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Schicksal zweier Völker: Der deutsche Nachbar | APuZ 26/1965 | bpb.de

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APuZ 26/1965 Schicksal zweier Völker: Der deutsche Nachbar Von historischen Vorurteilen verschleiert Umgang mit Deutschen

Schicksal zweier Völker: Der deutsche Nachbar

Ra-vmond Aron

Unter dem Titel „Sind die Deutschen wirklich so?" erscheint in Kürze im Horst Erdmann Verlag, Herrenalb, herausgegeben von Hermann Ziock, ein Buch, in dem zwei Dutzend Autoren — Wissenschaftler, Diplomaten, Politiker, Schriftsteller und Journalisten — aus allen Teilen der Welt das Verhältnis ihres Volkes zu Deutschland schildern. Der Frage, wie Deutschland sich in der Sicht des Auslands darstellt, ist an dieser Stelle bereits mehrfach nachgegangen worden. So lieferte Klaus Epstein einen Beitrag zum „Deutschlandbild der Amerikaner“ (B 47/62), der leicht überarbeitet in den genannten Sammelband übernommen wurde. In der Beilage B 24/64 wurden eine Reihe von Artikeln englischer Deutschlandkenner aus dem Deutschlandheft der Londoner Zeitschrift „Encounter" nachgedruckt. Kaum weniger interessant dürfte es sein, von zwei hervorragenden Sachkennern zu erfahren, wie Deutschland von seinen EWG-Partnern Frankreich und Italien gesehen wird. Das Heimatland des dritten Autors dieser Ausgabe zählt vielleicht nicht zu den bedeutendsten Mächten dieser Erde, ganz gewiß gehört aber der Beitrag Peter Dürrenmatts zu den bedeutendsten des Buches.

Eine historische Begründung der deutsch-französischen Verständigung

Inhalt Raymond Aron: Schicksal zweier Völker: Der deutsche Nachbar......................... Seite 3 Pietro Quaroni: Von historischen Vorurteilen verschleiert.............................................. Seite 12 Peter Dürrenmatt: Umgang mit Deutschen .... Seite 21

Jede Epoche zimmert sich für ihre Gegenwart, für ihre Abneigungen und ihre Wunschträume die geeignete Vergangenheit zurecht. Wie oft haben nicht im Laufe dieses Jahrhunderts französische Schriftsteller bei Tacitus das Urbild der Germanen gesehen! Wie oft mußten bei deutschen Schriftstellern das Testament Richelieus oder die Verwüstungen der Pfalz als Beweis für die aggressiven Absichten herhalten, die Frankreich seit eh und je gegen Deutschland gehegt habe!

Warum aber versucht man nicht einmal umgekehrt, die Geschichte der beiden Länder auf ihre zahlreichen Ansätze und Bemühungen zu einer Bereinigung ihrer Konfliktstoffe, zu einer Einigung im Rahmen Europas zu durchstöbern? Warum lehnen wir es eigentlich ab, die deutsch-französische Verständigung ähnlich historisch zu begründen, wie die deutsch-französische Feindschaft diesseits und jenseits des Rheins historisch gerechtfertigt zu werden pflegte? Schuld daran ist nicht so sehr der apolitische Charakter der Europa-Idee von gestern wie die mögliche Gefahr eines gewissen Anachronismus bei der geschichtlichen Anwendung von Begriffen wie „Frankreich", „Deutschland" und „Europa". Die Bevölkerung im heutigen deutsch-französischen Raum hat mancherlei Schicksalsschläge über sich ergehen lassen müssen. Sie kannte verschiedene Staatsformen und war verschiedenartigen staatlichen Einflüssen ausgesetzt. Als Feinde und Freunde, auch einfach als Nachbarn haben diese Menschen unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die Germanen, welche die Legionen des Varus vernichtet hatten, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das in viele hundert Königreiche und Fürstentümer aufgesplitterte Deutschland und das Wilhelminische „Reich" sind im Grunde als Vorläufer des Dritten Reiches, ja der Bundesrepublik zu betrachten. Aber es gehörte schon ein merkwürdiger Glaube an die Beständigkeit eines National-charakters oder an den Einfluß des Rassenerbes auf die jahrhundertelange Haltung der Völker dazu, wollte man sich nur einen der Schlüsse zu eigen machen, welche uns die römischen Autoren im Hinblick auf die Sitten und Gebräuche der Germanen oder die italienischen Autoren hinsichtlich der kaiserlichen Soldateska hinterlassen haben.

Das Deutschland und das Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts gab es weder gegen Ende des Römischen Imperiums noch zur Zeit der Kaiserkrönung Karls des Großen. Deshalb ist es ganz unsinnig, wenn Franzosen oder Deutsche auf „ihr" Karolinger Reich Anspruch erheben, das sich geographisch ungefähr mit dem „Europa der Sechs" deckt. In der Tatsache, daß das Reich Karls des Großen durch den Vertrag von Verdun geteilt wurde, sehen die Historiker — ohne jedes Gefühl für den Anachronismus — einen Konfliktgrund, der durch Jahrhunderte hindurch das Leben der germanischen Völker maßgeblich beeinflußt hat. Andre Siegfried pflegte gern zu sagen: zwischen Frankreich und Deutschland ziehe sich von Norden nach Süden hin eine Kulturzone, die man „lothringisch" nennen sollte; zu ihr gehören Mailand, Basel, Straßburg und Antwerpen. Die Befürworter einer europäischen Integration nach 1945 sind allesamt „Lothringer": de Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer. Sie haben die west-östliche, germanisch-romanische Kultur erlebt und daraufhin eine besondere Synthese verwirklicht.

Diese Zwischenzone kann einem Übergang oder einem Austausch dienen. Sie kann auch zur Rivalität führen. Die sogenannte französische „Politik der natürlichen Grenzen" wurde von geopolitischen Gesichtspunkten bestimmt. Umgekehrt veranlaßten Bismarcks strategische, von Generalen verfochtene Gründe zur Annexion lothringischen Gebietes, in dem französisch gesprochen und französisch gefühlt wurde.

In der Tat war diese Phase der bevorzugte und — im wörtlichen Sinne — naheliegende Zeitraum für die Auseinandersetzung der absolutistischen wie der nationalistischen Interessenpolitik. Die Ohnmacht der Deutschen bot den Königen von Frankreich immer wieder eine Gelegenheit, ihre Grenzen nach Osten auszuweiten. Reichsstädte wurden annektiert, sogar eine ganze Provinz: das Elsaß, das zwei Jahrhunderte später französiert war und gegen den Vertrag von Frankfurt protestierte, durch den es wieder an Deutschland fiel. Gewiß — die Elsässer sprachen einen germanischen Dialekt und gehörten der germanischen Kultursphäre an; aber Ende des 19. Jahrhunderts war Frankreich ihr Vaterland. Doch die deutschen Nationalisten waren nicht geneigt, den Willen der Elsässer zu respektieren. Im Gegenteil, sie warfen Frankreich vor, es habe seine vorübergehende Überlegenheit ausgenutzt und Gebiete an sich gerissen, die mitsamt ihrer Bevölkerung historisch zum Reich gehörten.

Frankreich und die deutsche Einheit

So nahm die moderne Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland die Form an, die wir Fünfzigjährigen schon in der Schule vorgesetzt bekamen. Aus machtpolitischen Berechnungen neigten die französischen Staatsmänner dazu, in der deutschen Einigkeit eine Gefahr, mindestens aber eine ungünstige Beeinflussung des wechselseitigen Kräftespiels zu sehen, und die französische Öffentlichkeit betrachtete die deutsche Einheit als eine Art Niederlage Frankreichs. Deswegen wiederum sah die deutsche Öffentlichkeit in Frankreich den Feind Nummer eins. Oder anders ausgedrückt: Die Feindschaft gegen Frankreich verhalf den Deutschen zum Nationalstaat. So mußten Frankreich und Deutschland als Nationalstaaten notgedrungen immer stärkere Rivalen, also Feinde werden.

Um mich ganz unmißverständlich auszudrükken: Diese Feindschaft war eigentlich politischer oder, um noch genauer zu sein, diplomatischer Natur. Es handelte sich nicht um eine Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen, auch nicht um eine gegenseitige Verkennung der kulturellen Leistungen, obwohl im Jahrhundert der Nationalstaaten Feindseligkeiten dem Staatsbürger Empfindungen ein-zuimpfen pflegen, welche die anfängliche Feindseligkeit erst richtig nähren und schließlich noch verschärfen. Rückblickend scheint mir besonders wichtig zu sein, daß ein in Mitteleuropa liegendes geeintes Deutschland bei den maßgebenden Persönlichkeiten und in der öffentlichen Meinung Frankreichs unweigerlich die Angst vor einem germanischen Über-gewicht heraufbeschwor. Die europäischen Staaten haben — wie seinerzeit die griechischen Stadt-Staaten — jahrhundertelang vor allem das Übergewicht eines Staates über die anderen gefürchtet. Der Stärkste war in den Augen der anderen der Feind, der Störenfried. Als Deutschland die Einheit anstrebte, übernahm es — nolens volens — die Rolle des Störenfrieds. Es veranlaßte die englisch-russisch-französische Allianz, die dann mit Hilfe der Vereinigten Staaten dem Wilhelminischen Reich den Garaus machte.

Man verstehe mich nicht falsch: Zum Unterschied von vielen, selbst von vielen deutschen Historikern, die nach der Katastrophe von 1945 Bismarcks Werk verdammten, weil es Hitler und das Dritte Reich heraufbeschworen habe, halte ich die deutsche Einigung für legitim. Mit welchen vernünftigen Argumen-ten hätte man es denn auch den Deutschen verwehren sollen, sich zu einem einigen Staat zusammenzuschließen? Seit der deutsche Patriotismus stärker wurde als die Anhänglichkeit an Dynastien und „Länder", entsprach die Parole „Ein Volk, ein Reich" durchaus der Logik des Jahrhunderts und mußte früher oder später Wirklichkeit werden. Jedenfalls sollte kein Franzose — auch rückblickend nicht — den Deutschen das Recht absprechen, sich — mehr oder minder nach französischem Vorbild — zu einem Einheitsstaat zusammenzuschließen. Die Historiker haben sich immer wieder gefragt, was aus einem geeinten Deutschland geworden wäre, das ohne Feuer und Schwert, mit demokratischen und liberalen Mitteln geschaffen worden wäre. Aber wer vermag sich eine Geschichte vorzustellen, die nicht stattgefunden hat und vielleicht gar nicht hätte stattfinden können? Die dynastischen Staaten waren noch zu selbstsicher, um auf den bloßen Ton der parlamentarischen Posaunen hin ein-zustürzen. Ein deutscher Bundesstaat wäre in der europäischen Öffentlichkeit freilich auf weniger Antipathie gestoßen als ein Deutschland, das seine Einigung preußischen Siegen und Eroberungen verdankte. Aber hätte es in Mitteleuropa einen annehmbaren Status für die Nicht-Deutschen gefunden und die Aufsplitterung in innerlich uneinige, aufeinander eifersüchtige Staaten vermieden? Wäre es mit seinen Absichten für die europäischen Mächte kein Unruheherd geworden? Lauter Fragen, die niemand mit Sicherheit beantworten kann. Fast liegt der Schluß nahe, daß die legitime und wohl unvermeidliche Einigung der Deutschen konsequenterweise die Konfliktstoffe mit sich brachte, vielleicht auch die Tragödien, die wir im 20. Jahrhundert erleben mußten.

Oder war die Feindseligkeit Frankreichs gegen ein geeintes Deutschland a priori ein gewisses Verhängnis? Ich sagte es schon: Die Einigung Deutschlands spielte sich auf Kosten Frankreichs ab und änderte in diplomatischer Hinsicht das europäische Kräftespiel. Trotzdem stießen die deutschen Ansprüche nicht auf einhelligen Widerstand. Ernest Renan, der der deutschen Kultur viel verdankte, erkannte vor 1870 die Legitimität dieser Ansprüche rund-heraus an. Viarum sollten die Deutschen nicht das Recht auf eine Einheit haben, welche die Franzosen schon vor Jahrhunderten zustande gebracht hatten? Warum sollte Frankreich der erklärte Feind eines Deutschland sein, das ähnliche Ambitionen verwirklichte? Man wird sagen: Renan war mehr ein Denker als ein Mann der Tat; die Politiker dachten darüber anders. Gewiß, die meisten von ihnen fürchteten, wie schon Talleyrand, den Tag, an dem die deutschen Länder und Ländchen sich allesamt zu einem Deutschland zusammenschlössen. Aber manche Franzosen sahen nicht nur machtpolitisch in der Stärkung Mitteleuropas Nachteile. Alexis de Tocqueville — unter Louis Napoleon einige Monate lang Außenminister — fragt sich in seinen „Erinnerungen", ob es richtig sei, an der traditionellen Opposition gegen die deutsche Einheit festzuhalten. Sinngemäß schreibt er: Wenn eines Tages Europa von Rußland her Gefahr drohe — wäre es dann für Frankreich nicht besser, die vereinigten deutschen Länder bildeten gegen die russische Expansion einen starken Schutzwall?

Französische Furcht vor Deutschland

Diese damals ganz unzeitgemäßen, in unseren Ohren aber geradezu prophetisch klingenden Überlegungen wurden aber schließlich beiseite geschoben — weniger wegen der Tatsache der deutschen Einigung als wegen der Umstände, unter denen diese sich vollzog. Für die Franzosen war der Aufstieg Deutschlands gleichbedeutend mit dem Verfall Frankreichs. Die Deutschen hatten jahrelang für ihre Einheit plädiert und ihre Erfolge dazu benutzt, sich die Elsässer gegen deren Willen einzuverleiben, sogar auch die Lothringer, die ihrer Sprache und Kultur nach rein französisch sind. Die Furcht vor einem Deutschland, das über bedeutend stärkere militärische Reserven ver-fügte, der Wunsch eines Wiederaufstiegs und damit untrennbar verbunden die Hoffnung auf Revanche, die offene Wunde der annektierten Provinzen — diese mehr oder weniger starken, nicht immer gleichbleibenden Empfindungen haben in den vierundvierzig Jahren zwischen dem Krieg von 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg das französische Bewußtsein gezeichnet. Demgegenüber hatte das siegreiche, mit seinen westlichen Grenzen zufriedene Deutschland nicht dieselben Gründe zur Feindschaft. Selbstbewußt und stark, weil seine Bevölkerung zunahm und seine Wirtschaft rasch aufblühte, neigte Deutschland dazu, seinen westlichen Nachbarn mehr zu verachten als zu fürchten. Es gewöhnte sich an seine Feindseligkeit und fürchtete für die Zukunft nicht so sehr Frankreich selbst wie die „Einkreisung", also eine Koalition, in der Frankreich eines von vielen Gliedern wäre. Im Verlaufe der Feindseligkeiten scheint dann auch die deutsche Öffentlichkeit gegen England weit böser und gehässiger gewesen zu sein als gegen Frankreich.

So, glaube ich, sieht die historische Situation aus, in der Frankreich und Deutschland, Franzosen und Deutsche fast schon mythische Erbfeinde geworden sind. Deutschland hat unter den führenden Kontinentalstaaten den Platz von Frankreich eingenommen. Aus dem Anwärter auf die Hegemonie ist in den Augen der anderen Staaten im Handumdrehen der Störenfried geworden — ich nannte bereits diesen Begriff, der nach Admiral Castex für den Staat gilt, der das diplomatische Gleichgewicht zu stören droht. Die Franzosen verargten es den Deutschen, daß sie Frankreich gedemütigt hatten; außerdem fanden sie — zu Recht oder Unrecht — Deutschland grausam, aggressiv, herablassend und taktlos. Viele Franzosen haben zwischen 1870 und 1945 nicht nur Deutschland, sondern auch die Deutschen verabscheut, weil die Deutschen von der Politik des „Deutschen Reiches" und von der Annexion Elsaß-Lothringens begeistert waren, weil sie hochmütig wurden und einen Willen zur Macht an den Tag legten, der keine Grenzen zu kennen schien.

Höhepunkt der Feindschaft während und nach dem Ersten Weltkrieg

Die leidenschaftliche deutschfeindliche Haltung der Franzosen erreichte ihren Höhepunkt während des Ersten Weltkrieges. Die Kriegspropaganda hat viel dazu beigetragen, war aber nicht die einzige Quelle der Leidenschaft, die Frankreich gegen Deutschland und die Deutschen aufbrachte. Die Franzosen hatten das Gefühl, dies sei ihre letzte Chance: Wenn sie ein zweites Mal besiegt würden, hätte Frankreich als Großmacht ausgespielt und keine sonderlichen Aussichten mehr, auch wenn die Angloamerikaner und die Russen fortan ihre Interessen wahrnähmen. Zwischen 1914 und 1918 machten die Franzosen wahrscheinlich größere Anstrengungen und brachten größere Opfer als alle anderen kriegführenden Länder. Trotz der besetzten Gebiete im Norden und im Osten, die über besonders viele Bergwerke und Fabriken verfügten, baute Frankreich eine Kriegsindustrie auf, welche die französischen Truppen und ab 1917 sogar die amerikanische Armee mit Geschützen und Munition versorgte. Die Flugzeugindustrie hielt bis zum Schluß mit den gleichen Industrien der Feinde und der Verbündeten Schritt. Mit nahezu anderthalb Millionen Gefallenen hatte Frankreich relativ größere Verluste als Deutschland und England. Kurzum — dank seinem Mut und seinem Fleiß hatte Frankreich 1918 die Achtung der deutschen Öffentlichkeit gewonnen. Aber die Franzosen, die an den militärischen und industriellen Möglichkeiten Deutschlands nie gezweifelt hatten, brachten dem Feind, der mit Hilfe einer weltumspannenden Koalition geschlagen worden war, ganz andere Gefühle entgegen. Sie haßten den Feind — wegen der Furcht, die er verbreitet hatte; wegen der Erfolge, die er lange Zeit erringen konnte;

wegen der Härte, die er im Falle eines Sieges hätte walten lassen; wegen der Friedensverträge von Bukarest und Brest-Litowsk, die eine Vorstellung von der tatsächlichen oder eingebildeten Unerbittlichkeit des Regimes gaben; schließlich wegen der Trümmer und der Trauer, die dieser unversöhnliche Krieg hinterließ. Zwischen 1918 und 1924 verlor dann Frankreich bei den Deutschen das Prestige, das ihm seine Soldaten eingebracht hatten; es gab sich als umbarmherziger, kleinlicher Sieger, der von der Zukunft keinerlei Vorstellung hatte und nur auf die Schwächung eines momentan ohnmächtig daniederliegenden Deutschlands aus war. Umgekehrt warf die französische Öffentlichkeit den Verbündeten Frankreichs vor, es verwehre ihr die dauerhaften Vorteile eines so teuer erkauften Sieges. Frankreich fühlte sich im Grunde immer noch unsicher wegen der heiklen Versailler Grenzziehung, die auf der vorübergehenden und zufälligen Ausschaltung der beiden kontinentalen Großmächte Rußland und Deutschland beruhte.

Keine unveränderliche „Erbfeindschaft“

Was dann folgte, ist nur zu bekannt. Der letzte Versuch, den verhängnisvollen Lauf der Dinge zu ändern und auf einer deutsch-französischen Verständigung ein befriedetes Europa aufzubauen, stammte von Stresemann und Briand und war im Vertrag von Locarno festgelegt. Die große Wirtschaftsdepression machte die Hoffnungen der Menschen guten Willens wieder zunichte. Im Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler. Durch Bluff und Drohung nahm er sich, was man der Weimarer Republik verweigert hatte. Weder der „Anschluß" noch die Beseitigung der Tschechoslowakei befriedigten den Ehrgeiz dieses Mannes, der von einem tausendjährigen Reich träumte und nach zwölf Jahren sein Volk und ganz Europa in eine Katastrophe sondergleichen hineinriß. Zwischen 1939 und 1945 war die französisch-deutsche Auseinandersetzung fast nur eine Begleiterscheinung des Krieges, der nun wirklich die ganze Welt umspannte. Trotzdem lag die Frage nahe, was das französische Volk nach der Niederlage von 1940 und nach den Jahren der Besatzung von den Deutschen hielt, die seit Generationen als Erbfeinde figuriert hatten. Nun, heute kennen wir die Antwort: Die Feindschaft zwischen den beiden Völkern ist nahezu geschwunden, denn dieser Krieg machte es beiden klar, daß sie der Vergangenheit angehörte.

Wenn meine Analyse richtig ist, dann stimmt es einfach nicht, daß die französisch-deutsche Feindseligkeit oder Feindschaft in der Geschichte beider Völker so etwas wie eine Konstante gewesen ist. Wahr ist vielmehr: Beide Völker haben derart verschiedenartige historische Entwicklungen durchgemacht, daß innerhalb ein und derselben Kultursphäre zweierlei Schicksalslinien verfolgt werden können. Von Hugo Capet bis General de Gaulle stellt der Historiker, besonders der nichtfranzösische Historiker, eine auffallende Kontinuität fest. Im Laufe von tausend Jahren formten vierzig Könige Frankreich, und die Revolutionäre traten deren Erbe an und mehrten es. Die Könige erweiterten ihren Besitz, schränkten die Rechte der Feudalherren ein und schufen allmählich eine zentrale Verwaltung, die nur ihnen gehorchte. Die Revolutionäre setzten das Werk der Monarchie fort, beseitigten mit einem Federstrich die Privilegien der Provinzen und Städte, die noch Überbleibsel eines anderen Zeitalters waren; sie beschnitten auch die Rechte der Departements und schlossen damit die Zentralisierung der Verwaltung ab.

Einheitliche französische — zusammenhanglose deutsche Geschichte

Gewiß versuchten alle Regierungen, dem Land ein alleingültiges religiöses oder ideologisches Dogma aufzuzwingen, aber sie scheiterten alle; denn Frankreich beansprucht mit um so größerer Beredsamkeit seine unteilbare Einheit, je verschiedenartiger die Franzosen an ihrem Vaterland hängen. Aber wenn die französische Einheit aus Zwiesprachen hervorgegangen ist — aus einem Dialog des Ancien Regime und der Revolution, aus einem Disput von Katholiken und Rationalisten — und wenn heute Frankreich diese Zwiesprache, die im globalen Maßstab geführt wird, fortsetzt, dann ist es in gewisser Weise durch die Jahrhunderte hin seiner Einheitspolitik treu geblieben. Ob Monarchie oder Republik — es scheint immer ein Nationalstaat gewesen zu sein. Es hat eine bedingungslose Souveränität stets einem Staat zugute kommen lassen, in welchem die kulturelle und die politische Einheit möglichst ein und dasselbe sein sollten.

Demgegenüber ist die deutsche Geschichte, von welchem Standpunkt aus man sie auch betrachten mag, mannigfaltig und denkbar zusammenhanglos. Ob man an Ludwig den Heiligen denkt, an Ludwig XIV. oder an die Revolution — das Nationalbewußtsein der Franzosen galt stets einem Frankreich, dessen direkter Erbe das gegenwärtige Frankreich ist. Zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, den vielen deutschen Ländern zur Zeit des Westfälischen Friedens, dem Preußen Friedrichs des Großen, dem Wilhelminischen Reich und dem Hitler-Reich haben wir es aber nicht so sehr mit Grad-wie mit Wesensunterschieden zu tun, und auf der Basis eben dieser Wesensunterschiede entsteht bei den Deutschen die Vorstellung von Deutschland.

Nicht jedes Staatengebilde „Deutschland“ ist ein Feind des einen und gleichartigen Frankreichs gewesen. Gewiß, die lothringische Zone hat zahlreiche Konflikte ermöglicht und auch herbeigeführt: Die Könige von Frankreich ha-ben sich geweigert, der Reichsidee zu huldigen; die französische Diplomatie hat lange Zeit die religiösen und dynastischen Streitigkeiten zwischen deutschen Fürstentümern dazu benutzt, die Deutschen schwach und uneinig zu halten. Aber von Deutschland und von Frankreich dürfen wir erst in den beiden letzten Jahrhunderten sprechen. Erst während der beiden Jahrhunderte, besonders seit der Mitte des letzten Jahrhunderts, waren Deutschland und Frankreich Feinde in diplomatischem Sinne und hinsichtlich ihres Kräftepotentials. Frankreich, das um seine Unabhängigkeit bangte, mußte die Vorherrschaft eines geeinten Deutschland fürchten und suchte vorsichtig diese Einheit zu verhüten. Als diese dann doch Wirklichkeit geworden war, versuchte es, sich durch Bündnissysteme zu schützen. Diese Feindseligkeit, die vom Spiel um die politische Macht bestimmt wurde, verwandelte sich allmählich in eine Feindschaft der beiden Völker; denn in einem demokratischen Jahrhundert können die Staaten nicht Krieg führen, wenn die Völker sich nicht wenigstens zu einem Teil gegebener Tatsachen wegen hassen.

Selbstverständliche Verbündete

Und was geschah nach 1945? Die diplomatische Feindseligkeit war wie durch Zauberei verschwunden; denn die Diplomatie wurde nicht mehr in die Grenzen der Alten Welt gezwängt, sondern erstreckte sich über den ganzen Erdball, und der Osten Europas, der wohlgemerkt teilweise von Deutschen bevölkert war, wurde von sowjetischen Truppen besetzt und bald einem Regime nach Moskauer Vorbild unterworfen. Seit 1945 sind die französische Republik und die Bundesrepublik ebenso selbstverständlich Verbündete, wie zwischen 1870 und 1939 Frankreich und das Deutsche Reich Feinde gewesen waren. Bleibt nur noch festzustellen, ob aus dem Bündnis in ähnlicher Weise eine Freundschaft werden wird, wie seinerzeit aus der Gegnerschaft Feindseligkeit geworden ist.

Nun, in dieser Hinsicht sind die Erfahrungen für ein abschließendes Urteil vielleicht noch zu frisch — jedenfalls aus dem Blickwinkel des Historikers; dennoch, sie sind aufschlußreich genug, um Vertrauen einzufloßen und zu Hoffnungen zu berechtigen. Nach 1918 dauerte es nur wenige Jahre, bis sich die feindseligen Ressentiments zum Haß verdichtet hatten. Nach der bedingungslosen Kapitulation des „Dritten Reiches" im Jahre 1945 dauerte es nur fünf J hre, bis ein Schuman-Plan in die Wege geleitet und die europäische Kohle-und Stahl-Gemeinschaft begründet wurde. Der Plan der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft löste in Frankreich noch einmal endlose und leidenschaftliche Debatten aus, die auch wieder deutschfeindliche Gefühle emporschwemmten. Man darf das nicht überbewerten, denn auf dem Grund dieser Auseinandersetzung lag nicht sosehr die Animosität gegen den „Erbfeind" als vielmehr der Streit um die Rolle Frankreichs in der sich neu formierenden politischen Welt. Auf der einen Seite standen die Verfechter der europäischen Einigung, deren Exponent Jean Monnet ist; auf der anderen diejenigen, die für ein „nationales" Frankreich eintraten, seine politische Eigenständigkeit leidenschaftlich aufrechterhalten wollten. Nach den Worten Alexis de Tocquevilles verehrt das französische Volk „das Zufällige, die Stärke, den Erfolg, den äußeren Glanz und das Aufsehen" — und so ist denn auch die heutige Konzeption vom „Europa der Vaterländer" indirekt nicht nur ein Deszendent dieser politischen Überzeugung.

EVG mußte scheitern

Warum sollte man also erstaunt sein, wenn eine Gruppe französischer Politiker die im EVG-Vertrag enthaltene Veräußerung der Souveränität abgelehnt hat, welche ja ein Verschwinden von Frankreich als politischer Einheit zugunsten einer übergeordneten Einheit, nämlich Europa, gleichgekommen wäre?

Die Männer, die diesen Vertrag verfaßt und sich bis zum Schluß an die Klauseln über die Supranationalität geklammert haben, sind in der Sicht des Historikers für das endgültige Scheitern ebenso verantwortlich wie die Nationalisten, die damals gegen die Bildung einer Europa-Armee aufgetreten sind. Da die Zusam-mensetzung der Nationalversammlung und die Kluft, die durch die Öffentlichkeit hindurchging, bekannt waren, mußte die Gruppe, die kompromißlos in den Hauptpunkten ihre Lösung für die deutsche Wiederbewaffnung und die europäische Zusammenarbeit durchzusetzen versuchte, unumgänglich eine „große Debatte" auslösen. In einem gespaltenen Land ist Kompromißlosigkeit nicht weniger gefährlich als übertriebener Kuhhandel.

Der Bundesstaat der Sechs, den die Europa-Gegner hinter dem verzwickten Aufbau der Verteidigungsgemeinschaft vermuteten und den sie auch als solchen anprangerten, war in mancherlei Hinsicht ein sonderbares Gebilde. Zu ihm gehörten zwei Drittel eines gespaltenen Deutschlands; aber er schloß die Kolonien und Protektoratsgebiete unter französischer Oberhoheit aus. Man wollte für die Zukunft arbeiten, aber einem wiedervereinigten Deutschland räumte man das Austrittsrecht ein. Das europäische Kabinett übernahm die französischen Divisionen der Alten Welt; aber die Divisionen der Französischen Union unterstanden weiterhin nur dem französischen Kabinett. Eine sonderbare Gemeinschaft, in der die beiden Hauptmitglieder ihre Verpflichtungen nur vorbehaltlich einer späteren Über-prüfung übernahmen, wobei sich ein Mitgliedsstaat die Entscheidung für den Tag der Einheit und der andere seine überseeischen Beziehungen vorbehielt.

Ein Staatenbund zwischen alten Ländern, die zurückblicken auf einen Ruhm, den sie jeweils auf Kosten der anderen erworben hatten, von denen jeder einen Sieg an dem Tage feiert, an dem der andere über eine Niederlage nachdenkt, hätte nicht nur einen gemeinsamen Feind nötig gehabt und eine vernünftige Bereitschaft, die Vergangenheit zu bewältigen, sondern auch einen gemeinsamen Glauben. Die europäischen Patrioten, womit ich jene meine, für die Europa ein Vaterland ist, für das man bereitwillig die gleichen Opfer bringt wie jahrhundertelang für Könige oder Nationen, waren nur eine Minderheit, die sich nicht einmal zu ihren Zielen zu bekennen wagte. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft war eine Verwaltungsbehörde ohne Führungsstab und ohne Oberbefehlshaber. Sie stellte die Divisionen zusammen und rüstete sie mit Waffen aus, damit sie dann unter den Oberbefehl eines amerikanischen Generals kam. Ist es da verwunderlich, wenn der französische Nationalismus, der mit dem der Engländer, Amerikaner oder Schweizer vergleichbar ist, protestiert hat?

Rückblickend mutet die parlamentarische Abstimmung gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wie eine unbedeutende Nebenerscheinung der französisch-deutschen Verständigung und der europäischen Integration an. Weder Euratom noch Gemeinsamer Markt haben zu einer Polemik geführt. Das hängt nicht zuletzt mit der Politik der Bundesrepublik zusammen. Bundeskanzler Adenauer lenkte fest entschlossen seine Partei und sein Land mit dem Blick auf das Ziel, für das neue Deutschland um Vertrauen zu werben, die Bundesrepublik durch unzerstörbare Bande an den Westen zu binden und durch eine Aussöhnung mit Frankreich die europäische Einheit in die Wege zu leiten. Eine kluge Politik, die aber, so wird man sagen, durch die allgemeine Lage bestimmt wurde; der Bonner Regierung blieb keine Wahl. Der Einwand ist nicht ganz stichhaltig: In Vertretung eines Teilstücks des deutschen Volkes und Gebietes hätte die Bonner Regierung im Sinne einer alten deutschen Tradition schwanken können zwischen einem Westkurs und einem Ostkurs, unter den neuen Verhältnissen also zwischen dem Versuch der Wiedervereinigung durch ein Abkommen mit der Sowjetunion und der europäischen oder atlantischen Integration. Das geschah nicht, und zwar infolge der Autorität eines Mannes, des Bundeskanzlers, und einer Partei, der christlichen Demokraten.

In Frankreich seinerseits hat die Fünfte Republik die Verpflichtungen eingelöst, welche die Vierte Republik eingegangen war. Der Ministerpräsident Michel Debr billigte den Vertrag von Rom, den der Senator Debr bekämpft hatte. Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten bei den Franzosen und wahrscheinlich auch bei den Deutschen — sowohl über die Methoden als auch über die Ziele der europäischen Integration; die einen denken mehr an eine Föderation, die anderen nur an eine Konföderation. Aber die Zusammenarbeit der „Sechs" ist kaum noch in Frage gestellt: Da die Kommunisten ausgeschaltet sind, herrscht so etwas wie nationale Einmütigkeit.

1945 war ganz Europa geschlagen

Warum hat die französische Öffentlichkeit dem Deutschland und den Deutschen des Zweiten Weltkrieges offensichtlich leichter verziehen als denen des Ersten Weltkrieges? Ist das nicht paradox? Wie immer man über die Verantwortung des Reiches für den Ersten Weltkrieg denken mag — die Schuld Hitlers geht meilenweit über die Schuld Wilhelms II. und Bethmann Hollwegs hinaus. Die Grausamkeiten und die internationalen Rechtsbrüche des „Dritten Reiches" können mit denen des zweiten in keiner Weise verglichen werden. Im Deutschland Wilhelm II. hatte es nichts gegeben, was den Konzentrationslagern oder der Vernichtung von Millionen Juden in den Gaskammern ähnlich gewesen wäre. Vielleicht sind gerade die unvorstellbar schrecklichen Verbrechen der Nazis eine Ursache für die Schnelligkeit, mit der die Franzosen in der Geschichte beider Völker ein neues Kapitel aufgeschlagen haben. Fast möchte ich sagen: Der Zweite Weltkrieg ist von der Masse der Franzosen gar nicht als französisch-deutscher Krieg empfunden worden. Die Nazis waren nicht mehr die Deutschen von einst, wie die Kommunisten nicht die Repräsentanten des Ewigen Rußland sind. Auch hatten die Nazis es nicht ausschließlich auf Frankreich abgesehen. Sie mußten Frankreich nur ausschalten, um ihre Eroberungspläne im Osten verwirklichen zu können. Der Frankreichfeldzug war bloß eine Episode des gewaltigen Dramas, dessen Bühne die ganze Welt darstellte. Nach 1918 hatten die ziemlich angeschlagenen Franzosen Mühe, dem Feind einen kostspieligen, wenn auch ruhmvollen Sieg zu vergeben, der doch nur eine Etappe auf dem Wege ihres Verfalls war. Nach 1945 waren alle Völker des Kontinents geschlagen. Eine französisch-deutsche Kraftprobe hatte gar keinen Sinn mehr. Aus den Trümmern ging eine neue Welt hervor.

Das Europa Hitlers war nur ein Zerrbild der Europa-Idee. Die europäische Einheit kann nicht zugleich gegen Slawen und Angelsachsen verwirklicht werden. Und die Alte Welt hätte sich selbst verleugnet, wäre sie dem Appell derer gefolgt, die ihre Einigung mit der Lehre von einer rassischen Überlegenheit herbeiführen wollten. Die europäische Einheit, die heute geschaffen wird, sieht sich als Teil der atlantischen Welt an. Sie wird vom Widerstand gegen die sowjetische Expansion, zugleich aber auch von neuen positiven Gedanken belebt. Sie ist nicht antikommunistisch aus Prinzip, sondern aus Notwehr. Sie ist das Mittel, durch welches das Erbe der Jahrhunderte bewahrt und die Kulturwerte der europäischen Nationen gerettet werden können, indem diese Nationen vereint wieder zu der Macht gelangen, über die sie einzeln nicht mehr verfügen.

Deutsche und Franzosen sind zur Gemeinsamkeit bestimmt

Deswegen sind Franzosen und Deutsche von der Geschichte dazu ausersehen, gemeinsam zu handeln — innerhalb ihrer Grenzen auf einem Gemeinsamen Markt und — morgen vielleicht — im Rahmen einer Konföderation. Die entscheidende Zwiesprache beider Völker und beider Kulturen wird nicht mehr im Schatten kriegerischer Auseinandersetzungen stattfinden, sondern mit den Zielen: Europa, Frieden, Demokratie. Und doch drängt sich da unwillkürlich eine Frage auf: Was wird bei dieser Zusammenarbeit, bei dieser Gemeinschaft Fruchtbares herauskommen?

Ungewiß ist es, ob der Wandel in den politischen Beziehungen einen wesentlichen Einfluß auf das Kulturleben ausüben wird, wie man vielleicht annehmen könnte. In den beiden letzten Jahrhunderten, in denen die diplomatische Feindseligkeit nahezu konstant gewesen ist (sofern man für diesen Fall Preußen und Deutschland einander gleichsetzen darf), ist der Ideenaustausch zwischen beiden Ländern ebenfalls absolut konstant geblieben. Die französische Philosophie nach 1945 verdankt viel der deutschen Philosophie der letzten oder gar der beiden letzten Generationen. Sartre wäre ohne Husserl und Heidegger nicht das, was er ist. Heute beeinflussen französische Literatur und französisches Denken das intellektuelle Leben Deutschlands wohl stärker als umgekehrt — vor dreißig Jahren noch war es anders. In den Jahren nach dem Krieg entdeckten die Deutschen für sich selber, was die französischen Autoren doch nur in anderer Form, vielleicht auch angereichert, zurückerstatteten. Wie die Feindseligkeiten der Staaten die Zwiesprache der Kulturen nicht unterbrochen hatten, so wird die wachsende Inte-gration sie noch begünstigen. Dieser verstärkte Prozeß gegenseitiger Durchdringung läßt sich deutlich verfolgen und findet nicht nur in den Kreisen der Intellektuellen statt, in denen ein Austausch schon immer stattgefunden hat. Zeitgenössische deutsche Literatur wie auch die hierzulande fast unbekannten Klassiker von Kleist bis Lenz liegen nun in französischen Übersetzungen vor, vzerden auf französischen Bühnen gespielt; es ist bezeichnend für das neugefundene Verhältnis, für den Wert und die Bedeutung, die von beiden Seiten der Vermittlung zugemessen werden, daß Robert Minder, Ordinarius für Gymnastik an der College de France, von der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für seine Verdienste um die deutsche Literatur geehrt wurde. Doch nicht nur dieser geistige Austausch, auch der lebhafte Reiseverkehr unserer Tage, die interessierte Aufgeschlossenheit der Jugend tragen dazu bei, die Annäherung beider Völker, ihr politisches Bündnis zu verwirklichen. Die immer möglichen und zwangsläufigen Unterschiede und Widersprüche des politischen Konzepts und seiner taktischen Verwirklichung beginnen vielleicht schon heute vor diesen unmittelbaren individuellen Beziehungen zurückzutreten.

Würde ein wiedervereinigtes Deutschland der deutsch-französischen Versöhnung zustimmen?

Abschließend noch eine Bemerkung. Ich habe gelegentlich für das 19. Jahrhundert Preußen und Deutschland einander gleichgesetzt und für die Zeit nach 1945 die Bundesrepublik und Deutschland. Es ist mir klar, daß beides auf Kritik stoßen kann. Darf man die Bundesrepublik ohne weiteres als Erbin der Weimarer Republik und des Wilhelminischen Reiches betrachten? Deutschland wurde im letzten Jahrhundert von Preußen geeinigt, das heißt von Ostdeutschland, von einem deutschen Kolonisationsgebiet, von einem Staat bürokratisch-militärischer Struktur, in welchem der Adel sich weniger auf einen aristokratischen Geist als auf eine Beamtentradition gründete. Zur Zeit zählt die Bundesrepublik prozentual mehr Katholiken als ein Deutschland, das auch die „Deutsche Demokratische Republik" umfassen würde. Die Klasse der Junker, die in der Armee und in der Bürokratie des Wilhelminischen Reiches und der Weimarer Republik eine so große Rolle gespielt hat, existiert in der Bundesrepublik nicht mehr, jedenfalls nicht als Klasse. Deswegen darf man annehmen, daß diese Klasse auch in einem wiedervereinten Deutschland nicht mehr existieren würde, zumal sie mit den großen Besitztümern im Osten ihre wirtschaftliche Basis verloren hat. Das Preußen von gestern ist tatsächlich ein für allemal dahin.

Trotzdem wäre ein wiedervereinigtes Deutschland, selbst mit der Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze, geographisch und historisch eine andere Realität als die Bundesrepublik. Würden die Deutschen der Ostzone, von dem Zwangs-regime der Besatzungsmacht befreit, die französisch-deutsche Versöhnung und das gemeinsame Werk einer europäischen Integration ratifizieren? Wir haben allen Grund, diese Frage positiv zu beantworten; auch wenn sie wohl unseligerweise gar nicht aktuell ist.

Die Bundesrepublik ist nicht das ganze Deutschland, aber sie ist das Deutschland von heute — freilich ohne diejenigen Deutschen, die sich mit einem von den Russen auferlegten Regime nationalkommunistischer Funktionäre abfinden müssen. Solange das sowjetrussische Imperium sich von Osteuropa bis zur Mitte des „Reiches" erstreckt, ist die Bundesrepublik in den Augen der nichtkommunistischen Welt das wahre Deutschland und für Frankreich der wahre Partner. Versuchen wir also gemeinsam, ein Europa aufzubauen, in dem Deutsche und Franzosen gleichermaßen den Glanzpunkten ihrer Vergangenheit treu bleiben und gemeinsam in Freiheit auf der Bühne der Welt agieren mögen.

Fussnoten

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Raymond Aron, Professor für Soziologie und Philosophie an der Sorbonne und Journalist (Leitartikler des „Figaro"); geb. 14. März 1905 in Paris. Veröffentlichungen u. a.: Introduction ä la Philosophie de l'histoire; La Sociologie allemande contemporaine (deutsch: Deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart 1953); Les guerres en chaine, 1951 (deutsch: Der permanente Krieg, Frankfurt 1953); Espoir et peur du siede, 1957; L’opium des intellectuels (deutsch: Opium für Intellektuelle, Köln 1957); Frankreich in der modernen Welt, Eben-hausen 1960; Paix et guerres entre les nations, 1962 (deutsch: Frieden und Krieg, Frankfurt 1963); Le grand debat, 1963 (deutsch: Einführung in die atomare Strategie, 1964).