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Probleme der allgemeinen Bildung im Industriezeitalter | APuZ 16/1965 | bpb.de

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APuZ 16/1965 Probleme der allgemeinen Bildung im Industriezeitalter

Probleme der allgemeinen Bildung im Industriezeitalter

Hans-Joachim Schoeps

Wenn wir die Frage nach dem Wert der allgemeinen Bildung im Industriezeitalter stellen und beantworten wollen, dann wird es ratsam sein, von einer nüchternen Bestandsaufnahme auszugehen. Unter Industriezeitalter ist unsere Gegenwart, die Zeit des mittleren 20. Jahrhunderts zu verstehen, die auch als Massenzeitalter, als nivellierte Mittelstandsgesellschaft, als Versorgungsstaat, Dienstleistungsgesellschaft, Gesellschaft der Konsum-gleichheitund ähnlich definiert oder beschrieben worden ist. Die Industrialisierung der Erdoberfläche durch den naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt sowie die Entstehung der modernen Menschenmassen sind zwei Ausdrucksformen der gleichen Säkularentwicklung etwa von 1850 bis heute, die dem Herrn Biedermeier gründlich den Garaus gemacht und einen ganz neuen Menschen-typus heraufgeführt hat *).

Gesellschaftliche Tatbestandsaufnahmen

Rotchina (einschl. Tibet) Indien (ohne Dscham-

mu-Kaschmir) Europa (ohne Sowjetunion) Asien (ohne Sowjetunion) Sowjetunion Westeuropa (westl. d. Eisernen Vorhangs)'Osteuropa 30. 6. 53 1. 3. 61 15. 1. 59 582, 6 435, 5 208, 8 1962 3150, 0 1962 1962 1962 1962 1963 1961/63 1962/63 716, 0 449, 4 434, 3 1780, 0 223, 1 337, 9 323, 4 Zahlen der Bevölkerungsentwicklung Erdbevölkerung Land

der letzten Volkszählung Zeitpunkt Bevölkerung in Mio. Neueste fort-Ergebnisse oder geschätzte Zahlen Jahr Bevölkerung i抸٘?

Den Beginn des Massenzeitalters, in das wir eingetreten sind, bzw.den allgemeinen Wandel der Verhältnisse und die Signatur unseres Zeitalters machen wir uns am besten an Hand einiger Vergleichszahlen klar: Im Jahre 1850 gab es 1098 Millionen Menschen auf der Erde, hundert Jahre später wurden es rund 2350 Millionen. 1962 ist die Dreimilliardengrenze bereits überschritten worden. Während sich nun die Zahl der Europäer und Asiaten im letzten Jahrhundert ungefähr verdoppelt hat, hat sich die Zahl der Amerikaner infolge der schubweisen Masseneinwanderungen sogar mehr als verfünffacht. Von 1900 bis 1958 hat sich die Menschheit trotz aller künstlichen Geburtenbeschränkung — in Japan wird sie sogar staatlich organisiert — um eine runde Milliarde vermehrt, d. h. um mehr als die gesamte Menschheit im Jahre 1800 zählte. **)

In den nächsten 40 Jahren ist sicher mit weiteren 2 bis 21/2 Milliarden Menschen zu rechnen, d. h. also, im Jahre 2000 werden auf dem Erdball mehr als 5 Milliarden Menschen leben. Rotchina mit ca. 716 Millionen hat heute schon einen jährlichen Geburtenüberschuß von 151/2 Millionen, Indien einen von 7 Millionen. Jährlich wächst die Erdbevölkerung um 38 Millionen an. Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt heute schon in Asien, das — ohne UdSSR (223 Millionen) und asiatischer Türkei (28 Millionen) — 752 Millionen Menschen zählt 1).

Eine zweite Voraussage, die man ebenfalls mit großer Sicherheit wagen kann, ist diese, daß in der Verteilung der Erdbevölkerung auf Menschen weißer und nichtweißer Hautfarbe eine gewaltige Verschiebung eintreten wird. Heute lebt rund 1 Mrd. im Westen, 1 Mrd. im Osten und 1 Mrd. in den Entwicklungsländern. Auf einen Europäer kommen zur Zeit zwei Asiaten. Nach den Berechnungen des Kieler Wirtschaftswissenschaftlers Fritz Baade wird es im Jahre 2000 21/2 Milliarden Chinesen und Inder geben, d. h., diese werden 50 Prozent der Menschheit betragen oder gerade so viel Menschen, wie heute auf der Erde leben. Der Anteil Europas (ohne Rußland) und der USA an der Erdbevölkerung wird nach Schätzung der Sachverständigen zum Ende des Jahrhunderts von 30 Prozent auf 20 Prozent zusammenschmelzen.

Ebenso wird sich in der Verteilung des Industriepotentials der Welt eine dramatische Wandlung vollziehen. Das Verhältnis weißer und farbiger Industriearbeiter der Erde wird sich von : 1 auf 1 : 2 umdrehen. Das alles muß man sehen und in Rechnung stellen, darüber hinaus sich aber noch klar machen, daß die kommende Überbevölkerung keineswegs zum Hungertod von Millionen führen wird. Nach den Aufstellungen von Giselher Wirsing in seinem Buch „Die Menschenlawine, der Bevölkerungszuwachs als weltpolitisches Problem" 2) würde die Erde auch eine dreifach vermehrte Menschheit noch durchaus ernähren können. Ja, es wird sich sogar das Ernährungsniveau für einen sehr großen Teil der heute noch ungenügend ernährten Erdbevölkerung heben lassen, wenn man die primitiven Methoden der Landwirtschaft überwindet, die auf weiten Erdgebieten noch um Jahrhunderte, ja auf weite Strecken um Jahrtausende zurückgeblieben ist. Nur etwa 3 Prozent aller Bauern bearbeiten den Boden nicht mit dem Hackstock oder dem hölzernen Pflug. Auch wenn in Asien noch immer Millionen Mensehen an Hunger sterben, die Erdreserven an Ernährungsmöglichkeiten sind gleichwohl noch kaum zur Hälfte ausgenutzt. Deshalb zeichnen sich hier für die kommenden Jahrzehnte riesige Investitionsvorhaben der Weltwirtschaft ab, die jahrzehntelange Konjunkturen verheißen, weil es im Falle einheitlicher weltweiter Planung praktisch fast unbegrenzte Absatzmöglichkeiten für Industrieprodukte geben wird. Nur dürfen wir uns nicht einbilden, daß es überwiegend Lieferungen aus Europa und Amerika sein werden. Eher ist anzunehmen, daß diese Investitionsgüter, zunächst einmal durch russische und amerikanische Finanzhilfe angekurbelt, in den asiatischen Ländern selbst produziert werden können.

Wir wollen aber nun die Denkmodelle der künftigen Weltwirtschaft beiseite lassen und uns ganz an die Gegenwartslage halten. Sie wird bekanntlich durch das Faktum des Eisernen Vorhangs bestimmt, der unseren Kontinent in 337, 9 Millionen Westeuropäer und 323, 4 Millionen Osteuropäer zerfallen läßt, wenn man den „Eisernen Vorhang" als faktische Grenze gelten läßt. Das Anwachsen der Bevölkerungsziffer im russischen Machtbereich geht aber in einem ungefähr doppelt so schnellen Tempo vor sich wie in der „freien Welt". Für den Ostraum sind starke Wanderungsbewegungen kennzeichnend; hier sind von 1917 bis 1951 55 Millionen Menschen auf die „Völkerwanderung" geraten, darunter etwa 20 Millionen Deutsche und Volksdeutsche. übrigens hatte Polen von allen europäischen Ländern im letzten Jahr den höchsten Geburtenüberschuß. Hinzu kommt auch, daß die Lebenserwartung für ein neugeborenes Kind in einem Jahrhundert von dem statistisch errechneten Durchschnittsalter von 35, 6 Jahren auf 71, 9 Jahre gestiegen ist — allen Kriegen, Revolutionen, Inflationen und Terrorregimes zum Trotz. Wir erleben daher in allen Kulturstaaten eine gewaltige Aufstauung des Menschenstromes und infolgedessen ein kontinuierliches Steigen der Bevölkerungszahlen. Der Grund dafür liegt — zumindest in der zivilisierten Welt — weniger in einer Zunahme der Geburtenhäufigkeit, als darin, daß medizinische und hygienische Fortschritte im Verein mit sozialen Sicherungsmaßnahmen die Sterblichkeit immer weiter zurückgedrängt und die Überalterung gefördert haben. Im Vergleich mit früheren Zeiträumen bleibt heute per Saldo eine Generation mehr am Leben zur gleichen Zeit. „Es wird gewissermaßen nicht vermehrt geboren, sondern vermehrt überlebt" Diese Grundtatsachen der Bevölkerungsbilanz eines Jahrhunderts, für das es in anderen Zeiträumen der Weltgeschichte nichts Vergleichbares gibt, muß als das uns vorgegebene Schicksal nüchtern zur Kenntnis genommen werden.

DTe genannte Entwicklung hat schwere Wachstumskrisen der modernen Zivilisation ausgelöst und für die Gesellschaftsordnung der ganzen Erde tiefgreifende Folgen bekommen.

Sie hat nämlich zu etwas geführt, was es vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch nicht gegeben hat: zur Entstehung der modernen Massen. Die Wissenschaft der Soziologie müht sich seit längerem um die erkenntnis-mäßige Ausschöpfung dieses Phänomens, ist aber noch nicht einmal terminologisch zu allgemein anerkannten Vereinbarungen gekommen. Unbeschadet aller begrifflichen Unklarheiten und allen Deutungsstreites lassen sich die uns hier angehenden Grundtatsachen konstatieren: Technischer Fortschritt und lokale Zusammenballung von Menschen, d. h. Entstehung von Massen, gehen Hand in Hand. Diese Erscheinungen sind gleichzeitig und wirken seit der Intensivierung der industriellen Revolution vor hundert Jahren reziprok aufeinander ein. Der vor hundert Jahren erst zu ahnende Sog der Großstädte auf das Land hat inzwischen zu einer gewaltigen Verschiebung des Verhältnisses von Stadt und Land geführt und damit zur Entstehung von Massen, die in ihrem Ursprung ja großstädtische Erscheinungen sind. Heute hat sich das Verhältnis von Stadt und Land umgedreht. Lebten bei der Gründung des Deutschen Reiches 1871 noch 63 Prozent der Bevölkerung in Gemeinden unter 2000 Einwohnern, so war dies am Stichtag des 30. Juni 1963 für den Raum der Bundesrepublik nur noch für 21, 6 Prozent der Gesamtbevölkerung der Fall. In den USA ist der Anteil der Stadtbevölkerung binnen 90 Jahren von 16, 8 Prozent auf 76 Prozent angestiegen; in Westeuropa hat er sich sogar versechsfacht. In der Bundesrepublik lebten 1963 rd. 19, 2 Millionen Menschen oder 33, 3 v. H. in Großstädten mit 100 000 und mehr Einwohnern. Bei einer Einwohnerzahl von derzeit etwa 55, 7 Millionen ist die Bevölkerungsdichte der Bundesrepublik auf 225 Einwohner je qkm (mit Westberlin sogar 233) gestiegen gegen 147 im früheren Deutschen Reich; die SBZ hat nur 148 Menschen (mit Ost-Berlin 158) je qkm.

Die seit Jahrzehnten progressive Landflucht hat im Verein mit den gewandelten arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen zunehmend zur Auflösung der alten Dorfgemeinschaften geführt und ursprünglich seßhafte Bevölkerungsschichten in eine Masse hin-und herwogender Einzelpersonen verwandelt. In den Großstädten aber werden die arbeitenden Menschen atomisierte Teile eines zumeist wenig geformten, dafür aber mechanisierten Fabrikkollektivs. Denn „Mechanisierung ist die Antwort der Menschheit auf die Zahl. Die Volkszahl ist gegeben. Um sie zu kompensieren, gibt es nur eine Möglichkeit, den Lebensprozeß mechanisch zu gestalten." Die einsetzende „Proletarisierung" der Betroffenen liegt weniger in ihrer sozialen Verelendung als darin, daß sie entwurzelt wurden und bindungslos sind. Denn die Menschen werden abgeschnitten von ihrer Herkunft und vom Boden; die von der Maschine geschaffenen Arbeitsmöglichkeiten nivellieren den einzelnen, machen ihn uniform und auswechselbar, indem er in das „Heer" der Arbeiter oder Angestellten eingereiht wird. 70 Prozent aller Menschen sind abhängige Lohn-und Gehaltsempfänger geworden. In diesen oft beschriebenen Verhältnissen der Industrialisierung hat die sogenannte „Vermassung" der Bevölkerung ihre reale Basis.

Sehr viel schwerer ist die Frage zu beurteilen, inwieweit diese „Vermassung", die „vertikale Völkerwanderung", wie Walther Rathenau es nannte, den einzelnen Menschen, ganz gleich welchem Gesellschaftsstand er zugehört, selbst umbaut, seine privaten und gesellschaftlichen Reaktionen ändert oder gar seine Substanz verwandelt. Generelle Urteile sind mit Recht zu scheuen, nachdem die Brüder Jünger etwas sehr weit gehende Behauptungen aufgestellt haben. Besonnene Beurteiler trafen folgende Feststellungen: „Vermassung" wirke sich als ein Abbau persönlicher Verantwortung infolge Fehlens individuell gestaltbarer Beziehungen, als Absinken des einzelnen vom „normalen" Niveau menschlichen Verhaltens und als eine Flucht in die Anonymität des Allgemeinen. Sie führe zu einem Fortfall des Differenzierungsvermögens, zur Schwächung der allgemeinen Urteilskraft, die die Affekte niederer Stufe nicht mehr zu schalten vermag, steigere dafür aber die Passivität und die suggestive Beeinflußbarkeit. In ihrem Handlungsich beeinträchtigte Menschen werden mithin anfällig für Kollektiv-hypnosen, die den unfreien einzelnen dynamisieren und auf „hohe Touren" bringen. Die Strategen der politischen Massenbeeinflussung haben das früh erkannt und auf diese Masseneigenschaften und Reaktionen hin eine raffinierte Volksführung durch Terrormittel methodisch entwickelt, die von H. Rauschning und anderen beschrieben worden ist. Die Lebensweise der Großstadtmasse scheint immer uniformer und standardisierter zu werden in bezug auf Konsumgüter, Freizeitgestaltung, Einstellung zur Arbeit usw. Dabei wächst die Isolierung der Menschen voneinander, die auch selber keinen sie überwölbenden Zusammenhang mehr erkennen können. Da ein Unvermögen zu sozialer Verdichtung vorliegt, finden immer weniger echte Gruppenbildungen statt, an deren Stelle guantitative Ballungen von gesichtslos werdenden einzelnen treten, die innerlich miteinander verbunden bleiben, weil das Kennzeichen einer Masse ihre Strukturlosigkeit ist. Diese geraten allmählich in eine eigentümliche Entseelung und geistige Erstarrung hinein, die sie ohne größere Reservate dem ausliefert, was „die anderen", was „die Allgemeinheit", was „man" denkt und tut. Alexis Carrel, ein französisch-amerikanischer Physiologe von großem Scharfsinn, hat den von ihm beobachteten Zustand etwas vergröbert und karikiert so beschrieben: „Die meisten Zivilisationsmenschen lassen nur eine sehr wenig ausgebildete Bewußtseinsenergie erkennen. — Sie produzieren, sie konsumieren, sie stillen ihre physiologischen Bedürfnisse. Es bereitet ihnen Vergnügen, in großen Mengen sportlichen Schau-stellungen beizuwohnen, kindische vulgäre Filmstücke anzusehen, ohne Anstrengungen schnell von einem Ort zum andern gebracht zu werden und Gegenstände zu betrachten, die sich schnell bewegen. Sie sind weichlich, sentimental, lüstern und gewalttätig. Moral-gefühl, Sinn für Ästhetisches und Religiöses geht ihnen ab. Ihre Zahl ist Legion; sie haben eine gewaltige Herde von Kindern erzeugt, deren Verstandeskraft auf der niedrigsten Stufe bleibt." Das mag nun grotesk übertrieben und verallgemeinert sein, sicher ist aber, daß sich heute Haltung und Gesicht des Menschen wandeln und noch niemand sagen kann, bis zu welchem Grade das abzuschaffen ist, was bisher als „das Humane“ gegolten hat. Der Umbau des Menschen ist ein Prozeß, der sich noch über mehrere Generationen erstrekken wird.

Wir haben bereits festgestellt, daß die Entstehung der Massen und der technische Fortschritt verschiedene Ausdrucksformen der gleichen Entwicklung seien, die als Industrialisierung dem Herrn Biedermeier den Garaus gemacht und einen ganz neuen Menschentypus heraufgeführt haben. Als Friedrich Wilhelm III. das Bauprojekt der ersten Eisen-bahnlinie in den Preußischen Staaten vorgelegt wurde, der 1838 eröffneten Bahn von Potsdam nach Berlin, schrieb der König auf den Akt:

„Alles soll Carriere gehen; die Ruhe und Gemütlichkeit leidet aber darunter. Kann mir keine große Seligkeit davon versprechen, ein paar Stunden früher von Berlin in Potsdam zu sein. Zeit wird’s lehren." — Zeit hat's gelehrt. Heute braucht ein Flugzeug über den Ozean in die Neue Welt nur noch neun Stunden; morgen soll es mit dem Düsenflugzeug bei doppelter Schallgeschwindigkeit in weniger als drei Stunden gehen. Zeit ist wahrlich eingespart worden und im großen Stil. Nur die Muße ging dabei verloren, denn Muße ist ja offenbar noch etwas anderes als Arbeitspause. Insofern hat der König aus der Biedermeierzeit recht behalten, aber die Entwicklung hätte er nicht hindern können. Der für kommende Dinge manchmal sehr hellhörige Kronprinz meinte bei der Einweihung der gleichen Bahnlinie: „Diesen Karren, der durch die Welt rollt, hält kein Menschenarm mehr auf." In der Tat ist das Eisenbahnnetz der Erde von 600 km Länge im Jahre 1840 während eines Jahrhunderts auf 1 329 400 km gewachsen. Dampfmaschine und Benzinmotor haben die jahrtausendalte Abhängigkeit des Menschen von Zeit und Raum aufgehoben und beseitigt.

Wie die industrielle Revolution abgelaufen ist und nach welchen Gesetzen, ist heute durchaus bekannt. Jede Einführung einer neuen Maschine hat zahllose Hände frei und überflüssig werden lassen, weshalb die moderne Technik aus Handwerken und Arbeitern zunächst einmal Erwerbslose gemacht hat.

Diese fanden dann aber sehr rasch bei der Erstellung des durch die technischen Erfindungen rapide wachsenden Maschinenparks der Erde neue Beschäftigungen. Denn das Wesen der modernen Industriegesellschaft ist die Arbeitsteilung mit der Folge weitgehender Unselbständigkeit und wirtschaftlicher Abhängigkeit der in ihr Lebenden, die Entstehung immer größerer wirtschaftlicher Einheiten und die Zusammenballung immer größerer Menschenzahlen in den Industriezentren. Für die moderne Rationalisierung ist die Austauschbarkeit der Menschen innerhalb der Fertigung und die leichte Ersetzbarkeit eines jeden Arbeitenden charakteristisch. Hier offenbart sich die Eigengesetzlichkeit der Maschinenwelt, die mit der Serienproduktion zunehmend auf Normierung und Typisierung drängte, den Gesamtarbeitsgang aber in kleinste Teilabschnitte — meist mechanische Handgriffe — zerlegte. Die Rückwirkung auf den Menschen hat in einer Entseelung der Arbeitsfunktionen und in einer Mechanisierung seiner eigenen Person bestanden, weshalb es heute offenbar möglich geworden ist, den Menschen als Bestandteil des Maschinenparks zu planen und zu verplanen. Die Maschine in der Spätzeit der industrialisierten und durchtechnisierten Welt des Hochkapitalismus und am Übergang zum Atomzeitalter erweist sich als ein viel unbarmherzigerer Ausbeuter, als je ein Kapitalist es gewesen i*st.

Der Dichterphilosoph Friedrich Georg Jünger 7) hat nun gemeint, daß die Technik den unwiderstehlichen Drang habe, die einmal erstellte Maschinenwelt noch zu perfektionieren, so daß sie schließlich durch die Automatisierung ihre eigenen Bedingungen verwandelt und den Menschen verzehrt, der immer mehr bloßes Zubehör wird. Sein Bruder Ernst hat von einer neuen „organischen Konstruktion der Welt durch die Technik" gesprochen, die vom Menschen weitreichende Assimilation an die neuen Bedingungen des Maschinenzeitalters fordere und ihn nur noch funktionalistisch als „Arbeiter" oder „Arbeitersoldaten" bestehen lasse. Und bei aller Distanz zu den Jüngers muß auch Karl Jaspers feststellen, daß der Mensch in dieser neuen Entwicklung immer mehr zu einem Rohstoff wird, der zweckmäßig zu bearbeiten sei, damit er zu seiner maximalen Kraftentfaltung kommt. Jedenfalls hat die durch Technik und Maschine verwandelte moderne Welt einen neuen konformistischen Typus Mensch begünstigt, der die Freiheitsbedürfnisse des bürgerlichen Individuums aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr zu besitzen scheint, der jedes Dissentertum von der allgemeinen Meinung meidet und sich ganz instruktiv an Kommendem assimilieren will. Es ist von ihm aber auch gesagt worden, daß er wegen seiner Neigung, sich durch-zufunktionalisieren, härter, kälter und disziplinierter sei als alle früheren Geschlechter, schon weil die moderne Technik auf Präzision aufgebaut wurde. Das Unvermeidliche an dieser Entwicklung liegt in folgendem: Diese Menschenmassen müssen ja ernährt, gekleidet, behaust werden, was nur die Technik mit ihren rationalen Verkehrs-und Sozial-planungen zu leisten vermag. Daher findet heute auch ein Wettlauf zwischen Bevölkerungsvermehrung und technischer Organisation statt, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Der dirigierende Verkehr, die mittels eines riesenhaften Apparates verwaltete Produktion und Konsumtion — das alles dürfte zunächst unvermeidlich sein. Um die individuelle Freiheit scheint es in den großen Planungssystemen der industriellen Gesellschaft schwach bestellt, weil diese bei ihrer ausschließlichen Sachbestimmtheit von den menschlichen Anliegen völlig absehen müssen und daher menschenfeindlich wirken. Ein amerikanischer Soziologe hat von der Entpersönlichung und Entmündigung des Menschen in der modernen Massengesellschaft ein sehr düsteres Bild gemalt: „Die meisten Menschen verbringen ihr Leben damit, in schnell hingestellten Serienbauten zu nisten, sie werden in Hospitälern geboren, sie nähren sich in Selbstbedienungsrestaurants, sie heiraten in Hotels, nach der letzten ärztlichen Fürsorge sterben sie in Hospitälern, werden kurz in Beerdigungsinstituten aufgebahrt und schließlich eingeäschert. In allen diesen Lebensvorfällen und unzähligen anderen werden Profit und Wirtschaftlichkeit auf Kosten der menschlichen Individualität erzielt. Wenn man so als Asphaltnomade aufs Geratewohl lebt, wird es schwer, sich mit irgend etwas eins oder engverbunden zu fühlen, was immer es sei, und es sei das eigene Ich. Es wird auch unwirtschaftlich, sich an etwas zu klammern, und sei es die eigene Individualität."

Kurzum, dies bedeutet, daß sich in einer restlos durchrationalisierten und fahrplanmäßig ablaufenden Lebensordnung Freiheit und Verantwortung des einzelnen in vorbehaltlose Anpassung verwandelt müssen, in widerspruchslosen Konformismus. Noch ist dieser restlos durchfunktionalisierte Mensch ein Schreckgespenst, aber viele Anzeichen scheinen dafür zu sprechen, daß es uns immer drohender auf den Leib rückt. Worauf es nun aber für unseren Zusammenhang ankommt, ist dieses, daß die Umwandlung der Welt in den letzten hundert Jahren in einer Wechselbeziehung zur Umwandlung des Menschen steht. Die moderne Massengesellschaft gehört zur industriellen Arbeitswelt unserer Tage. Beide hat es vor hundert Jahren noch nicht gegeben und konnte es so wenig geben, wie die verschiedenen totalitären Regimes, die wir inzwischen erlebt haben und die dies alles wieder zu ihrer eigenen Voraussetzung besitzen. Aber noch ein dritter Faktor tritt hinzu, der iür die Auflösung der Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts eine besonders hohe Kausalbedeutung besitzt. Wir erleben nämlich heute im sozialen Bereich die Anfänge einer Entwicklung, die mit all den Vorstellungen aufräumt, die im 19. Jahrhundert als „Lösung der sozialen Frage" umgelaufen sind. In Westeuropa und Amerika setzt sich zunehmend die Wohlstandsgesellschaft durch, die keinerlei Massenarmut und Massenelend mehr kennt, sondern weit eher das Schwelgen in maschinell erzeugtem Überfluß. Karl Bednarik hat in seinem zweiten Buch „An der Konsum-front" dazu folgendes ausgeführt: „Nicht mehr die unbewältigte Armut bildet die Hauptsorge, sondern der unbewältigte Reichtum der Massen. — Der Mensch sucht sein Glück nicht mehr auf den Schlachtfeldern der sozialen Utopie, sondern auf den Kriegspfaden des Konsums. Immer mehr vom Konsum zu haben und immer weniger dafür zu leisten, ist heute ziemlich das Ideal jedermanns. — Der genormte mittelständische Lebensstandard, an dem jeder teilnehmen kann, ist der einzige allgemein verbindliche Glaubenssatz, die weltliche Religion des modernen Menschen". Das soziale Prestige-und Aufstiegs-bedürfnis schraubt nun aber die Konsum-und Komfortwünsche für breite Bevölkerungsschichten immer höher. Heute wird allmählich auch der Luxus sozialisiert. In dem angestrebten perfekten Wohlstand aller, den die Maschinenwelt ja auch tatsächlich zu erzeugen vermag, solange bei wachsendem Sozialprodukt der Güterstrom immer weiter an-schwillt, enthüllt das Massenzeitalter seinen eigentlichen Kern. Jedermann soll an der Güterfülle beteiligt, sein Konsumrecht soll möglichst sogar versichert werden. Das Wort Selbsthilfe wird dafür aber heute klein geschrieben. Die ehedem berufsständisch gegliederte Gesellschaft ist heute durch eine gesellschaftliche Staffelung nach Aufwandstilen und Statussymbolen abgelöst worden. Soziologisch gesehen nähern wir uns in Europa und Amerika aber bereits einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die die ständisch gegliederte und durch eine breite Einkommensskala geschichtete Welt immer mehr ablöst. Was heißt „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" nun konkret? Folgendes: Oberschicht und Unterschicht sind nicht mehr kraß unterschie-den, sondern rücken immer näher aneinander. Die Sozialprognose von Karl Marx, daß die Arbeiterklasse immer stärker verelenden und das Kapital sich auf eine immer kleiner werdende Zahl von Besitzenden akkumulieren werde, ist durch die tatsächliche Entwicklung ins Unrecht gesetzt worden. Das genaue Gegenteil ist nämlich eingetreten. Der Besitz hat sich ständig verbreitert und das ehemalige Proletariat ist zum Sozialpartner arriviert. Es hat sich nämlich einen immer größeren, auch Reute noch wachsenden Anteil am Sozialprodukt erkämpft. Außerdem hat die den Kern des Mittelstandes bildende Zwischenschicht der Angestellten und Beamten von 1883, dem Todesjahr von Karl Marx, bis heute um 900 Prozent zugenommen. Infolgedessen spielen, von gewissen Spitzen abgesehen, die Unterschiede im Einkommen der Gesamtbevölkerung keine solche Rolle mehr wie etwa vor dem Ersten Weltkrieg. Ein Arbeiterhaushalt, in dem mehrere Personen Verdiener sind, verfügt heute über ziemlich dieselben Mittel wie der entsprechende Haushalt in allen anderen Schichten. Bekanntlich hat heute ein Hauer für Steinkohle im Gedinge (Ruhrbergbau) ein monatliches Bruttoeinkommen von 690— 770 DM; ist er ein „Spitzenreiter", kann er im Akkord bis nahe an die 1000-DM-Grenze kommen. Die Folgen für die individuelle Lebens-haltung sind bekannt: Fernsehtruhe, Motorrad, Klein-oder Mittelwagen sind zu Kosumgütern der Arbeiterfamilien geworden, die durchaus in den Rahmen normaler Lebensansprüche gehören. Die Arbeiterschaft ist sozial aufgestiegen; dafür sind die Jungakademiker, abgesunkene Schichten des ehemaligen Kleinbürgertums und das Gros der Rentner zum „letzten" Stand der Gesellschaft geworden. Der Lebensstandard weiter Kreise der Arbeiterschaft von heute entspricht der des gehobenen Mittelstandes aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; nur das Budget für Vergnügungsausgaben ist heute höher Im allgemeinen kann man also sagen, daß unter der nivellierten Mittelstandsgesellschaft die Angleichung aller an alle in sozialer Hinsicht, aber auch in Erscheinung und Gehaben zu verste-hen ist, weil eben heutzutage weitgehend gleichartige Daseinsbedingungen und Lebenserwartungen vorgegeben sind.

Den optischen Eindruck dieser Verwandlung resümiert gut eine Zeitungsreportage, die ich vor einiger Zeit gelesen habe: „Wie leicht war es doch einmal, sich unter den Menschen auszukennen. In der Welt unserer Großväter wußte man auf den ersten Blick, woran man mit einem Unbekannten war. Bildungsgang und Beruf, Beschäftigung und Stellung, Vermögen und Einkommen hatten ihren fast unverwechselbaren Ausdruck in Kleidung und Gehaben. Das Gros der Menschen war auf . Anständigkeit'bedacht, d. h. wörtlich auf ein dem jeweiligen Stande gemäßes Verhalten. Der Arbeiter hatte noch nicht die Aktentasche bei sich, jenes unabdingbare Attribut jedes modernen Menschen, das man einst . Portefeuille'nannte und nur aus den Ministerial-kanzleien in die Kabinettssitzungen trug. Er, der . Proletarier', behalf sich mit dem Rucksack oder steckte sich seine Flasche mit dem landesüblichen Getränk ganz einfach unter den Arm, das Stück Brot in die Tasche und im emaillierten Henkeltopf nahm er sich etwas zum Aufwärmen mit. An seiner Ballonmütze war er schon von weitem zu erkennen. Mit solchen Unterscheidungsmerkmalen käme man heutzutage nicht weit. Vielmehr ist es erstaunlich zu sehen, wie gleichartig sich die Menschen innerhalb von drei bis vier Jahrzehnten der äußeren Erscheinung nach geworden sind. Am auffälligsten ist das bei den jungen Leuten. Wie eigentümlich und betont verschieden von ihren Altersgenossen gaben sich doch einst der . Gymnasiast’ und die . höhere Tochter'. Nun ist es schwierig, etwa im Gewühl, das von einem Fußballplatz abströmt, die Oberschüler auszusondern, überall die gleichen Gestalten: beim Handwerkerlehrling, beim jungen Angestellten und Arbeiter die Jacke aus Cordsamt, das farbige Sporthemd, die lange oder kurze Hose. Und die jungen Mädchen ähneln sich, ob sie nun morgens in der Straßenbahn einem Ladengeschäft, einem Industriewerk oder einem Schulgebäude zu-fahren. Wir sind an die einheitliche Erscheinung aller so gewöhnt, daß uns jene Menschen, die sich aus welchen Gründen immer der Angleichung entziehen, so etwa die alte Dame, die die Kleider von 1910 trägt, Sonder-linge in weißer oder geblümter Weste, wie Gespenster aus einer andern Zeit vorkommen. Die Zusammensetzung des Bevölkerungsganmitteln, zen, der gesamte komplizierte Tatbestand, den die Statistiker durch ihre Fragebogen er- ist also unsichtbar geworden."

Das Bildungsproblem im Industriezeitalter

Damit kann die Bestandsaufnahme des Industriezeitalters und der durch dieses bewirkten Veränderungen des Menschen soweit als abgeschlossen gelten, daß wir nunmehr von der Zeitanalyse als dem weiteren Rahmen zum engeren Thema des Bildungsproblems übergehen können. Für dieses gilt es aber, sich eindringlich darüber klar zu werden, daß die hier geschilderte Situation des modernen Menschen und seiner Welt weder durch einen Willensentschluß rückgängig gemacht noch durch organisatorische Maßnahmen wieder aufgehoben werden kann. Vielmehr haben wir Massendasein, Industrialisierung, durchtechnisierte Maschinenwelt, Wohlstandsgesellschaft und kulturelle Nivellierung als die uns vorgegebene objektiv-historische Situation hinzunehmen. In ihrem Zeichen — und damit im Dienste der Lebenssicherung der Massen — wird alle Politik und auch Bildungspolitik heute und in Zukunft stehen müssen.

Für die Ausbildung junger Menschen hat dies zur Folge, daß eine zeitnahe Erziehung auf diese Gegebenheiten eingestellt werden muß. Stellt sie aber alle diese Entwicklungstrends in Rechnung und will sie gleichzeitig doch an den traditionellen Vorstellungen festhalten, erwächst folgendes Dilemma: Auf der einen Seite sollen die Jugendlichen nach erreichtem Ausbildungsziel den Anforderungen der modernen Arbeitswelt leistungsmäßig entsprechen, auf der anderen Seite müssen wir aber gerade versuchen, sie gegen die großen Schäden und Gefahren widerstandsfähig zu machen, denen sie in dieser Welt ausgesetzt sein werden. Wir müssen also einmal die jungen Menschen den Bedürfnissen der modernen Industriegesellschaft sachentsprechend ausbilden, zum andern müssen wir versuchen, ihnen als Schutzpanzer Gegengewichte gegen die mit dem Konformitätsprinzip drohende menschliche Selbstentfremdung auf den Lebensweg mitzugeben.

Jeder erzieherische Versuch, der nicht an der heutigen Weltsituation orientiert ist, wird in einen leeren Raum hinein verpuffen. Aber alles hängt von der Antwort ab, die auf die tatsächliche Lage gegeben wird. Wir haben alle die Antwort des Ostens vor Augen, wo ein weltgeschichtliches Experiment versucht wird: die Heranzüchtung des systemgebundenen, durchfunktionalisierten Menschen, der zweckgenormt ist und leicht gesteuert werden kann. In der Sowjetunion dominiert die Vorstellung, daß zur Erfüllung der im totalen Wirtschaftsplan geforderten Leistung der Spez genügt, d. h.der Spezialist als ein Mensch, der vor allen Dingen gut funktioniert, der Funktionär ist — man könnte auch sagen: ein Analphabet, der lesen kann. Der abendländischen Tradition ist derlei nicht nur fremd, sondern ist der äußerste Gegensatz zu dem ihr vorschwebenden Bild des in sich selbst zentrierten Menschen, der im Gewissen gebunden ist, selbständig denkt und sich verantwortlich entscheiden kann. Gegen den außengesteuerten, funktionsgebundenen Kollektivmenschen haben wir die innengesteuerte, zur Freiheit und eigenverantwortlichen Lebensführung berufene und erzogene Person zu setzen, die dann auch eine Vorstellung davon hat, wie man über sich hinauswächst. Nur von dieser Gegenstellung aus lassen sich moderne Leitbilder für Bildung und Erziehung entwickeln, wie sie dem deutschen und europäischen Denken angemessen sind.

Nun müssen wir uns aber die ganze Not und Krisis des Bildungsproblems in der Gegenwart klarmachen: Von vielen Menschen — nicht nur Jugendlichen — wird heutzutage die Persönlichkeit gar nicht mehr als das höchste Glück der Erdenkinder bewertet. Eher wird die eigene Individualität als eine Last empfunden, persönliches Ausgeprägtsein als etwas sehr Störendes, weil es der erforderlichen Anpassung in einerweitgehendverwalteten Welt im Wege steht. Dieser verbreitete Verhaltensinstinkt begünstigt bereits das östliche Leitbild und stellt das unsere von innen heraus in Frage. Darüber hinaus muß man aber auch sehen, daß die Entwicklung, die die Arbeit selber in der technischen Industriegesellschaft des Westens genommen hat, das humane Anliegen immer weiter zurückdrängt.

Hauptmerkmal der handwerklichen Arbeit ist stets ihre Vielgestaltigkeit und innere Geschlossenheit gewesen. Alle Teilaufgaben wie Planung, Entwurf, Auswahl der Rohstoffe und die vorwiegend manuelle Ausführung konnten von einem Menschen gelöst werden. Betriebsgemeinschaft war die handwerkliche Großfamilie; Arbeitsraum und Lebensraum gingen ineinander über. Die Arbeit dieses alten handwerklichen Stils, in der Geschicklichkeit, Materialkenntnis und Formgefühl ein Werkstück schufen, ist im rapiden Rückgang und kommt im modernen Industriebetrieb kaum noch vor. Durch die Differenzierung der Fertigungsaufgaben haben sich die Arbeitsverhältnisse völlig verändert. Die Maschinen haben den Arbeiter immer mehr von schwerer Muskelarbeit entlastet und seine körperliche Beanspruchung herabgesetzt. Insbesondere durch die Anwendung des Elektromotors mit seiner vorteilhaften Art der Energieverteilung konnten die einzelnen Fertigungsfolgen immer weiter unterteilt werden, so daß die Arbeit sich in Kleinstund Einfachsthantierungen aufzulösen begann. Dafür stieg dann aber die Arbeitsgeschwindigkeit erheblich an.

Sicherlich wird das Handwerk neben der Landwirtschaft immer einen gewissen Eigen-raum behaupten, doch wird beider Struktur in steigendem Maße von Elementen der Technik durchsetzt. Ebenso werden sich die Klein-und Mittelbetriebe auch in einer hochentwikkelten Wirtschaft für die Spezialfertigung von Gütern hoher Qualität durchaus halten kön-nene, wenigstens solange wie die Nachfrage durch betont individuelle Ansprüche der Konsumenten bestimmt wird. Aber auch sie werden sich den herrschenden Entwicklungstrends durch weitere Technisierung anzupassen haben. Freilich sind für die Vollautomation, d. h. für die totale Durchrationalisierung und technische Perfektionierung der Produktionsabläufe bei uns derzeit überhaupt nur 20 Prozent der Industriebetriebe geeignet, die für den Massenkonsum und für den Großmarkt produzieren. Die Automatisierung hat nämlich Grenzen der Wirtschaftlichkeit an den erforderlichen großen Investitionen, die sich nur für Massenfertigung, d. h. für außerordentlich große Stückzahlen bei langfristig unveränderlichen Typen wirklich lohnen. Große Absatzräume z. B. durch die Schaffung des Gemeinsamen Marktes begünstigen heute diese Entwicklung. Aber der überwiegende Teil der industriellen Fertigung kommt hierfür, wie gesagt, auch bei günstigen Konjunkturen nicht in Frage. Auch künftig wird man beim Großmaschinenbau, für Turbinen und Gleichstrommotoren, aber auch bei der Montage des gelernten Facharbeiters bedürfen, des Produktions-wie des Leistungsteams

Immerhin läßt sich an der Organisation der vollautomatisierten Betriebe deutlich erkennen, daß sich niedere menschliche Intelligenz-funktionen in der Tat durch die zuverlässiger arbeitenden Elektronenhirne oder Denkmaschinen ersetzen lassen. Dadurch geht die so oft beklagte Aufsplitterung der Arbeit in Ausübung zahlloser monotoner Einzelhandgriffe am Fließband stark zurück oder fällt sogar ganz fort, der arbeitende Mensch wird nämlich immer mehr auf Uberwachungsaufgaben isolierter Funktionen an Maschinen oder Maschinenaggregaten verwiesen. Er wird zum Dirigenten des Produktionsprozesses an den Schalttafeln, insofern er viele Arbeitsstunden nur Apparaturen oder Produktionsvorgänge zu beobachten hat.

Auch für die Bürowelt gilt ähnliches, da in ihr die gelernten, womöglich akademisch ausgebildeten Buchhalter, Statistiker und Bilanz-techniker im Zuge der Vollautomatisierung ersetzbar werden. Durch die Aufstellung von Cybernetics (elektronische Denkmaschinen) werden nur noch sogenannte Operators, d. h. Büromaschinenbediener benötigt. Diese Entwicklung, die allmählich auch das Büro zu einer Art Fabrik werden läßt, scheint in den USA schon weit vorgeschritten — zumindest nach den Schilderungen, die der Deutschamerikaner Norbert Wiener gegeben hat. Gewiß wird dieser Operator als neuer Typ des arbeitenden Menschen mit wichtiger Verantwortung oder TeilVerantwortung beladen, aber die von der Automation geschaffenen neuen Arbeitsbedingungen erzeugen eine neue Art der Monotonie. Die Last wird also nicht leichter, sie drückt nur an anderer Stelle. Wahrscheinlich ist nämlich das moderne Arbeitsschicksal als solches unaufhebbar und kann nur exopon, d. h. außerhalb des eigentlichen Arbeitsvorganges kompensiert werden. Da bei den heutigen Produktionsmethoden die Arbeit nicht mehr die Selbstverwirklichung des Menschen erbringen kann, von der Karl Marx gesprochen hatte, fällt diese Aufgabe heute immer mehr der Freizeit zu.

Heute bereiten aber noch gar nicht diese Fragen Kopfzerbrechen, sondern das viel elementarere Problem, woher denn eigentlich die Arbeiter und Angestellten für die Automation kommen sollen, ausgebildete Techniker nämlich, die ein hohes spezialisiertes Wissen haben, so daß sie geeignet sind, die immer schwieriger werdende Überwachung hochkomplizierter maschineller Vorgänge verantwortlich zu übernehmen.

Infolgedessen werden in der modernen technisierten Arbeitswelt vor allem zwei Arbeitertypen gefragt und dominierend werden: der hochqualifizierte Facharbeiter, von dem gesagt worden ist, daß er „von immer weniger immer mehr wissen muß", und neben ihm ein neuer Facharbeitertyp, der vielseitig und umstellungsfähig sein muß und den Schelsky als betriebsgebundenen „Anlerntechniker" bezeichnet hat. Die alte klassische Einteilung der Arbeiter in Gelernte, Angelernte und Ungelernte entspricht nicht mehr den modernen Arbeitsbedingungen. Der wendige, schnell einsatzbereite, in kurzer Zeit für irgendeine Tätigkeit anlernbare Spezialarbeiter ist neben dem gelernten Facharbeiter alten Stils wohl der für die industrielle Fertigung künftig wichtigste Arbeitertyp. Der Anlerntechniker braucht heute weniger seine Muskeln als vielmehr seine Nerven und sein Gemüt bei der Kontrolle der mechanischen Sklaven zu strapazieren, d. h. also, seine Arbeitsbeanspruchung und Belastung verschiebt sich von der körperlich-manuellen auf die psychische Seite.

Ferner werden vom Anlerntechniker oder technischen Spezialisten in einem noch ganz anderen Ausmaß als vom alten Arbeitertyp charakterliche Fähigkeiten verlangt wie etwa Sorgfalt und Verantwortungsbewußtsein für den Lauf eines Fertigungsprozesses. Mithin wird die allgemeine Durchbildung und die systematische Erziehung dieses neuen, von der Industrie benötigten Arbeitertyps von entscheidender Bedeutung sein, zumal es ja schließlich auch darum geht, aus ihrer Mitte heraus neue betriebliche Führungskräfte zu gewinnen. Dies wird auch von den Verantwortlichen gesehen. In einem Gutachten des Bundes-Arbeitsministeriums über zeitnahe Berufserziehung ist zu lesen: „Die Entwicklung charakterlicher Fähigkeiten bei einem hohen Maß an Umstellungsfähigkeit, die Erziehung zur Gewissenhaftigkeit und Selbstsicherheit gegenüber technischen Anderungsprozessen werden bei der Ausbildung im Mittelpunkt stehen müssen. So ergeben sich für die Gestaltung der Berufsausbildung schon jetzt feststellbare Folgerungen. Der geistig aufgeweckte Typ des Anlerntechnikers, der in vielen Sätteln reiten kann, wird nicht durch frühzeitige Spezialisierung erreicht. Die Ausbildung kann daher nicht mehr in erster Linie darin bestehen, bestimmte handwerkliche Fertigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln. Vielmehr kommt der technisch-elementaren Schulung des Denkens und der Förderung der Einsichtsfähigkeit in technische und betriebliche Zusammenhänge eine wichtige Bedeutung zu. Daher muß für möglichst viele Lehrund Anlernberufe eine gleiche Grundausbildung auf breiter Basis durchgeführt werden. Die nachfolgende speziellere Berufsausbildung ist auf eine vielseitige Einsatz-und Entwicklungsmöglichkeit einzustellen. Eine enge Begrenzung der Berufsausbildung ist zu vermeiden."

Diesen Forderungen wird auch in der Tat bereits insofern entsprochen, als weitsichtige Unternehmer, besonders der Großindustrie, schon selber daran gegangen sind, in der Berufsausbildung neue Wege zu beschreiten. Die besseren Industriellen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, betrachten sich heute selber nicht nur als Wirtschaftsführer, sondern auch als Menschenführer; ohne eine ethische Grundeinstellung gegenüber den arbeitenden Menschen ist ein Industriebetrieb überhaupt nicht zu führen. Eine wachsende Zahl von Großunternehmen hat bereits moderne Lehrwerkstätten eingerichtet, in denen der Lehrling losgelöst von der Produktion ein breites Fundament an technischem, sozialem und allgemeinem Wissen erhält, um die gesellschaftlichen Zusammenhänge verstehen zu können, in denen der eigene Betrieb steht. Als Beispiel wird oft das Stickstoffwerk Hibernia in Wanne-Eickel genannt, in dessen Lehrlingsausbildungsstätte die Volksschulabgänger eine zweijährige rein schulische Erziehung erhalten, die eine intensive, praktische, theoretische wie auch künstlerische Erziehung umfaßt. Letzten Endes geht es ja deshalb in der Berufserziehung darum, daß der Jugendliche nicht nur den betrieblichen Anforderungen gewachsen ist oder als Anlerntechniker eine bestimmte Funktion akkordreif ausführen kann, sondern daß er den Ansprüchen, die das Leben in der modernen Industriegesellschaft an ihn stellen wird, gerecht werden kann. Also muß der Ausbildungsvorgang über den beruflich-fachlichen Rahmen hinausgehen, wenn wir — um an das genannte Leitbild gegenüber der östlichen Erziehung zu erinnern — einen freien und verantwortungsbewußten Menschen prägen wollen. Mehr denn je brauchen wir heute einen in sich selbst zentrierten Menschen, der nicht der Reizüberflutung der entfesselten Konsumwelt widerstandslos erliegt, sondern der Selbstzucht, Selbstkontrolle und Distanz zu sich selber hat. Wir brauchen einen Menschen, der sich gegenüber den Verlockungen der Wohlstandsgesellschaft, ihres Zivilisationskomforts und ihres Konsumzwanges die Freiheit der inneren Entscheidung zu erhalten vermag und nicht zum „Verbraucherrekruten" herabsinkt.

Gerade der fraglose Vorrang der Konsumgüter droht heute zur Angleichung aller Lebensbereiche und zu einer Nihilisierung aller Werte zu führen. Deshalb wird heute in Schweden bereits von der „Wohlstandskrise"

als dem gesellschaftlichen Problem Nr. 1 gesprochen. Ihr kann man nur aus echtem Wert-gefühl widerstehen, indem man Verhaltens-sicherheit gewinnt.

Die schwersten Gefahren stehen aber noch bevor, wenn nämlich die Entvölkerung in den Werkstätten und Büros der automatisierten Industrien beginnt, die sogenannte „technologische Arbeitslosigkeit", und infolge der unabwendbaren Arbeitszeitverkürzung überall demnächst die 35-Stunden-Woche eingeführt werden muß. Für einzelne Industriezweige der USA ist dies heute schon aktuell. Wenn man bedenkt, daß ein Friedrich Engels noch für die Durchsetzung des 12-Stundentages kämpfen mußte, wird die veränderte Problemlage klar. Die großen Fragestellungen werden nämlich erst noch auf uns zukommen, welchen Gebrauch der von der Arbeit befreite Mensch von seiner Freizeit wirklich machen wird. Zunächst einmal stehen die meisten den massiven Angeboten einer die Freizeit kommerziell ausbeutenden Vergnügungsindustrie unkritisch gegenüber. Wird nun der einzelne, zumal der jugendliche Mensch, dem schabionisierten Sensationsrummel der Freizeitfabrikanten, dieser geheimen Miterzieher, schutzlos preisgegeben sein? Oder darf man optimistischer sein und erwarten, daß ein Galopp der Steckenpferde ausbrechen wird? Oder werden sich die Jugendlichen nicht viel eher, um der Langeweile und der inneren Leere zu entgehen, in die Schwarzarbeit flüchten? Oder gar in die Kriminalität von Halbstarkenbanden? Die amerikanischen Erfahrungen bisher lassen erkennen, daß der einzelne vor der Fünf-Tage-Woche in einen zweiten oder dritten Beruf ausweicht. Der amerikanische Gewerkschaftsführer Walter Reuther hat bereits den Kampf für die Vier-Tage-Woche, also das dreitägige Wochenende angekündigt. Und dabei sieht es bereits schon jetzt so aus, daß der arbeitende Mensch in seiner neu gewonnenen Freizeit keine freie Zeit mehr haben wird. Als Massenphänomen hat es derlei noch nie gegeben. Ich kann diese Zukunftsfragen, die ich für ernster halte als viele andere, nicht beantworten, weil nämlich unsere Bemühungen um die echte Formung junger Menschen die Antwort sein werden, wieweit wir ihnen wirklich einen Fundus echter Allgemeinbildung mitgeben können. Nur soweit wir den Menschen innere Haltung geben, werden sie Halt haben, nur soweit wir Leitbilder eines heilen, ganzheitlichen Menschentums errichten können, werden sie gebildet sein. Anders werden sie die echten Lebensbedürfnisse von den Surrogatbedürfnissen niemals unterscheiden lernen und den Komfort oder Zivilisationskonsum eben doch mit dem „Glück" verwechseln. Unsere eigene Schwierigkeit als Eltern und Lehrer ist dabei nur, daß wir selber noch aus einer vortechnischen Welt kommen und bei unseren Einflußnahmen und Beratungsversuchen die veränderten Bedingun-B gen der heutigen Arbeitswelt leicht unterschätzen. Wenn aber alles auf die Weckung des inneren Widerstandswillens gegen die schleichende Selbstentfremdung ankommt, dann gehören zumal in die Berufsschulen, Lehrlingswerkstätten, Wohnund Freizeit-heime unsere besten Erzieher und Menschenbildner — nicht bloß Techniker und Werkmeister, die ihre Arbeit gut verstehen, vielleicht auch noch in wirtschaftlichen Wettbewerbs-fragen versiert sind, aber von Pädagogik keine Ahnung haben. Die richtige pädagogische Ausbildung der Ausbilder, zumal der Berufsschul-und Gewerbelehrer, ist darum das heute vordringliche Problem.

Kurz möchte ich hier auch die Probleme des Volkshochschulwesens und der Erwachsenenbildung berühren dürfen, deren erprobte Methoden in der zweiten Nachkriegssituation häufig zu versagen scheinen. Alle Beobachtungen kommen darin überein, daß der schöne Bildungswille der alten Arbeiterbewegung in der jungen Generation nicht mehr existiert, da die Berufsauffassung ganz versachlicht worden ist bis hin zur Funktionserfüllung im einseitigen Sinne des „Erwerbsberufes". Die heute allseitig übliche Bewertung der Arbeit nach der Lohntüte kann das alte Arbeitsethos schwerlich ersetzen. Der von Karl Bednarik gekennzeichnete Typ des jungen Arbeiters von heute, dessen Ideal und Lebensführung mit Motorrad, Kofferradio, eleganter Kleidung, häufigen Besuchen von Kino-und Tanzvergnügungen umschrieben ist, der findet sich in den bildenden Arbeitsgemeinschaften und Vorträgen der Volkshochschulen nicht mehr ein, die in den Klein-und Mittelstädten oft beinahe eine Domäne der Akademiker zu werden drohen. Wenn vor 30 Jahren Wissen als Macht gegolten hat, so heute als Gewinnchance beim Fernseh-Quiz. Der junge Arbeiter von heute scheint auch selten Verlangen danach zu spüren, seine Arbeitssituation in ihren größeren Zusammenhängen zu begreifen. Von einer politischen Interpretation etwa im Sinne der alten sozialistischen Ideen ist er ohnehin weit entfernt; Klassenschicksal und Klassenkampf sind unter den jungen Arbeitern unverständliche Begriffe gevorden, wie Umfragen im Bundesgebiet ergeben haben. Das ist kein Wunder! Mit der proletarischen Situation ist eben auch das proletarische Bewußtsein geschwunden; der gehobene Lebensstandard ist zum ausschließlichen Motiv des sozialen Prestiges geworden. Bednarik stellt dazu fest: „Wenn aber dem neuen Typ des jungen Arbeiters kein geistiges Leben vermittelt werden kann, dann besteht nicht nur die Gefahr, daß seine Masse einer neuen Gewaltherrschaft zum Opfer fällt, sondern auch, daß er in seinen stärkeren, weil kältesten Exemplaren jene Funktionäre hervorbringt, die in der nächsten Generation unsere Verwaltungsmaschinerie dirigieren werden."

Nun ist auch mir vollständig klar, daß man den sinnentleerten Arbeitsvollzug nicht im unmittelbaren Zugriff mit Sinn erfüllen kann, weil die menschliche Selbstentfremdung im seelenlosen Betrieb der mechanisierten Arbeit nicht durch eine Wunderkur aufgehoben wird. Der Schweiß des laborare läßt sich nicht wegparfümieren, freilich auch nicht durch Lohnerhöhungen zum Verschwinden bringen.

Wenn es wahr ist, daß Arbeit für den Menschen etwas Natürliches und Artgemäßes ist, daß Arbeit, wie schon Hegel sagte, zur Wesensbestimmung des Menschen gehört und im dialektischen Prozeß sogar seine Freiheit und seine Selbstwerdung fördert, wird es den Menschen immer wieder nach Arbeit verlangen. Dafür sprechen ja auch starke Triebe seiner Natur: Schaffensdrang, Erkenntniswille, Herrschbegier, Spieltrieb und last not least — soll ja noch vorkommen — Pflichtgefühl. Wichtig ist nur das eine, daß der Mensch wieder den Sinn seiner Arbeit erfahren lernt. Dazu muß er aber seine Arbeit anschauen, durchdenken und in größere Zusammenhänge einordnen können, damit er von der Sinn-haftigkeit seiner Bemühungen einen Begriff bekommt und persönliche Verantwortung für die von ihm mit hergestellten Gegenstände übernehmen kann. Als erstes muß man darum seinen Fragewillen wecken, damit ihm der eigene Beruf zum Mittelpunkt eines Horizontes wird, von dem aus sowohl die Welt draußen wie auch das persönliche Leben wirklich beurteilbar werden.

Natürlich wird hier noch manches andere eine Rolle spielen, wie etwa die Pflege des modern gewordenen „human relations" im Betrieb zwecks Schaffung eines humaneren Betriebsklimas, vielleicht auch Mitbestimmungsrechte und Delegation von Teilverantwortung an die breite Schicht der mittleren Angestellten und der Vorarbeiter. Die Experimente der Duisburger Kupferhütte mit Gewinnbeteiligung und Eigentumsbildung der Werkarbeiter sind jedenfalls lehrreich. Wenn dadurch die menschliche Bindung an den Industriebetrieb verstärkt werden kann, gehört auch das so-genannte Mitunternehmertum oder der Versuch einer Eigentumsbildung durch Volksaktien in diesen Zusammenhang, um den Arbeiter gemäß seiner Leistung an den Erträgen des Betriebes zu beteiligen, damit er wirklich ein Werksangehöriger wird.

Ich bin aber der Meinung, daß Veränderungen der Eigentumsverhältnisse, wie sie sich heute schon weitgehend vollziehen, an den Anforderungen der modernen Industriewelt und damit am Arbeitsschicksal als solchem nichts ändern werden. Die moderne Technik läßt sich nun einmal nicht humanisieren, sie läßt sich höchstens dadurch kompensieren, daß der einzelne Mensch in seinem Selbstwert durch die Erfahrung der Kooperation, d. h.der verantwortlichen Gliedschaft in einem Arbeitsteam gesteigert werden kann. Das in Amerika entwickelte Teamwork-Prinzip als freiwillige Interessengemeinschaft über den Interessengegensätzen kann dem Leitbild der sozialen Partnerschaft dienen. Im Grunde ist nämlich Teamwork die westliche Antwort auf die russischen Zwangskolchosen und die ostzonalen Produktionsgenossenschaften. Seit Ernst Abbes Aufbau der Zeisswerke in Jena sind auf der Basis von Teamwork-Plänen innerhalb und außerhalb Deutschlands mancherlei Modelle einer auf sozialer Partnerschaft beruhenden Gesellschaftsordnung aufgestellt worden. Der „Arbeiterbürger" anstelle des ehemaligen Proletariers ist ein sich schon in unseren Tagen immer mehr realisierender Sozialtypus, insofern für die breiten Massen Besitzbildung und somit unter den 70 Prozent der lohnabhängigen Existenzen ein breit-gefächertes Kleineigentum zustande kommt.

Aber um nun zurückzukommen auf das spezielle Bildungsproblem: Vor der modernen Arbeitssituation wird eine idealistische Volks-bildung alten Stils mit humanen Feierstunden außerhalb der unhumanen Arbeitszeit restlos versagen. Weiter käme hier schon eine Schulund Erwachsenenbildung, die bewußt „vom Nützlichen über das Wahre zum Schönen" führen will und die über dem labora auch das ora nicht vergißt. Freilich soll Bildung stets am Tun gewonnen werden und mithin angebbaren praktischen Zwecken dienen, schon um die Eignungsbreite der Auszubildenden zu fördern. Dieses Ziel darf niemals aus dem Auge gelassen werden. Es kommt also darauf an, den heranwachsenden Menschen durch eine harmonische Verbindung von Spiel und Ernst im erzieherischen Prozeß als Person den Anforderungen der Arbeitswelt gewachsen zu machen, so daß er sie bewältigen kann, ohne sich ihr passiv zu unterwerfen. Auf hochqualifizierte Arbeitsleistung durch zweckrationales Denken und Handeln, Werktreue und werkgerechte Verfahrenstechnik, berufliche Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit wird die Ausbildung sowohl des künftigen Facharbeiters wie die des Anlerntechnikers stets abgestellt bleiben müssen. Dazu wird heute in verstärktem Maße die Auffindung von Begabungen aus allen sozialen Schichten treten müssen. Organisation von Talenten und ihr planmäßiger Einsatz an den richtigen Stellen kann mancherlei bewirken. Ich habe für diese Seiten des Bildungsproblems an Gedankengänge des verstorbenen Frankfurter Pädagogen Heinrich Weinstock über die Rolle der Arbeit im Prozeß unserer Menschwerdung angeknüpft, der von einem „realen Humanismus"

spricht, damit Arbeit und Bildung wieder zusammenkommen. Auch für die Lösung der Freizeitproblematik wäre von hier aus einiges zu erwarten. Die Freizeitgestaltung wird künftig immer mehr zur bewußten Ergänzung der Arbeit durch eine andere außerbetriebliche und außerberufliche Welt werden. Das eigentliche Leben beginnt für die meisten erst nach der Arbeit, wenn der Betrieb die nur teilhaft beanspruchten Menschen wieder freigibt, also wenn die „graue Masse", die aus den Werkstoren strömt, sich auflöst und der Arbeitskittel ausgezogen wird. Die Trennung von Arbeit und Leben wird wohl immer mehr die Regel werden. Nur im besten Falle durchdringen sich beide gegenseitig. Im Grenzfall schließen sie einander aus, im Normalfall stehen sie mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Es muß aber nicht so sein, daß der seelenlosen, mechanisierten und gehetzten Arbeitszeit eine ebenso seelenlose, mechanisierte bzw. motori-sierte und gehetzte Freizeit entspricht. Die wirkliche freie Zeit in der Freizeit zu sichern, also den Feierabend und die echte Muße — das ist die eigentliche Aufgabe, damit der Mensch nach seinem Werktag, also ohne den Zwang der Arbeitsdisziplin, etwas mit sich selber anfangen kann. Der Freizeitgestaltung des üblichen Stils, daß andere Leute unsere Freizeit gestalten wollen, wird hier dringend widerraten. Jeder einzelne soll sie selber gestalten lernen. Die sozialpädagogische Aufgabe ist es ja gerade, die jungen Menschen dazu zu befähigen, d. h. die schöpferischen Kräfte in ihnen zu wecken, damit sie ihre Freizeit selbst gestalten lernen. Vorläufig ist das aber noch ein Zukunftspostulat, da wir die Freizeit bisher nur als Konsumgut und nicht als Chance echter Persönlichkeitsentfaltung behandeln. Wir haben sie daher den sogenannten Massenmedien (Illustrierte, Film, Funk, Fernsehen usw.) überlassen, während sie im Osten von Staat, Partei und „gesellschaftlicher Organisation" mit Beschlag belegt wird. Wir sollten bedenken, es handelt sich hier um eine Massenerscheinung, also um ein Politikum erster Ordnung, das sich nicht von allein erledigen wird. Die rechte Lenkung der Freizeit, die bis zu einem gewissen Grade lehrbar ist, bietet künftiger Bildungspolitik eine große Chance.

Was aber die spezielle Erziehungsaufgabe an dem Nachwuchs der Industriearbeiter angeht, so hat der aus der Gewerbeschulpraxis hervorgegangene Wiesbadener Oberschulrat Otto Monsheimer mit Recht darauf hingewiesen, daß alle Bildungsund Erziehungsarbeit heute an den globalen Lageveränderungen orientiert und auf die technisierte Arbeitsund Lebens-welt abgestellt werden muß, die die Jugend heute erwartet. Den jungen Menschen müssen seelisch-geistige Orientierungshilfen gegeben werden, damit sie erkennen können, daß reine Nützlichkeitsund Gebrauchswerte die geistig-kulturelle Welt niemals aufschließen werden. Die Ansatzpunkte hierfür liegen schon innerhalb des Technischen selber. Man muß nur versuchen, die Ehrfurcht vor den Kräften und Mächten zu erwecken, die hinter dem Produktionsprozeß, hinter der Arbeitswelt und ihrer Sachgestaltung liegen. Es ist schon viel gewonnen, wenn man den Blick für den Unterschied von Qualitäten und Kategorien schärft, etwa daß man erlernt, daß Menschen sich nicht wie Sachen behandeln lassen, weil kein Mensch als Mittel, sondern jeder Mensch als Selbstzweck gewertet werden muß. Es geht also darum, den jungen Menschen die geistig-seelische Wertewelt als etwas über alles Nutzund Zweckhafte Hinausweisendes erleben zu lassen. Dafür können die Augen des jungen Menschen geöffnet werden. Werden sie ihm aber geöffnet, dann dient dies der Entfaltung seiner Personhaftigkeit, seiner eigenen Menschwerdung.

Allgemeine Bildung

Es sind aber noch einige weitere Überlegungen zum Bildungsproblem der Gegenwart mehr allgemeiner Art hier anzuknüpfen, vor allem diese: Aus vielerlei Gründen ist heute eine längere Ausbildungszeit für die Jugendlichen geboten, als wir ihnen zu geben bereit sind. An Gründen nenne ich: die wachsende Komplizierung und Spezialisierung des gesamten öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, ferner das Phänomen der Akzeleration, d. h. Beschleunigung des körperlichen Wachstums bei Verlangsamung der seelisch-geistigen Reife, und schließlich auch die Tatsache, daß uns die Sowjetunion in der Fürsorge für den Nachwuchs zu überrunden droht. Rußland hat die Ausbildung einer Armee von technischen Talenten organisiert (12 000 Ingenieure jährlich), mit der es mengenmäßig den Westen eindeutig überrundet. In der UdSSR zählte man 1961 739 Universitäten und Fachschulen mit fast 150 000 Hochschullehrern und 2, 4 Millionen Studenten, davon die Hälfte nebensächlich (Abendstudenten, z. T. auch in Fernkursen). Rund 45 Prozent von diesen studieren technische Fächer; die Absolventen — im Jahre 1960 waren es 120 000 — wurden als „Ingenieure" bezeichnet. Für 1965 sieht die Planung 3, 3 Millionen „Spezialisten" als Hochschulabsolventen vor 15). Die Bedrohlichkeit dieser astronomisch anmutenden Ziffern reduziert sich insofern, als die Qualität bisher in keiner Weise der Quantität entspricht, denn das Gesamtniveau ist trotz einzelner Spitzenerfolge (Kosmonauten etc.) recht niedrig. Das dürfte mit der ideologischen Verknüpfung der Bildungsziele und Gehalte Zusammenhängen, da ja in der UdSSR nicht die Bildung, sondern die Ausbildung angestrebt wird. Das kann sich aber mit der beginnenden Entideologisierung sehr schnell ändern!

In der Sowjetunion ist die Grundschulzeit, die bei uns noch acht Jahre beträgt, auf zehn Jahre erhöht worden; sie erfaßt also den jungen Menschen vom siebenten bis zum siebzehnten Lebensjahr, und es wird ihm sogar pflichtgemäß eine Fremdsprache vermittelt. Die Durchführung eines elften und zwölften Schuljahres war in Vorbereitung, bis Chruschtschow auch aus anderen Überlegungen heraus diese Entwicklung abgebremst hat. Für unsere Verhältnisse dürfte auf die Dauer ein neuntes und später vielleicht sogar ein zehntes Pflichtschuljahr unvermeidlich werden. Das der Berufsfindung dienende 9. und 10. Schuljahr sollte von Volks-und Berufsschule gemeinsam erprobt werden. Auch Aufbau-klassen an den Berufsschulen, die zur Fachschulreife führen, werden von manchen Pädagogen für erforderlich gehalten. Sicher liegen hier im Übergangsstadium zwischen Kindheit und voller Erwachsenheit große erzieherische Chancen. Wir sollten hier nicht kleinlich sein, es könnte sich rächen. Wir sollten aber auch das Erziehungsziel den modernen Notwendigkeiten besser anpassen und den Geist der Selbständigkeit auf den Schulen mehr pflegen, denn selbständiges Denken ist heute mehr Wert als ein Schatz überlieferter Kenntnisse. Ferner sollte man sich zu radikalen Maßnahmen hinsichtlich der oft beklagten Stoffüberlastung in allen Schulformen entschließen. Ich darf hier einen so erfahrenen Pädagogen wie Eduard Spranger zitieren, der folgendes feststellt: „Man ist immer dem Irrtum unterlegen, daß man in der Schule Proviant für die ganze Lebensreise eintun müßte. Dadurch ist leider die innere Lebendigkeit für eigentlich produktive Leistungen frühzeitig unterdrückt worden. Auf vielen Konferenzen wird jetzt gegen diese Masse des toten Stoffes geeifert. Man erklärt sich für das exemplarische Lernen, das ja besonders in der Berufsschule gut gepflegt werden könnte. Aber niemand findet sich bereit, an die schwere Arbeit des Umdenkens der Lehrstoffe heranzugehen, die nun erforderlich wäre. Zu der Seite des Unterrichts würde auch gehören, was bisher gefehlt hat: eine Einführung in den Gesamtzusammenhang unserer Kultur, soweit die Stufe des Anfangs eine solche Übersicht schon ermöglicht. Aber das Prinzip der Kulturkunde, das eine Zeitlang aufkam, ist vielfach bekämpft worden. Ich möchte heute noch einmal dafür eintreten, daß das in irgendeiner Form zur Geltung kommen muß."

Diese letzteren Gesichtspunkte haben natürlich insbeondere Geltung für die höhere Schule, die ihren Charakter leider dadurch einzubüßen droht, daß große Teile der Elternschaft in ihr lediglich nur noch ein „Zuteilungsamt von besseren Sozialchancen" erblik-ken, eine Dirigierungsstelle für künftige soziale Sicherheit oder gar für das Ausmaß künftiger Konsummöglichkeiten, weshalb der Andrang zu ihr immer stärker wird. So hat sich die Zahl der Oberschüler im Bundesgebiet um 225 000 erhöht, während der Volks-schulbesuch um das Doppelte zurückging. Freilich steht ein großer Prozentsatz der Oberschüler gar nicht bis zum Abitur durch, sondern geht vorher ab. Immerhin gab es 1964 in der Bundesrepublik um 50 °/o mehr Abiturienten (nämlich 57505) als 1938 in ganz Deutschland. Dadurch, daß die alten Bildungsbedürfnisse in einen allgemeinen Sozialanspruch verfälscht werden, sinkt die höhere Schule langsam auf das Niveau der Mittel-schule herunter und vermag somit ihrer Aus-wahlaufgabe kaum noch nachzukommen. Was dann auf die Hochschulen und Universitäten gelangt, hat zwar heute wieder eine weit bessere Grundausbildung als in den ersten Nachkriegsjahren, aber dafür ist die geistige Einstellung oft einfach verheerend. Die Zeit des akademischen Studiums sollte doch die des aufsteigenden Lebens sein, in der man aus innerem Impuls heraus mit Dingen, Menschen, Gedanken aller Art verantwortliche Auseinandersetzung pflegen will. Statt dessen aber erlebt man auf den Hochschulen ein wachsendes Unverständnis für den Geist der Universitas litterarum und die Anbetung eines ganz spezialistischen Tatsachenwissens. Nicht mehr der Wunsch, die Wahrheit zu erkennen, führt den normalen Neunzehnjährigen auf die Universität, sondern die Absicht, schnellstmöglich ein gutes Fachexamen abzulegen, hinter dem die Pfründe winkt. Früher war man wenigstens der Meinung, daß sich beides nicht auszuschließen braucht. Aber wenn ich mich nicht sehr täusche, steigt auch bei uns im Westen der fleischgewordene „Übersoller" als das moderne Leitbild am Bildungshorizonte hoch — der Hauer Adolf Hennecke, der dauernd Überschichten fährt. Die Tendenzen unseres öffentlichen Lebens gehen nämlich allzu einseitig auf die Züchtung hochspezialisierter Facheliten bei gleichzeitiger Schrumpfung des universalen Bildungshorizonts. Aber eine einseitig auf Leistung und Fachbildung gedrillte Jugend wird durch Pseudoideale des Fach-spezialistentums, die freilich magische Anziehungskraft besitzen können, von all dem distanziert werden, was abendländische Kulturtradition bedeutet. In dieser ist es bisher so gegangen, daß Adel nicht durch Leistung, sondern durch Vornehmheit, d. h. durch eine menschliche, bildungsmäßige Hochprägung, durch geistigen und moralischen Wert konstituiert worden ist. Darauf waren die Auslese-maßstäbe gerichtet — und nicht auf das Quantum der technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das war und ist ein Politikum erster Ordnung. Denn schon heute gelangen durchaus nicht mehr diejenigen, die im Politischen, im Kulturellen oder in der Wirtschaft vorbildlich wirken können und prägende Kraft entfalten, auch in die Schalt-und Hebelstellen des politisch-gesellschaftlichen Apparates, sondern allzu häufig sehen wir typische Repräsentanten der gesichtlosen Massengesellschaft gerade an diesen Stellen.

Wenn ich schließlich noch speziell von der gegenwärtigen akademischen Bildungssituation spreche, so ist diese durch eine zunehmende Abkapselung der einzelnen Forschungsrichtungen voneinander und ebenfalls durch ein überwuchern der spezialistischen Orientierung charakterisiert. Sie aber droht den historischen Charakter der deutschen Universitäten und Hochschulen völlig zu verfälschen. Dieser seit längerem erkannten Gefahr hat man vielerorts die Forderung eines Studium generale entgegengestellt. Wo dieses in den letzten Jahren zeitweise eingeführt wurde, waren aber die Resultate nicht gerade ermutigend. Die Ursache dafür ist sehr einfach zu nennen: nämlich die Addition von Einzel-erkenntnissen, die Vertreter verschiedener Fächer zum gleichen Thema vortragen, wird niemals ein ganzheitliches Bild ergeben können. Stets wird es auf die Zusammenschau der verschiedenen Sachgebiete auf ein Zentrum hin durch das Prisma einer einzigen Forscherpersönlichkeit ankommen müssen.

Dieser Aufgabenstellung will seit Wilhelm Dilthey die Geistesgeschichte dienen, die ihre Bestimmung als Lehrfach darin sieht, den Geist einer jeden Epoche, den sogenannten Zeitgeist und seine Wandlungen zu erfassen und zur Darstellung zu bringen. Als besonderes Lehrfach hat die Geistesgeschichte in Deutschland bisher nur an wenigen Orten eine Vertretung gefunden. Aber die vor einiger Zeit auf einer Studientagung gegründete „Gesellschaft für Geistesgeschichte" tritt für die Einrichtung solcher Lehrstühle an allen Universitäten, Technischen und Pädagogischen Hochschulen ein. Die Geistesgeschichte will also den Geist einer jeden Zeit erfassen, wie er in den Manifestationen des geistigen Lebens: Philosophie, Kunst, Religion, aber auch Staat, Recht, Wirtschaft usw., zum Ausdruck kommt. Denn die Geistesgeschichte, die einen Zeitraum adäquat charakterisieren will, ist an den Zusammenhängen aller Gebiete untereinander interessiert, also z. B. an den inneren Beziehungen zwischen calvinistischer Theologie und frühkapitalistischer Wirtschaftsethik, lutherischer Amtslehre und preußischem Staat, expressionistischer Malerei und existenzphilosophischem Denken usw. Die gemeinsame ewußtseinslage zu untersuchen, die in verschiedenen, oft gegensätzlichen Werken, Leistungen, Sozialgebilden der gleichen Epoche zum Ausdruck kommt, halte ich für ein legitimes wissenschaftliches Beginnen. Die geistesgeschichtliche Sicht auf die Kulturen und Kulturepochen als Ganzheiten und als geistige Einheiten repräsentiert ein echtes Sachanliegen. Darum würden die gewünschten neuen Lehrstühle die Aufgabe des kulturkundlichen Gesamtaspektes haben, die das Summieren von Fachvorlesungen im Studium generale nicht einlösen konnte, um so die einzelnen Fächer und Disziplinen zu verbinden, ja auch zwischen den verschiedenen Fakultäten Brücken zu schlagen. In der gegenwärtigen hochschulpolitischen Situation ist das eine der wenigen Möglichkeiten, die noch offen bleiben, um die Idee der Universitas litterarum hochzuhalten und sichtbar zu machen.

Hinter dem Thema Geistesgeschichte steht natürlich nichts anderes als das Problem der allgemeinen Bildung. Allgemeine Bildung umfaßt alle Lebensgebiete und sucht alle grundlegenden Geistesrichtungen zu verstehen. Die Kunst des Didaktikers liegt im exemplarischen Lehren, d. h. darin, an einem Mindestmaß von grundlegendem Lehrstoff die universelle Einführung in das Geistesleben zu gewinnen. Darum ist Berufsvorbereitung nur bildend, soweit sie Allgemeinbildung miterstrebt. Allgemeinbildung steht in keinem Gegensatz zur Fachausbildung und zum Spezialistentum. Sie ist vielmehr ein durchaus menschliches Erfordernis. Der fundamental Gebildete wird später ein besserer Spezialist werden als derjenige, der allzu früh durch eine auf die Zwecke des Berufes abgestellte Bildung eingeengt wurde. Der große Göttinger Naturwissenschaftler Lichtenberg hat einmal zu Recht gesagt: „Wer nichts als Physik versteht, versteht auch sie nicht recht." Das Verhältnis ist nämlich so, daß der einseitig Gebildete, der Nur-Spezialist, hoffnungslos verloren ist, wenn er einmal gezwungen wird, über seine Grenzen hinauszugehen, während der Allgemein-Gebildete die Spezialsache, die er betreibt, in einen größeren Zusammenhang eingeordnet weiß und sie darum letzten Endes viel praktischer beurteilen und in Verhandlungen auch eindrucksvoller vertreten kann als der Nur-Spezialist Und ist man einmal Spezialist geworden, wird man erst recht bemüht sein müssen, sich nach allen Seiten auszuweiten, um die kulturellen Kontakte nicht zu verlieren, wie es Goethe einmal in seinen Gesprächen mit Riemer formuliert: „Einseitige Bildung ist keine Bildung. Man muß zwar von einem Punkte aus, aber nach mehreren Seiten hin gehen."

Nun müßte freilich zum Schluß noch exakt gesagt werden, was echte Bildung wirklich ist. Das kann aber nur in Andeutungen geschehen. Es ist leichter zu sagen, was sie nicht ist. Wer ein wandelndes Lexikon ist, dem kann man mit Recht nachsagen, er sei wissensreich, aber gebildet ist er nicht. Denn das viele Einzelwissen fügt sich in ihm ja nicht zu einem Bild zusammen. Derlei mag für Lösung von Kreuzworträtseln oder für Quizsendungen in Funk und Fernsehen nützlich sein, mit Bildung aber hat es nichts zu tun. Allveta-ren, der Alleswisser, in Schweden eine populäre Figur, beinahe eine Amtsperson, hervorgegangen aus Fragesport-Ausscheidungswettkämpfen des ganzen Landes, repräsentiert ein enzyklopädisches Ideal, aber nicht Bildung. Ein mit Wissensdaten vollgespickter Zettelkasten ist eben noch lange kein gebildeter Mensch. Man könnte geradezu formulieren:

„Bildung ist das, was zurückbleibt, wenn alles einzelne Wissen vergessen worden ist." Wir meinen hier also das Gegenteil des enzyklopädischen: das humanistische Bildungsideal, mit dem nämlich der Erwerb der vollen „Humanitas" angestrebt wird. Wir meinen hier ein Wissen, das in das Sein übergeht, Bestandteil der geistigen Person des Menschen wird und dann ganz unaufdringlich ist. Max Scheler sagte einmal: „Bildungsstolz, Wissenshochmut ist Unbildung a priori, Bildungsdünkel erst recht. Gebildet ist der, dem man nicht anmerkt, daß er studiert hat, wenn er studiert hat, und dem man nicht anmerkt, daß er nicht studiert hat, wenn er nicht studiert hat."

Darüber hinaus ist noch zu sagen, daß wir nicht mehr im Zeitalter Goethes leben, in dem man freilich auch schon Goethe selber sein mußte, um eine wirklich universale Bildung zu besitzen. Allgemeine Bildung heute ist immer perspektivischer Art, d. h., sie ist nur von dem Ort her möglich, an dem wir stehen, als Blick unter den Bedingungen der jeweiligen Perspektive auf das Ganze mit dem Willen zum Überblick über das Ganze. Der eigene Beruf ist nun einmal der Ort, an dem der Mensch gründliche Erfahrungen machen kann, der Bereich, in dem er zu Hause ist und wo er wirklich Bescheid weiß. Der Beruf muß darum auch der Ausgangspunkt einer perspektivischen Bildung sein. Aber nur der Blick auf das Ganze verleiht die heute erforderliche Optik, wenn man individuelles Schicksal im Gesamtzusammenhang verstehen will.

Was Allgemeinbildung als pädagogisches Ziel für die Erziehung des Durchschnitts heißen würde, ist einmal für den Hausgebrauch drastisch so formuliert worden: „Allgemein gebildet ist, wer imstande ist, außer seiner Fachzeitschrift den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Teil einer der guten Tages-oder Wochenzeitungen mit Verstand und Nutzen zu lesen und auszuwerten." Das ist bestimmt keine leichte Sache. Oder wie es in den Empfehlungen des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen" heißt: „Gebildet im Sinne der Erwachsenenbildung wird jeder, der in der ständigen Bemühung lebt, sich selbst, die Gesellschaft und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln." In diesem Sinne ist Bildung notwendig für jedermann, aber allmächtig ist Bildung nicht.

Aber vielleicht sind auch alle diese Bestimmungen noch zu eng gefaßt und genügen deshalb nicht. Denn echte Bildung muß die eigene Daseinserhellung und -bewältigung ermöglichen können, sie muß uns dazu fähig machen, unser persönliches Schicksal zu meistern. Darum kann echte Erziehung auf die Dauer auch nicht ohne Leitbilder dessen auskommen, was der Mensch sein soll. Und so möchte ich denn zum Schluß noch andeutend dieses sagen dürfen: Der wohlgeformte Mensch ist das Ziel aller Erziehung, nicht der Mensch als Kunstwerk — das ist er nicht und das soll er auch gar nicht sein. Denn wer sein Ich hinter eine Glasglocke der Innerlichkeit zum Kunstwerk gestalten wollte, wäre auch noch nicht gebildet, wie Th. Litt einmal gesagt hat, sondern gerade der weltoffene und das Weltganze erfassen wollende Mensch ist es, der heutzutage Technisierung und Mechanisierung als Zeit-schicksal und als Aufgabe ergreift, das Menschsein zu behaupten gegen alle Organisation, weil ihm ein Bild des echten Mensch-seins vorschwebt. In dieses Bild soll der junge Mensch hineingebildet werden, da es die edelsten und höchsten Werte menschlicher Existenz sichtbar werden läßt: Wahrhaftigkeit, Verantwortlichkeit, Treue und Edelmut. Echte Bildungsaufgabe ist es, einen jeden Menschen an seinen eigenen Wesenskern heranzuführen, ihn „wesentlich" zu machen.

Der ganz wesentliche und ungefärbte Mensch aber ist der Mensch als Kreatur vor Gott, der Mensch, wie ihn ein biblisch geläuterter Humanismus sieht. Nicht der Mensch titanischer Hybris, aber auch nicht der durch Nivellierung und Vermassung degradierte Mensch, sondern der wirkliche, der wesentliche Mensch, der für seine Handlungen und Schöpfungen auch die volle Verantwortung übernimmt. Aus jedem jungen Menschen können die besten Anlagen und Möglichkeiten, die in ihm schlummern, die Gott in ihn hineingelegt hat, herausgeholt und zum Maximum der Entfaltung gebracht werden, wenn er das Glück hat, in den Jahren seiner Entwicklung einem ech-ten Menschenbildner zu begegnen. Das Unglück ist vielleicht nur, daß solche Seelenführer, solche echten Pädagogen, nicht in genügend großer Zahl geboren werden. Aber es gibt auch das Glück der fruchtbaren Stunde, der schicksalhaften Fügung, durch die die Wesensgestalt eines jeden Menschen angerufen und zur Entfaltung befreit werden kann, denn ein jeder trägt das Bild dessen, das er werden soll, immer schon in sich. Es muß nur jemand kommen, der ihm den Schleier davor fortzieht. In jedem Menschenleben gibt es aber diese großen Augenblicke, in denen Begegnung geschieht, in denen Schicksal sich fügt und die geistigen Funken überspringen. Man muß nur Vertrauen zum Weltgrund selber haben und man darf niemals die Hoffnung aufgeben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diese und die folgenden Zahlenangaben werden nach dem Statistischen Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Jg. 1964, wiedergegeben bzw. berechnet.

  2. Stuttgart 1956.

  3. So H. Mackenroth, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin 1953, S. 128.

  4. Mit West-Berlin erhöht sich die Einwohnerzahl auf 57, 9 Millionen.

  5. Walther Rathenau, Ges. Reden, Berlin 1929, S. 173.

  6. Der Mensch, das unbekannte Wesen, Stuttgart 1936, S. 143.

  7. Die Perfektion der Technik, Frankfurt 19564.

  8. van den Haag, in: „Diogenes", Jan. 1957.

  9. Stuttgart 1957, S. 27.

  10. Heinz Penzlin, Was kostet der Wohlstand?, Oldenburg 1962, S. 40.

  11. Für diese Angaben beziehe ich mich u. a. auf Aufsätze resp. Vorträge von Prof. H. Goeschel, Der strukturelle Wandel der industriellen Arbeit, in: VDl-Nachriditen 1958, Nr. 6; Ingenieur und Großbetrieb, ebenda, Bd. 100 (1958), Nr. 24.

  12. Mensch und Menschmaschine, Frankfurt 1952 (19582).

  13. Der junge Arbeiter, Stuttgart 1953, S. 150.

  14. Rechtsphilosophie §§ 197— 198.

  15. Die Zahlen entstammen: R. Meyer — O. Anweiler, Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Heidelberg 1961.

  16. Menschenbildung in der Wirtschaftswelt der Gegenwart, Bielefeld 1955, S. 17.

  17. Vgl. mein Buch: Was ist und was will die Geistesgeschichte? über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung, Göttingen 1959.

  18. Ein Blick in den Inseratenteil der WELT oder der FAZ kann heute jedermann davon überzeugen, daß man in der Wirtschaft heute allerorten Menschen sucht, deren Urteil über die eigenen Fach-grenzen hinausgeht.

  19. am 24. 7. 1807, ed. v. Biedermann.

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Hans-Joachim Schoeps, Dr. phil., o. Prof, für Religionsund Geistesgeschichte an der Universität Erlangen, Vorstand des Seminars für Religionsund Geistesgeschichte der Universität Erlangen-Nürnberg, Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift seit 1947, Vorsitzender der Gesellschaft für Geistesgeschichte, Mitglied des Beirats der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz" Berlin, geb. 30. Januar 1909 in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Theologie und Geschichte des Judenchristentums, 1949; Aus frühchristlicher Zeit, 1950; Das andere Preußen, 1964 3; Vorläufer Spenglers, 19552; Die letzten dreißig Jahre, 1963 2; Konservative Erneuerung, 19632; Die Theologie des Apostels Paulus im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, 1958; Was ist und was will die Geistesgeschichte?, 1959; Was ist der Mensch? 1960; Religionen. Wesen und Geschichte, 1961; Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung, 1963; Das Judenchristentum, 1963; Un-bewältigte Geschichte. Stationen deutschen Schicksals seit 1763, 1964.