der" Partei oder in einem „na-) tionalen Block"), dem steht diese Freiheit nicht offen. Denn in einen Staat werden die Bürger hineingeboren, ohne um ihre Zustimmung gefragt zu werden. Es ist danach naheliegend, daß sie sich in Gruppen divergierender Anschauungen und Willensrichtungen aufspalten, wenn man nicht von dem — durch die Geschichte der letzten Jahrzehnte, wenn es dessen noch bedurfte, schroff widerlegten — marxistischen Dogma ausgehen will, daß die kommunistische Gesellschaft ihrer Natur nach klassenlos und darum widerspruchsfrei sei. Der Wunsch, die eigene Meinung darzustellen, zur Geltung und öffentlichen Wirkung zu bringen, ist allein aus diesem Grund in einem Staats-ganzen erheblich dringlicher und elementarer als in einer Partei.

Als verschärfendes Moment kommt hinzu, daß die Angehörigen eines Herrschaftsverbandes — anders als die einer freiwilligen Gruppe — nicht die Möglichkeit zum Austritt und vielleicht zum überwechseln in einen anderen Verband besitzen. Die von den Philosophen des Gesellschaftsvertrages stets geforderte Freiheit, dem Staat zu kündigen und auszuwandern, ist in der voll erschlossenen Welt in größerem Maßstab ohnehin nicht durchführbar (wo sollen solche Gruppen von Heterodoxen hinziehen, wo von ihrem Naturrecht Gebrauch machen, einen Staat nach ihrem Geschmack zu „gründen"?); sie wird von totalitären Regimes überdies auch einzelnen Dissentierenden nicht gewährt. Die Bürger besitzen also auch nicht ausnahmsweise die Möglichkeit des Austritts, die dem zur Parteidisziplin gezwungenen Parteiangehörigen grundsätzlich und unbestritten offensteht. Schlimmer noch: diejenigen, die im totalitären Staat im Meinungskampf unterlegen sind, haben die Verpflichtung, die offizielle Meinung nicht nur nach außen hin zu vertreten, sondern auch für sich als wahr zu erachten, das heißt, sie werden zum Meinungsopfer gezwungen. Denn ihre Meinung ist in der Diskussion der zuständigen Gremien als falsch erkannt worden, das heißt als abgeleitet von ichbezogenen oder gruppenegoistischen Wünschen, Süchten und Trieben. Es ist also nicht unbillig, von ihnen zu erwarten, daß sie sich freiwillig zur richtigen Meinung bekehren; wer es nicht tut, ist verstockt, begeht eine moralische Verfehlung und verdient dementsprechend Bestrafung.

Diese ständig geübte Praxis der Meinungskorrektur und Willensumpolung, kurz, die Unterwerfung des einzelnen unter das Kollektiv, hat gefährliche psychische Verwerfungen zur Folge — die von der Selbsterniedrigung der selbstanklägerischen Beichte („Selbstkritik“) bis zur völligen Erschütterung der Kategorien von Wahr und Unwahr reichen.

Wer wie Chruschtschow zu hoch gestiegen ist und seine Meinung nicht mehr korrigieren kann, muß darum in der Versenkung verschwinden. In diesem Sinne erklärte Suslow dieser Tage mit eisiger Miene den Delegierten der französischen KP, die nach Moskau gereist waren, um sich über den Sturz und das Verbleiben Chruschtschows zu informieren: „Chruschtschow gehört der Vergangenheit an und sollte in der Vergangenheit verborgen bleiben."

Die vom Individuum ausgehende pluralistische Gesellschaft glaubt nicht daran, daß eine richtige Meinung und ein wahrer Gemeinwillen existieren, zumindest nicht, daß sie erkennbar seien; sie ist daher tolerant und läßt die einzelnen bei ihrer Meinung. Wer sie nach Bedarf ändert und seine Fahne nach dem jeweils günstigen politischen Wind hängt, wird als Opportunist und Gesinnungslump getadelt. Die Wahrheit der pluralistischen Gesellschaft besteht also gerade darin, keine (objektive) Wahrheit zu kennen und sich damit zu begnügen, von Fall zu Fall die verschiedenen subjektiven (Teil-) Wahrheiten zu einem Kompromiß zu integrieren.

Fraktionsdisziplin ist also eine Frage der Zweckmäßigkeit: um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, muß man zusammenstehen und während des Kampfes kleinere Unterschiede zurückstellen. Nationale Disziplin hingegen ist eine Frage des Dogmas: es kann nur eine Wahrheit geben, wer sie nicht anerkennt, versündigt sich an ihr. Oder noch anders: Fraktionsdisziplin ermöglicht eine geordnete Diskussion, nationale Disziplin schließt Diskussion aus oder erübrigt sie. Es ist also nicht angebracht, die beiden Formen von Disziplin als gleichen Ranges nebeneinander zu stellen. Dem gleichen Funktionsgegensatz wie in der inneren Diskussion begegnen wir auch im Verkehr mit der Außenwelt. Pluralistisch organisierte Staaten befinden sich in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Staaten, weil sie der Überzeugung sind, daß sich keine wahre endgültige Weltordnung errichten läßt und also stets irgendwelche Unstimmigkeiten geklärt werden müssen. Die Aufgabe der Politik besteht darin, die jeweils neu auftauchenden Reibungspunkte auszumerzen, Differenzen auszugleichen, Konflikte zu schlichten.

Wenn eine totalitär organisierte Gesellschaft hingegen ihre Isolation durchbricht, so führt sie Gespräche von vornherein mit anderer Zwecksetzung. Es soll nicht in gemeinsamer Bemühung eine Meinungsverschiedenheit aus dem Weg geräumt oder ein Kompromiß divergierender Interessen ausgehandelt werden, sondern es soll die schon erkannte und bekannte Wahrheit verkündet und denen nahe-gebracht werden, die sie noch nicht anerkannt haben. Die Diskussion nimmt den Charakter der Unterweisung an. Aus dem Tete-ä-tete geistiger Kombattanten wird eine ideologische Unterrichtsstunde, in der Unwissende, Irrende und Irregeleitete zur Wahrheit geführt werden sollen. Politisch gesprochen: an die Stelle der Debatte treten „Agitation und Propaganda", tritt der Aufruf zum Umsturz der bestehenden (Unrechts-) Verhältnisse und zur Errichtung einer neuen Ordnung. Der Unterschied ist grundlegend. Pluralistische Gesellschaften sind auf eine Diskussion hin stilisiert, die den Ausgleich der Widersprüche im Kompromiß, notfalls das Nebeneinander. bestehenlassen der Gegensätze, erstrebt. Totalitäre Regimes benutzen die Diskussion als Mittel der Dialektik, die den Umschlag eines Gesellschaftszustandes in einen anderen herbeiführen soll.

Friedliche Koexistenz

Chruschtschow hat (wenn auch nicht als erster) für diese Art totalitärer Diskussion im internationalen Umgang die Formel „friedliche Koexistenz" gefunden. Friedliche Koexistenz ist, wenn man den Begriff dem Wortsinn nach (und nicht in kommunistischer Interpretation) verstehen will, identisch mit pluralistischer Staatenordnung. Zwei oder mehr nach verschiedenen Sozialmodellen organisierte und verschiedenen Anschauungen verpflichtete Systeme enthalten sich aller Gewaltsamkeit gegeneinander und bestehen in gegenseitigem Gelten-lassen friedlich nebeneinander: sie konkurrieren und rivalisieren auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und sonstigem Gebiet, werben um Nachfolge und Anhänger für ihre Ideen und ihre Politik. Eine stillschweigende Voraussetzung dieser wenn nicht idealen, so doch vergleichsweise erfreulichen Form des Zusammenlebens von Staaten und Reichen besteht darin, daß die zwei oder mehr Parteien, die miteinander koexistieren sollen, einander als gleichwertige Kontrahenten ansehen, als Partner, die kooperieren wollen, oder doch als Gegner, die in fairer Konkurrenz gegeneinander antreten, jedenfalls nicht als Feinde, von denen der eine den anderen zu vernichten gesonnen ist.

Diese unabdingbare Voraussetzung aber erfüllt die kommunistische Auslegung der friedlichen Koexistenz nicht. Die Sowjets bieten dem Westen die Koexistenz an, weil ihnen (wie uns) im atomaren Zeitalter nichts anderes übrigbleibt. Wir müssen auf gewaltsame Durchsetzung unserer Ziele verzichten, weil der Angriff, der den Atomkrieg auslöst, nach allgemeiner Auffassung die Selbstvernichtung nach sich zieht. Ausdrücklich aber erklären die Kommunisten in aller Welt, daß die friedliche, das heißt politische Koexistenz nicht die ideologische impliziert; daß das Ziel der kommunistischen Bewegung und der kommunistischen Staaten also unverändert in der allmählichen Durchsetzung ihres weltrevolutionären Programms besteht. Die Kommunisten sagen, sie könnten es sich leisten, auf Gewalt zu verzichten, denn sie wüßten, daß der kapitalistische Westen — wenn man ihm nur genügend Zeit lasse — an seiner eigenen Unzulänglichkeit und Uneinigkeit zugrunde gehen würde. Die westliche Vorstellung, daß es auf absehbare Zeit immer verschieden geprägte Gesellschaften geben wird und daß sie lernen müssen, miteinander auszukommen, können sie nicht akzeptieren. Sie arbeiten vielmehr — ihren eigenen Erklärungen zufolge — Tag und Nacht und mit allen Mitteln (außer militärischer Gewaltanwendung) darauf hin, die ganze Welt kommunistisch zu machen, bis die Rote Fahne eines Tages auch auf dem Weißen Haus flattert.

Nach ihrer Auffassung hat der heute auf internationaler Ebene geführte Klassenkampf zwischen dem sozialistischen und dem imperialistischen Lager bereits zu einem „Übergewicht" der sozialistischen Kräfte geführt und wird in nicht allzuferner Zukunft zu ihrem vollen Sieg führen. Dieses Ziel soll auf die alte Weise erreicht werden, durch Aufstand der Völker gegen die führenden Schichten, durch Revolutionen gegen die Zwangs-und Unrechtsordnung des (kapitalistischen) Staates. Die Sowjetunion erklärt sich nach wie vor bereit, sozialistische Solidarität zu üben und Revolutionen überall auf der Welt zu unterstützen (oder wie es in kommunistischer Terminologie heißt: in den „gerechten Befreiungskriegen“ gegen die Imperialisten Partei zu ergreifen). In der Polemik gegen die radikaleren Chinesen haben die Sowjets diese Politik sogar als „höchste (weil zeitgemäße) Form des Klassenkampfes" angepriesen.

Nach westlicher Vorstellung gründet sich diese Politik auf einen unauflösbaren Widerspruch. Man kann sich nicht gleichzeitig mit dem Gegenspieler auf einen Modus vivendi einigen und offen seinen Untergang betreiben; man kann ihn nicht zu gleicher Zeit akzeptieren und verdammen. Bei fortbestehender unversöhnlicher Feindschaft kann man wohl einen Wallenstillstand schließen, aber nicht im Frieden koexistieren.

Der Unterschied ist — entgegen den beschwichtigenden Erläuterungen mancher wohlmeinender Zeitbetrachter — mehr als termino-logischer Art. Frieden bedeutet Anerkenntnis der gegenwärtigen Ordnung, Waffenstillstand hingegen das Eingeständnis, sie gegenwärtig nicht ändern zu können — bei Aufrechterhaltung der Nicht-Anerkenntnis und des Willens, sie zu ändern.

Status quo

Die Kommunisten vermögen diesen Gegensatz nicht zu erkennen. Frieden und Waffenstillstand fallen für sie zusammen. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, indem er auf die Zeitachse gespannt wird. Die beiden Seiten des Gegensatzes erscheinen als Phasen in einem Prozeß. Chruschtschow hat diesen Zusammenhang in einem Gespräch mit Walter Lippmann an einem aufschlußreichen Begriff verdeutlicht. Er biete, so versicherte er seinem Besucher zu dessen Erstaunen, dem Westen die Koexistenz im Status quo an. Chruschtschow deutete den Begriff Status quo allerdings nicht in dem allgemein gebräuchlichen Sinn als Erhaltung des gegenwärtigen beziehungsweise Wiederherstellung des Vorkriegszustandes (Status quo ante), sondern als die geschichtsnotwendige Veränderung der Verhältnisse in Richtung auf den Untergang des todgeweihten kapitalistischen Lagers und den Endsieg des Sozialismus. Chruschtschows Status quo ist also gerade das Gegenteil dessen, was die Diplomaten darunter verstehen: Veränderung, nicht Konservierung der bestehenden Ordnung. In diesem Sinne erklären die Kommunisten auch alle Veränderungen lür legitim, die auf das von ihnen erkannte Geschichtsziel hinsteuern, und sich selbst für berechtigt und verpflichtet, sie zu unterstützen. Dem Westen wird ein analoges Recht nicht zuerkannt. Denn Erhebungen gegen die kommunistische Ordnung sind nicht Revolutionen, sondern Konterrevolutionen und müssen niedergeschlagen werden. Die friedliche Koexistenz, die die Sowjets dem Westen großzügig anbieten, läuft also darauf hinaus, ihn in Frieden sterben zu lassen — wobei Maßnahmen zur Wiederherstellung seiner Gesundheit von vornherein als illegitim und unzulässig erklärt werden.

Westliche Politiker begrüßen mit Erleichterung den Entschluß der Sowjets, auf militärische Gewaltanwendung zu verzichten, können sich aber nicht damit zufrieden geben, daß sie weiterhin das Recht in Anspruch nehmen, Revolutionen, Partisanen-und Guerillakriege zu unterstützen beziehungsweise durch Infiltration und Subversion zu entzünden. Sie fordern demgemäß die Regierungen der kommu-nistischen Staaten auf, sich solcher Einmischung in fremde Länder zu enthalten und die Existenzberechtigung anderer Staaten unabhängig von ihrem jeweiligen Regime und damit zugleich das von alters her geltende, nur von Kommunisten abgelehnte Prinzip der Gleichwertigkeit aller Staaten anzuerkennen. Denn gewaltsame Revolutionen widersprechen nach unserer Vorstellung der Absicht aller menschlichen Kultur, die darin besteht, zuverlässige und dauerhafte Verhältnisse zu begründen. Gerade weil sich das Leben in ständigem Fluß befindet, versucht der Politiker die ungeordneten Kräfte in geordnete Kanäle zu lenken und in Form zu halten. Verbesserungen und Anpassungen, die in jedem Augenblick notwendig sind, sollen in friedlicher und harmonischer Weise durchgesetzt, gewaltsame Ausbrüche ungezügelter Näturkräfte vermieden werden.

Wenn Revolutionen dennoch ausbrechen, so erblicken wir darin einen Ausdruck unserer Schwäche und unserer Unfähigkeit, die nach Gestalt suchenden Gewalten zu ordnen, als ein Unglück der Geschichte und einen Bankrott der Politik. Die Kommunisten sehen in Revolutionen hingegen das Gesetz der Geschichte selbst, das erst erfüllt sein wird, wenn die gesamte Menschheit kommunistisch geworden ist. Wer von solchen Leitvorstellungen ausgeht und auf gewaltsamen Umsturz hinarbeitet, zielt aber nicht auf friedliche Koexistenz. Wer im vorhinein weiß, wo Recht und wo Unrecht, wo Sieg und Niederlage, wo Triumph und Untergang liegen, betrachtet den Gegner nicht als gleichwertigen Partner, mit dem man trotz Gegensätzen friedlich Zusammenleben kann. Der Slogan Koexistenz soll ihn vielmehr täuschen und in Sicherheit wiegen, damit man ihn um so leichter begraben kann. Es ist kein ehrlicher Wettbewerb, wenn der Ausgang der Konkurrenz schon vorher feststeht, es ist keine sinnvolle Diskussion, wenn ihr Ergebnis im voraus bekannt ist. Die Diskussion wird zum taktischen Mittel degradiert, der Wettbewerb dient der Erringung von Zeitgewinn und zur Vorbereitung des nächsten Angriffs, nicht zur Einigung auf friedliche Kooperation. Gegen diese Überlegungen wird auf die unbestreitbare und unbestrittene Tatsache hingewiesen, daß die kommunistischen Regierungen ungeachtet ihrer revolutionären Phraseologie seit langem mit den nicht-kommunistischen Staaten geregelten und mehr oder weniger förderlichen Umgang pflegten. Die Sowjetunion erstrebt heute offensichtlich nicht die Weltrevolution, sondern ein sowjetisch-amerikanisches Arrangement. Und auch die Chinesen hätten bereitwilligst, wenn ihnen nur — wie im Falle Frankreichs — die Gelegenheit dazu geboten werde, Beziehungen zu den Imperialisten ausgenommen, ja sie kooperierten, ihrer oft verkündeten Ideologie offen zuwiderhandelnd, sogar mit den etablierten Regierungen der farbigen Welt, mit „reaktionären" Kaisern also und anderen „gekauften Söldlingen der Bourgeoisie" und des „Imperialismus". Die Kommunisten wegen ihrer revolutionären Politik anzugreifen sei also ungerechtfertigt und obendrein heuchlerisch. Denn die nichtkommunistischen Staaten unterstützten, wenn sie es für gut hielten, ihrerseits Maßnahmen von Revolutionären beziehungsweise Konterrevolutionären, wie zum Beispiel der Exil-Kubaner bei der Landung in der Schweine-bucht. Es bestünde also offensichtlich gar kein Unterschied; Kommunisten und Nichtkommunisten verhielten sich gleichartig, nämlich von Fall zu Fall so, wie sie es als in ihrem staatlichen Interesse für erforderlich hielten.

Auf den Vorhalt, Chruschtschow habe mit dem ihm eigenen Freimut sogar gegenüber westlichen Diplomaten erklärt, sie müßten bald alle Kommunisten werden, und „wir werden ihnen dabei helfen", entgegnen sie: „Wieso werft ihr uns das eigentlich vor, wo ihr doch dasselbe tut? Freilich wollen wir, daß sich die ganze Welt zum Kommunismus bekehrt. Wir sind obendrein der sicheren Überzeugung, daß dieses Ziel erreicht wird, weil wir die Gesetze der Geschichte auf unserer Seite wissen. Aber wollt ihr etwa nicht, daß die ganze Welt (wie Ihr sagt) .frei'werde? Ihr prophezeit, daß der Antikommunismus siegt, wir glauben, daß der Kommunismus die Oberhand gewinnt. Wo ist da ein Unterschied? Es steht schließlich jedem frei, die Sache, die er für die bessere hält, zu vertreten. Ihr wollt uns aber nicht die gleichen Startbedingungen zuerkennen und verketzert unser Bemühen um eine bessere Welt, bevor sich herausgestellt hat, wem die Entwicklung Recht gibt." Diese Überlegungen klingen vernünftig, sie sind es aber nicht. Denn freilich wünschen wir unserer Sache, die wir für die bessere halten, den Sieg. Dennoch verfolgen wir damit nicht das gleiche Ziel wie die Kommunisten. Die Verfechter einer freien, pluralistisch organisierten Welt sind nicht darauf aus, der ganzen Menschheit ihre Lebens-, Staats-und Gesellschaftsform aufzuzwingen, sondern wünschen nur, daß man sie nach ihrer eigenen Weise leben läßt. Sie wollen einen Raum schaffen, innerhalb dessen jedermann seine eigene Ideologie haben kann; sie wehren sich aber gegen die kommunistische Anmutung, daß sie anderer Leute Ideologie übernehmen sollen. Noch anders: die Kommunisten prophezeien und arbeiten darauf hin, daß die Rote Fahne auf dem Weißen Haus weht, die Amerikaner hingegen haben nicht das geringste Interesse daran, daß das Sternenbanner jemals über dem Kreml flattert. „Diese beiden Vorstellungen", so wird von Seiten der Kommunisten dann weiter kritisiert, „lassen sich sinnvollerweise überhaupt nicht miteinander vergleichen. Das Sternenbanner auf dem Kreml: das würde bedeuten, daß Amerika die Sowjetunion erobert, was eine abwegige Annahme ist. Die Rote Fahne auf dem Weißen Haus heißt hingegen nichts anderes als: eines Tages wird sich der Kommunismus auch in Amerika durchsetzen. Das wird natürlich nicht ein russischer, sondern ein amerikanischer Kommunismus sein, was eine sehr vernünftige Annahme ist."

Doch auch diese Entgegnung gilt nicht, selbst wenn man von aller praktischen Politik absieht und den Kommunismus nicht mit der nationalen und imperialen Politik Sowjetrußlands identifiziert, sondern als freischwebende internationale Ideologie betrachtet. Auch in diesem Fall bleibt der Unterschied. Der westliche Pluralismus ist nur negativ begrenzt: Toleranz gegen alle, mit der einzigen Ausnahme derer, die gegen Toleranz sind. Der kommunistische Monolithismus kennt Toleranz nur als befristete taktische Konzession — bei Aufrechterhaltung des Anspruchs, die einzige wahre Lehre zu vertreten.

Trotz aller Angebote zur friedlichen Koexistenz hat sich also an der Grundstruktur des kommunistischen Verhältnisses zur nichtkommunistischen Welt nichts geändert. Die kommunistischen Staaten sind ihrer Natur nach der offenen Auseinandersetzung mit gleichwertigen Partnern abgeneigt; denn sie betrachten sie als imperialistische Feinde, vor denen sie sich entweder schützen oder die sie bekehren müssen.

Der neue Kurs

Diese Merkmale des Kommunismus — Expansion und Isolation — bilden die unveränderlichen Bestimmungsfaktoren der kommunistischen Ideologie. Doch haben sich in dem Jahrzehnt seit Stalins Tod Akzentverschiebungen und Substanzveränderungen in der Molekular-struktur der Bewegung ergeben, die in der politischen Praxis zu teilweise grundlegenden Wandlungen geführt haben.

Stalin hat sich während seiner fast 30-jährigen Regierungszeit, am Ende fast noch mehr als zu Beginn, in ständiger Furcht vor einem Uberfall der Feinde befunden; es war wie eine Zwangsvorstellung, daß die Imperialisten die Sowjetunion einkreisen und zu zerstören versuchen würden. Er war darum stets voll finsteren Mißtrauens, führte seine Politik mit äußerster Vorsicht, jedes Risiko sorgfältig abschätzend. Er vermied offene Konfrontationen mit dem Westen, tastete den Gegner ab, agierte am liebsten durch vorgeschobene Satelliten (Korea). Stets hielt er sich Rückzugwege offen, wich elastisch zurück und nahm Rückschläge in Kauf (Persien 1945, Griechenland 1947, Berlin-Blockade 1948/49), um ernsthaften Konflikten aus dem Weg zu gehen. Seine Politik richtete sich konsequent auf die Sicherung seines Machtbereiches. Die Abschließung wurde unter seiner Ägide zur äußeren Konsequenz geführt: der Eiserne Vorhang senkte sich mitten durch Europa, den in sich zusammengehörigen, durch Geschichte und Kultur verbundenen Kontinent in zwei Teile spaltend.

Unter Chruschtschow änderten sich die Verhältnisse gründlich. Die prägenden Erfahrungen des neuen Parteichefs waren nicht die ständigen Ängste vor den kapitalistischen Mächten, sondern die Siege im Krieg, die Macht-erweiterung nach dem Krieg und die Triumphe des atomaren Gleichgewichts, schließlich des Sputnik-Vorsprungs. Er war darum nicht in sich gekehrt, sondern selbstgewiß, kühn, dynamisch; nicht mißtrauisch, sondern zuversichtlich, ja draufgängerisch. Er fürchtete nicht den Angriff der Gegner, sondern sann seinerseits auf Ausgriff. Und er begnügte sich nicht mehr, Politik am Rande des sowjetischen Machtbereichs zu führen, sondern übersprang die selbstgesetzte Schranke und erklärte die ganze Welt zu seinem Aktionsfeld. Als erster russischer Staatsmann trieb er globale Politik. Die Welt, vor allem die westliche Welt, horchte auf, als er „die Dekolonisation auf die Tagesordnung" setzte und sich mit aller Verve — durch Staatsbesuche, Entwicklungshilfe, Waffenlieferungen und Atombombendrohungen — in der farbigen Welt engagierte.

Die politischen Propheten der Jahre 1955— 60 (von den tschechischen Waffenlieferungen an Nasser bis zu dem Vorstoß im Kongo) prognostizierten, daß ein Land nach dem anderen unter kommunistische Kontrolle fallen werde. Dennoch geschah nichts dergleichen. Die Führer der neuen Staaten bemerkten rasch, welchen Vorteil ihnen die doppelte Werbung von West und Ost brachte und hüteten sich davor, sich festzulegen. Chruschtschows weltstrategischer Vorstoß in die Dritte Welt, durch den er die kapitalistische Hochburg USA zu umfassen und auszuheben unternahm, scheiterte von Anfang an. Nur Kuba fiel — ohne eigenes Zutun, dank der Gunst der Verhältnisse und der amerikanischen Ungeschicklichkeit — Chruschtschow als neuer Satellit in den Schoß. Dieser Brückenkopf, der ganz Südamerika und damit die amerikanische Weltstellung bedroht, stellt — trotz des mit dem erzwungenen Raketenrückzug verbundenen Prestigeverlusts — einen außerordentlichen Erfolg dar.

In anderen Regionen blieben die Erfolge aus; im innersten Machtbereich mußte Chruschtschow gar schwere Rückschläge hinnehmen. Unter seiner Herrschaft löste sich die Einheit des Blocks auf.

Trotz dieser und anderer Mißerfolge, die schließlich zu seiner Absetzung geführt haben, ist es ihm gelungen, die globale Präsenz des Sowjetreichs durchzusetzen. Moskau beansprucht heute unwidersprochen in allen weltpolitischen Fragen ein Mitspracherecht. Es gibt keine Vorbehaltsregionen, keine abgesicherten Einflußräume mehr. Die Sowjets hegen berechtigten Stolz auf diese Leistung.

Nicht geringer war jedoch Chruschtschows Stolz darauf, daß er als posthumer Gegner seines Vorgängers, als Liquidator des stalinistischen Systems und Initiator einer neuen besseren Ära in die Geschichte eingetreten ist. Er hat seinen Landsleuten ein gutes Leben verheißen und zumindest ein besseres Leben beschert. Er hat den Terror abgeschafft und die alte Gleichsetzung von Kommunismus, Mangel-planung und Hunger aufzulösen begonnen. Ist es ihm auch nicht gelungen, das oft wiederholte Versprechen einzulösen, Amerika einzuholen und zu überholen, so vermochte er doch das Gespenst der akuten Versorgungsnöte zu bannen.

Dieser doppelte Stolz auf das im Inneren und nach außen hin Erreichte haben die Sowjets dazu geführt, die dem System immanente Selbstabschließung zu lockern. Die Welt, alle Welt soll sehen, wie weit sie es gebracht haben, und die Entwicklungsländer sollen sie sich zum Vorbild nehmen, wenn sie innerhalb der nächsten Generation den großen Industrialisierungs-Sprung nach vorn vollziehen wollen. Noch besser: sie sollen die sowjetischen Methoden so genau kopieren, daß sie sich damit unvermerkt in das sozialistische Weltsystem einstigen. Präsidenten und Potentaten, Kommunisten und Nicht-Kommunistengegner, Politiker, Gelehrte, Techniker, Geschäftsleute, Jugendliche: sie alle sollten kommen, sollten sehen, sollten bewundern.

Die Durchlöcherung des Eisernen Vorhangs war — ähnlich wie die Umstrukturierung der Beziehungen innerhalb des Blocks — im Keime schon in Stalins Herrschaftssystem angelegt. Denn die Abschließung wird in unserer Zeit allein aus technischen Gründen immer schwieriger. Man kann durch ein bloßes Dekret den Import von Zeitungen verbieten; Rundfunkwellen hingegen dringen ohne Importlizenz über die Grenzen. Das Abhören von Sendungen aber läßt sich nur durch extremen Terror verhindern, den abzubauen wiederum im Interesse von Stalins Nachfolgern lag. Ebenso kann man Reisen verbieten (und Sowjetrussen vermögen noch immer nur ausnahmsweise und unter Schwierigkeiten außer Landes zu reisen); aber auch Stalin vermochte die Soldaten seiner Besatzungsarmeen nicht zu hindern, die Augen aufzumachen und das, was sie in den fremden Ländern sahen, mit den Vorstellungen der offiziellen Propaganda zu vergleichen. Und je mehr heute sowjetische (und ebenso polnische, tschechische, chinesische, deutsche) Instruktoren und Berater, technische Heiter und Experten, Diplomaten, Propagandisten und Kryptoagitatoren in die Welt hinausgehen, um für ihr Land und ihre Idee zu werben, um so mehr sehen, erfahren und berichten sie zu Hause; um so weiter dehnt sich ihr Horizont aus; um so zahlreichere persönliche Kontakte ergeben sich. Die hermetische Abriegelung wird unwirksam, der Eiserne Vorhang verliert seine Dichte. Es beginnen — wenn auch gesteuert und tropfenweise — Austausch und Diskussion.

Entstalinisiering -Schisma

Die entscheidenden Hebel bei der Öffnung des geschlossenen Ostimperiums stellten jedoch die Entstalinisierung und das (wenn auch nicht formell vollzogene) Schisma dar. Unter Lenin und Stalin war es gelungen, die Einheit des kommunistischen Blocks durch die Einheit des Dogmas zu sichern und damit den Anspruch aufrechtzuerhalten, daß es die einzig wahre, „wissenschaftlich" begründete Geschichtsdeutung und politische Handlungsanweisung enthält. Das Dogma mochte im Laufe der Zeiten geändert werden (Internationalismus •— Sozialismus in einem Land), es blieb doch immer ein Dogma. Wer sich nicht dazu bekannte, war ein Ketzer und Verräter und wurde aus der kommunistischen Glaubens-und Aktionsgemeinschaft ausgestoßen, exkommuniziert: so erging es Bucharin, so Trotzki, so Tito — mit dem bemerkenswerten Unterschied, daß der erste nach einem Schauprozeß hingerichtet, der zweite im Exil ermordet wurde, während der dritte inmitten der Seinen an der Herrschaft blieb, den alten Widersacher überlebte und von den Nachfolgern umworben wird. Die Kommunisten in aller Welt wußten jedenfalls, was sie für richtig und falsch zu halten, wie sie zu handeln und wem sie zu gehorchen hatten. Seit aber Stalin vom Podest und aus dem Grab gerissen wurde und sein jahrzehntelang gültiges Wort von einem Tag zum anderen als Irrlehre gebrandmarkt wurde, seit eine stalinistische Opposition innerhalb der sowjetischen Führungsgremien selbst je nachdem bekämpft oder geduldet wird, also zwei Interpretationen des Marxismus-Leninismus miteinander rivalisieren, hat der Unfehlbarkeitsanspruch der Partei einen furchtbaren Schock erlitten, der irreparabel geworden ist, nachdem China (dessen Führer ebenso wie die Jugoslawiens ohne sowjetische Hilfe die Macht erobert haben) die Hegemonie im sozialistischen Weltsystem anstreben und sich zur Vormacht der stalinistischen Heterodoxie erklärt haben. Jahrelang standen zwei kommunistische Weltführer als Konkurrenten einander gegenüber, um zwei kommunistische Zentren kreisten zwei Satellitenringe (die die Rivalität der Großen zur Gewinnung immer größerer Selbständigkeit nutzen), zwei politische Leitlinien des Kommunismus wurden propagiert, zwei kommunistische Weltdeutungenangeboten. Nie mehr wird nach dieser Aufsplitterung der Kommunismus seine alte Selbstsicherheit, nie werden die Kommunisten ihre frühere Naivität zurückgewinnen. „Die Partei hat immer recht" — dieser Satz, auf dem der Gehorsam der Kommunisten jahrzehntelang beruhte und der noch heute Geltung beansprucht, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wenn sich die Partei einmal so gründlich geirrt hat, kann sie sich wieder irren. Wenn ein zum Gott erhobener Diktator sang-und klanglos vom Sockel gestoßen wird und ein zweiter, der ein Jahrzehnt lang allgemein akklamiert wurde, von einem Tag zum nächsten in der Versenkung verschwindet, wird der nächste nicht mehr die Glaubwürdigkeit seiner Vorgänger finden.

Wenn sich einmal herausgestellt hat, daß die absolute Wahrheit keine Wahrheit war, ist der dogmatische Wahrheitsanspruch diskreditiert. Die für die Entartung des Systems gegebene Erklärung, der Persönlichkeitskult, ist nicht nur in sich absurd, sondern widerspricht dem Dogma des Dialektischen Materialismus, der Deutung also, daß der Marxismus seine Macht aus seiner Klassenbedingtheit ableitet. Herbert Lüthy hat in einem — bedauerlicherweise — auf Deutsch nicht veröffentlichten Aufsatz " Culture and the Cold War" geschrieben: „Chruschtschows Rechenschaftsbericht (über die Destalinisation) klingt wie eine Karikatur auf das, was Generationen von Marxisten als , bourgeoisen Idealismus'verhöhnt haben — eine schwerwiegende Angelegenheit für ein Regime, dessen einzige Rechtfertigung ideologischer Art ist. Es ist immer leichter, einer immer wieder mit Macht verfochtenen Lüge Glauben zu schenken als sich auf dem glitschigen Boden der Halb-wahrheiten zu halten.

Das sowjetische Regime ist noch immer tyrannisch, aber es ist nicht mehr wahnsinnig, das heißt, es ist nicht mehr rationalen Argumenten unzugänglich; es respektiert nicht immer die Fakten, aber es strebt doch nach Glaubwürdigkeit. Es fälscht nach wie vor die Geschichte, vor allem seine eigene, aber es erfindet sie nicht mehr als Ganzes, ja sucht seine Auffassung wenigstens zu beweisen. All dies, wird man sagen, ist nicht viel und wird wenig an den Verhältnissen ändern. Ich halte es doch für sehr viel. Denn auf der intellektuellen Ebene, würde ich sagen, ... ist die Sowjetunion jetzt durch die Wahrheit verwundbar geworden (vulnerable to truth)."

Gesprächschancen

An diesem Punkt eröffnen sich Chancen, die Isolation zu durchbrechen und Gespräche zu führen, die am Ende notwendig zum Nutzen der offenen Gesellschaften und derer, die eingeschlossen leben, aber in die Offenheit streben, ausschlagen werden. Mehrere Gründe sprechen dafür, daß wir diese Chance nutzen. 1) Es entspricht der Philosophie unserer Gesellschaft, mit jedem, der dazu bereit ist, in Diskussion zu treten, seine Argumente anzuhören und zu prüfen. Wir würden geistig kapitulieren, wenn wir dem intoleranten und utopistischen Anspruch der Kommunisten, die Welt nach ihrem allein wahren Bilde zu formen, nicht unseren bescheideneren und darum eher realisierbaren entgegensetzen, daß jeder — einschließlich der Kommunisten — das Recht auf seine Meinung und auf die Ausgestaltung seiner Welt nach dieser Meinung besitzt. Wenn dieses ethische Motiv nicht als Bestimmungsgrund dafür genügt, mit Kommunisten zu sprechen, so treten gleichsam hilfsweise zwei pragmatische Überlegungen hinzu:

2) Die Öffnung seines Machtbereichs und die Aufnahme von Kontakten widerspricht, wie wir gesehen haben, der Natur eines totalitär organisierten und ideologisch geprägten Regimes wie des kommunistischen.

Es liegt also zwangsläufig in unserem Interesse, diese Entwicklung nach Kräften zu unterstützen. Jede auch noch so flüchtige Berührung mit Angehörigen aus dem Westen, jedes politische Gespräch, jeder wissenschaftliche Disput ermöglicht den Kommunisten, einen Blick in eine eigentlich verschlossene Welt zu werfen, erlaubt ihnen Vergleiche zu ziehen, ermutigt sie zur Kritik. Jede Begegnung fördert den Prozeß der inneren Wandlung, Auflockerung und schließlichen Auflösung des massiv monolithischen Aufbaus der kommunistischen Bewegung, schwächt ihre Aggressivität, macht sie geeigneter als Partner in einer friedlichen Welt.

Wer auch diese Überlegung nicht akzeptiert, den muß die nüchterne, wenn auch vielleicht unwillkommene Einsicht überzeugen, daß eine Gegenabriegelung des Kommunismus, selbst wenn sie wünschenswert wäre, nicht durchführbar ist. Man kann theoretisch durchaus die Position vertreten, daß die Kommunisten durch jeden Kontakt profitieren, weil sie nur glaubenssichere und vertrauenswürdige Parteileute dazu ermächtigen, die wohl einzelne Personen im Westen überzeugen können, sich aber selbst nicht überzeugen lassen, und daß es sich also empfiehlt, einen hermetisch-dichten Ring um ihren Machtbereich zu legen und zu warten, bis die im Innern schwärende Krankheit der Unterdrückung ausreift und in einem Prozeß der Selbstreinigung abstirbt. Diese in sich sinnvolle Theorie entbehrt doch jeder Glaubwürdigkeit, weil selbst in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution, da die westlichen Staaten die bolschewistische Regierung nicht anerkannten und einen cordon sanitaire von Pufferstaaten um das rote Revolutionsgebiet legten, die Isolierung nicht gelang. Die nationalen und wirtschaftlichen Interessen der Staaten und Gruppen waren zu stark. Nach dem Erstarken der Sowjetunion war jede Abschließung von außen um so weniger praktikabel. Wollte der Westen das kommunistische Lager isolieren, so müßte er als Einheit agieren können und außerdem die übrigen nicht-kommunistischen Gebiete beherrschen. Beide Voraussetzungen waren niemals gegeben. Heute ist es vollends utopisch, solch ein Unterfangen auch nur ins Auge zu fassen. Unter den gegebenen Umständen liegt es in unserem Interesse, die Gesprächschance, die sich uns bietet, zu ergreifen und die intellektuellen Beziehungen, den geistigen Wettbewerb und Austausch mit den Kommunisten von uns aus nach Kräften zu intensivieren.

Viele Zeitgenossen erkennen diese Schlußfolgerung nicht an; sie fürchten, daß uns Kontakte mit Kommunisten zum Nachteil ausschlagen werden.

Aber keine Vorleistungen

Als Motiv dieser Ablehnung wird gemeinhin die Besorgnis angegeben, die Kommunisten würden solche Gespräche nur zu propagandistischen Zwecken mißbrauchen. Sie besäßen die dialektische Schulung und die Technik, mit deren Hilfe sie aus jeder Konfrontation als Sieger hervorzugehen verständen. Sie überführten rücksichtslos ihre um Sachlichkeit und klärende Argumente bemühten Gesprächspartner, schnitten ihnen das Wort ab, verhöhnten sie, um die Lacher auf ihre Seite zu bringen, übertönten sie durch lautes und ermüdeten sie durch langes Reden, verwirrten sie durch nicht zum Thema gehörige Einwürfe, ständige Attacken, Ablenkungsmanöver und suchten sie immer wieder durch bewußte Lügen aus dem Konzept zu bringen. Die Diskussion sei ihnen nicht ein Wortstreit, in dem die besseren Argumente die Oberhand behalten, sondern in dem sie den Gegner, mit welchen Mitteln auch immer, mattsetzen sollten.

Das ist freilich wahr. Wahr ist jedoch auch: wenn man diese Form der Auseinandersetzung einmal durchschaut hat, dann weiß man sich auf sie einzustellen. Nach einem halben Jahrhundert wenn nicht Umgang, so doch Zusammenleben mit Kommunisten haben auch im Westen viele Leute gelernt, sich in solchen Debatten erfolgreich zu schlagen. So unerquicklich solche Gespräche sind, so wenig gefährlich sind sie letzten Endes. Die sowjetischen Journalisten, die kürzlich durch die Bundesrepublik gereist sind, haben dies feststellen müssen. Mit der bloßen Bekräftigung ihrer Thesen und der Wiederholung von Vorwürfen vermochten sie weder in öffentlichen noch in privaten Gesprächen Erfolge zu erzielen. Ebenso erging es Adshubej in Frankreich, der seinen ganzen Charme aufwandte, um für ein sowjetisch-französisches Rapprochement zu werben und gleichzeitig gegen das französisch-deutsche Bündnis Stimmung zu machen. Je deutlicher aber diese Absicht wurde, mit um so größerem Vergnügen lenkten die französischen Gesprächspartner die Diskussionen auf Themen, die für den Gast unerwünscht, ja kompromittierend waren, zum Beispiel den sowjetischen Antisemitismus. Diese Art der Auseinandersetzung haben wir keinen Anlaß zu fürchten.

Wenn Gespräche mit Kommunisten aber auch von denjenigen abgelehnt werden, die diese Befürchtungen nicht hegen, so liegt die tiefere Ursache dafür anderswo. Die Ablehnung rührt, wie uns scheint, aus einer — den meisten unbewußten — Verwechslung zweier keineswegs identischen, in der jüngsten politischen Diskussion aber zusammengeschalteten Positionen, der (nach unserer Auffassung) befolgenswerten Empfehlung, intellektuelle Kontakte zu fördern, und dem umgekehrt illusionären und gefährlichen Rat, den „modernen" Kommunisten auch in der Außenpolitik mutig „entgegenzukommen", weil sie gar keine echten Kommunisten mehr seien 3). Kurz gesagt, man glaubt, Gespräche mit Kommunisten führten notwendig zu einer Politik der Vorleistungen, die man fürchtet, oder seien sogar identisch damit. Diese Gleichsetzung 3) Wozu McGeorge Bundy (The Presidency and the Peace, Foreign Affairs, April 1964, S. 357) zu Recht anmerkt: „Nichts ist für den Frieden gewonnen, wenn man die CSR oder Ungarn oder die immer wiederkehrende Bedrohung in Berlin, Korea, Südostasien oder die Dutzend Male und Orte vergißt, wo die Kommunisten mit der Hilfe Moskaus der Freiheit ein Ende zu bereiten versuchten." scheint uns unzulässig zu sein; ihr Zustande-kommen ist jedoch nur allzu begreiflich angesichts des Umstands, daß diejenigen, die zugunsten einer Entspannung zu erheblichen Konzessionen bereit sind, die beiden Forderungen miteinander verflochten haben und mit gleicher Verve vertreten. Es ist notwendig und es ist möglich, diese Verbindung wieder aufzulösen. Denn man kann durchaus jeder Vorleistungspolitik mit Entschiedenheit entgegentreten und zugleich der Intensivierung von Kontakten das Wort reden. Man kann durchaus eine Politik der Entspannung für verfehlt halten, die — in Verkennung der Determinanten totalitärer Regimes — den kommunistischen Staaten die gleichen Motive und Zielsetzungen wie allen anderen Ländern zuschreibt, ihre expansiv-offensive Haltung als Resultat ihres legitimen Sicherheitsbedürfnisses, ihrer Angst vor Revisionismen und Revanchismen und ihrer mangelnden Information über die Zustände im Westen ansieht und dementsprechend Maßnahmen des Entgegenkommens empfiehlt, und gleichzeitig der Auffassung sein, daß wir durch jede Art Kontakte offensiv in die kommunistische Welt hineinwirken können müssen.

Die beiden Probleme — Entspannung und Kontakte — hängen weder logisch noch politisch untrennbar miteinander zusammen. Denn Absicht und Natur der beiden Aktionen sind völlig verschieden. Mit Vorleistungen spekuliert man auf die Dankbarkeit der Kommunisten, die freiwillig Gegenleistungen zu gegemeinsamem Nutzen bringen sollen. Mit Gesprächen zielt man auf eine allmähliche Veränderung ihrer Mentalität. Vorleistungen bedeuten darum ein — für uns höchst ungünstiges — Risiko, Gespräche eine — auf die Dauer fast sichere — Chance. Diese Chance, die uns durch die innerkommunistische Entwicklung zugewachsen ist (" vulnerable to truth), müssen wir wahrnehmen und versuchen, die Kommunisten aus ihrer selbstauferlegten Isolation zu befreien. Es zu verabsäumen wäre ein Zeichen von grober Fahrlässigkeit. Allerdings müssen wir uns bewußt sein, daß es sich dabei um eine aufopferungsvolle und wenig dankbare Aufgabe handelt und daß die Erfolge dieser Tätigkeit schwerlich uns, sondern erst unseren Söhnen oder Enkeln zugute kommen werden. Um uns dieser Aufgabe mit Erfolg widmen zu können, müssen wir einige häufig begangene Fehler vermeiden; darüber soll noch ein Wort zum Schluß gesagt werden.

Verführung zur Kritik

Die meisten Gespräche, die heute mit Kommunisten geführt werden, verlaufen in deprimierender Sterilität. Statt eines Dialogs werden zwei gegeneinander versetzte Monologe geführt. Die Absicht des nicht-kommunistischen Gesprächspartners muß darin liegen, die erstarrte Meinungsfront aufzulösen und sein Gegenüber zu einem wirklichen Austausch von Argumenten zu gewinnen, ja ihn kraft seiner Redegewalt buchstäblich dazu zu verführen. In akademischen Begriffen ausgedrückt: er muß es unterlassen, auf kommunistische Vorlesungen mit eigenen Vorlesungen zu antworten; denn, so verlockend das im Augenblick erscheint, so nutzlos ist es im Endeffekt. Sein Ziel muß vielmehr sein, die Konfrontation in ein Seminar zu verwandeln, in ein gemeinsames Bemühen, ein Thema im Gespräch zu klären. Das ist eine schwere Aufgabe, die erfolgreich zu lösen viel Geschick verlangt. Wie die Erfahrung zeigt, ist es vergleichsweise einfach, solch ein Gespräch zu führen, wenn man sich zu zweit gegenübersitzt, gelegentlich möglich im engen privaten Kreis (obwohl schon bei solchen Veranstaltungen Mißtrauen auftaucht, das den kommunistischen Gesprächspartnern die Un-Befangenheit raubt); fast aussichtlos ist es hingegen in öffentlichen Veranstaltungen, Forumsdiskussionen und so weiter. Die westliche Taktik sollte darum auf den intimen Kontakt hinzielen; offizielle und öffentliche Veranstaltungen müssen als notwendige Beziehungsbrücken in Kauf genommen werden.

Die Chancen, das Gespräch in einen wahren Dialog zu verwandeln, sind weiterhin durch das Thema bestimmt. Es versteht sich, daß sich über politische indifferente Gegenstände — Städteplanung, Seuchenbekämpfung, Betriebs-rationalisierung oder was immer — leichter diskutieren läßt als über die Wiedervereinigung oder das Schisma. Allgemeine politische Kontroversen führen aber auch bei bestem Willen günstigenfalls zu einer Konfrontation der Standpunkte, das heißt zu einem Nebeneinanderherreden, häufig zu Mißverständnissen, Gereiztheiten, ja Kränkungen. Damit ist uns aber nicht gedient, im Gegenteil. Solche Diskussionen sind eher schädlich als nützlich. Die Kommunisten fühlen sich in ihren Vorurteilen bestätigt, verhärten ihren Standpunkt und vermögen sich der Bevölkerung ihres Landes obendrein noch durch ihr angebB lieh weltoffenes und tolerantes Verhalten zu empfehlen.

Wir sollten darum Gespräche heiklen politischen Inhalts, wenn überhaupt, mit äußerster Reserve und diplomatischer Kühle führen. Unser Interesse liegt darin, unsere Gesprächspartner auf Themen zu bringen, die jenseits oder am Rande der dogmatisch festgelegten Probleme angesiedelt sind. Denn allein bei der Erörterung solcher Fragen können wir ihnen, was unsere eigentliche Absicht ist, den Dialog als geistige Veranstaltung und Form des Lebens schmackhaft machen. Wir müssen uns bewußt sein, daß es sich dabei stets um ein schwieriges und langwieriges Erziehungsvorhaben handelt. Es gilt, Menschen, deren Gesichtskreis dogmatisch versperrt ist und deren Wahrheitsmaßstäbe sich durch jahrzehntelange Propaganda verzerrt haben, allmählich an unvoreingenommenes und kritisches Denken zu gewöhnen. Es gilt, sie an der Sache zu halten und sie von da aus zum Diskutieren zu führen. Es ist keineswegs unsere Aufgabe (und in diesem Punkt wird allzu oft gesündigt), unsere Sache zu propagieren und in missionarischer Absicht aus Kommunisten Nicht-oder Antikommunisten zu machen. Solche Bemühungen sind, allein weil sie zwangsläufig psychologische Abwehrhaltungen hervorrufen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Unser Bestreben muß vielmehr sein, sie zu selbständigem Denken zu verführen; es gilt den geschichtsimmanenten Prozeß der Aufklärung zu fördern, den Kant mit dem einfachen Wort “ sapere aude“ umschrieben hat: „Wage es, dich deines Verstandes frei zu bedienen.“ Wer das zu tun lernt, entzieht dem Kommunismus von selbst den Boden. Wir können bei dieser Entdogmatisierung in sokratisch-mäeutischer Weise nur helfen; den Sprung über ihre Unfehlbarkeitsvorstellung müssen die Kommunisten selbst tun — jeder einzelne für sich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. L’Express, 9. November 1964.

  2. Encounter, Juni 1963.

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