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NS-Verbrechen und Verjährung | APuZ 12/1965 | bpb.de

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APuZ 12/1965 Artikel 1 Verlängerung oder Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen NS-Verbrechen und Verjährung

NS-Verbrechen und Verjährung

Peter Schneider

Chancen und Risiken einer Diskussion

Die Diskussion über die Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen verläuft auf der Schnittlinie zwischen der Vergangenheit des Unrechtsstaates und der Zukunft des Rechtsstaates. Sie verläuft auf der Linie, auf welcher sich im Geltungsbereich des Grund-des GG als Resultante politischer Drucklagen bewertet und daß die Entscheidung nis, sondern eine Chance. Diese Chance ist freilich von Risiken belastet: Einmal durch das Risiko, daß die Frage nach der Reaktion des Auslandes allzusehr in den Vordergrund und die Frage nach dem Recht allzusehr in den Hintergrund gerückt wird. Es darf nicht sein, daß die Rechtsstaatlichkeit im Geltungsbereich des GG als Resultante politischer Drucklagen bewertet und daß die Entscheidung eines unabhängigen Parlamentes als Anpassungsreaktion in letzter Minute disqualifiziert werden kann. Zum zweiten ist das Risiko einzukalkulieren, daß Argumente durch Schlagworte ersetzt werden, daß die Gegner einer Verlängerung als Freunde des Unrechtsstaates, als Verbündete von NS-Verbrechern und daß die Befürworter der Verlängerung als Feinde der Rechtsstaatlichkeit diskriminiert werden. Nicht nur die komplexe Problemlage läßt solcherlei einfältige Vereinfachungen nicht zu. Sie sind auch mit der Würde einer umgreifenden Diskussion nicht vereinbar, aus der eine richtige Entscheidung erwachsen soll, eine Entscheidung, durch welche die ihr entgegenstehenden Argumente nicht verdrängt, sondern verarbeitet sind.

Zur Minderung dieser Gefahren und zur Erreichung des anzustrebenden Ziels können Vertreter der Rechtswissenschaft beitragen, und zwar in zweifacher Weise: indem sie die rechtliche Problematik darlegen, indem sie den Horizont der möglichen Argumente un-verkürzt zeigen; zum andern, indem sie zeigen, daß auch Problemlösungen vielfach nicht unproblematisch sind. Das hat damit nichts zu tun, daß Entscheidungsaskese zur Eigentümlichkeit wissenschaftlichen Argumentierens gehöre. Engagierte Wissenschaft ist nicht eo ipso Nichtwissenschaft, solange nicht, als ihr bewußt bleibt, daß Rechnungen nur selten aufgehen und daß Problemlösung und Problemerlösung zweierlei sind.

Rechtsstaat und Selbstbescheidung

Unter einem Rechtsstaat versteht man zunächst einen Staat, in dem Recht geschieht, im Gegensatz zu einem Staat, in dem Unrecht geschieht. Unter Recht wird nicht selten das gesetzte Recht, das Gesetz verstanden. Insofern kann man dann von einem formalen Rechtsstaatsbegriff sprechen, als Recht und das formale Gesetz zwar in eins gesetzt werden, das „Was" des Rechtes, sein Inhalt dagegen offen bleibt. Demgegenüber wird etwa der Rechtsstaat im Sinne des GG als Rechtsstaat im materiellen Sinne, als ein Staat zu gelten haben, in dem Gerechtigkeit geschieht und geschehen soll. Vielfach ist auch die Rede von der Wandlung des altliberalen formellen zum gegenwärtigen materiellen Rechtsstaatsbegriff. Soweit mit dieser Redeweise die positivistische-formalistische Formel, daß jeder Staat Rechtsstaat sei, zurückgewiesen wird, soweit so gut.

Fraglich bleibt indessen, was mit der Wendung vom materiellen Rechtsstaat gewonnen, vorab ob damit eine Abgrenzung zwischen Rechts-und Unrechtsstaat ermöglicht werde. Schließlich wird man nicht verkennen können, daß die totalitären Staaten unserer Zeit sich keineswegs als bloße Machtbildungen, sondern im Verhältnis zum bürgerlichen Rechtsstaat als Träger einer höheren und umfassenderen Gerechtigkeit verstehen, in deren Namen Gewalttat und Greueltat gerechtfertigt werden: „Wo gehobelt wird, da fliegen Späne." Ja, es zeigt sich eine unheimliche Nachbarschaft zwischen Gerechtigkeitsidee und Gewaltsamkeit, deren Wirkkraft weit über den totalitären Bereich hinaus von Soziologen und auch von großen Schriftstellern (wie Camus) registriert und beschrieben worden ist. Aus diesem Grund genügt der Rück-griff auf die Gerechtigkeitsidee nicht, um den materiellen vom formellen Rechtsstaat und damit auch vom Unrechtsstaat abzugrenzen. Es genügt auch der Rückgriff auf die Menschenrechte und die Menschenwürde nicht: Unmenschlichkeiten sind oft im Namen der Menschheit und der Menschlichkeit begangen worden. Erforderlich ist vielmehr die Selbst-bescheidung voraussetzende Einsicht, daß Menschen Gerechtigkeit nur in Gefahr der Selbstgerechtigkeit, Menschlichkeit nur in Gefahr der Unmenschlichkeit verwirklichen können. Von dieser Einsicht aus, allein von ihr aus, wird auch der Sinn der den geschichtlich gewordenen Rechtsstaat bestimmenden Prinzipien wahrnehmbar: der Gewaltenteilung einerseits und der Grundrechtsgarantien andererseits. Gewaltenteilung und Grundrechts-garantien bleiben in ihrem Sinn all denen verschlossen, die im Wahn leben, Gerechtigkeit, die sie meinen, sei mit allen Mitteln ins Werk zu setzen. Komplizierte Zuständigkeitsabgrenzungen, Sicherungen von Bereichen individueller Freiheit erscheinen ihnen als lästige Formalitäten und als Hindernisse auf dem Weg zum großen Ziel. Wo sich ein Abgrund an Landesverrat öffnet, da muß eben scharf durchgegriffen werden, und wo es gilt, Unmenschlichkeit zu verfolgen, müssen, wie man zu sagen pflegt, „rein formalrechtliche"

Bedenken zurücktreten. Der Rechtsstaat ist der Staat, in dem mit der Möglichkeit der Diskrepanz zwischen Gerechtigkeit und Macht stets gerechnet wird, der Unrechtsstaat derjenige, in dem diese Möglichkeit geleugnet wird. Im Rechtsstaat wird die Möglichkeit der Fehlleistung von vornherein in Rechnung gesetzt: Wenn eine Fehlleistung im Rahmen der rechtssprechenden Gewalt trotz aller Kautelen eintritt, so ist zwar Kritik am Platz, nicht aber eine Änderung der Zuständigkeitsordnung, nicht aber ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit. Denn aufs Ganze gesehen dient, wie die Erfahrung zeigt, die Form-strenge der Verwirklichung materieller Gehalte besser als das ungestüme Drängen, um des Inhalts willen die Form im Einzelfall zu zerbrechen. Denn das Ungestüm ist kein besserer Ausweis für das Richtige als rationale Erwägung, die oft zwar zur Fehlrechnung führt.

Nulla poena sine lege und der Sinn der Verjährung

Diese Überlegungen sind zunächst am Beispiel des Art. 103, II GG, wonach eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde, zu konkretisieren. Die Vorschrift verbietet rückwirkende und Strafgesetze unbestimmten Inhalts. Es handelt sich um eine, wenn man so will, Formvorschrift. Aber diese Formvorschrift bezieht sich unverkennbar auf materiale Gehalte. So dient dem Schutz der individuellen Freiheit. Entscheidend ist der Gedanke, von einer Freiheitsgarantie könnte keine Rede sein, wenn der einzelne sich nicht darauf verlassen dürfte, daß im Augenblick seines Handelns überschaubar und berechenbar sei, welche Handlungen erlaubt und welche nicht erlaubt seien, welche Strafe nach sich ziehen und welche nicht. Lassen wir dahingestellt, inwieweit die klassische Theorie zutrifft, daß dem Menschen die Chance des richtigen Verhaltens nur dann zukomme, wenn er in seinem höchst-persönlichen „Haushaltsplan" die steuernde Furcht vor Strafe mit einkalkulieren könne.

Wichtiger ist es, daß die mit der Formel nulla poena sine lege gegebenen Gebote und Verbote den Träger der Strafgewalt an ungehemmten und auch willkürlichen Gebrauch dieser schneidenden Waffe hindern und daß so Raum für von der Menschenwürde geforderte freie Dispositionen entsteht. Die Verbindung von Rationalität, Rechtsstaatsprinzip und Grundrechtsgarantie wird dergestalt deutlich. Die Gefahr, daß der Staat nur unzureichend auf verbrecherischen Willen zu reagieren vermag, gilt weniger als die Gefahr, die für den einzelnen überall eintritt, wo er sich einer ungebundenen Strafgewalt gegenüber sieht. Freilich kann nicht verkannt werden, daß die Rechnung nur solange einigermaßen stimmt, als wir es mit rechtsstaatlichen Verhältnissen zu tun haben. Wenn der Dammbruch eingetreten und im Namen einer neuen oder uralten grausamen Gerechtigkeit die rechtsstaatlichen Formprinzipien zerstört und ungehemmt Freiheit und Menschenwürde verletzt werden und wenn dann schließlich rechtsstaatliche Verhältnisse wiederherge-stellt werden, kann man dann so tun, als ob nichts geschehen wäre, und Verhaltensweisen, die vom Boden des Rechtsstaates aus als unmöglich gelten, in den Schutz rechtsstaatlicher Formprinzipien stellen? Gilt für den staatlich gebilligten Mord nulla poena sine lege? Kann sich derjenige, der sich gegen die Menschenwürde vergangen hat, auf Prinzipien berufen, die dem Schutz der Menschenwürde dienen? Die Problematik ist alt und sie ist zugleich von erregender Aktualität. Man kann sie nicht in einer einfachen Lösung auflösen. Differenzierungen sind erforderlich. Fest steht, daß es nicht angeht, auf dem Boden des Rechtsstaates Mittel einzusetzen, die auf dem Boden des Unrechtsstaates ohne weiteres eingesetzt werden: seelische und physische Peinigung der Angeschuldigten, Verweigerung des rechtlichen Gehörs, Beseitigung des Grundsatzes in dubio pro reo und der damit verbundenen Prinzipien. Allerdings wird man nicht übersehen können, daß das Selbstverständlichste in Frage gestellt ist, wenn es gilt, Unmenschlichkeiten zu ahnden. Die Warnung des Richters Powers im Wilhelmstraßen-Prozeß davor, die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung zu verkehren, ist noch nicht vergessen Die Forderung nach einem rechtsstaatlichen Verfahren ist somit an sich eine Selbstverständlichkeit, wenn auch ihre Verwirklichung in Auseinandersetzung mit Vorgängen im Unrechtsstaat auf Schwierigkeiten stoßen mag.

Anders, zumindest nicht gleich, verhält es sich dem Grundsatz mit nulla poena sine lege. Taten, welche von einem Unrechtsstaat zur Zeit ihrer Begehung gebilligt, ja gefordert wurden, waren in diesem Zeitpunkt eben nicht mit Strafe bedroht. Darüber hilft auch der Hinweis nur unzureichend hinweg, daß das ordentliche Strafrecht auch in diesem Zeitpunkt gegolten habe. Gelangt man nicht zu einer eigentlichen Verniedlichung der Verhältnisse im Unrechtsstaat, wenn man davon ausgeht, daß die Verwirklichung des Strafanspruches bezüglich der genannten Taten bzw. Untaten vorübergehend unmöglich gewesen sei? Angemessener ist es m. E. klar einzugestehen, daß es Verhaltensweisen gibt, welche, gleichgültig wie das positive Gesetz sich jeweils zu ihnen stellt, nach überpositivem Gesetz als Verbrechen zu gelten haben.

Dabei wird man nicht übersehen dürfen, daß eine solche Argumentation gerade die mit dem Grundsatz nulla poena sine lege gegebenen Prinzipien in Gefahr bringt. Diese Gefahr ist auch dadurch nicht beseitigt, daß man die wider positives Gesetz verstoßenden Taten mit den durch das Strafgesetzbuch unter Strafe gestellten Verhaltensweisen identifiziert. Auf alle Fälle wären ergänzende, klarstellende, der Beispiellosigkeit der Verbrechen im Un-rechtsstaat Rechnung tragende Vorschriften des rechtsstaatlich legitimierten Gesetzgebers erforderlich gewesen.

Der Konnex zwischen Grundrechtsgarantie und dem Grundsatz nulla poena sine lege ist offenkundig. Wo es dem Gesetzgeber frei-steht, strafrechtliche Biankettgesetze oder rückwirkende Strafgesetze zu erlassen, kann von Grundrechtsgarantie und Rechtsstaatlichkeit nicht gesprochen werden. Handelt es sich indessen um die Notwendigkeit, rechtsstaatliche Verhältnisse wiederherzustellen, da ist der Rückgriff auf das überpositive Gesetz nicht zu vermeiden, um Untaten, die im Un-rechtsstaat gebilligt oder gefordert waren, in rechtsstaatlich einwandfreien Verfahren und nach Maßgabe möglichst klarer Vorschriften zu ahnden.

In der Diskussion über die Verlängerung der Verjährungsvorschriften für NS-Verbrechen ist die Auffassung vertreten worden, daß es sich dabei um ein Problem handelt, das ebenfalls vom Grundsatz nulla poena sine lege aus gelöst werden müßte. Wenn es dem Gesetzgeber versagt sei, rückwirkend Strafgesetze zu erlassen, so sei es ihm auch versagt, die zeitliche Begrenzung seiner Strafkompetenz im nachhinein aufzuheben oder zu erweitern. Ich kann diese Auffassung nicht teilen. Ich meine, daß im einen wie im anderen Falle verschiedene rationes zu verzeichnen sind, welche das beiden Fällen gemeinsame Moment der nachträglichen Erweiterung der staatlichen Zugriffskompetenz als ein äußeres erweisen. Das zeigt sich m. E. am Normalfall deutlich. Während im Normalfall von einem grundrechtlich geschützten Anspruch gesprochen werden kann, für eine Tat nicht bestraft zu werden, die zur Zeit der Begehung straffrei war, so wird man doch kaum von einem Grundrecht des Mörders sprechen können, nach 20 Jahren außer Verfolgung gesetzt zu sein. Mit Werner Maihofer halte ich dafür, daß ohne diese Voraussetzung die Regelung des § 69 I StGB, wonach die Ver-jährung während der Zeit ruht, in welcher auf Grund gesetzlicher Vorschrift die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann, unverständlich wäre.

Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die Frage der Verlängerung von Verjährungsfristen unter rechtsstaatlichen Aspekten unbedenklich sei. Im Gegenteil.

Sinn der Verjährung

Welches ist der Sinn von Verjährungsfristen im Strafrecht? Sie berücksichtigen die Wirkung des Zeitablaufs. Sie berücksichtigen menschliche Schwächen. Schließlich berücksichtigen sie, daß — so hart und gebieterisch der Ruf auch sein mag: „hier muß etwas geschehen!" — Recht nur geschehen kann in den Bedingungen, unter denen endliche Menschen stehen.

Sie berücksichtigen menschliche Schwächen:

die Schwäche des Erinnerungsvermögens und des Einfühlungsvermögens. Auch im Normalfall — wer wüßte das nicht — sind Zeugenaussagen mit Vorsicht zu behandeln. Phantasie, Vorurteil und Prestigebedürfnis verzerren das Bild des Geschehenen, und zwar durchaus im Rahmen der Wahrhaftigkeit, selbst dann, wenn es nur kurze Zeit zurückliegt. Je länger die festzustellenden Sachverhalte zurückliegen, desto stärker treten die das an sich nicht allzu starke Erinnerungsvermögen beeinträchtigenden subjektiven Momente in Erscheinung.

Je größer die zeitliche Distanz, desto größer auch die Schwierigkeit für den Richter, sich ins Geschehene einzufühlen, die Geschehnis-abläufe nachzuvollziehen, sich in die Motivation der Beteiligten einzudenken und sich von Schematismen freizuhalten.

Die Verjährungsfristen berücksichtigen Momente, die unter dem Titel Rechtssicherheit zusammengefaßt werden. Dabei geht es keineswegs in erster Linie um die Rechtssicherheit des Täters, darum, daß er nach einem bestimmten Zeitablauf in Sicherheit vor dem Zugriff des Rechtes versetzt wird. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Sicherheit all deren, die als Täter in Betracht kommen, von denen man nicht von vornherein sagen kann, ob sie Täter sind oder nicht. Es gehört zu den größten Kulturerrungenschaften, daß der rechtsstaatliche Prozeß — der spontanen Neigung zuwider, für jede Tat auch sogleich auf einen Täter zu greifen — von der Unschuldsvermutung zugunsten des einzelnen bestimmt ist. Je größer der zeitliche Abstand zu einer Tat, je geringer das Erinnerungsvermögen der Zeugen und das Einfühlungsvermögen der Richter, desto größer zugleich die Gefahr für den zu Unrecht Verdächtigten, daß seine Unschuld un-erweislich wird, desto größer die Chance für den zu Recht Verdächtigten, daß seine Schuld unerweislich wird. So stehen denn Verjährungsfristen vorab im Dienste des zu Unrecht Verdächtigten und gewinnen ihren Rechtfertigungsgrund aus dem Satz, daß es besser sei, zu Unrecht einen Täter aus dem Zugriff des Rechtes entkommen zu lassen, als einen Unschuldigen diesem Zugriff zu unterwerfen. Der Rechtssicherheit dienen Verjährungsfristen aber auch insofern, als sie die Gerichte vor Überforderungen schützen, die da eintreten, wo Erinnerungsvermögen und Einfühlungsvermögen erfahrungsgemäß zu versagen drohen und mit Beweisnotständen in vermehrtem Maße zu rechnen ist.

Schließlich dienen Verjährungsfristen der Rechtssicherheit dadurch, daß sie dem Rechts-frieden dienen. Dazu nur dies: Mit dem Eintritt des Fristablaufs wird die Frage außer Streit gesetzt, ob und gegen wen ein Strafanspruch gegeben sei. Es kann dahingestellt sein, ob der Strafanspruch als solcher erlischt oder ob die Möglichkeit, ihn durchzusetzen, entfällt. Persönlich halte ich allerdings dafür, daß es sich um die Durchsetzbarkeit, nicht um den Strafanspruch und die Strafbarkeit an sich handelt. Wie dem auch sei: es tritt Ruhe ein.

Gerade unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich der oft beschworene Gegensatz zwischen formellem und materiellem Recht besonders deutlich. Die Forderung nach Verwirklichung des materiellen Rechtes wird unerfüllbar. Aber man täusche sich nicht: Sie wird nicht unerfüllbar, da die Form der Verjährung allenfalls um der äußeren Ordnung willen gegenüber materialen Werten vorzuziehen ist. Nein, Form und Inhalt, formeller und materieller Rechtsstaat stehen sich nicht schroff entgegen.

Die Form erweist sich vielmehr als Ausdruck materialer Werte, denen in Hinblick auf die mit dem Zeitablauf gegebenen Lage allenfalls gegenüber den mit dem Strafanspruch verbundenen Werten der Vorzug zukommt.

Verjährung und Verjährungsverlängerung als Frage rechtsstaatlicher Güterabwägung

Die Frage, wieweit Verjährungsfristen zulässig sind, ist somit eine Frage der Güter bzw.der Chancen-und Risikenabwägung, eine Frage also, die nur selten dergestalt beantwortet werden kann, daß eine Harmonie der implizierten Werte erreicht wird, deren Beantwortung vielmehr zumeist im Sinne der Entscheidung für das geringere Übel ausfällt. Das gleiche gilt für die Verlängerung von Verjährungsfristen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 18.9.52 in bemerkenswerter Kürze dargetan, daß das hessische Gesetz zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 29. Mai 1946, das nachträglich eine Hemmung von Verjährungsfristen eingeführt hat, weder gegen Art. 1, I GG noch gegen Art. 103, II GG verstoße. „Nicht ersichtlich ist, inwiefern eine Strafverfolgung nach langer Zeit die Menschenwürde verletzen sollte. Die Strafverfolgungs-Verjährungsfristen liegen nach § 67 StGB je nach der Schwere der Straftat zwischen Monaten und 15 Jahren. Schon nach dieser Bestimmung kann also von der Notwendigkeit einer alsbaldigen Ahndung jeder Straftat nicht die Rede sein." Das Ahnungsgesetz enthalte im übrigen nur einen weiteren Anwendungsfall des in § 69 StGB ausgedrückten Rechtsgedankens, „daß die Verjährung nicht laufen kann, solange der Wille der Verfolgungsbehörde rechtlich gehemmt ist." Zu Art. 103, II GG führt das Gericht aus, daß das Verbot rückwirkender Strafgesetze durch ein Gebot, das die Bestimmungen über die Hemmung der Strafverfolgungsverjährung mit Wirkung auch für bereits begangene Taten ergänzt, nicht entgegenstehe. Art. 103 II GG betreffe allein die Strafbarkeit einer Tat, nicht aber die Frage der Verjährungsverlängerung für Taten, die zur Zeit ihrer Begehung strafbar waren. Wenn man dieser Auffassung auch beipflichtet und die Problematik der Verjährungsverlängerung im Sinne des Gerichtes aus dem materiellen Recht ausgliedert und dem Prozeßrecht zuordnet, so bleibt doch das Problem der verfassungsrechtlich relevanten Güterabwägung bestehen. Die Entscheidung gibt nicht einfach die Bahn für ein Verlängerungsgesetz frei. In concreto handelt es sich um die Frage, ob die Verjährungsfristen für Morde, die unter dem NS-Regime begangen wurden, verlängert werden können oder nicht, üblicherweise gilt: je schwerer die zu bestrafende Tat, desto länger die Verjährungsfrist. Das Interesse an der Strafverfolgung wird in solchen Fällen höher bewertet als die mit dem Eintritt der Verjährung verbundenen Interessen. In der Konsequenz einer solchen Güterabwägung könnte es liegen, daß für gewisse Verbrechen die Verjährbarkeit überhaupt ausgeschlossen wird. Die Tendenz zu einem solchen Resultat zeichnet sich in der gegenwärtigen Diskussion mit großer Deutlichkeit ab. Die in Frage stehenden NS-Verbrechen sind, wie Hannah Arendt in ihrem Buch über Eichmann formulierte, beispiellos 3). Beispiellos der Wahn, aus dem sie entstanden; beispiellos die Art der Begehung; beispiellos das Leid, das sie wirkten; beispiellos vor allem das, was Hannah Ahrendt „die Banalität des Bösen" nennt, welche in den Funktionären der grauenhaften Vernichtungsmaschinerie, die zur „Judenendlösung" eingesetzt war, zum Ausdruck kam. Kein Wunder, daß solche Beispiellosigkeit zur Frage führt, ob sie mit den Mitteln rechtsstaatlicher Strafrechtspflege überhaupt zu bewältigen sei. Kein Wunder auch, daß aus dem Gefühl der Ohnmacht sonderbare neue Wege für die Rechtssprechung vorgeschlagen worden sind, die tiefer noch in die Ausweglosigkeit führen würden; wie etwa der von Karl S. Bader zu Recht scharf zurückgewiesene Vorschlag, gewisse NS-Verbrecher für ihre „Missetat" zur Strafe der Verbannung zu verurteilen Mit Mitteln, die seinem Wesen fremd sind, kann der Rechtsstaat das furchtbare Erbe des Unrechtsstaates nicht bewältigen. Er bleibt auf die Mittel des ordentlichen materiellen und formellen Strafrechts angewiesen. Aber selbst wenn es gelingen würde, mit diesen Mitteln die letzte Untat abzuklären und den letzten Untäter seiner Strafe zuzuführen, so bliebe das nicht zu Bewältigende bestehen, und das Eingeständnis, daß menschlicher Gerechtigkeit und menschlichem Gerechtigkeitsstreben Grenzen gesetzt sind, wäre von uns gefordert. Dieses Eingeständnis bedeutete nicht Kapitulation des Rechtes vor dem Beispiellosen, sondern schlicht Einsicht in die Grenzen des Rechts. In die empörte Forderung: das muß getilgt, gesühnt, vergolten, bewältigt werden, mischt sich der totalitäre, hybride Wunsch nach der entgültigen Lösung. Aus der Einsicht in die Grenzen des Rechts muß auch die Frage beantwortet werden: Reicht die Formel aus, „je schwerer die Tat, desto länger die Verjährungsfrist, für die schwersten Taten aber keine Verjährung?" Ich muß die Frage verneinen. Diese Formel reicht nicht aus. Es geht nicht an, die Waage derart einseitig zu belasten. Das Gewicht der Gegengewichte muß sorgfältig gewogen werden. Zu diesen Gegengewichten gehört: 1. die Erwägung, daß gerade bei Delikten wie den in Frage stehenden NS-Morden das Erinnerungsvermögen der Zeugen und Einfühlungsvermögen der Richter durch Zeitablauf stark beeinträchtigt werden. Je größer der zeitliche Abstand zum Unfaßlichen, desto größer der Raum für Selbsttäuschung, für Projektionen und Schematisierungen. Die Vermutung, daß die Gerichte mehr und mehr mit Zweifelsfragen konfrontiert werden, enthält einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad.

2. die Erwägung, daß gerade bei solchen Delikten trotz der genannten Auswirkungen des Zeitablaufs die empörte Forderung: „es muß etwas geschehen" wirkkräftig bleibt und die Gerichte, vielfach nach der Maxime „in dubio pro reo" zu urteilen genötigt, schweren Belastungen ausgesetzt sind und vorab Freisprüchen und milden Strafen die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird.

3. die Erwägung, daß mit fortschreitendem Zeitablauf die Gefahr von Fehlurteilen nicht ab-, sondern zunimmt.

4. die Erwägung, daß je länger Verfahren durchgeführt werden, durch die Prozesse der Prozeß der selbstverantwortlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gehemmt werde-, daß die Meinung sich weiter verbreitet, wer nicht in einen Prozeß verstrickt sei, sei aus der Verantwortung entlassen; durch Schuld-und Freispruch werde die Situation bereinigt, man könne entlastet zur Tagesordnung übergehen.

Damit sind nur einige Erwägungen vorgetragen, die immerhin geeignet sein dürften, die Gewichtsverhältnisse entscheidend zu beeinflussen. Mit einigem Vorbehalt ist auf das Rechtsfriedensargument hinzuweisen. Es könnte das Mißverständnis herbeiführen, daß in dem Moment, in dem die Prozesse abgeschlossen seien, auch der Prozeß der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seinen Abschluß finde, daß dann Friede und Recht im ganzen eintrete. Rechtsfriede bedeutet lediglich, daß die Strafjustiz ihre Aktionen einstellt, und zwar deshalb, weil sie das nach menschlichem Ermessen ihr Mögliche erreicht hat. Die Aufgabe, noch nicht aulgehellte Sachverhalte aufzuhellen, das Geschehene aufzuklären und zu deuten bleibt selbstverständlich bestehen, und zwar als nobile officium nicht zuletzt der deutschen Geschichtswissenschaft. Freiheit für die Zukunft gewinnen wir nicht im Vergessen, sondern durch Aufklärung dessen, was war.

Ein weiteres Argument, das mit Vorbehalt vorzutragen ist: Daß der Zeitablauf eine Wandlung der Täterpersönlichkeit herbeiführe, daß aus dem Exzeßtäter von gestern der ruhige Bürger von heute geworden sei, der niemanden gefährde und demgegenüber ein Verfolgungsinteresse nicht bestehe. Ein Interesse daran, auch in solchen Fällen das begangene Verbrechen aufzudecken, die Schuld festzustellen, dürfte auch nach langem Zeitablauf noch bestehen, und zwar nicht zuletzt auch in Hinblick auf den Täter selbst. Freilich wird man auch in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten der Strafjustiz nicht überschätzen dürfen. Ein Argument für die Unverjährbarkeit von schwersten Delikten ist aus dieser Überlegung nicht zu gewinnen.

Besonderer Erörterung bedarf das Problem der Gleichheit:

Das Gleichheitsproblem

In der bereits erwähnten Entscheidung des BVerfG vom 18. 9. 52 setzt sich das Gericht mit der Frage auseinander, ob das hessische Ahndungsgesetz gegen Art. 8, I GG verstoße. Es verneint die Frage mit folgender Begründung: Das Gesetz geht von der Tatsache aus, daß während der nationalsozialistischen Herrschaft unter völliger Mißachtung rechtsstaatlicher Grundsätze Straftaten nicht verfolgt wurden, weil sie von den damaligen Machthabern teils veranlaßt oder gefördert, teils gern geduldet wurden. Die straflose Ermordung von Millionen jüdischer Mitmenschen ist dafür das äußerste Beispiel, doch zeigten sich in geringeren Aus-maßen ähnliche Erscheinungen, wenn die Betroffenen ... zu den politischen Gegnern der Nationalsozialisten gehörten ... Es gehört zu den Folgen dieser Mentalität, daß Straftaten, die den damaligen Machthabern genehm waren, nicht verfolgt wurden und dadurch verjährten. Das Ahndungsgesetz verletzt also nicht die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern unternimmt es gerade um der Menschenwürde willen, die verletzte Gleichheit in diesem Bereich wiederherzustellen." (426 f)

Als völlig verfehlt bezeichnet im weiteren das Gericht die Auffassung, man hätte um der Gleichheit willen alle Fristen des § 67 StGB für die Zeit von 1933 bis 1945 hemmen müssen. „Hier wird irrigerweise aus dem Grundsatz der Gleichberechtigung ein allgemeines Verbot an den Gesetzgeber hergeleitet, gegenüber einer Grundregel unter gewissen Bedingungen eine Sonderregelung zu schaffen. Um der Gleichberechtigung willen ist nur zu fordern, daß die Sonder-regel ebenso wie die Grundregel nicht für den konkreten Fall für oder gegen eine bestimmte Personengruppe geschaffen wird, sondern daß sie auf sachlichen Erwägungen beruht und allgemein, abstrakt gefaßt ist, also auf eine unbestimmte Zahl von Fällen paßt." (427)

Was ergibt sich hieraus für die vorliegende Problematik? Das hessische Ahndungsgesetz vom 29. Mai 1946 statuiert, daß für bestimmte Straftaten die Rechtsvorteile der Verjährung bezüglich der Zeitspanne vom 30. Januar 1933 bis zum 1. Juli 1945 dem Angeklagten nicht zustünden. Es verlängert die gesetzliche Frist nicht; es hemmt ihren Lauf. Insofern ist die Sachlage eine andere als da, wo nachträglich eine Verjährungsfrist durch Gesetz verlängert oder überhaupt aufgehoben wird. Dieser Unterschied ist denn auch in der gegenwärtigen Diskussion in Erscheinung getreten. Während die einen eine Hemmung des Fristlaufes forderten — eine Fristhemmung sei z. B. bis zum Jahre 1949 oder zum Jahre 1955 anzunehmen —, fordern die anderen Fristverlängerung bis zu zehn Jahren bzw. Fristabschaffung.

Für das BVerfG war die Problematik des Gleichheitssatzes relativ leicht zu lösen. Auf der einen Seite sah es eine Gruppe von Straftaten, um derentwillen aus Gründen, die im NS-Regime lagen, nicht verfolgt wurde, auf der anderen Seite eine Gruppe von Straftaten, um derentwillen verfolgt wurde. Zudem berücksichtigte es eine Gruppe von Mitmenschen, denen im Zeitraum von 1933 bis 1945 Rechtsschutz versagt war. Daß das Gericht auch die Position der Verletzten berücksichtigt, ergibt sich aus der Formulierung, wonach „die nationalsozialistischen Machthaber den durch die Straftat Verletzten als minderwertig ansahen, ja ihm menschliche Würde gänzlich absprachen." (427) Ein Gesetz, das unter solchen Gesichtspunkten geschaffen wurde, verletzt die Gleichheit nicht, sondern stellt eingetretene Ungleichheit wieder her. Eines ist freilich unübersehbar: Das Gericht hat es mit einem eindeutig fixierten Zeitabschnitt zu tun. Gleichheit wird insofern hergestellt, als die Zeit des NS-Regimes für die Fristberechnung außer acht bleibt. In diesem Zeitabschnitt ist die ungerechte Ungleichheit eingetreten. Die Gleichheit wird wieder hergestellt, indem eben dieser Zeitabschnitt für den Lauf der Frist unbeachtlich bleibt. So wird die Ungleichheit für die im Regime Bevorzugten und Benachteiligten in einer, man möchte sagen, rechnerisch einwandfreien Form ausgeglichen.

Komplizierter ist das Uberlegungsschema, wenn man sich darum bemüht, die Abschaffung oder die Verlängerung von Verjährungsfristen am Gleichheitssatz zu rechtfertigen. Ausgeschlossen ist es, einen Zeitabschnitt in Rechnung zu setzen, in dem von einer Verfolgung keine Rede sein konnte. Es kommt alles darauf an, dafür weitere sachgerechte Gründe aufzufinden, daß zwischen NS-Mördern und anderen Mördern eine Differenz bezüglich der Verjährung ihrer Verbrechen gemacht wird. Solche sind indessen nicht gegeben, da gegen die Unverjährbarkeit, wie ich zu zeigen versuchte, weit gewichtigere Gründe sprechen als dafür. Die Schwierigkeiten können auch dadurch nicht beseitigt werden, daß für Mord ganz allgemeine Unverjährbarkeit statuiert wird. Dieser Versuch mußte an den Gründen scheitern, die gegen Unverjährbarkeit nach Maßgabe des Rechtsstaatsprinzips sprechen. Abgesehen davon erscheint es doch äußerst bedenklich, eine auf eine Gruppe von Tatbeständen abzielende Regelung nur deshalb auf weitere Tatbestände auszudehnen, um sie in Deckung vor dem Gleichheitssatz zu bringen.

Die Gleichheitsproblematik gelangt aber noch unter einem weiteren Gesichtspunkt in Sicht: Am Münchner Euthanasieprozeß gegen 14 Krankenschwestern wurde gerügt, daß er erst dann hätte eröffnet werden dürfen, wenn zuvor jene zum Teil noch lebenden General-staatsanwälte des Dritten Reichs vor Gericht gestellt worden wären, die 1941 im Reichs-justizministerium dem Euthanasie-Mordbevollmächtigten Heyde zugesichert hatten, daß sie keine Mordanzeige verfolgen würden Dieses Beispiel weist auf eine Schwäche, die vielfach bei der Verfolgung von NS-Verbre-chen in Erscheinung tritt: die Unsicherheit über den Täterkreis. Wo fängt der Schreibtischmord an? Erst beim Funktionär der Mord-maschine oder schon beim Ideologen des Antisemitismus?

Man gelangt auch an dieser Stelle an eine Grenze dessen, was mit den Mitteln des Strafrechtes bewältigt werden kann. Kann man denn verkennen, daß die Wirklichkeit des Unrechtsstaates, daß der Tatbestand staatlich angeordneter und zugelassener Massenmorde die traditionellen Strafrechtskategorien vielfach überansprucht, daß die Demonstration des Rechtes gegenüber dem im Un-rechtsstaat begangenen Unrecht trotz des besten Willens nur mit relativ groben Mitteln und unter mannigfaltigen Unsicherheiten ins Werk gesetzt werden kann? Auch dieser Umstand spricht keineswegs dafür, die erfahrungsgemäß eintretenden Wirkungen des Zeitablaufs zu mißachten.

Schlußfolgerung

Aus dem Bericht der Bundesminister der Justiz vom 26. Februar 1965 ergibt sich: Gegenüber 13 892 Personen werden bereits anhängige Strafverfahren weit über den 8. Mai 1965 hinaus nicht nur wegen Verdacht des Mordes, sondern auch wegen anderer Verbrechen fortgesetzt, weil rechtzeitig für die Unterbrechung der Verjährung gesorgt worden ist. In der Bundesrepublik wurden Verfahren gegen mehr als 61 000 Personen durchgeführt, von denen 6 100 Personen verurteilt worden sind. Im ganzen sind etwa 80 000 Deutsche wegen der Beschuldigung, Kriegsverbrechen oder nationalsozialistische Straftaten begangen zu haben, verurteilt worden. Andererseits aber heißt es in dem Bericht: „Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß noch unbekannte Täter in maßgebenden Stellungen nach dem 8. Mai 1965 noch bekannt werden." (S. 37) Das ist die Situation, die es zu bedenken und zu beurteilen gilt. Eines steht fest, daß das Problem der Verlängerung der Verjährungsfrist sich nur dann stellt, wenn auch nach Ablauf der Frist mit der Aufdeckung von NS-Verbrechen zu rechnen ist. Andererseits impliziert jede Verjährungsfrist das Risiko, daß nach ihrem Ablauf noch Verbrechen bekannt werden. Um das Problem der Güterabwägung kommt man nicht herum. Was wiegt schwerer: die mit dem Zeitablauf erfahrungsgemäß eintretenden Rechtsgütergefährdungen, die durch eine weitere Vermehrung der Prozesse gesetzte Gefährdung des selbstverantwortlichen Auseinandersetzungsprozesses mit der Vergangenheit, der Umstand, daß mit den NS-Prozessen die Grenzen des rechtlich Möglichen je erreicht ist, daß sie unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes bedenkliche Unsicherheitsfaktoren implizieren, oder die Möglichkeit, durch Fristverlängerung weitere Untaten zu sühnen?

Ein nach Maßgabe des im Verjährungsgedanken konkretisierten Rechtsstaatsprinzip vollzogene Güterabwägung führt m. E. zwingend zum Ergebnis, daß die Forderung nach Abschaffung der Verjährungsfrist nicht gerechtfertigt werden kann. Eine solche Forderung verkennt die dem Recht und dem Rechtsstaat gesetzten Grenzen. Daran ändern auch allenfalls nachweisbare ausländische und völkerrechtliche Gegenbeispiele nichts. Man vergesse nicht: je höher die Forderungen geschraubt werden, desto tiefer die Enttäuschungen im Felde der Verwirklichung.

Einer beschränkten Verlängerung könnte mit schweren Bedenken zugestimmt werden, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen: dann, wenn nachgewiesen werden kann, daß die deutschen Behörden in der ihr zur Verfügung stehenden Zeit aus subjektiven und objektiven Gründen nicht in der Lage waren, im Rahmen des Möglichen das Notwendige zu tun, oder wenn nachgewiesen ist, daß trotz der Anspannung aller Kräfte Tat-komplexe nicht aufgehellt werden konnten, die in einem überschaubaren Zeitraum aber aufgeklärt werden könnten und im Verhältnis zu den aufgehellten Tatkomplexen von erheblicher Bedeutung sind. Man wird sich keine Illusionen machen dürfen: Wenn unter solchen Voraussetzungen eine beschränkte Verjährung auch bejaht werden kann, ein allseitig befriedigendes Ergebnis ist nicht zu erwarten. Gewählt wird dann das geringere Übel.

Es ist nicht Rechtspessimismus, die Vorstellung, daß mit den Mitteln des Strafrechts überhaupt nichts, schon gar nicht in der Aus-einandersetzung mit dem Unrechtsstaat, zu erreichen sei, der zu diesem Ergebnis führt, sondern die Einsicht, daß Recht und Rechtsstaatlichkeit nur in engen Grenzen verwirklicht werden können.

Wer das Recht will, muß auch die Endlich-keit des Menschen wollen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Urteil im Wilhelmstraßen-Prozeß, München 1950, S. 282.

  2. BVerfGE 1, S. 418 (423 f).

  3. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 16 f.

  4. Neue Zürcher Zeitung 25. 2. 65; 28. 2. 65.

  5. Vgl. FAZ, 5. März 1965.

Weitere Inhalte

Peter Schneider, Dr. jur., o. Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Mainz; geb. 10. Juli 1920 in Zürich.