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Kulturelle Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums in der zweiten Jahrhunderthälfte | APuZ 22/1965 | bpb.de

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APuZ 22/1965 Imprssum Zur Neuverteilung politischer Macht in der heutigen Welt Kulturelle Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums in der zweiten Jahrhunderthälfte Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Verständigung

Kulturelle Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums in der zweiten Jahrhunderthälfte

Ferdinand Friedensburg

Das Wachstum ist das auffälligste und wichtigste Merkmal der Wirtschaftsentwicklung in unserer Zeit. Das gilt seit dem Ende des letzten Krieges für die Bundesrepublik, aber auch für fast alle Länder, und gilt mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit für nun schon zwanzig Jahre. Dieses Wachstum vollzieht sich vor allem in der Menge der erzeugten Güter, aber auch im Umfang der geleisteten Dienste und nicht zuletzt in der Qualität dieser Güter und Dienste.

Wir haben hier ein charakteristisches Phänomen unserer Gegenwart vor uns. Gewiß haben sich die Menschen auch in früheren Jahrhunderten bemüht, die Produktion von Wirtschaftsgütern immer mehr zu steigern und immer neue Gebiete der Erde in den Austausch einzubeziehen. Aber erst das um die Mitte des vorigen Jahrhunderts einsetzende Maschinenzeitalter hat die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, dieses Streben systematisch und mit einem bisher kaum vorstellbaren Erfolge zu verwirklichen, und erst die allerjüngste Zeit, das heißt die Zeit nach dem letzten Kriege, hat eine wahrhaft stürmische Beschleunigung dieser Fortschritte herbeigeführt. Wir können die geradezu sensationelle Entwicklung an einem besonders typischen Beispiel, der Erzeugung von Eisen, mit Zahlen nachweisen. Die Eisenproduktion der Welt hat in den 25 Jahren zwischen 1913 und 1938 um 7 0/0 zugenommen, in den folgenden 25 Jahren aber, 1938— 1963, um 226%; sie ist also jetzt auf mehr als das Dreifache gestiegen. Mögen die Ergebnisse dieses erstaunlichen Fortschritts den einzelnen Ländern nur ungleichmäßig zugute kommen, mag auch innerhalb der einzelnen Länder der Anteil der Menschen am Wachstum der Produktion und des Verbrauchs mehr oder weniger große Unterschiede aufweisen — die Tatsache dieses Wachstums ist unbestreitbar und hebt die Gegenwart völlig heraus aus allen früheren Epochen der Menschheitsgeschichte. Die Fortschritte im Kampf gegen Hunger und Not, in der Überwindung der Entfernungen durch Verkehrs-und Nachrichtenmittel, in der Verfügbarkeit über die vielfältigsten und stärksten mechanischen Hilfen, im Unabhängigwerden von Flitze und Kälte, um nur die wichtigsten Merkmale dieser Entwicklung zu nennen, würden bei uns auch den vom Glück nicht begünstigten Zeitgenossen zögern lassen, mit einem reichen Bürger Athens zur Zeit des Perikies, ja selbst noch mit einem reichen Mitbürger Goethes in Weimar zu tauschen.

Das erstaunliche Wachstum der wirtschaftlichen Leistung in quantitativer und qualitativer Hinsicht erscheint uns heute als ein unabdingbares Merkmal unseres öffentlichen und privaten Lebens. Nicht nur in den kommunistischen Ländern, wo das Wachstum geradezu zum Staatsprinzip erhoben worden ist und in immer neu festgesetzten Sollziffern gesetzlich vorgeschrieben wird, sondern auch in den Ländern mit freiheitlicher Wirtschaft haben sich auch die Menschen, die außerhalb des wirtschaftlichen Produktionsprozesses stehen, daran gewöhnt, die Steigerung von Produktion und Verbrauch nicht nur als Phänomen hinzunehmen, sondern als selbstverständliche Aufgabe von Staat und Wirtschaft aufzufassen. Dem Menschen unserer Tage erscheint zweck-freies wissenschaftliches Forschen, zweckfreies Suchen nach Erkenntnis von vornherein weltfremd und irreal. Alles Denken ünd Tun richtet sich wie ganz selbstverständlich auf die ständige Steigerung von Leistungen, von der die Möglichkeit abhängt, der ständigen Steigerung der Ansprüche nachzukommen.

Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Welcher neue Geist hat die Menschen erfaßt, daß sie das ihnen doch so stark eigene Beharrungsvermögen und Beharrungsdenken, das viele Jahrhunderte hindurch charakteristische Streben des Sohnes, es ebenso zu machen wie Vater oder Großvater, immer mehr über Bord werfen und auf breiter Front, ja, man kann wohl sagen, so gut wie einmütig der Losung huldigen, immer mehr zu leisten, natürlich auch immer mehr zu verbrauchen, immer schneller und immer weiter zu reisen, immer besser zu wohnen, sich immer hochwertiger zu kleiden und zu ernähren, sich immer rascher und immer vielseitiger zu unterrichten und zu unterhalten. Handelt es sich hierbei lediglich oder im wesentlichen um die praktische Folge der technisch-wissenschaftlichen Fortschritte, denen der Mensch vielleicht zögernd, manchmal auch unter Irrtümern und Mißverständnissen, aber dann doch eben willig und freudig folgt, oder haben wir es mit einer geistig-moralischen Revolution zu tun, wie sie die unerhörte Verwandlung des Weltbildes anzudeuten scheint?

Sicherlich wird man ein so bedeutsames Phänomen wie das wirtschaftliche Wachstum in unserer Zeit nicht auf isolierte Einzelkräfte zurückführen dürfen. Wenn irgendwo, so bedingen sich gerade in diesem Wachstum praktische Erfordernisse und geistig-moralische Kräfte in gegenseitiger Abhängigkeit. Allein das Wachstum der Erdbevölkerung, das vor allem den medizinischen Fortschritten, aber auch der Besserung der Lebenshaltung zu verdanken ist, verlangt eine ständige Vermehrung der Güterproduktion, und die damit im Gefolge stehende Hebung der Lebensbedingungen läßt wiederum das Bevölkerungswachstum anhalten, ja sich sogar in vielen Ländern immer noch steigern. Aber die Weltbevölkerung vermehrt sich im Durchschnitt um jährlich 2 °/o, während die Güterproduktion der Erde jährlich um 5 °/o zunimmt.

Die mechanische Betrachtungsweise reicht jedenfalls nicht aus, um die Frage zu beantworten, die wir uns gestellt haben, die Frage, ob sich in dem großartigen wirtschaftlichen Wachstum auch die Wirksamkeit geistiger und moralischer Kräfte geltend macht und worin diese Kräfte bestehen. Wir sehen ja, daß bei steigendem Wohlstand auch die Ansprüche nach Ruhe und Erholung steigen. Der moderne Mensch möchte gewiß besser leben, aber dieses Ziel mit immer weniger Arbeit erreichen, also doch in möglichst großem Maße zu dem alten Ideal des geruhsamen Lebens zurückkehren. Die großen Religionen, die ja immer noch das Denken wesentlicher Teile des Menschengeschlechtes beherrschen, tragen fast durchweg quietistische Züge, das heißt, sie schreiben keine fieberhafte Arbeitsleistung, keinen Aufstieg zu immer günstigeren Lebensverhältnissen, keine Eroberung der Erdoberfläche oder gar des Weltraumes vor; in gewissem Sinne richtet sich, der Sinn der großen Religionen geradezu auf das Gegenteil. Die Wissenschaften ihrerseits mühen sich in vielen wesentlichen Bezirken, zweckfrei zu arbeiten, also nicht irgendeinem konkreten Erfolgs-streben zu dienen. Daß man ihre Ergebnisse im Sinne eines solchen Erfolgsstrebens auswerten kann, wird hingenommen, aber nicht als entscheidende wissenschaftliche Aufgabe angesehen. Und fragt man den einzelnen Menschen, so wird die große Mehrzahl sicherlich geneigt sein zwar zuzugeben, daß sie es künftig besser haben möchten, aber doch die ständige Steigerung von Leistung und Verbrauch schwerlich als bewußtes Lebensprinzip betrachten. Die Bewertung der Arbeit als Erfüllung einer sittlichen Pflicht schlechthin, als Verwirklichung einer fast religiös aufgefaßten Aufgabe, wie sie uns in der älteren Generation noch vor Augen gestanden hat, gilt heute doch nur noch in Ausnahmefällen.

Ist also die Wirtschaft nur unser Schicksal, wie es Walther Rathenau einmal in Abwandlung eines Wortes von Napoleon ausgesprochen hat? Vollzieht sich jene gewaltige Wandlung außerhalb unseres eigenen Bewußtseins und laufen wir nur mühsam mit einer Entwicklung mit, die uns zwar zugute kommt, die aber nicht das Ergebnis unserer eigenen geistigen und moralischen Überlegungen und Anstrengungen ist? Handelt es sich wirklich um ein Wirtschaftswunder, ein Geschehen, das sich außerhalb unseres Wollens und Planens vollzieht?

Ich glaube das nichtl Soviel praktische Erfordernisse das Bevölkerungswachstum mit sich bringt, soviel praktische Möglichkeiten die technischen Fortschritte eröffnen, alles das wird durchdrungen und letzten Endes angetrieben von einer neuen inneren Haltung des wirtschaftenden Menschen.

Diese gewandelte Haltung des wirtschaftenden Menschen hängt allerdings auf das engste mit dem gewandelten Weltbild, insbesondere eben mit den technischen Fortschritten zusammen. Es ist nicht so, daß diese Fortschritte unsere kulturellen und sozialen Auffassungen einseitig bestimmen, sondern es liegt hier eine Wechselwirkung vor, bei der das eine nicht ohne das andere denkbar ist. Durch den geistigen Umbruch, der sich in Renaissance und Reformation ausgangs des Mittelalters angedeutet hat, sind geistige Kräfte freigesetzt worden, die dann eine Welt mit ganz neuen Möglichkeiten geschaffen haben und immer weiter schaffen.

Unter diesen neuen geistigen Kräften scheint mir für die wirtschaftliche Entwicklung in unserer Zeit das früheren Jahrhunderten in der Tat ganz unbekannte Gefühl einer engen Solidarität, einer unmittelbaren Schicksals-Verbundenheit aller auf der Erdoberfläche lebenden Menschen zu sein. Goethe durfte noch meinen, daß der Spießer sich wohl fühle, wenn — wie es im Faust heißt — hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen. Das scheint im Zeitalter der Massenkommunikationsmittel, der Zeitungen, des Rundfunks, des Fernsehens, des Flugzeuges, nicht mehr denkbar. Heute weiß — zumindest bei den aufgeklärten und mit einiger Schulbildung ausgestatteten Völkern — auch der Geringste, daß es auch ihn angeht, ob die Menschen hinten in der Türkei Frieden halten, ob sie satt sind, ob sie mit ihrem politischen Schicksal sich begnügen, oder ob von dort her Kräfte wirksam werden, die die ganze Welt beunruhigen können.

Hier mag die Wurzel für jenes bisher unerhörte Phänomen liegen, daß die Menschen auch über große Entfernungen hin sich helfen, wie wir es nach dem Kriege im Marshall-Plan der Vereinigten Staaten und heute in der Entwicklungshilfe aller wohlhabenden und hochentwickelten Länder gegenüber den minder gutgestellten Gebieten erleben. Der heutige Mensch verträgt es nicht mehr, wenn er von Hunger und Elend neben sich umgeben ist. Man mag mit Recht bezweifeln, ob das Herz des Menschen ein anderes geworden ist. Wahrscheinlich liegt der Wandel darin, daß er eben jetzt erst laufend und sehr eindringlich durch die Nachrichtenmittel von Hunger und Elend an irgendeiner Stelle im eigenen Land oder in der Welt Kenntnis erhält. Die christliche Lehre „Liebe Deinen Nächsten als Dich selbst", die sozialen Botschaften aus der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts erhalten eben mit dieser so unendlich verbesserten Informationsmöglichkeit eine ganz neue Grundlage, einen ganz neuen Impuls. Wir kümmern uns heute um Notstände, weil wir von ihnen nunmehr wissen, und diese Kenntnis schärft unser soziales Verantwortungsgefühl zu einer Hilfsbereitschaft, die frühere Generationen nicht gekannt haben.

Sicherlich wäre es irrig, die neue Gesinnung der Solidarität zwischen den Völkern und zwischen den Individuen allein auf den äußeren Umstand zurückzuführen, daß die moderne Nachrichtentechnik eine bessere gegenseitige Kenntnis vermittelt. Eine selbstverständliche Interessengemeinschaft, ein Bewußtsein der moralischen Verpflichtung gegenüber dem Nachbarn finden wir auch bei den Naturvölkern, und spätestens das Christentum hat uns geboten, wie das Gleichnis vom Samariter lehrt, auch dem unbekannten Nächsten zu helfen. Dieses natürliche Verantwortungsgefühl hat sich aber Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch auf den Zugehörigen, auf den Nachbarn, auf den Nächsten erstreckt.

Seine rasche weltweite Ausdehnung, die wir heute beobachten und die in dieser Universalität in der Tat allen früheren Menschheitsepochen fremd gewesen ist, wäre undenkbar, wenn nicht der im Herzen eines jeden Menschen schlummernde soziale Instinkt durch die ständige Unterrichtung von dem vielen in der Welt vorhandenen Leid immer erneut angesprochen und wachgerüttelt würde. Der einmal angesprochene, wachgerüttelte Instinkt verlangte aber wiederum nach immer weiterer, immer vollständigerer, immer anschaulicherer Unterrichtung, und so hat sich diese neue Haltung im Verlauf weniger Jahrzehnte, etwa seit dem Ende des ersten großen Krieges, in der gesamten Kulturwelt durchgesetzt. Wissen macht nicht nur frei, sondern Wissen macht auch stark und wach. Erst das Wissen um die Not des Nächsten, auch das Wissen um die Not anderer Völker hat die heutige Menschheit dazu bewogen, mehr zu leisten als früher, um diese Not zu beseitigen.

Gewiß spielt hierbei auch die Tatsache eine Rolle, daß die heutige Technik uns ganz anders als früher befähigt, unsere Hilfsbereitschaft in die Tat umzusetzen. Unsere Großväter, die vor hundert Jahren lebten, hätten von einer Hungersnot im Inneren Indiens oder Chinas, von einer Erdbebenkatastrophe in Marokko wenn überhaupt, dann erst so spät erfahren, daß eine sinnvolle Hilfe, die ja mit den umständlichen, langsamen Verkehrsmitteln der damaligen Zeit zu arbeiten hatte, kaum möglich war. Es gab auch noch nicht die Überproduktion an Weizen und Mais, die die moderne Agrartechnik namentlich den Vereinigten Staaten beschert und mit der sie oft bei darbenden Völkern eingreifen können. Weil wir jetzt die Möglichkeit haben, rasch und durchgreifend zu helfen, sind wir auch innerlich zum Helfen bereiter geworden, und eben diese Hilfsbereitschaft treibt uns an, nun auch immer neue Hilfsquellen zu erschließen. Freilich wird man die auffälligen Wachstums-erscheinungen in der modernen Wirtschaft, die wir kennengelernt haben, nicht mit einem geschärften sozialen Verantwortungsgefühl allein erklären können, so wohl es uns täte, wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialem Fortschritt gleichzusetzen. Da niemand selbst schlechter leben möchte, auch gegenüber einer noch so dringlichen sozialen Mahnung, muß der Bedarf, den dieser Wunsch nach Hilfeleistung verursacht, durch wirtschaftliche Mehrleistung gedeckt werden. Man mag seine Zweifel haben, ob der universelle Drang nach Gleichheit in unserem Land, der zu einer für uns Altere fast unbegreiflichen Nivellierung der Lebens-haltung geführt hat, auf die Dauer nur Segen bringen wird; als ein überwältigender Impuls im Sinne einer Steigerung von Umfang und Qualität in der Darbietung von Waren und Diensten kann er nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vielleicht stehen wir in dieser Hinsicht überhaupt erst am Beginn einer Entwicklung. Schon jetzt macht der Mitbürger, der bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu kurz gekommen ist, sein Verlangen nach Ausgleich als moralische — oft sogar als rechtliche — Forderung geltend, und sie wird auch von einem immer größeren Kreis von Menschen als recht und billig anerkannt; ähnlich verhalten sich auch Völker und Regierungen in Westafrika, in Südostasien, in gewissen Teilen Südamerikas, wenn sie ihren Wunsch nach Entwicklungshilfe geltend machen, ohne hierbei auch nur einen Augenblick die Verpflichtung zu irgendeiner Gegenleistung zu empfinden. Vieles ist noch befremdend an dieser Entwicklung, aber an ihrem Vorhandensein und an ihrem tatsächlichen Einfluß auf das heutige Geschehen ist nicht zu zweifeln. Hand in Hand mit dem Aufkommen dieser neuen Ansprüche und mit den Anstrengungen, diese Ansprüche zu befriedigen, geht eine kaum minder bemerkenswerte Steigerung der Ansprüche auch in denjenigen Bevölkerungsschichten, die bisher keineswegs Not gelitten haben.

Psychologisch mag diese Vermehrung der Ansprüche mit dem soeben gekennzeichneten egalitären Verlangen Zusammenhängen; in irgendeiner Hinsicht hat es ein anderer immer besser als man selbst, und diesen Abstand gilt es zu beseitigen, zumal uns die Massenkommunikationsmittel viel besser mit den Lebensverhältnissen unserer Mitbürger vertraut machen, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Die soziale Schichtung der Bevölkerung in den alten hochentwickelten Ländern war ja in einer weitgehenden Differenzierung der Lebenshaltung zum Ausdruck gekommen, und diese Abstände sind wir nicht mehr bereit, als gewissermaßen gottgewollt hinzunehmen. War vor 50 Jahren eine Italienreise, noch vor 20 Jahren der Besitz eines Kraftwagens das Privileg verhältnismäßig weniger, meist schon von der Geburt her gut-gestellter Menschen, so sind heute Italienreise und Kraftwagen fast selbstverständlich Gegenstände des Massenkonsums, und die Weiterentwicklung ist noch gar nicht abzusehen. Aber auch hier handelt es sich nicht um einen Ausgleich im strengen Sinne, indem die besser-gestellten Schichten etwa auf einen Teil ihres Vermögens oder ihres Einkommens zugunsten der minderbemittelten Schichten verzichten, sondern um ein Bemühen des einzelnen und der Gesellschaft, durch Steigerung der bisherigen Leistung den bisher Benachteiligten ebenfalls an den süßen Früchten des Wohlstandes teilnehmen zu lassen.

Vielleicht ist diese Entwicklung in keinem Lande so deutlich geworden wie in der Bundesrepublik mit ihrem ans Wunder grenzenden Aufstieg aus Zerstörung, Not und Unterernährung zu einem die Vorkriegsverhältnisse immer mehr übersteigenden Wohlstand. Konnte noch Anfang der fünfziger Jahre behauptet werden, das Wirtschaftswunder habe die Reichen reicher, die Armen aber ärmer gemacht, ohne daß derjenige, der so etwas verkündete, ausgelacht wurde, so würde heute ein solcher Agitator auch bei dem unkritischsten Publikum der Lächerlichkeit anheimfallen. Der durchschnittliche Reallohn des arbeitenden Menschen ist in der Bundesrepublik von 1950 bis 1964 um 117% gestiegen; man kann sich also heute für die gleiche Arbeitsleistung mehr als das Doppelte kaufen als noch vor 14 Jahren.

Es ist hier nicht der Ort und die Zeit, die Bedenken zu erörtern, die dieser für frühere Wirtschaftsperioden ganz unerhörte Erfolg auslöst. Keinem Zweifel unterliegt es jedenfalls, daß die Steigerung der Ansprüche zwangsläufig zu einer Steigerung der wirtschaftlichen Leistung geführt hat, wenn man nicht im Sinne alter primitiver sozialistischer Utopien eine Aufteilung des Vermögens der Besitzenden zugunsten der anderen vornehmen wollte. Als solche Utopien aufkamen, hat man mit Recht den Propheten vorgerechnet, daß damit füi die Gesamtheit herzlich wenig erreicht und daß die Folge wahrscheinlich nach kurzer Zeit eine allgemeine Verelendung sein würde. Das weiß heute jedermann, und so richtet sich das Verlangen nach Besser-stellung der bisher wirtschaftlich weniger gut-gestellten Schichten mit Recht nicht auf eine Beraubung der Bessergestellten, sondern darauf, daß das Ergebnis der allgemeinen Anstrengungen in einem immer größeren Anteil denjenigen zugute komme, die bisher weniger befriedigt worden waren. Das aber — und das ist klar — kann nur durch eine Steigerung der wirtschaftlichen Leistung gesichert werden — eine Steigerung, die in ständiger Wechselwirkung zwischen moralischem Impuls und technischem Fortschritt voranschreitet.

Selbstverständlich wird ein Zeitalter, in dem sich eine solche Entwicklung vollzieht, den Voraussetzungen für die technischen Fortschritte immer größere Aufmerksamkeit schenken. Wenn unsere jungen Menschen nicht mehr die Arbeit um ihrer selbst willen mit Freude verrichten, so ist dafür ihr Interesse an einer sinnvollen Gestaltung des Arbeitsvorgangs um so größer. Die Probleme der Mechanisierung, der Rationalisierung, der Automation bleiben nicht mehr ausschließlich der Betriebsleitung überlassen.

Da die Gegebenheiten an Bodenfläche und menschlicher Arbeitskraft längst bis an die äußerste Grenze angespannt sind, bleibt nur die Verbesserung der Methoden übrig, und das setzt eine immer größere Anspannung der geistigen Leistung sowohl in die Breite als in die Tiefe voraus. Nicht zufällig wird unser öffentliches Leben in zunehmendem Maße von dem Ruf nach Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten erfüllt; sollen jene Aufgaben gelöst werden, die die gekennzeichnete Steigerung der Ansprüche erfordert, so genügt es nicht mehr, mit einer Handvoll von Ingenieuren und Professoren und mit mehr oder weniger ungeschulten Arbeitern den Wirtschaftsablauf zu meistern: die Zahl der Wissenschaftler und Techniker muß vervielfacht werden, und der ungelernte Arbeiter muß immer mehr aus den Betrieben verschwinden und — soweit es nicht durch die Maschinen möglich ist — durch den hochqualifizierten Facharbeiter ersetzt werden. Die Wirklichkeit läßt in dieser Hinsicht noch viel zu wünschen übrig. Aber der Aufstieg ist unverkennbar. Wir haben in der Bundesrepublik 1964 an Universitäten und Hochschulen 290 000 Studenten gehabt gegen 115 000 im Jahre 1950, also fast eine Verdreifachung seit Beginn der neuen Jahrhunderthälfte. Aber jedermann weiß, daß diese Vermehrung keineswegs ausreicht, um unsere tatsächlichen Bedürfnisse zu befriedigen und daß die Zahl eigentlich doppelt so hoch sein müßte, wenn wir die dringendsten Anforderungen auf den Schulen und in den Kliniken, in den Instituten und Laboratorien befriedigen wollen. Aber auch hier sehen wir wieder, wie der Bedarf nach einer größeren Zahl hochqualifizierter Arbeitskräfte von der äußeren Entwicklung her geweckt wird und erleben nun, daß die dadurch in Gang gesetzte Entwicklung ihrerseits wiederum zu einer Steigerung der Leistung und damit in unaufhaltsamer Fortwirkung neuen Bedarf erzeugt.

Fast möchte uns Schwindel erfassen, wenn wir uns vorstellen, daß diese Entwicklung so jungen Ursprungs ist und sich nun unaufhaltsam in immer neuer Steigerung vorwärts bewegt.

Wohin das führen soll, kann in der Tat manchen unter uns beunruhigen; aber zunächst einmal sehen wir, wie die kühnen Utopien der früheren Jahrhunderte hinsichtlich der Arbeitszeit, der Lebensweise, der sozialen Sicherung der Menschen in vielen wichtigen Ländern längst erreicht, ja übertroffen sind, und daß diesem Fortschritt einstweilen keine Grenze gesetzt zu sein scheint. Daß dieser Erfolg erzielt werden konnte, ist gewiß ein Ausdruck der unerhörten technischen Entwicklung. In dieser Leistung waren und sind jedoch geistige und sittliche Kräfte lebendig — eine Erkenntnis, die uns über manche Unzulänglichkeit, manches Versagen in unserer Welt zu trösten vermag. Wir haben nicht mehr das Gefühl, daß die Wirtschaft über uns hinwegrollt. Das wirtschaftliche Wachstum unserer Tage ist nicht Schicksal oder Zufall, sondern Notwendigkeit, die wir geistig bejahen und die wir uns bemühen, sittlich zu gestalten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ferdinand Friedensburg, Dr. phil., Dr. jur. h. c., Honorar-Professor an der Technischen Universität Berlin, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Bürgermeister a. D., geb. 17. 11. 1886 in Schweidtnitz/Schles., 1914 Bergassessor, 1925— 1927 Polizeivizepräsident von Berlin, 1927— 1933 Regierungspräsident in Kassel, 1935 Gestapohaft, 1946— 1951 Bürgermeister von Groß-Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Bergwirtschaft der Erde, 19565; Gold, 19532; Die Weimarer Republik, 1946 u. 1947; Berlin — Schicksal und Aufgabe, 1953.