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Ein neuer Anlauf zur politischen Einigung Europas | APuZ 8/1965 | bpb.de

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APuZ 8/1965 Ein neuer Anlauf zur politischen Einigung Europas Das militärische Potential des kommunistischen Chinas

Ein neuer Anlauf zur politischen Einigung Europas

Paul-Henri Spaak

Im Zentrum der Politik Westeuropas stehen zwei große Errungenschaften: der Atlantikpakt und der Gemeinsame Markt. Zur Zeit müßte man blind sein, wenn man nicht sähe, daß beide in Gefahr sind. Wie konnte es dazu kommen?

Der Atlantikpakt wurde 1948 in Washington geschlossen. Er verdankt sein Entstehen der Furcht, die der sowjetische Imperialismus, wie er vor allem soeben bei dem Staatsstreich in der Tschechoslowakei zum Ausdruck gekommen war, bei allen westlichen Demokratien hervorgerufen hatte. Das Ziel der Unterzeichner war es, die freie Welt gegen einen möglichen sowjetischen Angriff zu verteidigen. Sie beabsichtigten zumindest ein Hindernis zu errichten, von dem sie hofften, daß es für ein eventuelles sowjetisches Vordringen in -Eu ropa und Nordamerika unüberwindlich sei.

Die Idee des vereinten Europas wurde anläßlich eines Kongresses in Den Haag 1948 wieder zum Leben erweckt, nach einem Zustand der Betäubung, in den sie durch Faschismus, Hitlerismus, Kommunismus und den Zweiten Weltkrieg gestürzt worden war. Ihre Verfechter, zu denen einige Unterzeichner des Vertrages von Washington gehörten, waren bestrebt, Europa aus seiner Schwäche herauszuführen und ihm seine frühere Stärke und seinen Einfluß zurückzugeben, auf daß es wieder ein gleichberechtigter Partner seines großen amerikanischen Verbündeten werde.

Zwischen dem Konzept des Atlantikbündnisses und dem europäischen Zusammenschluß gab es weder Widerspruch noch Konflikt. Das aus den Ruinen wiederauferstehende Europa übernahm beide Ideen und — das sollte nie vergessen werden — fand Frieden und Wohlstand.

Der Feind heißt Nationalismus

Abbildung 1

Wie ist es möglich, daß eine Ordnung, die Frieden und Wohlstand brachte, jetzt in Gefahr geraten ist? Die Antwort ist eindeutig. Der Feind, den wir besiegt glaubten, hebt wiederum sein Haupt, zwar noch nicht stark genug, um zu siegen, aber kräftig genug, um ernste Besorgnis zu verursachen. Der Feind heißt Nationalismus.

Natürlich würde ich niemanden schmähen, der sein Vaterland und dessen Traditionen in angemessener Weise liebt, der großen geschichtlichen Ereignissen eine berechtigte Ehrerbietung entgegenbringt oder eine Vorliebe für gewisse Besonderheiten seines Volkes hat. Wogegen ich mich wende, ist eine Idee, die im zwanzigsten Jahrhundert untragbar ist — Die Beiträge dieser Ausgabe werden mit freundlicher Genehmigung nachgedruckt aus FOREIGN AFFAIRS, Januar 1965. Copyright by the Council on Foreign Relations Inc., New York. die Idee, daß Einzelvölker, gleichviel wie stark sie sind, allein aus eigener Kraft die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Probleme lösen können, mit denen sie konfrontiert sind.

Fünfzehn Jahre lang überwog innerhalb des Atlantikpaktes und bei den verschiedenen Versuchen einer europäischen Einigung der Wille zur Zusammenarbeit. Viele sahen ein, daß über den individuellen und oft egoistischen nationalen Interessen das höhere Gemeinschaftsinteresse stehen müsse, dem auch beträchtliche Opfer gebracht werden müßten. Die Zeit für eine Weltregierung war noch nicht gekommen, aber es war für alle jene unerläßlich, sich zusammenzuschließen, die dieselben politischen Ansichten teilten und einen vergleichbaren Lebensstandard erlangt hatten.

Wir hofften, während dieser Jahre auf dem Weg, der uns dereinst zur Einheit aller Na-tionen führen würde, Fortschritte gemacht zu haben. Unser gleichzeitiger atlantischer und europäischer Versuch entwickelte sich mehr und mehr in die Breite und Tiefe. Die militärische Integration wie die politische Konsultation innerhalb des Atlantikpakts und die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa — wenigstens in dem Klein-Europa der Sechs — machten befriedigende Fortschritte, und zwar viel schneller, als die größten Optimisten unter uns zu hoffen gewagt hätten.

Dann kam General de Gaulle. Wenn man den Präsidenten der Französischen Republik als Hindernis bezeichnet, so liegt darin keine Respektlosigkeit. Es ist im Gegenteil eine Bestätigung dafür, daß das gegenwärtige Geschehen nicht erklärt werden kann, ohne daß man zuerst seine Position kritisch zu beurteilen und seine Absichten zu verstehen versucht, was bedeutet, daß der großen Rolle, die er spielt, gebührende Anerkennung gezollt wird.

Als erstes möchte ich erwähnen, daß General de Gaulle weder den Vertrag von Washington noch den Vertrag von Rom unterzeichnet hat. Er war nicht im Amt, als der Atlantikpakt und der Gemeinsame Markt geschaffen wurden; er erbte beides von der Vierten Republik. Nun liegt ihm sehr wenig an allem, was nicht seinen eigenen Stempel trägt. Außerdem legt er keinen großen Wert auf ein Bündnis, in dem die Vereinigten Staaten notwendigerweise eine führende Rolle spielen, da sie der stärkste Partner sind und am meisten zur gemeinsamen Verteidigung beigesteuert haben. Er hat auch keine Vorliebe für den Gemeinsamen Markt, einem ersten Schritt zu einem vereinten Europa, denn er sieht in ihm einen ersten Schritt zu einer übernationalen Gewalt.

Schon 1958 verlangte er eine grundlegende Änderung des Atlantikpaktes, und zwar durch die Einrichtung eines politischen Triumvirats aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich. Klugerweise verwarfen die Vereinigten Staaten und Großbritannien diesen Vorschlag, weil er für alle anderen Mitglieder des Paktes unannehmbar gewesen wäre. Dje Folgen dieser Weigerung sind heute noch fühlbar.

General de Gaulle war nicht gegen den Gemeinsamen Markt an sich, weil die erfolgreichen Finanz-und Währungsreformen Pinays Frankreich in eine Lage versetzt hatten, in der es die verschiedenen Ausnahmeregelungen zu seinen Gunsten nicht in Anspruch zu nehmen brauchte und die ihm darüber hinaus gestattete, eine höchst wichtige Rolle in der neuen Wirtschaftsorganisation zu spielen.

Innerhalb dieser beiden Organisationen hat er nichtsdestoweniger jede Entwicklung bekämpft, die möglicherweise zur Integration geführt hätte. Er sieht die Idee der Integration als falsch an. Er verweigert ihr die Unterstützung und bekämpft sie im Namen des Nationalismus. Er verwirft die politische und militärische Integration innerhalb des Atlantikpaktes, denn da Frankreich nicht der stärkste Partner ist, würde es nichts dabei gewinnen. Vielleicht wäre er weniger unnachgiebig, wenn die Integration nur für das kontinentale Europa gelten sollte und dann eventuell auf eine französische Vormachtstellung hinauslaufen würde. Auch will er keine wirtschaftliche Integration innerhalb des Gemeinsamen Marktes, da das bedeuten würde — und hier hat er bis zu einem gewissen Grade recht —, daß die Techniker mehr Macht bekämen als die Politiker.

Was wir heute als Augenzeugen erleben, ist der Widerstreit zwischen diesen beiden gegensätzlichen fundamentalen Prinzipien: Zusammenarbeit mit dem Ziel der Integration auf der einen Seite, Nationalismus auf der anderen Seite. Aus diesem Widerstreit rühren unsere gegenwärtigen Sorgen und Schwierigkeiten her.

Sie sind in der NATO und im Gemeinsamen Markt im Überfluß vorhanden. Lassen wir uns nicht täuschen, sie hängen alle miteinander zusammen. Heute ist ein rein militärischer Pakt nicht mehr denkbar. Völker, die vielleicht in Zukunft Seite an Seite kämpfen sollen, müssen daran denken, auch im täglichen Leben einander zu helfen. Die Vorstellung einer Gemeinschaft, die sich im Eventualfall gemeinsam verteidigen will, in der es zugleich auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet Spannungen gibt, ist illusorisch. Der Getreidepreis, der ein Hauptproblem im Gemeinsamen Markt war, hängt zusammen mit dem Erfolg der Kennedyrunde, während die Weiterentwicklung der NATO von der vorhandenen oder mangelnden Übereinstimmung zwischen den sechs Ländern Klein-Europas abhängen wird. Schließlich werden der Erfolg oder das Versagen der MLF direkte Rückwirkungen auf die Organisation Europas haben.

Europa tritt auf der Stelle

Als dem Europa der Sechs die Gefahr einer Krise drohte, dachten viele Leute, man solle einen neuen Versuch unternehmen, um eine politische Einheit in Europa zustandezubringen. Aus vielen Gründen war ich einer von ihnen. Erstens muß festgestellt werden, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft immer langsamer vorangeht. Der Gemeinschaftsgeist verliert an Boden, während der Geist des Nationalismus zunimmt. Jede Regierung verteidigt ihre Stellung leidenschaftlich, sogar hartnäckig. Es wird kein Unterschied mehr zwischen lebenswichtigen und zweitrangigen Fragen gemacht. Stunden, Tage und Monate werden mit Besprechungen von Problemen vergeudet, die in Wirklichkeit keine sind. Da niemand zu Zugeständnissen bereit ist, wird es immer schwieriger, zu einem Kompromiß zu kommen.

Zweitens besteht Anlaß zur Besorgnis über die in Deutschland vorherrschende Stimmung. Nationalistische Tendenzen kommen wieder einmal zum Vorschein. Es besteht Anstekkungsgefahr. Wenn Nationalismus gut für Frankreich ist, warum nicht auch für Deutschland? Die Schlußfolgerung ist naiv und es gibt auf sie nur eine Antwort. Aber wenn französischer Nationalismus mir schon unglücklich scheint, kommt mir Nationalismus in Deutschland, dem einzigen europäischen Land, das noch Grenzprobleme hat, gefährlich vor. Alle vernünftigen Deutschen, zu denen ich den Kanzler und den Außenminister Schröder zähle, glauben, daß die einzige Alternative zu der Wiedergeburt des deutschen Nationalismus die Entwicklung des europäischen Gedankens ist. Ich glaube, daß sie recht haben und daß wir ihnen helfen müssen. Schon seit einiger Zeit spricht Herr Erhard von einem neuen Versuch zur politischen Einigung Europas. Wir sollten ihm folgen.

Schließlich ist es offensichtlich, daß der Gedanke eines vereinten Europas, der seinem Wesen nach dynamisch ist, viel von seiner Kraft verliert, wenn man sieht, daß er auf der Stelle tritt. Seitdem der Vertrag von Rom im Jahre 1957 unterzeichnet worden ist, ist weiter nichts getan worden, als den Gemeinsamen Markt voranzutreiben. Die politische Einigung Europas hat keinerlei Fortschritte gemacht.

Die Schöpfer dieses Vertrages sagten, daß sie die Wirtschaftsgemeinschaft nur für eine Stufe — eine wichtige zwar, doch nur für eine Stufe — auf dem Weg zu einem politisch geeinten und sogar zu einem politisch integrierten Europa halten. Wenn die wirtschaftlichen Bande immer enger geknüpft würden — das war ihre Überzeugung —, dann würden die Unterzeichnerstaaten sich zwangsläufig Schritt für Schritt auch in anderer Hinsicht zusammenschließen. Ohne Zweifel hatten sie recht, aber nur auf lange Sicht; und es ist gefährlich, auf die Zwangsläufigkeit historischer Prozesse zu vertrauen.

In der Zwischenzeit sind Zweifel aufgetaucht. Die Idee des Gemeinsamen Marktes genießt allgemeine Unterstützung, und die Industriellen haben ihre Pläne auf die Ziele dieser Gemeinschaft abgestellt. Sie beginnen sich jetzt zu fragen, ob das nicht ein Fehler war. Sie zögern und vermeiden es, sich noch mehr zu engagieren. Es ist an der Zeit, ihnen das Gefühl des Vertrauens zu vermitteln, indem wir Fortschritte vorweisen.

Widerstreit zwischen dem Europa der Vaterländer und dem übernationalen Europa

Aus all diesen Gründen wäre es nun erforderlich, einen neuen Anlauf zur politischen Einigung im Europa der Sechs zu machen. Aber wie soll das geschehen? Wovon sollte man ausgehen, um die Chance des Erfolges zu haben? Um dies zu beantworten, müssen wir zurückgehen und die Gründe für das Versagen des Fouchet-Planes im April 1962 in Betracht ziehen. Jener Plan entsprang weitgehend französischer Initiative und verfolgte den Zweck, dem Gedanken eines politisch geeinten Europas neuen Auftrieb zu geben. Obschon die Absicht ausgezeichnet war, waren die Methoden, sie zu verwirklichen, unannehmbar. Was die politische Einigung betrifft, gibt es zwei wichtige Ideenrichtungen in Europa: die Verfechter des „Europas der Vaterländer" — eines Europas aus einzelnen Nationen — und die Verfechter eines übernationalen Europas. Für die ersteren ist die nationale Existenz von primärer Wichtigkeit An ihr dart nicht gerüttelt werden. Die ganze Entscheidungsgewalt muß weiterhin bei den nationalen Regierungen bleiben, und es ist undenkbar, daß sie irgend etwas von ihrer Vollmacht an eine übernationale Körperschaft abgeben, schon gar nicht, wenn es um so wichtige Angelegenheiten wie die Außenpolitik und die Verteidigung geht. Aus dieser Sicht genügt es daher, daß Staatsoberhäupter oder Minister sich in regelmäßigen Abständen treffen, um sich gegenseitig über ihre Pläne zu unterrichten, sie zu besprechen und nach Hause zu gehen — wobei jeder die volle Freiheit der Beurteilung und des Handelns behält. Alles, was über diese Konzeption hinausgeht, ist eitler Traum.

Die Verfechter eines übernationalen Europas behaupten jedoch, daß eine internationale Organisation nur wirksam funktionieren kann, wenn sie von einer übergeordneten Instanz geführt wird, wenn Entscheidungen von der Mehrheit gefällt werden und wenn die Minderheit, wie in allen demokratischen Organisationen, verpflichtet ist, solche Entscheidungen anzunehmen. Sie betonen, daß bloße Konferenzen, die lediglich dem Austausch von Informationen und der Diskussion dienen, unvollkommen und unwirksam wären und daß es zwecklos sei, von einem vereinigten Europa zu sprechen, wenn jedes Land fortfährt, nach seinem Belieben zu handeln — sogar gelegentlich gegen die Wünsche seines Partners.

Der Fouchet-Plan fußte ganz auf dem „Europa der Vaterländer" Er war der Gegenstand langer und mühsamer Verhandlungen zwischen den Regierungen von Klein-Europa, endete jedoch im April 1962 mit einem eklatanten Mißerfolg. Drei Punkte standen vor allem zur Debatte: die Beziehungen zwischen einem vereinigten Europa und dem Atlantikpakt, das Verhältnis der neuen Organisation zum Gemeinsamen Markt und die Zukunftsaussichten. Die meisten der beteiligten Regierungen forderten klar umrissene Bindungen zwischen einem vereinigten Europa und dem Atlantikpakt und verlangten eine Bekräftigung der Treue zur NATO. Sie wollten nicht, daß die neue Organisation gegen die Rechte der Europäischen Kommission verstieße. Im besonderen bestanden sie darauf, daß alle wirtschaftlichen Vorrechte, wie sie in dem Vertrag von Rom festgelegt worden waren, unberührt blieben. Endlich wurden, wenn auch unter Schwierigkeiten, über diese beiden Punkte Kompromißformeln ausgearbeitet. Bezüglich der zukünftigen Pläne konnte jedoch kein Kompromiß erreicht werden. Einige Länder, die sich fürs erste mit Vereinbarungen begnügt hätten, die nicht über die Konzeption eines „Europas der Vaterländer" hinausgingen, wollten sich keinesfalls für die Dauer mit einer derartigen Begrenzung zufriedengeben. Deshalb verlangten sie nach Garantien für die Zukunft, und als diese nicht gegeben wurden, blieben die Verhandlungen ergebnislos.

Ein Kompromißvorschlag

Wenn wir erneut die Idee eines politisch vereinten Europas zur Debatte stellen, können wir unmöglich die Lehren aus diesen Verhandlungen unbeachtet lassen. Wenn ein Versuch gemacht werden soll — und ich halte ihn für notwendig —, muß es eine Basis für einen Kompromiß geben. Welchen Kompromiß? Eine grundlegende Versöhnung der Idee des „Europas der Vaterländer" mit der eines übernationalen Europas ist zur Zeit indiskutabel. Deshalb scheint es jetzt unmöglich, einen endgültigen Vertrag zu schließen. Es mag jedoch möglich sein, ein Experiment für die Dauer von drei, vier oder fünf Jahren zu machen und sich von dem Ergebnis bestimmen zu lassen. Das ist der neue Zugang zu unserem Problem, den ich anzubieten habe.

Nach meiner Auffassung wird es kaum möglieh sein, von der Grundidee des Fouchet-Plans abzugehen. Mehr als regelmäßige Ministertreffen zum Zwecke der Information und der Besprechung werden nicht zu erreichen sein. Wir könnten trotzdem versuchen weiter-zukommen, und zwar indem wir unsere sechsjährige Erfahrung im Gemeinsamen Markt auf die neue politische Organisation anwenden.

Niemand, der mit der Arbeit dieser Organisation vertraut ist, wird die wichtige und tatsächlich oft entscheidende Rolle leugnen, die die Europäische Kommission darin spielt. Die Tatsache, daß der wirtschaftliche Fortschritt viel schneller als erwartet war und daß die Grundlage für eine Agrarpolitik geschaffen wurde, verdanken wir in großem Maße der Kommission oder zumindest dem ständigen Gespräch zwischen Regierungen, die ihre na-tionalen Standpunkte verteidigen, und der Kommission die die Intel essen der Gemein-schalt verlieht Warum sollen wir dieses erfolgreiche Experiment nicht auf den politischen Bereich ausdehnen?

Im ersten Stadium müßte es möglich sein, ein Organ aus drei Mitgliedern zu bilden. Seine Hauptaufgabe wäre es, den Boden für die Ministerkonferenzen vorzubereiten, alle getroffenen Entscheidungen durchzuführen und auf Grund seiner Erfahrungen den Entwurf eines Vertrages über die Schaffung eines Vereinten Europas auszuarbeiten. Dieser Dreierausschuß würde keine Entscheidungsgewalt haben; sie würde ganz den Ministern vorbehalten bleiben Einer der Grundzüge des Konzeptes des „Europas der Vaterländer“ bliebe damit aulrechterhalten. Andererseits würde die Vereinbarung über den Dreierausschuß das Anerkenntnis beinhalten, daß es einen gemeinschaftlichen Standpunkt gibt, der dem nationalen Standpunkt entgegengesetzt sein kann. Die Lösung einiger der Probleme, die sich aus diesem Gegensatz ergeben, kann späterhin im Gespräch gefunden werden. Das könnte die Basis für ein Übereinkommen sein, wobei sich die Parteien mit einem sofortigen bescheidenen Ergebnis begnügen würden, der Gemeinschaftsstandpunkt jedoch anerkannt würde und die Zukunft offen bliebe.

Französische Vorbedingungen

Es schien vor nicht langer Zeit so, als ob eine Wiederaufnahme der Verhandlungen auf dieser Basis vernünftigerweise erwartet werden könne. Einige letzthin gehaltene Reden des Außenministers Couve de Murville und des Premierministers Pompidou haben jetzt eine neue Lage geschaffen. Nach ihrer Ansicht gäbe es drei Vorbedingungen für einen neuen Versuch einer politischen Einigung Europas.

Zu allererst muß eine Lösung des Getreidepreisproblems im Gemeinsamen Markt gefunden werden Wenn diese Frage geregelt ist, kann Europa nur dann Fortschritte machen, wenn man sich auf eine europäische Außenpolitik einigen könnte und wenn ein Übereinkommen über ein gemeinsames Verteidigungssystem — und insbesondere über die atomare Verteidigung — erreicht worden ist.

Nun erhebt sich die Frage des diplomatischen Vorgehens. Wie reagiert man am besten auf die kategorischen französischen Erklärungen?

Manche lassen sie unbeachtet, indem sie vorgeben, sie nicht zu verstehen. Sie versuchen, die vorhandenen Schwierigkeiten zu überwinden, indem sie wegsehen und so wenig wie möglich darüber sprechen, in der Hoffnung, daß sich alles von selbst löse. Andere (und dazu gehöre ich) sind der Auffassung, daß es zu nichts Gutem führt, wenn man Tatsachen einfach nicht sehen will, und daß man ihnen entschlossen die Stirn bieten solle. Mit anderen Worten, eine frühzeitige, offene und umfassende Auseinandersetzung zwischen beiden Standpunkten ist erforderlich.

Wir wollen die französischen Vorbedingungen prüfen und sehen, was damit anzufangen ist.

Was den Getreidepreis angeht, so scheint mir die französische Haltung aus zwei Gründen gerechtfertigt. Es ist schier unbegreiflich, daß eine gemeinsame Agrarpolitik zu entwickeln nicht möglich sein sollte, während der Gemeinsame Markt auf industriellem Gebiet schnellere Fortschritte als vorgesehen macht. Selbst wenn die Bestimmungen über die Landwirtschaft im Vertrag von Rom eine Tendenz zur Ungenauigkeit haben, so fordert der Geist des Vertrages sicherlich gleichlaufende Bemühungen in der Industrie und in der Landwirtschaft.

Man sollte auch nicht vergessen, daß im Januar 1962 die sechs Regierungen, die zu dem Gemeinsamen Markt gehören, entschieden haben, daß der Getreidepreis endgültig am 31. Dezember 1969 festgesetzt und daß in der Zwischenzeit allmählich die Kluft zwischen den Preisen in den verschiedenen Ländern verringert werde. Aber 1962, 1963 und 1964 wurde diesbezüglich nichts unternommen. Die Franzosen verlangen zu Recht, daß die Verpflichtung eingehalten werden muß, und jetzt scheint es dazu zu kommen. Deutschland hat die Bereitschaft gezeigt, seinen Getreidepreis zu senken, und wenn es auch nicht ganz, den französischen Wünschen nachkommt, scheint ein Übereinkommen in erreichbare Nähe zu rücken. Idi bin deshalb zuversichtlich, daß die «Agrarkrise* im Begriff ist, gelöst zu werden. Wenn das sich als falsch erweist, wird die Lage sehr ernst, denn alle europäischen und atlantisdien Gespräche werden viel schwieriger, wenn nidit unmöglich werden. Aber wollen wir uns jetzt, immer auf der Basis meiner optimistischen Annahmen, den noch verbleibenden Schwierigkeiten zuwenden.

Die Frage der atomaren Verteidigung

In der französischen Haltung ist fast immer ein harter Kern von Logik. Wenn die Franzosen behaupten, daß es kein geeintes Europa geben kann, bevor es gemeinsame Außenpolitik gibt, und daß eine gemeinsame Außenpolitik nicht zustande kommen kann, solange es verschiedene und sogar miteinander unvereinbare europäische Verteidigungssysteme gibt, muß man zugeben, daß sie recht haben. Es fragt sich nun, ob das Europa der Sechs sich auf eine gemeinsame Außenpolitik einigen und Übereinstimmung über die Probleme der atomaren Verteidigung erreichen kann. Sollte es eine europäische Außenpolitik geben und wie sollte sie aussehen? Die Antwort ist einfach. Natürlich muß ein vereinigtes Europa eine gemeinsame Außenpolitik haben. Diese Politik darf nicht antiamerikanisch sein, noch darf sie das Europa der Sechs von der angelsächsischen Welt trennen. Wenn diese Voraussetzungen nicht akzeptiert werden, ist jede weitere Diskussion zwecklos.

Ich persönlich glaube, daß ein Übereinkommen erreicht werden kann. Alle jene, die in den letzten Jahren für ein vereintes Europa gearbeitet haben, haben keinen Augenblick daran gedacht, daß das Europa, dem sie wieder seinen Platz in der Welt verschaffen wollten, indem sie es stark genug ausstatteten, um diese Stellung einzunehmen, ein Satellit der Vereinigten Staaten würde. Dieses Europa sollte ein geachteter Partner der Vereinigten Staaten sein. Es sollte imstande sein, mit ihnen gleichberechtigt zu handeln und zu verhandeln. Das ist Voraussetzung, aber ebenso selbstverständlich ist, daß die Einigkeit der westlichen Welt aufrecht erhalten werden muß. Keines der neuen Probleme, denen die Welt gegenübersteht — weder die Entwicklung der kommunistischen Länder, noch der Konflikt zwischen der Sowjetunion und China, noch die wachsende politische Bedeutung der afroasiatischen Länder, noch die Tatsache, daß die USA nicht mehr das Atomwaffenmonopol haben —, rechtfertigt die geringste Schwächung der westlichen Solidarität.

Im Augenblick genügt ein aufrichtiges Übereinkommen in Prinzipienfragen. Da zur Zeit eine supranationale Instanz nicht zur Diskus-sion steht und da in den letzten Fragen die Regierungen ihre Entscheidungsfreiheit beibehalten, besteht keine Notwendigkeit für ein Übereinkommen über jede nur denkbare Meinungsverschiedenheit, die möglicherweise auftauchen kann. So wünschenswert es auch sein kann, in allen Fällen Übereinstimmung zu erzielen, so ist nichtsdestoweniger ein gewisser Spielraum akzeptabel.

Das Problem, zu einer gemeinsamen Haltung in der Frage der atomaren Verteidigung zu kommen, ist weit schwieriger, weil die instinktive Reaktion der verschiedenen europäischen Länder sehr unterschiedlich ist. Sie hängt nämlich von ihrer Stärke, ihrem Platz in der Welt und ihren Traditionen ab. Es wäre närrisch zu erwarten, daß Frankreich und Belgien in derselben Weise auf ein Problem dieser Art reagierten. Frankreich kann sich mit Recht weigern, sich in gewisse Situationen zu bringen, mit denen Belgien sich abfinden würde. Belgien kann seine Zustimmung dazu geben, daß die Vereinigten Staaten ein Monopol für Atomwaffen im Westen haben; es kann sich damit einverstanden erklären, daß die atomare Verteidigung Europas den Vereinigten Staaten anvertraut wird; es fordert nicht, an der Planung der atomaren Strategie teilzunehmen oder die Plane zu verwirklichen. Jedoch sind Wege, die für eine kleine Nation möglich sind, nicht unbedingt für eine große Nation gangbar.

Die Franzosen scheinen die Möglichkeit eines Krieges mit konventionellen Waffen in Europa nicht auszuschließen, in dem der Angreifer beachtliche Erfolge erzielen kann, ohne daß die Vereinigten Staaten sich zu einem atomaren Gegenschlag entschließen. Diese Hypothese scheint mir unhaltbar. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Sowjetunion einen Angriff gegen Europa mit konventionellen Waffen unternimmt und es den Vereinigten Staaten überläßt, den Zeitpunkt und die Art des Gegenschlages selbst zu wählen. Nach Lage der Dinge halte ich es für ausgeschlossen, daß die USA ihre Armeen in Europa vernichten lassen, ohne von der ungeheuren Atommacht Gebrauch zu machen, die sie dort konzentriert hat.

Die Idee eines Atomdirektoriums

Was ich für richtig oder für falsch halte, ist jedoch im Augenblick ohne Bedeutung. Ich versuche, den französischen Standpunkt zu verstehen, und ich bin überzeugt, daß General de Gaulle niemals mit einer Abhängigkeit Frankreichs von den Vereinigten Staaten in bezug auf atomare Verteidigung einverstanden sein wird. Das ist eine Tatsache, die nicht übersehen werden kann.

Ist es unter diesen Umständen nicht möglich, ein System atlantischer Verteidigung zu konzipieren, das einigen Ländern erlauben würde, ihre eigenen Atomwaffen im Falle eines nationalen Notstandes zurückzuziehen? Könnte diese Regelung, die für die konventionellen Streitkräfte innerhalb der NATO gilt, auf Atomwaffen ausgedehnt werden?

Sollte solch ein atlantisches atomares Verteidigungssystem geschaffen werden, so müßten dessen Einsatzpläne andererseits mit den Einsatzplänen der ausschließlich unter amerikanischem Kommando stehenden Atomwaffen koordiniert werden. Auf diese Art käme es notwendigerweise zu einer Zusammenarbeit bei der Verteidigung Europas, und bestimmte Großmächte könnten bei der Ausarbeitung der Pläne für die atomare Strategie und bei ihrer Ausführung zusammenwirken.

Obwohl ich durchaus gegen ein politisches Direktorium der NATO bin, würde ich mich mit der Idee eines Atomdirektoriums ohne Zögern abfinden. Die Konzeption einer auf fünfzehn Regierungen aufgeteilten Entscheidungsgewalt, die in einer Krise versuchen würde, eine Übereinstimmung über den Einsatz von Atomwaffen zu erreichen, scheint mir unausführbar. Richtig hingegen scheint mir, daraufhin zu arbeiten, daß die Vereinigten Staaten sich mit den großen europäischen Mächten zur Verteidigung Europas zusammenschließen. Wer sich dagegen stellt, wird die Ausbreitung der Atomwaffen und die Bildung von nationalen atomaren Streitkräften — sicherlich die schlechteste aller möglichen Lösungen — nicht verhindern können.

Das Europa der Sechs und die NATO sind sich über die Schwierigkeiten, vor denen sie stehen, im klaren. Der französische Standpunkt ist deutlich. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Probleme, die er aufwirft, anzupacken und sie sofort in allen Einzelheiten zu durchdenken. Es stimmt einfach nicht, daß Probleme sich von selbst lösen. Aber wenn wir mit Freimut und Aufrichtigkeit und ein wenig Phantasie an sie herangehen, können wir die Solidarität des Westens erhalten und Europa eine Chance verschaffen, auf dem Wege zur Einigung voranzuschreiten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Paul-Henri Spaak, geb. 25. Januar 1899 in Schaefbeek/Brüssel, belgischer Außenminister und Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats, war von 1957— 1961 Generalsekretär der NATO, zuvor mehrfach belgischer Ministerpräsident und Außenminister sowie 1946 Präsident der Vollversammlung der Vereinten Nationen.