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Bildungspolitik und Sozialstruktur in der Sowjetunion | APuZ 5/1965 | bpb.de

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APuZ 5/1965 Bildungspolitik und Sozialstruktur in der Sowjetunion

Bildungspolitik und Sozialstruktur in der Sowjetunion

Oskar Anweiler

Immer deutlicher tritt in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts der enge Zusammenhang zutage, der zwischen der staatlichen Bildungspolitik und den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen besteht, auch wenn man in manchen traditionsgebundenen Ländern Europas dieser Tatsache in der praktischen Schulpolitik und bei den Zukunftsplanungen des Bildungswesens erst zögernd Rechnung trägt. Im Unterschied dazu betrachten diejenigen Länder, die sich in einem besonders rasanten Tempo der sozialökonomischen Transformation befinden und in denen außerdem eine revolutionäre gesellschaftspolitische Zielvorstellung am Werke ist, die Wirtschafts-, Sozial-und Bildungspolitik nicht als getrennte und voneinander unabhängige Bereiche, sondern als ein einheitliches System, in dem alle Teile eng aufeinander bezogen sind. Das gilt in besonderem Maße für die Sowjetunion, in der die erwähnte Verknüpfung schon seit einigen Jahrzehnten besteht. In dem von Lenin geprägten und von Stalin übernommenen Begriff der „sozialistischen Kulturrevolution", der eine sozialrevolutionäre und eine bildungspolitische Zielsetzung enthält, fand sich sogar eine einprägsame Formulierung für jene sozialkulturelle Komponente der Wandlung Rußlands vom überwiegend agrarischen zum industrialisierten Land, die das Hauptkennzeichen der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert darstellt.

Schulbildung

Unsere folgenden Betrachtungen basieren auf dieser Einheit der wirtschafts-, gesellschaftsund bildungspolitischen Ziele und Maßnahmen, was nicht heißen soll, daß zwischen ihnen zu allen Zeiten der sowjetrussischen Geschichte eine gleich enge Verbindung bestanden hat und die Abhängigkeit der einzelnen Faktoren untereinander stets gleich-bleibend war. Wir fragen danach, welchen Anteil die staatliche Bildungspolitik an der sozialen Umschichtung in Rußland seit der Revolution von 1917 hatte und welche Rolle ihr im gegenwärtigen Stadium der sowjetischen Gesellschaftsentwicklung zukommt. Indem wir damit einen Teilaspekt der gesamten sowjetischen Bildungspolitik herausgreifen, lassen wir die im engeren Sinne pädagogischen Probleme, wie z. B. die geistige Umformung der Menschen seit der Revolution oder den Wandel der Bildungsgehalte in den Lehrplänen der Schulen, weitgehend außer acht. Uns interessieren vor allem soziologische Fragen des Bildungswesens und der Bildungspolitik, so etwa: Welche Rolle spielt die Schulbildung für den sozialen Aufstieg in der Sowjetunion? Welche Schichtung nach dem Grad der erworbenen Ausbildung weist die sowjetische Bevölkerung auf? Welche Zukunftskonzeption entwickelt die kommunistische Führung im Hinblick auf das Ausbildungsniveau der sowjetischen Gesellschaft?

Abbildung 10

Um ein möglichst konkretes Bild zu gewinnen, müßte man noch eine Reihe weiterer Fragen stellen: Herrscht in der Sowjetunion tatsächINHALT lieh eine Gleichheit der Bildungschancen? Wie wirken sich die sehr erheblichen Unterschiede von Stadt und Land, von Provinzstädten, Republikzentren und Millionenstädten auf den Bildungsgang der Jugend aus? Wie sieht die soziale Struktur in den verschiedenen Schultypen mit Sondercharakter aus, etwa in den Internatsschulen oder in den Schulen mit erweitertem Fremdsprachenunterricht? Welches Berufsschicksal haben die Absolventen der zehnjährigen sowjetischen Mittelschule — nicht alle können studieren, steigen sie deswegen sozial ab? Besteht in den nichtrussischen Republiken der UdSSR ein Zusammenhang zwischen der nationalen Zugehörigkeit, den Bildungsmöglichkeiten und der späteren sozialen Stellung? Aus welchen Schichten rekrutiert sich heute die sowjetische Lehrerschaft der verschiedenen Schulstufen, nachdem bis in die dreißiger Jahre ein deutliches Übergewicht der Lehrer mit bäuerlicher und kleinbürgerlicher Abkunft festzustellen ist?

Zur soziologischen Erforschung des sowjetischen Bildiingswesens

Abbildung 1

Eine Antwort auf diese und ähnliche Fragen wird allerdings erheblich durch die Tatsache erschwert, daß es eine Soziologie des sowjetischenBildungswesens bis heute nicht gibt. Ansätze in dieser Richtung, die in den zwanziger Jahren bestanden haben, sind in der Stalin-Ära nicht weitergeführt worden Erst als im Zuge der Entstalinisierung nach 1956 sowjetische Wissenschaftler „konkrete soziologische Forschungen" anstelle „dogmatischer Deduktionen" forderten, begannen vereinzelt auch erziehungs-und bildungssoziologische Fragestellungen in den Arbeitsprogrammen und eingeleiteten Untersuchungen aufzutauchen Dabei handelt es sich vor allem um Probleme, die mit der „Erhöhung des kulturell-technischen Niveaus" der arbeitenden Bevölkerung, der Familienstruktur und der Rolle der Freizeit Zusammenhängen, wobei — entsprechend der Grundauffassung von der Soziologie als einer „prospektiven Wissenschaft" — der Gedanke der sozialen Planung eine erhebliche Rolle spielt. Es erscheint deswegen keineswegs ausgeschlossen, daß in der Sowjetunion in einigen Jahren eine mit den Methoden der empirischen Sozialforschung arbeitende Soziologie des Bildungswesens entstehen wird, die den Vorsprung der amerikanischen und westeuropäischen Forschung auf diesem Gebiet aufholt. Wieweit ihre Resultate einer kritischen Prüfung standhalten werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es den sowjetischen Gesellschaftswissenschaftlern gelingt, tatsächlich unverfälschte und nicht manipulierte, konkrete soziologische Daten zu ermitteln und zu veröffentlichen. Während nämlich der Partei-und Staatsführung einerseits an realen soziologischen Befunden als Beitrag zur Wirtschafts-und So-zialplanung gelegen sein muß, bestehen andererseits im Interesse der Parteikontrolle und der verhüllenden Ideologie erhebliche Hemmungen, Resultate zu publizieren, die nicht in das Entwicklungsschema der sowjetischen Gesellschaft passen.

(Quelle: Anm. 36)

Solange mit solchen Veröffentlichungen nicht zu rechnen ist, muß die westliche Forschung, die sich bildungssoziologischen Problemen in der Sowjetunion zuwendet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen suchen, die sich ihr aus anderen zugänglichen Quellen ergeben. Dazu gehören z. B. die von der sowjetischen Statistik publizierten Daten, die von anderen Wissenschaften (z. B.der Nationalökonomie) erarbeiteten Resultate, die vereinzelt vorliegenden Augenzeugenberichte westlicher Beobachter und nicht zuletzt die verschiedenen amtlichen Verlautbarungen schulpolitischer Art, die einer soziologischen Analyse unterzogen werden können. Darauf aufbauende Untersuchungen sind zweifellos wichtiger als fragwürdige Versuche einer „pädagogischen Feldforschung" in einem System, das sich Fremden immer noch äußerst ungern öffnet Obwohl einige Einzelfragen aus unserem Themenbereich schon aufgegriffen worden sind bleibt das meiste noch zu tun. Die folgenden Ausführungen über den Zusammen-hang der Bildungspolitik mit den sozialen Wandlungen in Sowjetrußland tragen daher durchaus vorläufigen Charakter, vor allem dort, wo es sich um Fragen handelt, die zum erstenmal gestellt werden und wo die Ant-wort manchmal nur hypothetisch ausfallen kann. Trotzdem mag ein solcher Abriß als Anregung für weitere Einzelstudien und als wesentlicher Aspekt der sozialen Transformation in Rußland nicht unwillkommen sein.

Die egalitär-demokratische und proletarisch-revolutionäre Phase nach 1917

Schulen

(Quelle: Anm. 9)

Es gehört zu den Gemeinplätzen der neueren russischen Sozial-und Bildungsgeschichte, daß sie durch die kulturelle Zweiteilung der russischen Bevölkerung in eine dünne Oberschicht der „europäisch" Gebildeten und in die Masse des „ungebildeten" einfachen Volkes gekennzeichnet ist. Im Schulwesen entsprach dieser Kluft die scharfe Trennung zwischen der elementaren Volksschule und den Gymnasien (bzw. Realschulen), die erst in den letzten Jahren des Zarenreiches etwas gemildert wurde. Der standesgebundene Charakter des Schulwesens blieb bis zur Revolution auch deswegen weitgehend erhalten, weil der allgemeine Zuschnitt des durch Rang-und Dienstordnung bestimmten gesellschaftlichen Lebens eine solche Einstellung in weiten Kreisen der Bevölkerung begünstigte.

(Quelle: Anm. 34)

Trotzdem war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch in Rußland der gesamteuropäische Prozeß einer Demokratisierung der Bildung nicht zu übersehen. Nicht zuletzt dank der volksaufklärerischen Tätigkeit der russischen Intelligenz, dem Ausbau der Erwachsenenbildung und der Verbreitung populärer Literatur im russischen Dorf kam es zu einer schrittweisen Emanzipation des bis dahin „ungebildeten" Volkes, die sich u. a. auch in der wachsenden Beschickung der Gymnasien, Realschulen, Universitäten und Hochschulen durch die Kinder der „niederen Stände" äußerte Seitdem Rußland in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts endgültig in den Sog des staatlich geförderten Kapitalismus geriet, kamen auch von der Seite der neuen beruflichen Ausbildungsanforderungen kräftige Impulse für eine Über-windung der alten ständischen Struktur des Bildungswesens ins Spiel. Den Abschluß dieser Entwicklung bildete das von dem bedeutenden vorletzten Unterrichtsminister, Graf P. Ignatjew, 1915/16 vorgelegte Projekt einer umfassenden Schulreform, das ein dreifach gestuftes allgemeinbildendes Schulwesen sowie ein gegliedertes Berufs-und Fachschulsystem vorsah und das bewußt von Ignatjew als Anpassung an die neuen Bedürfnisse eines im Entstehen begriffenen modernen russischen Agrar-und Industriestaates betrachtet wurde. Während im alten Rußland die Schulbildung nur einer von vielen Faktoren war, die den sozialen Rang des einzelnen bestimmten — die adlige Herkunft, der Besitz, die Nähe zum Hof waren viel wichtiger —, sollten nunmehr Schulausbildung und berufliche Leistung an die Stelle der traditionellen Status-merkmale treten. Die werdende bürgerliche Gesellschaft in Rußland schuf sich ihre bürgerliche Schule, die keine geburtsständischen Privilegien mehr kannte und jedem das formale Recht auf freien Zutritt zu allen Bildungswegen gewährte — so etwa kennzeichnete Lenin diese Entwicklung, die er als „ein Glied im Prozeß der allgemeinen und allseitigen Europäisierung Rußlands" begrüßte

(Quelle: Anm. 37)

Die bolschewistische Revolution von 1917 erscheint unter bildungspolitischem und bildungssoziologischem Aspekt in einem doppelten Licht: Während einerseits eine Reihe von Maßnahmen, die in den ersten Jahren des Sowjetregimes getroffen wurden, als konsequente und radikale Fortsetzung des erwähnten Demokratisierungsvorganges anzusehen sind, schränkte umgekehrt das ideologische Prinzip einer proletarischen Klassenauslese den demokratischen Grundsatz der gleichen Bildungschancen für alle wieder ein. Wie in den großen schulpolitischen Entwürfen Condorcets und Lepeletiers während der Franzö-sischen Revolution die demokratische und die sozialistische Konzeption einander modellhaft gegenübertraten, so stehen in den bildungspolitischen Manifesten Lenins, Lunatscharskijs und Krupskajas zwischen 1917 und 1919 die egalitär-demokratischen und die proletarisch-revolutionären Zielsetzungen oft unverbunden und in deutlicher Spannung nebeneinander. So folgte z. B. alsbald auf die Öffnung der Hochschulen für alle Bewerber ohne Rücksicht auf Vorbildung und soziale Herkunft im August 1918 eine allmählich immer engmaschiger werdende und bis ins einzelne bürokratisch normierte politische und soziale Auslese für die Mittelschulen, Fach-und Hochschulen. Mit dem ausdrücklichen Ziel einer „Proletarisierung der Hochschulen" (im sozialen wie nicht minder im parteipolitischen Sinne) wurden 1919 neben der neunjährigen Einheits-Arbeitsschule als besondere Vorstudienanstalten die Arbeiterfakultäten errichtet, deren Absolventen gegenüber den anderen Studienbewerbern privilegiert waren

Das bildungspolitische Hauptproblem der früh-sowjetischen Periode stellte zweifellos das rund sechzigprozentige Analphabetentum der Bevölkerung (1917) dar. Indem diese Frage in annähernd zwei Jahrzehnten dank der Einführung einer obligatorischen vierjährigen Mindestschulpflicht (ab 1930) und der Analphabetenbekämpfung unter den Erwachsenen zum größten Teil gelost wurde war die im 19. Jahrhundert begonnene Demokratisierung der Bildung im Sinne eines obligatorischen Minimums an allgemeinen Elementar-kenntnissen im Lesen, Schreiben und Rechnen vollendet. Daß damit erst die Mindestvoraussetzungen für das erforderliche Ausbildungsniveau eines sich rapide entwickelnden Industriestaates erfüllt waren, ist allen Verantwortlichen in Sowjetrußland durchaus bewußt gewesen. Die eigentliche Daueraufgabe lag in der Heranbildung einer breiten und in sich differenzierten Schicht technischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Fachkräfte oder — nach sowjetischem Sprachgebrauch — in der Kaderausbildung. Bevor wir uns diesem Bereich, dem eigentlichen Zentralthema der Stalin-Ära, zuwenden, sind die Resultate der sozialen Umschichtungspolitik im Bildungswesen in den zwanziger Jahren näher zu betrachten. Dabei fällt auf, daß — aufs Ganze gesehen — das sowjetische Schulsystem in einem weit geringeren Maße, als man aufgrund der kommunistischen Bildungspolitik annehmen könnte, zu einem wirksamen sozialpolitischen Instrument geworden war. Trotz aller Restriktionsvorschriften auf der einen und aller Förderungsmaßnahmen auf der anderen Seite blieb die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft auf den gehobenen Schulstufen vom Standpunkt einer planmäßig betriebenen Klassenauslese aus unbefriedigend. Für die RSFSR, die größte Sowjetrepublik, ergab sich nach dem Stand vom 1. Dezember 1926 folgendes Bild, das die soziale Gliederung auf den verschiedenen Schulstufen mit der Schichtung der erwerbstätigen Bevölkerung in Beziehung setzt und somit das tatsächliche Gewicht der einzelnen sozialen Klassen im Schulwesen widerspiegelt (in Prozent): Am stärksten fällt an dieser Tabelle der unverhältnismäßig hohe Anteil der Kinder aus der Angestelltenschicht sowie aus der freiberuflichen und nicht genauer klassifizierten Bevölkerungsgruppe an den gehobenen Bildungswegen ins Auge. Aus zahlreichen anderen Statistiken geht außerdem hervor, daß die Zahl der Arbeiter-und Bauernkinder von Klasse zu Klasse, vor allem nach dem 4. Grundschuljahr, erheblich abnahm, so daß schließlich die als bürgerlich oder kleinbürgerlich bezeichneten Schichten auch absolut das Übergewicht besaßen Im Hinblick auf die soziale Zusammensetzung der Schüler an den Moskauer Schulen schrieb der Leiter der hauptstädtischen Schulverwaltung, daß „im proletarischen Zentrum des Landes die Schule der II. Stufe noch im elften Jahr der Revolution zum größten Teil die kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung" bediene und daß es höchste Zeit sei, sie zu proletarisieren

Es gab verschiedene Ursachen für diese erstaunliche Erscheinung, die in so deutlichem Widerspruch zu den sozialpolitischen Zielen der Sowjetregierung in dieser Phase stand. Die wichtigste ist zweifellos in der unvollkommenen Struktur des sowjetischen Schulsystems als solcher zu suchen. Solange zwischen der vierjährigen Grundschule und den weiterführenden Schulen schon rein zahlenmäßig eine derartig tiefe Kluft bestand, wie das noch am Ende der NEP-Zeit der Fall war konnte die objektiv bestehende Ungleichheit der Bildungschancen nicht beseitigt werden. Vor allem war die bäuerliche Bevölkerung gegenüber der städtischen von vornherein stark benachteiligt. Auf dem Lande, wo 1926 82 Prozent der Bevölkerung lebten, besuchten im Schuljahr 1927/28 nur 12 224 Kinder eine 8. und 9. Klasse gegenüber 114 401 in der Stadt Hier waren zwar die Arbeiterkinder formell privilegiert, aber aus anderen Gründen nur wenig in der Lage, diese Bevorzugung auszunutzen. Materielle Belange spielten dabei vermutlich nicht die größte Rolle, denn der sowjetische Industriearbeiter verdiente mehr als ein Lehrer oder ein Behördenangestellter. Schwerer fiel sicher die traditionelle Fremdheit der Arbeiterschaft gegenüber der höheren Schule ins Gewicht, die trotz der Umbenennung der Gymnasien in Einheits-Arbeitsschulen keineswegs überwunden war. Da in den meisten Fällen die häuslichen Bildungsvoraussetzungen fehlten, war auch die Zahl der Sitzenbleiber unter den Arbeiterkindern am höchsten. Umgekehrt kompensierte die ehemals akademische Schicht und die nicht voll anerkannte Schicht der Angestellten ihre mindere soziale Position durch eine verstärkte Schulbildung der Kinder, für die man auch materielle Opfer in Kauf nahm. Solange der Besuch einer Schule über vier Jahre hinaus vom freiwilligen Entschluß der Eltern abhing, wirkte sich der stärkere Bildungswille dieser Schichten zu ihren Gunsten aus, während er sich bei den Arbeitern oft erst im späteren Lebensalter zeigte.

Da am Ende der NEP-Periode die Resultate der sozialen Klassenauslese auf den verschiedenen Bildungsstufen kaum den Erwartungen der Kommunistischen Partei entsprochen hatten, setzte im Jahre 1928, im Zusammenhang mit der Fünfjahrplanpolitik, eine zweite Proletarisierungswelle, vor allem in den Hochschulen und Fachschulen, ein. Die Heranbildung einer „proletarischen Intelligenz", die sich aus politisch zuverlässigen „roten Spezialisten" zusammensetzte, wurde zu einer vordringlichen Aufgabe der Partei erklärt. Ähnlich wie im Jahre 1919 das revolutionäre Proletariat mit Hilfe der Arbeiterfakultäten die Hochschulen erobern sollte, unternahm es die Parteiführung seit dem Sommer 1928, in einer Kette dicht aufeinanderfolgender Maßnahmen das soziale Profil der Hochschulen und Technika entscheidend umzugestalten. Der „Arbeiterkern" unter den neuaufgenommenen Studenten an den Technischen Hochschulen wurde zuerst auf 65, dann auf 70 Prozent erhöht an anderen Hochschulen und Fach-schulen lag der Anteil ähnlich hoch. Da es fraglich erschien, ob trotz dieser Maßnahmen eine grundlegende Veränderung in der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft auf „natürliche Weise" erfolgen würde, wurden außerdem die Bedingungen für Arbeiter und deren Kinder beim Eintritt in die Hoch-und Fachschulen wesentlich erleichtert

Von erheblicher politischer Bedeutung war auch die 1928 begonnene und bis 1931 alljährlich durchgeführte Kommandierung von Parteimitgliedern, Gewerkschaftsangehörigen und Komsomolzen zum Hoch-und Fachschulstudium, mit deren Hilfe das „politische Aktiv" an den Lehranstalten verstärkt und die „feindliche Klassenideologie" ausgeschaltet werden sollte. Aufgrund all dieser Maßnahmen erhöhte sich auch die Zahl der an den Arbeiterfakultäten Studierenden von 70 000 im Jahre 1929 auf 339 000 im Jahre 1932 Am Ende des ersten Fünfjahresplanes machte der „proletarische Kern" über die Hälfte aller Hochschulstudenten aus, an den Hochschulen mit industrieller Fachrichtung sogar fast zwei Drittel Die soziale Zusammensetzung der Studentenan allen Hochschulen der UdSSR veränderte sich in den Jahren 1928 bis 1938 wie folgt (in Prozent):

Als Resultat der gezielten sozial-und bildungspolitischen Maßnahmen während der ersten sowjetischen Fünfjahrespläne bleibt festzuhalten, daß die russische Intelligenz einen tiefgreifenden sozialen und geistigen Strukturwandel erlebte, ja, daß genau genommen die typische neue sowjetische „Semi-intelligencija",d. h. die Schicht technisch-administrativer Spezialisten erst das Produkt dieser Periode ist, während gleichzeitig die alte russische Intelligenz, die „gebildete Klasse" im alten Sinne, abstarb. Ein erheblicher Teil der neuen „technischen Intelligenz", die während des ersten und zweiten Fünfjahresplanes die Hochschulen und Fachschulen verließ, entstammte der Arbeiterschaft, wenn auch die amtliche Statistik sicher nicht ein genaues Spiegelbild der Wirklichkeit darstellt, da „klassenfremde Elemente" Möglichkeiten besaßen, einen proletarischen Nachweis zu erlangen und zum Studium zugelassen zu werden. Wichtiger noch als die soziale Umstrukturierung ist sicher die Tatsache, daß die Kommunistische Partei auf diese Weise eine politisch loyale Intelligenzschicht erhielt, die ihren sozialen Aufstieg und ihre Stellung als „Dienstelite" in erheblichem Maße eben der Partei verdankte. Nicht zu übersehen ist jedoch dabei der Verlust des „kritischen Denkens", jenes charakteristischen Merkmals der alten russischen Intelligenz, für dessen Entfaltung in Sowjetrußland unter alle Stalin Voraussetzungen fehlten.

Soziale Differenzierung im Zeichen der Stalinschen Kaderpolitik

Abbildung 3

Jener eben skizzierte Strukturwandel der russischen Intelligenz war eine Begleiterscheinung der seit 1928 planmäßig betriebenen staatlichen Kaderpolitik. Seit dem Beschluß des ZK der KPdSU (B) vom 12. Juli 1928, der „eine krasse Disproportion zwischen dem Bedarf an qualifizierten Fachleuten und dem Stand der Ausbildung neuer Spezialistenkader" festgestellt hatte, bildet die Kaderausbildung einen wesentlichen Bestandteil des in der Sowjetunion herrschenden zentralen Planwirtschaftssystems. Ihre Aufgabe besteht darin, den Bedarf der Volkswirtschaft an geschulten Arbeitskräften mittels einer planmäßigen Ausbildungslenkung und einer zentralen Verteilung der Ausgebildeten optimal zu befriedigen. In der Kaderausbildung überschneiden sich demnach Bildungsund Arbeitskräftepolitik,wobei von der letzteren ein entscheidender Einfluß auf die Zielsetzung, Art und Dauer der einzelnen Bildungswege ausgeht. Unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Planwirtschaft ist es daher gerechtfertigt, das gesamte Bildungswesen als ein Mittel zur „Produktion und Reproduktion qualifizierter Arbeitskraft" zu bezeichnen und in der Kaderausbildung das Kernstück der sowjetischen Bildungspolitik seit 1928 zu erblicken.

Uns interessieren hier die soziologischen Auswirkungen der neuen bildungspolitischen Maßnahmen der Sowjetregierung unter Stalin. Drei Ereignisse in dem Jahrzehnt von 1931 bis 1940 waren dabei von gravierender Bedeutung: 1. Der Ausbau und die innere „Stabilisierung" des allgemeinbildenden Schulwesens; 2. die Aufhebung der sozialen Zulassungsklausel für die Hochschulen und Fachschulen (1935), auf die fünf Jahre später die Einführung eines Schulgeldes und von Studiengebühren für die höheren Ausbildungsstufen folgte; 3. die „Mobilisierung" von Jugendlichen in Stadt und Land zur Berufsausbildung in den Schulen der „staatlichen Arbeitsreserven" seit 1940.

Nach der frühsowjetischen Phase der Schulexperimente gewann 1934 das sowjetische Schulsystem für das nächste Vierteljahrhundert feste Gestalt. Die horizontale Gliederung des allgemeinbildenden Schulwesens — vierjährige Grundschule, siebenjährige unvollständige Mittelschule und zehnjährige vollständige Mittelschule — erfüllte dabei den Zweck, auf möglichst fest umrissene Berufsgruppen vorzubereiten und die soziale Mobilität in bestimmte, vom Staate gewünschte Bahnen zu lenken. Das wird sofort ersichtlich, wenn man sich die Aufgaben ansieht, die den einzelnen Schultypen zugedacht waren: Auf dem Minimalfundament der vierjährigen Grundschule, die allmählich zu einer siebenjährigen Pflichtschule erweitert wurde, bauten die verschiedenen kurz-oder langfristigen beruflichen Ausbildungskurse auf, denen die Ausbildung der unteren Arbeiterkategorien oblag. Wer eine Schule weniger als sieben Jahre besucht hatte, wurde entweder Kolchosbauer oder unqualifizierter Industriearbeiter; nach sieben Schuljahren konnte man ein qualifizierter Arbeiter oder niederer Angestellter werden. Von der Siebenjahresschule führte der weitere Bildungsgang zum Technikum, das die verschiedenen „mittleren Spezialisten" in Industrie, Landwirtschaft, Verwaltung, und Volksbildung stellte. Die zehnjährige vollständige Mittelschule schließlich berechtigte mehr oder minder ausschließlich zum Universitäts-und Hochschulstudium und damit zur höchsten Ausbildung. Wer ein Studium absolviert hatte und zur Gruppe der „Hochschulspezialisten" zählte, gehörte damit per definitionem zur sowjetischen Intelligenz.

Im ganzen ergab sich also seit der Mitte der dreißiger Jahre eine ziemlich übersichtliche und eindeutige Zuordnung der verschiedenen Schulstufen und Bildungswege zu der künftigen Berufsstellung, die nunmehr ihrerseits immer stärker von dem Grad der erworbenen Schulbildung abhing, während die vorher dominierenden Kriterien — proletarische oder bäuerliche Herkunft sowie politische Bewährung — an Bedeutung verloren. Diese Verschiebung von den sozialen und parteipolitischen Auslesekriterien zum Ausbildungs-und

Leistungsprinzip kam in den amtlichen Zulassungsbedingungen für das Hochschul-und Fachschulstudium zum Ausdruck, die im Dezember 1935 erlassen wurden und in denen die bisherigen sozialen Begrenzungen fortfielen. Für die Aufnahme zum Studium war künftig lediglich der in einer Prüfung nachzuweisende Kenntnisstand und nicht mehr außerdem die soziale Herkunft entscheidend. Das Leistungsprinzip im Sinne der intellektuellen Befähigung und des vorhandenen Schulwissens wurde auch durch die Einfüh-rung von Schülermedaillen in Gold und Silber für die besten Mittelschulabsolventen, die dadurch bei der Studienzulassung privilegiert wurden, noch stärker unterstrichen

Während die eben genannten Maßnahmen als Mittel zur Verbesserung des akademischen Niveaus der Hochschulen auch für sich allein verständlich sind, erhebt sich bei den ab 1. September 1940 eingeführten Gebühren für den Besuch der Klassen 8 bis 10 der Mittel-schule, der Technika und der Hochschulen die Frage, ob es sich dabei um eine absichtliche sozialpolitische Restriktionsmaßnahme handelte oder eher um eine arbeitspolitisch motivierte Verordnung zur Schaffung neuer Arbeitsreserven. Im einzelnen ist die Sache wenig geklärt Auch wenn man nicht dazu neigt, in diesen bis 1956 geltenden Bestimmungen ohne weiteres einen Beweis für die bewußte Privilegierung der neuen sowjetischen Oberschicht zu sehen, so bedeutete doch allein die Tatsache, daß das Einkommen der Eltern für einen Besuch der höheren Bildungsstufen nunmehr eine Rolle spielte, die Preis-gabe des egalitären Grundsatzes von 1918 und einen Einbruch in die sozialistische Gleichheitsideologie. Ebenso wie das schulische Leistungsprinzip als einziger Maßstab für den weiteren Aufstieg auf der „Bildungsleiter" in erster Linie die Kinder aus den Kreisen der Intelligenz begünstigte, weil sich hier häusliche Förderung, ein günstiges „Bildungsklima" und bewußtes Streben vereinigten, brachte umgekehrt das am 2. Oktober 1940 — am selben Tage wie die Gebührenverordnung — erlassene Dekret über die staatlichen Arbeitsreserven der UdSSR eine verstärkte Bindung der Arbeiterjugend und der Kolchosjugend an die Berufe der materiellen Produktionssphäre. Indem alljährlich 800 000 bis 1 Million männliche Jugendliche zwischen vierzehn und siebzehn Jahren zur Ausbildung in die verschiedenen Berufsschulen der staatlichen Arbeitsreserven „mobilisiert" wurden, mit einer anschließenden vierjährigen „Kommandierung" in staatliche Betriebe, wurde eine deutliche Trennung zwischen den nur über eine weiterführende Schulbildung erreichbaren Berufen der Intelligenz und den ausführenden Arbeiterberufen vollzogen.

Im Unterschied zu der egalitär-demokratischen und proletarisch-revolutionären Phase des jungen Sowjetstaates kann man daher die Ära Stalins als Periode einer differenziert-demokratischenBildungspolitik mit der Tendenz zur Stabilisierung der neuen sozialen Schichtung bezeichnen. Der Aufstieg durch Schulbildung aus der Arbeiterschaft und der Kolchosbauernschaft in die Intelligenz blieb zwar nach wie vor möglich, aber er wurde erheblich schwerer, da eine planmäßige staatliche Förderung wegfiel. Eine faktische Gleichheit der Bildungschancen konnte schon deshalb nicht bestehen, weil die Bildungsmöglichkeiten der Landjugend trotz des zügigen Ausbaus der ländlichen Mittelschulen nach wie vor erheblich hinter denen der städtischen Jugend zurückblieben. Das ist auch bis in die Gegenwart im wesentlichen so geblieben In der Stadt selbst besaßen, wie schon erwähnt, die aus der Oberschicht stammenden Kinder in verschiedener Hinsicht bessere Bildungschancen. Ein Indiz für die seit dem Ende der dreißiger Jahre eintretende „Entproletarisierung" des höheren Schulwesens stellt die Tatsache dar, daß seit 1938 keine statistischen Angaben über die soziale Zusammensetzung der Studenten veröffentlicht werden. Chruschtschow sprach 1958 von der „eindeutig anormalen Situation", daß an den Moskauer Hochschulen nur 30 bis 40 Prozent Kinder von Arbeitern und Kolchosbauern studierten, während die Mehrheit aus Kreisen der Intelligenz und der Angestellten stamme. „Ich spreche schon gar nicht davon", fügte er hinzu, „daß man die Arbeiter und Kolchosbauern selbst, die an den Hochschulen mit Unterbrechung ihrer Berufsarbeit studieren, bei uns buchstäblich an den Fingern abzählen kann"

Ausbildungsstand und Sozialstruktur der sowjetischen Bevölkerung

Bildungsstand der sowjetischen Bevölkerung (Quelle: Anm. 29)

Zusammen mit der Beseitigung des Analphabetentums und der Anhebung des allgemeinen Bildungsminimums vollzog sich eine Differenzierung des Bildungsstandes der sowjetischen Bevölkerung nach der Höhe der erworbenen Schulbildung. Die sowjetische Terminologie unterscheidet die folgenden Bildungsstufen: 1. unvollständige mittlere Bildung: Abschluß der Siebenjahresschule, ab 1963 der Achtjahresschule; 2. vollständige mittlere Bildung: Abschluß der Zehnjahresschule; 3. mittlere Fach-bildung: Abschluß eines Technikums oder einer anderen mittleren Fachschule; 4. Hochschulbildung: Absolvierung einer Universität oder Hochschule Außerhalb dieses Schemas steht die „niedere Berufsausbildung" — im Anschluß an die Sieben-bzw. Achtjahresschule — sowie die Erwachsenenbildung, die beide keine Berechtigungen für einen weiteren Bildungsgang verleihen.

Die Volkszählung vom Januar 1959 vermittelte zum erstenmal genauere Angaben über den Bildungsstand der sowjetischen Bevölkerung:

Danach hat knapp die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung der UdSSR mehr als vier Jahre die Schule besucht, etwa 40 Prozent verfügen über eine mindestens siebenjährige Schulbildung, 16 Prozent über eine mindestens zehnjährige und 2, 5 Prozent über eine abgeschlossene Hochschulbildung

Die Volkszählung ergab ferner, daß die Bildungsunterschiede von Stadt und Land nach wie vor beträchtlich sind. Gegenüber dem Jahre 1939 ist die Anzahl der Personen mit Hochschulbildung in der Stadt um 331 Prozent, auf dem Lande um 275 Prozent gestiegen. Nur knapp jeder fünfte Landbewohner verfügt über eine mindestens siebenjährige Schulbildung, in der Stadt hingegen jede dritte Person. Bemerkenswert ist dagegen der ziemlich gleichmäßige Bildungsstand beider Geschlechter und der starke Anteil der Frauen an der höheren Bildung. Unter den Personen mit Hochschulbildung sind 49 Prozent Frauen, unter denen mit mittlerer Fachbildung sogar 56, 6 Prozent, vor allem infolge des hohen weiblichen Anteils an den pädagogischen und medizinischen Berufen.

Interessant ist auch der Anteil der einzelnen Unionsrepubliken am höheren Bildungsstand. Erheblich über dem Durchschnitt der UdSSR bei Personen mit Hochschulbildung (18 auf 1 000 Einwohner) liegen die Georgische SSR mit 38, die Armenische mit 28, die Aserbeidschanische mit 21, die Lettische mit 21 und die Estnische mit 21; weit unter dem Durchschnitt die Moldauische SSR mit 10, die Tadschikische mit 10, die Kasachische mit 12 und die Weiß-russische mit 12 auf 1 000 Einwohner. Hier machen sich die kulturellen Unterschiede und das Vorhandensein einer eigenständigen nationalen Bildungstradition deutlich bemerkbar.

Schwieriger als die einfache Aufschlüsselung der sowjetischen Bevölkerung nach dem schulischen Ausbildungsstand erweist sich eine Analyse des Ausbildungsniveaus unter dem Gesichtspunkt der sozialen Schichtung. Hier wirken sich einmal die Mängel der sowjetischen Theorie der sozialen Schichtung aus, die von den drei globalen Hauptgruppen — Arbeiter, Bauern und Angestellte — ausgeht und sehr bald auf Schwierigkeiten stößt, wenn sie genaue Kategorien etwa für die Intelligenz als eigene Sozialschicht aufstellen muß zum anderen ist die sowjetische Statistik gerade in diesem Punkt bei weitem nicht erschöpfend.

Diese Ungenauigkeiten einbeziehend, lassen sich die folgenden wichtigsten Resultate der Volkszählung von 1959 über den Ausbildungs-Stand der einzelnen sozialen Schichten und Berufsgruppen hervorheben:

Während in der obigen Tabelle die Gesamtzahl der Bevölkerung zugrundegelegt ist, ergeben sich für die erwerbstätige Bevölkerung folgende Zahlen über den Bildungsstand:

In den einzelnen Volkswirtschafts-und Produktionszweigen besaßen die berufstätigen Personen folgende Schulbildung: Während in der obigen Tabelle die Unterschiede zwischen vorwiegend körperlicher und überwiegend geistiger Arbeit, zwischen ausführender und leitender Tätigkeit nicht hervortreten, ergeben sich aus der folgenden Aufstellung über den Bildungsstand der körperlich und der geistig tätigen Personen wichtige Einsichten in die Sozialstruktur und die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft: In einzelnen Erwerbszweigen lautete die Zahl der Personen mit einer mindestens siebenjährigenSchulbildung von 1 000 Beschäftigten wie folgt:

Die aufgeführten Zahlen zeigen eindeutig zwei parallel laufende Entwicklungstendenzen: 1. Das allgemeine Bildungsniveau der in Industrie und Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter und Kolchosbauern ist in einem stetigen Wachstum begriffen, da die Ausgangslage äußerst niedrig war und die Einführung der siebenjährigen Schulpflicht in den vierziger Jahren sich immer mehr auswirkt. Im Jahre 1959 verfügten von 1 000 mit körperlicher Arbeit beschäftigten Personen 302 über eine sieben-bis zehnjährige Schulbildung — aber nur 14 hatten eine Fachschule oder eine Hochschule besucht. Diese Tatsache wäre nicht weiter überraschend, wenn es nicht das proklamierte Ziel der Kommunistischen Partei wäre, die Unterschiede in der Ausbildung weitgehend aufzuheben und — wie es in der offiziellen Sprache heißt — „das kulturell-technische Niveau der Arbeitermassen dem der Intelligenz anzugleichen". 2. Wie die Zahlen der sowjetischen Statistik aber ebenso deutlich machen, steigt das Ausbildungsniveau der mit geistiger Arbeit beschäftigten Personen ebenfalls weiter an: 476 Personen dieser Kategorie besaßen 1959 eine Hochschul-oder Fachschulausbildung (gegenüber nur 14 in der Gruppe der körperlich Arbeitenden) und 408 verfügten über eine sieben-bis zehnjährige allgemeine Schulbildung. Daraus wird noch einmal die entscheidende Bedeutung ersichtlich, die der Absolvierung einer „Spezialistenausbildung" für die Zugehörigkeit zur Intelligenz zukommt, und zugleich die Schwierigkeit deutlich, die sich für eine Bildungspolitik mit egalitären Zielsetzungen ergibt, wie sie seit 1958 wieder stärker in Erscheinung treten.

Soziologische Aspekte der Schulreform Chruschtschows

Abbildung 5

Unter den Gründen, die im Jahre 1958 die sowjetische Partei-und Staatsführung dazu bewogen haben, nach etwa zweijähriger Vorbereitung mit einer tiefgreifenden Reform des Bildungswesens zu beginnen, spielten auch sozialpolitische Überlegungen eine nicht unerhebliche Rolle Es wurde schon darauf hingewiesen, daß nach zwei Jahrzehnten Stalinscher Kaderpolitik die soziale Kluft zwischen der neuen Oberschicht und der Arbeiter-und Bauernmasse gewachsen war, und zwar nicht zuletzt dank der herausgehobenen Ausbildung, welche die sowjetischen Spezialisten erworben hatten und die ihnen eine Zugehörigkeit zur Intelligenz garantierte. In demselben Maße, wie sich die Hochschüler immer mehr aus den Reihen der Intelligenz selbst rekrutierten, entstand die Gefahr einer sozialen Abkapselung, die mit dem Entstehen einer Art von Bildungsklassenbewußtsein Hand in Hand ging. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Chruschtschow darin eine Hauptgefahr für die Homogenität der sowjetischen Gesellschaft sah, die er im Zeichen des von ihm proklamierten „Übergangs zum Kommunismus" anstrebt. Seine schonungslose Kritik an einem bloßen Prestigestudium, an den Praktiken der Aufnahmeprüfungen und an dem Bildungsdünkel der neuen Oberschicht enthüllte die schwachen Stellen des sowjetischen Bildungssystems, vor allem wenn man den Maßstab der kommunistischen Ideale einer Gesellschaft der Gleichen anlegte.

Die Wiederbelebung egalitärer Tendenzen in der kommunistischen Bildungspolitik, von der im einzelnen noch zu sprechen ist, wurde entscheidend gefördert durch akute wirtschaftsund arbeitspolitische Probleme, die sich aus der wachsenden Diskrepanz zwischen der Absolventenzahl der Mittelschulen und den Aufnahmekontingenten der Hochschulen ergaben und die zu einem „Überhang" arbeitsfähiger, aber kaum arbeitswilliger jugendlicher Kräfte geführt haben. Während bis etwa 1952 jeder sowjetische Abiturient, d. h. ein Absolvent der Zehnjahresschule, damit rechnen konnte, einen Studienplatz zu erhalten, lautete bereits vier Jahre später das Verhältnis von Mittelschulabsolventen zu Hochschulvakanzen wie 5: 1. Chruschtschow teilte 1958 mit, daß zwischen 1954 und 1957 rund 2, 5 Millionen Mittelschulabsolventen nicht in die Hoch-und Fachschulen eintreten konnten; „die Mehrheit ist, nachdem sie das Reifezeugnis erhalten hat, nicht für das Leben vorbereitet und weiß nicht, welchen Weg sie einschlagen soll"

Die durch das Schulgesetz vom 24. Dezember 1958 und zahlreiche Verordnungen der folgenden Jahre von der Sowjetregierung beschlossenen Maßnahmen zur Reorganisation des Bildungswesens und zur Neuregelung der Zugänge zum Hoch-und Fachschulstudium lassen sich nicht ohne weiteres auf eine Formel bringen 40). Unter bildungssoziologischem Aspekt fallen zwei Momente besonders ins Auge: 1. Ein weiteres Anheben des Bildungsniveaus der gesamten Bevölkerung mit dem Ziel, hier zu einer Annäherung der sozialen Gruppen zu gelangen; 2. neue Selektionskriterien bei der Gewinnung des „Spezialistennachwuchses", die den „gesellschaftlichen Merkmalen" neben dem intellektuellen Leistungsvermögen erneut Gewicht beimessen.

Aus den vorhin erläuterten Ergebnissen der sowjetischen Volkszählung von 1959 ging hervor, daß bis dahin nur etwa 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der UdSSR eine mehr als siebenjährige Schulbildung besaßen. Die laufende Schulreform und die im Programm der KPdSU von 1961 festgelegten langfristigen Maßnahmen bezwecken daher eine Erhöhung des allgemeinen Bildungsminimums, und zwar in zwei Etappen: Mit Beginn des Schuljahres 1963/64 wurde die achtjährige Schulpflicht eingeführt (obwohl sie noch nicht in allen Bezirken faktisch verwirklicht wird); bis 1970 soll darüber hinaus eine elfjährige „mittlere Bildung" für alle Kinder im schulpflichtigen Alter realisiert werden, teils im normalen Tagesunterricht, teils in Abendschulen. Parallel hierzu soll, wie es im Parteiprogramm heißt, bis 1970 „die Schulbildung im Umfang von acht Jahren für den Teil der Jugend, der in der Volkswirtschaft beschäftigt ist und keine entsprechende Bildung besitzt, verwirklicht werden; im darauffolgenden Jahrzehnt muß für alle die Möglichkeit geboten werden, eine vollständige mittlere Bildung zu erhalten"

Damit sind die beiden Bereiche gekennzeichnet, in denen sich die angestrebte „Erhöhung des kulturell-technischen Niveaus" der Bevölkerung abspielen soll: die verlängerte Schulbildung der Jugend und die Erwachsenenbildüng allgemeiner und beruflicher Art. Die vorgesehene elfjährige Schulzeit für alle Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr würde bis 1970 eine Erhöhung de Schülerzahl in den allgemeinbildenden Schulen, den Berufsschulen und den mittleren Fachschulen von 35, 6 Millionen im Jahre 1960 auf 59 bis 60 Millionen im Jahre 1970 mit sich bringen — was das für den Schulbau und die Lehrerausbildung bedeutet, liegt auf der Hand 41a).

Nicht minder bedeutsam, wenn auch in der Praxis weit schwerer zu realisieren, sind die Bestrebungen zur höheren Qualifizierung der erwerbstätigen Erwachsenen. Gerade in diesem Bereich liegt auch ein Schwerpunkt der neueren soziologischen Untersuchungen sowjetischer Wissenschaftler, deren Resultate gezeigt haben, welche Produktionsbedeutung dem Ausbildungsniveau der Arbeiter zukommt und welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen sich die kommunistische Parteiführung von einer Anhebung des Bildungsstandes der Arbeiterschaft erhofft Die in mehreren Betrieben des Ural zwischen 1957 und 1959 angestellten Erhebungen zeigten einerseits, daß der Zustrom von Arbeitern mit einer längeren Schulbildung kontinuierlich wächst, daß aber andererseits immer noch Schwierigkeiten bei der Umstellung auf neue technische Verfahren bestehen, die auf mangelnde Fundamental-kenntnisse und das niedrige fachliche Ausbildungsniveau der Arbeiter zurückzuführen sind. Es wird daher mit Nachdruck betont, daß der weitere technische Fortschritt entscheidend von einem Anheben des „kulturell-technischen Niveaus" abhängt, wobei letzteres eine allgemeine Fundamentalbildung, spezielle Fachkenntnisse, berufliches Können und ein „sozialistisches Verhalten zur Arbeit" einschließt. Aus diesem Grunde kommt auch derFernausbildung eine solch große Rolle in den sowjetischen Plänen zu. Die sowjetischen berufsbegleitenden Bildungseinrichtungen — in erster Linie die Abend-oder Schicht-Mittel-schulen, die Abend-und Fernunterrichtsabteilungen an den Technika und die entsprechenden Einrichtungen an den Hochschulen — erfüllen im Rahmen der Erwachsenenbildung vor allem drei Aufgaben: Da erhebliche Teile der arbeitsfähigen Bevölkerung sich noch unter dem als Minimum angesehenen achtjährigen Bildungsniveau befinden und bis 1980 sogar ein Anheben auf elf Jahre angestrebt wird, fällt den Abend-und Fernschulen die langfristige Aufgabe einer nachholenden Allgemeinbildung

zu. Die sowjetischen berufsbegleitenden Bildungseinrichtungen haben außerdem die Aufgabe, eine permanente Anpassung des beruflichen Wissens und Könnens an

Stadt- und Landbevölkerung (Quelle: Anm. 32)

die sich heute viel rascher wandelnden Anforderungen des Berufslebens zu gewährleisten. Hier liegt auch das primäre staatliche Interesse an den Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Als dritte Aufgabe kann der abseits einer fach-bezogenen und berufsorientierten Fortbildung

liegende „freie" Bildungserwerb betrachtet

Abbildung 7

werden, in dem Bildung eine Art „Luxus" darstellt, ohne daß eine unmittelbare Beziehung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität besteht. Hier spielen die von den „gesellschaftlichen Organisationen" getragenen verschiedenen Einrichtungen der Volksbildung, wie z. B. die „Universitäten der Kultur", eine zunehmende Rolle

Wenn auf diese Weise die gegenwärtige sowjetische Bildungspolitik zwar den Produktionseffektder qualifizierten Ausbildung nach wie vor an die erste Stelle setzt, daneben aber auch Bildung als „Luxus" gelten läßt, so trägt sie damit insofern den Entwicklungstendenzen der sowjetischen Gesellschaft Rechnung, als deren Mitglieder sich einen zunehmenden Raum individueller Freizeit erobern und nicht ohne weiteres geneigt sind, die Freizeit lediglich als „mächtigen Faktor der Produktivitäts

Steigerung" anzusehen. Solche Bestrebungen finden sogar ihre ideologische Rechtfertigung durch die vom Geiste des utopischen Sozialismus und Kommunismus beseelten Visionen der kommunistischen Kultur der Zukunft, wie sie z. B. Strumilin vertritt, in dessen Vorstellung eine „vernünftig geplante" Freizeit bei einem höchstens vierstündigen Arbeitstag alle Möglichkeiten für die allseitige Entfaltung des Menschen bietet

Die Maßnahmen zur „Erhöhung des kulturell-technischen Niveaus" der Arbeiterschaft und der Bauern, von denen bisher die Rede war, tragen in den Augen der kommunistischen Führung auch unmittelbar zur Aufhebung der sozialen Unterschiede zwischen der sowjetischen Intelligenz und der körperlich arbeitenden Masse des Volkes bei. Obwohl von sowjetischen Politikern und Gesellschaftswissenschaftlern seit langem die Existenz sozialer Klassen und darauf beruhender Gegensätze in der Sowjetunion geleugnet wird, ist man sich der tiefgreifenden Unterschiede in den Lebensverhältnissen der einzelnen sozialen Gruppen durchaus bewußt, da sie jedem offen vor Augen liegen. Diese Unterschiede werden auf die noch fortbestehende Kluft zwischen den geistigen Berufen mit leitender Funktion einerseits und den vorwiegend körperlich arbeitenden, ausführenden Kräften andererseits zurückgeführt, die mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zusammenhängt und zugleich auf dem großen Bildungsunterschied beruht.

Von zwei Seiten her, meint man nun, würde dieser aus der kapitalistischen Vergangenheit übernommene Dualismus „unterspült" und schließlich ganz beseitigt werden: „Beim Hinüberwachsen vom Sozialismus zum Kommunismus muß die gesamte Masse der Arbeiter und Bauern anfangs auf das Niveau der Techniker und später sogar auf das der Ingenieure und der anderen hochqualifizierten Spezialisten gehoben werden" was u. a. durch die erwähnte allgemeine und berufliche Fortbildunq geschehen soll. Andererseits sollen die neuen Formen der Schulausbildung und des Studiums mit ihrer Kombination von theoretischem Unterricht und praktischer Arbeit diesen neuen Typus des „Arbeiter-Intelligenzlers"hervorbringen, der auch immer mehr von der modernen Produktion mit ihren höheren geistigen Anforderungen gebraucht werde. Auf diese Weise würden allmählich die auf Bildungsunterschieden beruhenden sozialen Unterschiede verschwinden und nur noch sachlich notwendige Funktionsunterschiede, und auch die ohne lebenslängliche Fixierung, bestehen bleiben.

Wir können an dieser Stelle die verlockende Erörterung der damit aufgeworfenen Probleme der „klassenlosen Gesellschaft" im Sinne von Marx und seiner russischen Nachfolger nicht näher aufgreifen, sondern müssen uns erneut der sowjetischen Realität zuwenden. Dabei fragen wir nach den soziologischen Auswirkungen der jüngsten Bildungsreformen in der für sie charakteristischen Spannung von Gleichheitsideologie und elitären Tendenzen.

Im Grunde genommen verbirgt sich dahinter das Dilemma einer Bildungspolitik, die am Ideal der klassenlosen Gesellschaft orientiert ist und zugleich einem ökonomischen und sozialpolitischen Planungssystem huldigt. Zahlreiche Maßnahmen aus den auf das Schulgesetz von 1958 folgenden Jahren mit ihrem scheinbar widerspruchsvollen Inhalt erklären sich aus dieser doppelten Zielsetzung.

Wir fassen drei Fragenkomplexe näher ins Auge: die Zugänge zum Hoschulstudium, die Rolle der Sonderschultypen und die integrative Funktion der sowjetischen Schule.

Zwanzig Jahre lang — von 1935 bis 1954 — galten bei der Zulassung zum Hochschulstudiumausschließlich die intellektuellen Leistungen, die in Aufnahmeprüfungen nachgewiesen werden mußten, wobei die Inhaber von Gold-und Silbermedaillen unter den Abiturienten und die besten Absolventen der Technika auch hiervon befreit waren. Von 1955 an erfolgte schrittweise eine Änderung der Zulassungsbestimmungen Einmal wurde die Bevorzugung der „otlitschniki”, d. h.der Bewerber mit ausgezeichneten Schulnoten, erheblich eingeschränkt und schließlich fast ganz aufgehoben, zum anderen — und dies ist noch wichtiger — wurden von 1957 an Personen mit einer zweijährigen Arbeitspraxis bevorzugt in die Hochschulen ausgenommen Von 1957 bis 1961 stieg der Anteil der zu einem Direkt-studium zugelassenen Studenten, die über praktische Arbeitserfahrung verfügten, von 28 auf 60 Prozent Eine weitere wesentliche Neuerung bildet die im September 1959 gesetzlich geregelte Kommandierung ausgewählter „Praktiker" zum Studium durch die Betriebe, Kolchosen und Behörden In allen Fällen müssen die Studienbewerber außer ihrem Schulzeugnis positive „Charakteristiken" einer Partei-, Gewerkschafts-oder Komsomolorganisation, der Betriebs-oder Kolchosleiter, vorlegen.

Wenn man diese Verlagerung von rein „akademischen" Auswahlkriterien zu einer kombinierten Auslese nach Schulleistungen und sozialen Kriterien (Arbeitspraxis, gesellschaftliche Charakteristik) und die Intensivierung des berufsbegleitenden Abend-und Fernstudiums mit seiner Bevorzugung der „Praktiker" zusammennimmt dann wird die Absicht erkennbar, eine erhebliche Veränderung in der sozialen Zusammensetzung des Hochschulnachwuchses und damit der künftigen Intelligenz herbeizuführen. Auf derselben Linie liegt die Einführung der praktischen Produktionsarbeit und einer beruflichen Grundausbildung in den Oberklassen der Mittelschule. Jeder künftige Spezialist soll „von unten" angefangen und seinen Berufsweg als Arbeiter begonnen haben. „Im Betriebe arbeitend und in der Schule lernend, so wird der junge Mensch besser seinen Platz in der der immer wieder auf die Notwendigkeit einer Gesellschaft finden", erklärte Chruschtschow Überwindung der „sozialen Entfremdung" zwischen Intelligenz und arbeitenden Massen hinwies. Offenbar besteht hier die Hoffnung, daß die künftigen Studenten sich während ihrer obligatorischen Arbeitspraxis eine eigene soziale Stellung als Arbeiter, Kolchosbauer oder Angestellter schaffen werden, von der sie dann aufsteigen (darunter auch die Söhne und Töchter der Intelligenz), und daß sie dabei eine „Arbeitergesinnung" erwerben, die sie auch später prägen wird.

Es erscheint allerdings äußerst fraglich, ob diese Hoffnung in Erfüllung gehen wird oder ob es sich dabei nicht vielmehr um einen „idealistischen" Irrtum handelt. Obwohl ein „Durchgang durch die Produktion" für die meisten künftigen Studenten obligatorisch ist, gibt es zahlreiche Umgehungswege (etwa rein formale Arbeitsnachweise) für die Abkömmlinge der Oberschicht, die sich nach wie vor in einer günstigeren Ausgangsposition befinden, da die Begrenzung der direkten Zugänge zur Hochschule und der Umweg über die Praxis diejenigen schärfer treffen dürfte, die nicht einen gesicherten materiellen Rückhalt in der Familie besitzen. Hinzu kommt, daß diejenigen, die von der Gefahr des sozialen Abstiegs aufgrund einer Verweigerung des Studiums bedroht sind, alles daran setzen dürften, durch größere Anstrengungen (darunter auch durch „Beziehungen") diese Gefahr abzuwenden. Die neuen Regulativen haben einen starken Filter bei der Auslese des Hochschulnachwuchses eingebaut, aber ihre Erfolgsaussichten für eine soziale Umschichtung im Sinne einer „Reproletarisierung" bleiben — zumindest vorläufig — ungewiß.

Bisher war von den Modalitäten des Hochschulzuganges unter dem Gesichtspunkt der davon ausgehenden sozialen Wirkungen die Rede. Nun kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß diese Überlegungen, so sehr sie etwa bei Chruschtschow persönlich eine Rolle gespielt haben, trotzdem den dominierenden staatsökonomischen Zielsetzungen untergeordnet bleiben. Die gesamte Reform des Schulund Hochschulwesens kann als Beitrag zu einer Rationalisierung der langfristigen Arbeitskräftepolitik aufgefaßt werden, deren Bedürfnisse einen unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der Ausbildungswege ausüben. So ist z. B. die Einfügung einer speziellen beruflichen Ausbildung in das Lehrprogramm der allgemeinbildenden Mittelschule — entgegen den ursprünglichen Absichten einer breiten polytechnischen Bildung — darauf zurückzuführen, daß der erwähnte Überhang an Studienbewerbern beseitigt und zugleich eine bessere Versorgung der Industrie-und Landwirtschaftsbetriebe mit Nachwuchskräften ermöglicht werden sollte.

Dabei ist nun, deutlich erkennbar seit 1960, der Gedanke einer straffen Berufslenkung und damit verbunden die Bindung der Jugend an bestimmte Produktionszweige und Berufe, besonders in der Landwirtschaft, die an akutem Nachwuchsmangel leidet, immer stärker in den Vordergrund getreten. Auf diese Weise erfolgt aber eine weitere Begrenzung in der Wahl der Ausbildungswege, die bisher vorwiegend negativ begründet war, d. h. auf der Kontingentierung der Ausbildungsplätze in den Berufsschulen, mittleren Fachschulen und Hochschulen beruhte. Jetzt tritt ein dirigistisches Verfahren hinzu. Auch hier zeigt sich jedoch — wie aus zahlreichen Berichten der sowjetischen Tages-und Fachpresse hervorgeht —, daß die tatsächlichen Erfolge in der Berufslenkung erheblich hinter den Vorstellungen der Planer zurückbleiben. Nur ein verhältnismäßig geringer Teil der Mittelschulabsolventen ergreift tatsächlich den während der Produktionsausbildung erlernten Beruf, während die meisten versuchen, ihre anders-lautenden individuellen Wünsche zu realisieren. Für erhebliche Teile der sowjetischen Jugend, besonders auf dem Lande, wird durch diese Maßnahmen der Weg zur höheren Bildung erschwert, da in sehr vielen Fällen nur noch das berufsbegleitende Fern-oder Abendstudium übrigbleibt. An dieser Stelle wird auch die ambivalente Wirküng und Bedeutung dieses „Zweiten Bildungsweges" sichtbar, der einerseits echte Chancen für eine höhere Ausbildung und damit auch für ein besseres berufliches Fortkommen der bereits Erwerbstätigen eröffnet, andererseits aber — insbesondere für die Jugend — aus planökonomi-sehen und finanziellen Gründen Hindernisse auf dem direkten Bildungsweg von der Grundschule bis zum Hochschuldiplom aufrichtet.

Wir haben von der Spannung zwischen gewissen egalitären Absichten der kommunistischen Führung und den ihnen oft entgegenstehenden realen Kräften der sowjetischen Gesellschaft gesprochen, wie sie insbesondere in den Ansprüchen der Oberschicht zum Ausdruck gelangen. Diese Ansprüche finden ihre Stütze in dem vielfältigen Bedarf einer immer komplizierter werdenden Wirtschaft, Wissenschaft und Technik an hochqualifizierten Spitzenkräften, wodurch die Bildungspolitik gezwungen wird, eine Begabtenauslese und Talentförderung zu betreiben und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Damit kommt ein wichtiges Problem, nämlich die Frage einer „Elitebildung", ins Spiel, wobei der Elitebegriff hier nicht politisch, sondern fachlich zu verstehen ist.

Das sowjetische Schulsystem kannte schon seit den zwanziger Jahren den Sonderweg für künstlerisch talentierte Kinder, die frühzeitig in Schulen für Kunst, Musik und Tanz besonders gefördert wurden. Eine ältere Form von Spezialanstalten bildeten auch die Schulen für den Offiziersnachswuchs, die während des Zweiten Weltkrieges als Suworow-und Nachimow-Schulen bekannt wurden. Der Besuch beider, ihrer Art nach so entgegengesetzten Sonderschulformen, gewährleistete in den meisten Fällen nahezu automatisch die Zugehörigkeit zur sowjetischen Oberschicht. In der Schulreformdiskussion von 1958 ist von verschiedenen Seiten, insbesondere von Vertretern der Wissenschaft, auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, auch für früh erkennbare mathematische und naturwissenschaftliche Talente besondere Schulen einzurichten; auch Chruschtschow in seinem Memorandum und das Zentralkomitee der Partei in seinen Thesen zur Reform empfahlen einen solchen Weg. Das Schulgesetz vom 24. Dezember 1958 erwähnte solche Einrichtungen jedoch nicht mehr, sei es, weil nachträglich ideologische Bedenken gegen eine zu starke Auflockerung des Einheitsschulsystems gekommen sind, sei es, daß man erst praktikable Wege erproben wollte.

In den folgenden Jahren traten jedoch neben die herkömmlichen und weiter ausgebauten Formen der Begabtenförderung in den Zirkeln und Arbeitsgemeinschaften außerschulischer Art sog. „mathematische Jugendschulen", die einen zusätzlichen Unterricht auf freiwilliger Grundlage erteilen, sowie vor allem besondere physikalisch-mathematische Mittel-schulen,von denen Ende 1963 vier bestanden (die bekannteste ist der Filiale der Akademie der Wissenschaften in Nowosibirsk angegliedert). Es ist den wissenschaftlichen Gremien offensichtlich gelungen, die Partei-und Staats-führung davon zu überzeugen, daß eine solche Talentauslese, die zugleich mit einer Reduzierung der praktischen Produktionsarbeit der Schüler verbunden ist, für die Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf Gebieten mit hohen theoretischen Anforderungen unentbehrlich ist.

Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz auf so hohem Ausleseniveau stehende Form der Begabtenschulen stellen die seit 1957 stark ausgebauten Schulen mit erweitertem Fremdsprachenunterrichtdar, deren Zahl bis 1965 auf 700 steigen soll Dieser Schultyp, in dem Kinder vom zweiten Schuljahr an einen verstärkten Unterricht in einer modernen Fremdsprache erhalten, dient offensichtlich der planmäßigen Heranbildung einer in einer ausländischen Sprache versierten Schicht der sowjetischen Intelligenz. Die Weltmachtstellung der Sowjetunion und ihre internationalen Beziehungen verlangen für den diplomatischen Dienst, den Handelsverkehr und die wissenschaftliche Forschung heute in weit stärkerem Maße als früher Menschen, die mindestens eine fremde Sprache gut beherrschen. Daß die Schulen mit verstärktem Fremdsprachenunterricht gleichzeitig eine bevorzugte Aufstiegschance in die sowjetische Oberschicht eröffnen, liegt klar auf der Hand. Der Staat trägt diesem sozialen Prestigebedürfnis auch dadurch Rechnung, indem er die Erteilung eines zusätzlichen fremdsprachlichen Unterrichts auf Kosten der Eltern bereits im Kindergarten und in den Anfangsklassen der Normalschule gestattet. Der Grundsatz der Schulgeldfreiheit wird damit an einer bezeichnenden Stelle durchbrochen.

Damit ist bereits zum Ausdruck gebracht, daß die Kommunistische Partei aus .den genannten Gründen der politischen und ökonomischen Ratio die elitären Tendenzen dieser Ausbildungswege offenbar in Kauf nimmt. Denn es ist kaum zweifelhaft, daß sich mit diesen neuen Sonderschulformen der sowjetischen Oberschicht Möglichkeiten eröffnen, ihren höheren Bildungsstand weiterhin aufrechtzuerhalten. Nicht alle Kinder, die von ihren Eltern auf eine „bessere" Schule geschickt werden, sind deshalb begabter als ihre Altersgenossen in der Normalschule. Da die Beschickung dieser Schulen in starkem Maße von dem Willen der Eltern abhängt, besitzen diejenigen, die den Wert einer solchen Ausbildung zu schätzen wissen, also in erster Linie die Kreise der Intelligenz, von vornherein bessere Chancen

Im Unterschied zu den eben erwähnten Sonderschulformen gehören die Internatsschulen, die 1956 ins Leben gerufen worden sind, nicht zu den Anstalten mit spezifischen Auslesefunktionen. Bis in die jüngste Zeit, da ihre Schüler-zahl auf etwa eine Million gestiegen ist tragen sie noch die Spuren ihrer Herkunft aus Kinderheimen für sozialer Fürsorge besonders bedürftige Kinder. Freilich gibt es auch einzelne Internatsschulen, die als Spezialschulen der vorhin erwähnten Art von besonderer Qualität sind. In erster Linie sind sie aber das Modell der vollkommenen Kollektiverziehung im entfalteten Kommunismus, gemeinsam mit den neuen vereinigten Vorschuleinrichtungen (Kinderkrippen und -gärten), deren Ausbau ebenfalls stark betrieben wird. Im Parteiprogramm von 1961 ist davon die Rede, daß „schon in den nächsten Jahren der Bedarf an Vorschuleinrichtungen vollständig gedeckt" sein soll und daß es bis 1980 „jeder Familie möglich sein wird, Kinder und Halbwüchsige auf Wunsch unentgeltlich in Kinderanstalten unterzubringen". Von offiziöser Seite genannte Zahlen sprechen im Jahre 1980 von 40 Millionen Kindern in Vorschuleinrichtungen und von 55— 60 Millionen Schülern in Internats-und Ganztagsschulen, was schätzungsweise 80 Prozent der Schuljugend unter 18 Jahren entsprechen würde

Dieses Fernziel einer vollsozialisierten Erziehung, das der kommunistischen Parteiführung aufgrund ihrer ideologischen Prämissen vorschwebt, darf als Gegenwirkung zu den bisher behandelten differenzierenden Tendenzen im sowjetischen Bildungswesen nicht zu gering bewertet werden. Es ist in diesem Zusammenhang notwendig, die große integrative Rolle der sowjetischen Schule zu betonen, die sie im Sinne einer staatsbürgerlichen Bewußtseinsbildung über alle sozialen und Bildungsunterschiede hinweg spielt. Diese allen modernen demokratischen Gesellschaften eigene Funktion der Schule erhält im kommunistischen Sowjetsystem ihre besondere Bedeutung dadurch, daß hier die politisch-ideologische Einheitsschulung eine wesentliche Voraussetzung der Herrschaft der Partei bildet. Indem den heranwachsenden jungen Staatsbürgern die Vorstellung einer homogenen, nichtantagonistischen Gesellschaft mit dem Endziel einer Aufhebung aller Klassenunterschiede suggeriert wird, soll die Aufmerksamkeit von dem entscheidenden Problem der politischen Macht abgelenkt werden. Die auf allen Bildungsstufen — von der Grundschule bis zur Hochschule — betriebene Erziehung im Sinne der sozialen Harmonie kann dabei eine gewisse Wirkung nicht verfehlen; oft besteht sie ihre Probe in der Realität jedoch auch nicht. Die Diskrepanz zwischen Sein und Bewußtsein und die verhüllende Rolle der Ideologie gilt, ganz wie Marx es beschrieben hat, auch für die sowjetische Gesellschaft.

Die sowjetische Variante der modernen Leistungs-und Bildungsgesellschaft

Stadtbevölkerung und Landbevölkerung

(Quelle: Anm. 33)

Unsere Ausführungen haben den engen Zusammenhang deutlich gemacht, der auf allen Entwicklungsetappen der sowjetischne Bildungspolitik zwischen den gesellschaftlichen Idealen des Kommunismus, den ökonomischen Zielsetzungen der Sowjetregierung und den daraus resultierenden spezifisch schulpolitischen Maßnahmen bestanden hat. Wenn abschließend versucht werden soll, einige für die gegenwärtige sowjetische Gesellschaft charakteristische und für die absehbare Zukunft bedeutsame bildungssoziologische Befunde unter einem internationalen Aspekt hervorzuheben, so geschieht dies aufgrund der Über-zeugung, daß wir es im Falle der Sowjetunion mit einer Variante der modernen Leistungsund Bildungsgesellschaft zu tun haben, die — trotz aller bestehenden Unterschiede — in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts in den „entwickelten" Ländern des Westens und Ostens immer stärker gemeinsame Züge aufweist.

Das gilt zunächst für den Vorgang, den man gewöhnlich als „Demokratisierung der Bildung"bezeichnet, womit der allgemeine, nicht an soziale Privilegien gebundene Zugang zu den Kulturgütern aufgrund gewisser Mindestvoraussetzungen an Bildung gemeint ist, die durch die allgemeine Schulpflicht geschaffen werden. Die Demokratisierung der Bildung im Sinne einer faktischen Gleichheit der Bildungschancen über das untere Minimalniveau hinaus ist hingegen auch in der Sowjetunion noch nicht wenn die -voll verwirklicht, auch Hemm nisse und Schranken teilweise woanders liegen als in einigen westeuropäischen Ländern. Abgesehen von objektiven Hindernissen, unter denen die Unterschiede von Stadt und Land am schwersten wiegen, gibt es solche, die aus dem Wesen der staatlichen Bildungspolitik selbst fließen.

Es ist deshalb wichtig, beide Seiten gerade der jüngsten bildungspolitischen Maßnahmen zu sehen: Während einerseits — stärker als in der Stalin-Ära — grundsätzlich offene Bildungswege (u. a. über die verschiedenen Einrichtungen der nebenberuflichen Ausbildung) angestrebt werden, zwingt das ökonomische Planungssystem zu einer Lenkung der Ausbildung und der Berufswahl unter dem Primat der gesellschaftlichen vor den individuellen Interessen. Diese Spannung zwischen einer entschieden demokratischen Konzeption und einem staatlichen Dirigismus ist unter den Gegebenheiten des sowjetischen Systems auch nicht aufzulösen. Anders ausgedrückt: der Zugang zu höheren Bildungsstufen ist in der Sowjetunion erheblich breiter als etwa in Westdeutschland; die Möglichkeit der Wahl des gewünschten Studienweges oder der Fachrichtung ist dagegen eng begrenzt. Die Idee der Bildungsplanung — nicht nur im Sinne der Finanzvorausberechnung oder der Bedarfsfeststellung — gewinnt auch in den westlichen Demokratien immer mehr an Boden. Es ist notwendig, die dabei möglichen Gefahren für die individuelle Freiheit der Entscheidung, die das sowjetische Beispiel demonstriert, nicht aus den Augen zu verlieren.

Ein weiteres Problem von übergreifender Bedeutung stellt die unter dem Stichwort „education permanente“ bekannte Erscheinung in entwickelten den Industrienationen der Welt dar. Da die beruflichen Anforderungen im Laufe des Lebens wachsen und sich ändern, ist die noch bis vor einigen Jahrzehnten klare Teilung in eine abgeschlossene Ausbildungsund eine daran anschließende Berufsphase nicht mehr rein aufrechtzuerhalten. Immer mehr gewinnt daher nach Abschluß der vollen Schulzeit die nebenberufliche Fortbildung an Boden, die ein wesentliches Element der Leistungssteigerung und damit auch des sozialen Aufstiegs bildet. In der Sowjetunion hat — neben den USA — diese permanente Fortbildung in Form von beruflichen und außerberuflichen Kursen, Schulen und Studiengängen die größte Verbreitung gefunden. Damit bekommt auch das Freizeitproblem, dem sich die sowjetische Gesellschaft in wachsendem Maße gegenübersieht, einen spezifischen Akzent, wie schon an früherer Stelle angedeutet worden ist. Die arbeitsfreie Zeit ist in starkem Maße Lernfreizeit, und es scheint, als ob sich hier der politische Erziehungswille des Staates mit der Bildungsfreudigkeit seiner Bürger trifft. Auch dieses Phänomen des sowjetischen Lebens ist seinem Wesen nach ambivalent: Während einerseits die totale Erfassung der arbeitsfreien Zeit einer gleichförmigen Be-wußtseinsbildung Vorschub leisten kann, ist andererseits das Moment der freien geistigen Bildung im Lernprozeß und in einer kultivierten Freizeitgestaltung auf keinen Fall zu unterschätzen.

Damit sind jedoch bereits die Grenzen einer bildungssoziologischen Untersuchung überschritten. Die Frage, ob höhere Bildung mehr Freiheit verlangt und ob diese gesellschaftlich relevant werden kann, ob es Ansatzpunkte für eine Pluralität in der Sphäre des Geistigen gibt und wo der Einfluß der Parteiideologie seine Grenzen hat — all dies gehört zu den erregenden Problemen der sowjetischen Gegenwart, denen hier nicht mehr nachgegangen werden kann, auf deren Bedeutung aber nachdrücklich hingewiesen sei

Fussnoten

Fußnoten

  1. In der pädagogischen Zeitschriftenliteratur bis etwa 1931 finden sich zahlreiche statistische Daten und einzelne Untersuchungen unter bildungssoziologischer Fragestellung, so z. B. über die soziale Herkunft der Schüler und Studenten, die religiöse Einstellung der Schüler, die Berufsmotivation von Schulabgängern, den Zusammenhang von Berufs-qualifikation und Volkseinkommen. Die damals herrschende Auffassung der Erziehung als eines sozial determinierten Prozesses begünstigte solche Untersuchungen, jedoch kam es nicht zu systematischen theoretischen Verallgemeinerungen.

  2. Vgl. Rene Ahlberg, Die sowjetische Gesellschaftswissenschaft und die empirische Sozialforschung, in: Osteuropa, 13. Jg. (1963), S. 679- 694.

  3. Ein Beispiel hierfür stellt das aufgrund eines mehrwöchigen Studienaufenthaltes einer Gruppe von etwa 70 amerikanischen Studenten und Dozenten herausgegebene Sammelwerk von G. Z. F. Bereday, W. W. Brickman, G. H. Read, The Changing Soviet School, Cambridge, Mass. 1960, dar, dessen wertvolle Teile eben nicht auf den sporadischen Einblicken in den sowjetischen Schulalltag, sondern auf einer Analyse der Materialien nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten beruhen.

  4. Vgl. Erik Boettcher, Offene Bildungswege in der Sowjetunion, in: Der Zweite Bildungsweg im sozialen und kulturellen Leben der Gegenwart, hrsg. von R. Dahrendorf und H. D. Ortlieb, Heidelberg 1959, S. 152— 173; Nicholas DeWitt, Education and Professional Employment in the USSR, Washington 1961 (obwohl DeWitts Buch vor allem der Organisation des Bildungswesens gewidmet ist, enthält es reiche bildungssoziologische Informationen); Robert A. Feldmesser, Social Status and Access to Higher Education. A Comparison of the United States and the Soviet Union, in: Harvard Educational Review, Vol. XXVII, Nr. 2 (1957), pp. 92— 106; Mark G. Field, Some Sociological Perspectives on Soviet Education: Selection and Training for Advanced Studies, in: The Politics of Soviet Education, edited by George Z. F. Bereday and Jaan Pennar, New York 1960, S. 175— 191.

  5. Der Anteil des Geburts-und Dienstadels an den Knabengymnasien ging von 73 Prozent im Jahre 1863 auf 32 Prozent im Jahre 1914 zurück, während in der gleichen Zeit der Anteil der „städtischen Stände" und der Bauern-von 25 auf 57 Prozent stieg. In den Realschulen war das Verhältnis dieser beiden Hauptgruppen noch „demokratischer". An den Universitäten schließlich stammten 1914 von 100 Studenten 36 aus Adels-und Beamtenfamilien, 39 aus dem Bürger-, Kleinbürger-und Arbeiterstand und 14 vom Dorf. Siehe Nicholas Hans, History of Russian Educational Policy, 1701 — 1917, London 1931, S. 239.

  6. Lenin o narodnom obrazovanii. Stat’i i reci, Moskau 1957, S. 21.

  7. Vgl. die wichtigsten einschlägigen Dokumente in: Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917. Dokumente und Texte, hrsg. von Oskar Anweiler und Klaus Meyer, Heidelberg 1961.

  8. Die Volkszählung vom 17. Januar 1939 ergab, daß 81, 2 Prozent der Bevölkerung über 9 Jahre und 89, 1 Prozent in der Altersgruppe von 9 bis 49 Jahren lese-und schreibkundig waren. Siehe De Witt, a. a. O., S. 72.

  9. Narodnoe prosvescenie, 1928, Nr. 12, S. 72 f.

  10. Vgl. V. Kasatkin, Kak obsluzivajutsja nasej skoloj deti rabocich? in: Narodnoe prosvescenie, 1928, Nr. 10, S. 26— 36; Sergius Hessen u. Nikolaus Hans, Fünfzehn Jahre Sowjetschulwesen, Langensalza 1933, S. 80 f.

  11. In den Neunjahresschulen sank der Anteil der Arbeiterkinder von der 1. bis zur 9. Klasse von 37, 3 °/o auf 17, 9 °/o, umgekehrt stieg der Anteil der Angestellenkinder von 31, 8 ®/o auf 54, 2 °/o. Kasatkin, a. a. O.

  12. M. Aleksinskij, Voprosy obsceobrazovatel’noj skoly, in: Vestnik prosvescenija, 1928, Nr. 5/6, S. 7.

  13. Zu Beginn des Schuljahres 1927/28 besuchten in der UdSSR 9, 910 Mio. Kinder die Klassen 1— 4, 1, 332 Mio. Kinder die Klassen 5— 7 und nur 126 625 die Klassen 8 und 9. Siehe: Kul’turnoe stroitel’stvo SSSR, Moskau 1956, S. 122.

  14. ebenda S. 123.

  15. Siehe die ZK-Beschlüsse vom 12. Juli 1928 und vom 16. November 1929, in: Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Dokum. 46 und 49.

  16. Siehe den Beschluß des ZK der KPdSU (B) vom 26. Juli 1929, in: Direktivy VKP (b) po voprosam prosvescenija, 2. Ausl., Moskau-Leningrad 1930, S. 171 f.

  17. DeWitt, a. a. O., S. 577.

  18. Siehe A. V. Kol’cov, Kul'turnoe stroitel’stvo v RSFSR v gody pervo] pjatiletki (1928- 1932), Moskau-Leningrad 1960, S. 158; dort auch Einzelangaben über einige Hochschulen.

  19. DeWitt, a. a. O., S. 655.

  20. Ich übernehme die von Richard Pipes verwendete Bezeichnung in seinem Beitiag „Die historische Entwicklung der russischen Intelligentsia", enthalten in dem von ihm hrsg. Sammelband Die russische Intelligentsia, Stuttgart 1962, S. 65— 82.

  21. Die Arbeiterfakultäten hörten 1940 zu bestehen auf, und die Abendschulen fielen um diese Zeit noch kaum ins Gewicht.

  22. Vgl. die VO des ZEK und des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 29. Dezember 1935 „Uber die Aufnahmen in die Hochschulen und in die Technika", in: Direktivy VKP (b) i postanovlenija sovetskogo pravitel’stva o narodnom obrazovanii. Sbornik dokumentov za 1917— 1947 gg. II, Moskau-Leningrad 1947, S. 89; VO des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 21. Juni 1944 „über Maßnahmen zur Verbesserung der Unterrichtsqualität in der Schule", in: Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Dokum. 91.

  23. ebenda, Dokum. 83.

  24. Vgl. DeWitt, a. a. O., S. 64 f.

  25. Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Dokum. 82 und Anmerkung.

  26. Im Jahre 1958 waren 46, 2 Prozent aller Schüler in den Klassen 1— 10 in Stadtschulen, 53, 8 Prozent in Landschulen eingeschrieben. In den Oberklassen (8— 10) lag jedoch der Anteil der Stadtschulen mit 55, 9 °/o gegenüber 44, 1 °/o auf dem Lande erheblich höher. Siehe DeWitt, a. a. O., S. 142.

  27. Memorandum „über die Festigung der Verbindung der Schule mit dem Leben und über die weitere Entwicklung des Volksbildungssystems im Lande" vom 21. September 1958, in: Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Dokum. 102.

  28. Die entsprechenden russischen Bezeichnungen lauten: 1. Nepolnoe srednee obrazovanie; 2. polnoe srednee obrazovanie; 3. srednee special’noe obrazovanie; 4. vysee obrazovanie. Im angelsächsischen Sprachgebrauch entsprechen die Gruppen 1 und 2 der „primary and secondary education", die Gruppe 3 der „specialized secondary education" oder „secondary semiprofessional education", die Gruppe 4 der „higher education“. Die in Deutschland übliche Terminologie läßt sich auf die sowjetischen Verhältnisse nur schwer anwenden. Die Gruppen 1 und 2 entsprechen etwa dem Volksschul-bzw. Mittelschulabschluß, wobei die „vollständige mittlere Bildung" aber über die „Mittlere Reife" hinausgeht und zwischen dieser und dem Abitur der Höheren Schule liegt.

  29. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1959 g, Moskau 1960, S. 21. Vgl. DeWitt, a. a. O., S. 439 f.

  30. Ein Vergleich mit entsprechenden Zahlen in den USA (1959) mag nicht uninteressant sein, weil die Sowjetunion solche Vergleiche, sofern sie zu ihren Gunsten ausfallen, gern im internationalen „Bildungswettstreit" vornimmt. In den USA verfügten von den 122, 8 Millionen Einwohnern über 14 Jahren 79, 8 % über eine mindestens siebenjährige Schulbildung, 41, 3 % hatten eine High-School (12 Schuljahre), ein College oder eine Hochschule absolviert und 6, 8 % besaßen eine mindestens vierjährige, abgeschlossene Hochschulbildung. Siehe DeWitt, a. a. O., S. 440.

  31. Vgl. Leopold Labedz, Die Struktur der sowjetischen Intelligentsia, in: Die russische Intelligentsia, hrsg. von Richard Pipes, Stuttgart 1962, S. 83— 101.

  32. Itogi Vsesojuznoj perepisi naselenija 1959 goda — SSSR (svodnyj tom), Moskau 1962, S. 111.

  33. ebenda S. 115.

  34. ebenda S. 123 f.

  35. Die Trennung in beide Gruppen ist in vielen Fällen nicht ohne eine gewisse Willkür möglich, so z. B. bei den Verkäufern oder Laboranten. Uber die bei der Volkszählung maßgeblichen Gesichtspunkte gibt das Vorwort zu dem Statistik-Band Auskunft (Itogi, S. 11).

  36. ebenda S. 130.

  37. ebenda S. 177.

  38. Vgl. vom Verfasser: Die Reform des sowjetischen Bildungswesens, in: Osteuropa, 9. Jg. (1959), S. 128— 143; Zwischenbilanz der sowjetischen Schulreform, in: Osteuropa, 11. Jg. (1961), S. 285 bis 301.

  39. Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, 102.

  40. Pravda vom 2.11.1967 - Der deutsche Wortlaut des Parteiprogramms von 1961 in: Boris Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, S. 143- 144.

  41. Vgl. M. T. lovcuk, Kul’turno-technicesklj rost rabocego klassa SSSR, in: Voprosy filosofii, 1960, Nr. 7, S. 34— 49 (unter demselben Titel erschien hrsg. von lovcuk u. a. ein Sammelband, der die Untersuchungsergebnisse ausführlich dargelegt); Social’no-ekonomiceskie problemy techniceskogo progressa, Moskau 1961; Techniceskij progress i voprosy truda pri perechode k kommunizmu, Moskau 1962.

  42. Vgl. Hartmut Vogt, Die Erwachsenenbildung in der Sowjetunion, in: Berliner Arbeitsblätter für die deutsche Volkshochschule, Heft XIX (1962), S. 1— 56; ders., Die allgemeinbildenden Abend-und Schichtschulen in der Sowjetunion, ebenda, Hett XXII (1963), S. 1— 47.

  43. S. G. Strumilin, Problemy socializma i kommunizma v SSSR, Moskau 1961, S. 369— 396.

  44. M. T. lovcuk, Nepreryvnyj pod-em kul’turnotechniceskogo urovnja rabocich — zakonomernost’ razvitija socialisticeskogo obscestva, in: Social’noekonomiceskie problemy techniceskogo progressa, Moskau 1961, S. 194.

  45. Vgl. DeWitt, a. a. O., S. 248— 251.

  46. Vgl. die Bekanntmachung über die neuen Ausnahmebestimmungen für die Hochschulen in der „Pravda" vom 4. Juni 1958, in: Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Dokum. 101.

  47. SSSR v cifrach v 1961 godu, Moskau 1962, S. 324.

  48. VO des Ministerrates der UdSSR vom 18. September 1959, in: Srednee special’noe obrazovanie v SSSR, Moskau 1962, S. 218 f.

  49. Im Studienjahr 1961/62 waren 54, 5 °/o aller sowjetischen Studenten und 49, 2 0/0 aller Fachschüler Abend-oder Fern-Studierende, die in der Regel ihre Ausbildung in dem bereits ausgeübten Beruf oder auf einem verwandten Fachgebiet fortsetzten.

  50. Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, 102.

  51. Vgl. Eugen Lemberg, Begabtenauslese und Begabungspflege im sowjetischen Bildungswesen, in: Recht und Wirtschaft der Schule, 2. Jg. (1961), S. 65— 69.

  52. Vgl. Bernhard Schiff, Fremdsprachenunterricht in der Sowjetunion, in: Osteuropa, 13. Jg. (1963), S. 810— 817; Wortlaut der VO des Ministerrates der UdSSR vom 27. Mai 1961 in der „Pravda" vom 4. Juni 1961.

  53. Eine soziologische Analyse der Schülerschaft solcher Schulen würde den von verschiedenen Besuchern solcher Anstalten erworbenen Eindruck sicher bestätigen, daß es sich hier vorzüglich um . Eliteschulen" der städtischen Intelligenz handelt.

  54. Seit 1961, als es sich herausstellte, daß die für 1965 ursprünglich vorgesehene Zahl von 2, 5 Millionen Internatsschülern nicht zu realisieren ist, enthält die sowjetische Statistik nur noch Zahlen über Internats-und Ganztagsschüler zusammen,

  55. A. M. Arsen’ev, Edinstvo tekuscich zadac perestrojki Sovetskoj skoly i perspektiv sozdanija kommunisticeskoj sistemy narodnogo obrazovanija SSSR, in: Doklady Akademii pedagogiceskich nauk RSFSR, 1962, Nr. 1, S. 5— 11.

  56. Vgl. Arnold Buchholz, Der Kampf um die bessere Welt, Stuttgart 19622; Georg Paloczi-Horvath, Rebellion der Tatsachen, Frankfurt a. M. 1963.

Weitere Inhalte

Oskar Anweiler, Dr. phil., ord. Professor für Pädagogik an der Universität Bochum, geb. 29. September 1925 in Rawitsch (Posen). Veröffentlichungen u. a.: Die Rätebewegung in Rußland 1905— 1921, Leiden 1958; Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Dokumente und Texte (zusammen mit K. Meyer), Heidelberg 1961; Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära (Erziehungswissenschaftliche Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Bd. 1), Heidelberg 1964. Der hier veröffentlichte Beitrag erscheint im Herbst 1965 in einem Sammelband mit dem Titel „Die Sowjetgesellschaft im Wandel" in der Reihe der politischen Paperbacks des Kohl-hammer Verlages, Stuttgart.