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Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition | APuZ 45/1965 | bpb.de

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APuZ 45/1965 -Demokratie ohne Parteien? - Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition

Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition

Winfried Steffani

I. Parteienstaat — oder was sonst?

Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur ein Bundesstaat, republikanischer Staat, Rechtsstaat, pluralistischer Staat, demokratischer Staat, Sozialstaat usw., sondern auch ein Parteienstaat. Die Parteienstaatlichkeit zählt neben der Rechtsstaatlichkeit zu den Grundmerkmalen freiheitlich demokratischer Herrschaftsordnung. Diese These ist zwar einerseits immer wieder behauptet und begründet worden — sie repräsentiert zugleich den modernsten Stand fast allgemein akzeptierten Lehrbuchwissens —, andererseits wurde und wird sie aber auch immer wieder in Frage gestellt. Die Thesen-Gegner und In-Frage-Steller gingen und gehen bei ihrer Kritik nun keineswegs stets von prinzipiell gleichgearteten Motiven und Leitbildern aus. Es kann unter ihnen vielmehr grob zwischen autoritären und radikaldemokratischen Kritikern, pluralistisch demokratischen Zweiflern und mehr rhetorisch fragenden Apologeten unterschieden werden.

Die Letztgenannten spielen eingestandenermaßen eine Sonderrolle. Sie sind schließlich primär Apologeten der Parteienstaatsthese und nicht Verkünder eines parteienstaatlichen Endzeitstadiums. Zu ihnen kann beispielsweise Grewe gerechnet werden Wilhelm mit seinem bereits klassisch gewordenen Aufsatz aus dem Jahre 1951 „Parteienstaat — oder was sonst?" Grewe fragt in seinem Artikel nach den zwei potentiellen Alternativen zum Parteienstaat — wobei er das „besondere Kriterium des Parteienstaates" darin sieht, „daß Parteien (im Gegensatz zu Interessengruppen jeder Art) Gebilde freier Werbung sind, deren Anteil an der Macht aufgebaut ist auf der Zahl der Wählerstimmen, die sie für sich zu gewinnen vermögen."

Die eine Alternative sieht er im Einparteistaat. Da eine „Partei" begrifflich immer ein Gegenüber, eine Gegenpartei voraussetzt, mit der sie konkurrieren kann, müßte nach Grewe dabei strenggenommen von einem Staat mit „politischer Einheitsorganisation" gesprochen werden. Der Parteienstaat setzt demgegenüber stets die Existenz eines Vielparteiensystems oder zumindest eines Zweiparteiensystems voraus. Bei der Erörterung des „Einparteistaates" als einer Alternative zum Parteienstaat hält sich Grewe 1951 jedoch nicht lange auf. Denn „nach den Erfahrungen, die wir in Deutschland mit dem Einparteistaat gemacht haben, dürfte es überflüssig sein, diese Alternative zum Vielparteienstaat ernstlich zu diskutieren." Allerdings hielt er es auch im Rahmen des Parteienstaates auf Grund der „sozialen, konfessionellen, stammesmäßigen und geistigen Strukturen des deutschen Volkes" damals für gerechtfertigt, selbst das Zweiparteiensystem „als eine für unser Land ernstlich in Frage kommende Möglichkeit auszuscheiden."

Die andere Alternative zum Parteienstaat sieht Grewe in einer berufsständischen Konzeption. Ihr billigt er immerhin zu, daß sie auf „ernst zu nehmenden Einwänden" gegen das Erscheinungsbild des modernen Parteienstaates beruhe, d. h., daß sie sich gegen beachtenswerte Strukturdefekte des bestehenden Systems richte. Die Verfechter dieser pluralistischen Alternative zum pluralistischen Parteienstaat wollen schließlich den zunehmenden Einfluß machtvoller Interessenverbände auf den politischen Entscheidungsprozeß der Anonymität entziehen und öffentlicher Kontrolle unterwerfen. Als entscheidendes Stichwort gilt hierbei heute der Terminus „Wirtschaftsdemokratie"; der Ruf nach einem „Wirtschaftsparlament"

bestimmt die Diskussion

Diese berufsständische Alternative zum Parteienstaat ist keineswegs neu. Sie wurde bereits während der Weimarer Republik in Verbindung mit Art. 165 Weimarer Reichsverfassung („Reichswirtschaftsrat") lebhaft diskutiert. Ja, Max Weber hatte sie in Deutschland schon 1917 einer scharfen und grundlegenden Kritik unterzogen In der Praxis sollte der Parteienstaat mit seinem politischen Parlament jedoch nicht völlig abgelöst, vielmehr nur durch ein berufsständisches Parlament ergänzt werden. Die berufsständische Konzeption war nicht als Alternative gedacht — wie im faschistischen Italien—. sondern (zunächst?) als „Ergänzung". Da jedoch die Wirtschaftspolitik heute den Kernbereich aller Politik ausmacht, würde der angestrebte Dualismus eines politischen Parlaments und eines Wirtschaftsparlaments, das nicht nur auf völlig unverbindliche Beratungsfunktionen beschränkt bleibt, faktisch zur Vorherrschaft des einen Parlaments über das andere führen müssen oder die Einheit des Staates zerbrechen. Denn hier stünde nicht das Problem eines Zweikammersystems zur Debatte, sondern die Frage einer machtpolitischen Aufgliederung zweier substantiell zu unterscheidender Kompetenzbereiche — deren Konturen praktisch nicht abgrenzbar sind — auf zwei grundverschieden strukturierte Gremien. Unter diesem Dualismus könnten die Parteien ihrer wichtigen politischen Funktion, eine gesamtstaatliche Integration divergierender Gruppenund Individualinteressen zu bewirken, nicht nachkommen. In der Regel „siegt" das politische Parlament und das Wirtschaftsparlament bleibt ein relativ einflußloses Ärgernis. Führte hingegen der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Parlamenten zur Suprematie des Wirtschaftsparlaments, so wäre die Demokratie der Gleichberechtigung endgültig durch die willkürlich bestimmte Parität berufsständischer Organisationen ersetzt Das demokratische Gleichheitsund Wettbewerbsprinzip hätte dem Prinzip manipulierbarer Willkür zu wei-chen, denn die Gretchenfrage aller berufsständischen Vertretungskörperschaften ist die nach ihrer Zusammensetzung. Bei der Suche nach einem akzeptierbaren Verteilerschlüssel scheitern in der Praxis bekanntlich alle Versuche einer befriedenden Lösung der berufsständischen oder syndikalistischen Alternative zum Parteienstaat — es sei denn, man folgt dem faschistischen Staatsmodell, in dem die „Verteilerfunktion" dem Führer obliegt. Denn, wie Ernst Forsthoff in seiner Bekenntnisschrift zum totalen Staat aus dem Jahre 1933 richtig sagt

„In dem Augenblick, in dem ein Führerstand vorhanden ist, der die Staatlichkeit und die staatliche Autorität wirklich repräsentiert, hört die Frage der richtigen Placierung dieser Anliegen und der angemessenen Mandatszuteilung in einer zu errichtenden berufsständischen Kammer auf, ein Problem zu sein. Denn die aus der Repräsentanz der autoritären Staatlichkeit getroffene Entscheidung trägt die Gewähr der Richtigkeit in sich."

Wegen dieser unüberwindlichen Probleme und der berechtigten Annahme, daß auch ein berufsständisches System in allen kritischen Punkten „nicht um ein Haar besser sein würde als ein demokratischer Parteienstaat" ja, ein derartiger Versuch einer partiellen Verdrängung der Parteien und des Parlaments durch Wirtschaftsgremien mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Bonner Grundgesetzes unvereinbar wäre und nur über eine fundamentale Verfassungsrevision ermöglicht werden könnte, sieht Grewe auch hier keine realisierbare Alternative zum Parteienstaat. Seine Frage nach dem „Was sonst?" ist somit rhetorisch gestellt. Er erweist sich demnach als bewußter Apologet des Parteienstaates — was selbstverständlich dessen Kritik niemals ausschließt.

In diesem Zusammenhang sei kurz auf die autoritären Kritiker der Parteienstaats-These eingegangen; der Deuter und Kritiker jener These also, derzufolge die Parteien nicht nur auf freier Werbung beruhende Wahlkampforganisationen sind, sondern zugleich die wichtigsten Verbindungsglieder zwischen Individuen und Interessengruppen einerseits und den politischen Entscheidungsinstanzen des Staates andererseits.

Das Glaubensbekenntnis der „autoritären Kritiker" hat in dem aus dem Jahre 1933 stammenden, eben zitierten Satz Forsthoffs: „Die aus der Repräsentanz der autoritären Staatlichkeit getroffene Entscheidung trägt die Gewähr der Richtigkeit in sich" eine prägnante und eindeutige Formulierung gefunden. Dies Bekenntnis wird durch die Überzeugung vervollständigt, daß der Parteienstaat als parlamentarische Demokratie nicht in der Lage sei, diese „autoritäre Staatlichkeit" zu erstellen. Daher müsse der Parteienstaat entweder überwunden oder durch berufsständische Korsettstangen, die letztlich nur im autoritären Führerstaat „richtig" zu placieren sind, ergänzt werden. Als Übergangslösung wird gelegentlich auf den Korpsgeist des Beamtentums gesetzt dessen disziplinierte Staatsgesinnung den Rummel der Parteien und Interessengruppen nicht völlig in Anarchie entarten lasse.

II. Zwei Demokratiemodelle

Bedeutsamer für unsere Überlegungen sind die demokratischen Deutungen und Kritiken des Parteienstaates. Ernst Fraenkel schrieb kürzlich: „Das kritikbedürftigste Moment des Bonner Parlamentarismus scheint mir die landläufige Kritik zu sein, die an ihm geübt wird" Gleiches gilt unstrittig für die Kritik am demokratischen Parteienstaat. Entscheidend ist die Frage nach dem Maßstab, nach dem Orientierungsmodell, an Hand dessen der demokratische Parteienstaat gewertet und beurteilt wird. In seinem grundlegenden Aufsatz „Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung" hat Fraenkel auf die zwei konträren Hauptmodelle demokratischen Verständnisses hingewiesen: das französische Orientierungsmodell der „klassischen Demokratietheorie" und das angelsächsische Modell der „Konkurrenztheorie". Operieren auch beide Demokratieauffassungen mit dem Be-griff des Gemeinoder Volkswillens, so besteht der essentielle Unterschied jedoch darin, daß die klassische Demokratietheorie mit ihrem Erzvater Rousseau die Tatsache eines vorgegebenen Gemeinwillens, der als der richtige zu erkennen ist, postuliert. Demgegenüber begreift die Konkurrenztheorie den Gemeinwillen als das Ergebnis eines stets offenen Willensbildungsprozesses, und zwar als ein immer wieder von neuem zu erarbeitendes Ergebnis, wobei niemals unumstößlich feststeht, ob dieses jeweilige Ergebnis als Mehrheitswille die „Richtigkeit" auf seiner Seite habe. Nach der Konkurrenztheorie bleibt es der unterlegenen Minderheit stets unbenommen, zu behaupten, daß ihre Willensäußerung „die richtige" sei und für diese Auffassung aktiv öffentlich zu werben. Ja, es bleibt ihr nicht nur unbenommen, dies zu behaupten: Die Konkurrenztheorie geht vielmehr von der prinzipiellen Vermutung aus, daß die Minderheit gegebenenfalls die bessere Einsicht und die besseren Argumente auf ihrer Seite haben kann. Sie postuliert einen offenen Entscheidungs-und Wettbewerbsprozeß, in dessen Verlauf die Minderheitsauffassung jederzeit zum Mehrheitswillen führen könne. Die demokratische Konkurrenztheorie ist der Mutterboden der demokratischen Oppositionstheorie.

In der klassischen Demokratietheorie hat die Opposition keinen logischen Ort. Diese Lehre ist darüber hinaus letztlich parteienfeindlich. Ihr theoretisches Postulat, daß der Mehrheitswille den richtigen Gemeinwillen repräsentiere, muß in der Tatsache einer opponierenden Minorität eine Provokation erkennen. Opposition ist hiernach Widerstand gegen den wahren Volkswillen — und nur insoweit ein gewisses Widerspruchsrecht zugebilligt wird, kann davon abgesehen werden, Opposition mit reiner Obstruktion gleichzusetzen, ihre Vertreter als bloße „Nein-Sager" abzutun oder sie gar schlechthin als staatsfeindlich zu deklarieren. Hierauf wird noch zurückzukommen sein.

Es bleibt festzuhalten, daß eine demokratische Deutung und Kritik am Parteienstaat jeweils anders verlaufen wird, ob sie von der einen oder der anderen Demokratietheorie ausgeht. Nach der klassischen Demokratietheorie manifestiert sich der richtige Gemeinwille im Mehrheitswillen, den der Staat auszuführen habe. Der Parlamentsabgeordnete hat hiernach nicht zu repräsentieren, d. h. in freier Entscheidung das von ihm in Verantwortung dem Gemeinwesen gegenüber als gerechtfertigt und begründet erkannte Ergebnis freier Auseinandersetzung in allgemeinverbindlicher Gesetzesform zu fixieren, sondern er hat als Volksbote einem vorgegebenen Willen zu gehorchen und ihn zu realisieren. Demokratie wird als Identität von Regierenden und Regierten verstanden. Ganz in diesem Sinne lautet z. B. eine der Forderungen, die das „Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderung in Westdeutschland beim Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland" zur „Demokratisierung Westdeutschlands" erhebt, präzis und unumwunden:

„Bindung der Abgeordneten an den Volkswillen"

Gemäß dieser Demokratietheorie ist nicht nur der Einparteistaat demokratisch legitimiert, wenn nicht gar der Idealfall, sondern auch der Parteienstaat einer bestimmten Deutung unterworfen.

In der Bundesrepublik Deutschland hat eine derartige Parteienstaatslehre im Werk von Gerhard Leibholz den einflußreichsten Niederschlag gefunden Danach ist die reine, wahre Demokratie, in der der Volkswille, die „volonte generale", mit Hilfe des Identitätsprinzips unverfälscht zur Geltung gelangt, die direkte Demokratie. Im modernen Großflächenstaat ist die direkte Demokratie aus rein praktischen Erwägungen und Gegebenheiten existentiell in Frage gestellt. Sie hat jedoch im Gewände des demokratischen Parteienstaates gleichsam ihre Wiedergeburt erfahren. Denn der „moderne Parteienstaat" ist nach Leibholz „seinem Wesen wie seiner Form nach nichts anderes als ... ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächen-staat" Hier wird „der Volks-oder Gemeinwille, d. h. die . volonte generale'. . . durch die Parteien gebildet". Die entscheidenden Sätze bei Leibholz lauten:

„Wie in der plebiszitären Demokratie der Wille der Mehrheit der Aktivbürgerschaft mit dem jeweiligen Gesamtwillen des Volkes identifiziert wird, wird in einer funktionierenden parteienstaatlichen Demokratie der Wille der jeweiligen Parteienmehrheit in Regierung und Parlament mit der , volonte generale'identifiziert. Der Gemeinwille kommt in der parteistaatlichen Demokratie allein mit Hilfe des Identitätsprinzips ohne Beimischung repräsen-tativer Strukturelemente zur Entstehung" Für die Stellung des einzelnen Abgeordneten im Parlament ergibt sich daraus folgerichtig, daß er „nicht mehr als Repräsentant, der in Freiheit unter Einsatz seiner Persönlichkeit seine politischen Entscheidungen für das Volksganze fällt, angesprochen werden kann" Er wird damit „im modernen Parteienstaat zu einem organisatorisch-technischen Zwischenglied" wobei die Selbständigkeit des Abgeordneten als völlig aufgehoben gilt. Dies ist nicht Wirklichkeitsanalyse (bzw. will es gar nicht sein), sondern theoretisches Postulat! Die Forderung „Bindung der Abgeordneten an den Volkswillen" hat somit in Leibholz'Parteienstaatslehre ihre theoretische Begründung und Rechtfertigung erfahren. Nach dieser Lehre hat der Abgeordnete im modernen Parteienstaat nicht Repräsentant zu sein, sondern er hat sich als Volks-bzw. Parteibote zu verstehen. Er hat, wogegen der damalige Bundestagsabgeordnete Kiesinger auf dem 4. Bundesparteitag der CDU heftig polemisierte, „gehorsamverpflichteter Funktionär (seiner) Partei" zu sein

Wer sich als „Radikaldemokrat" bzw. „konsequenter Demokrat" der klassischen Demokratietheorie verpflichtet fühlt, wird sich vielleicht mit diesen Konsequenzen einer Parteienstaats-Deutung abfinden müssen, es sei denn, er hält mit Flechtheim konsequenterweise auch den Einparteistaat für eine demokratische Möglichkeit bzw. als eine unter gewissen Bedingungen („innerparteiliche Demokratie") demokratisch legitimierte Alternative zum Parteienstaat Ein Vertreter der demokratischen Konkurrenzlehre wird sich allerdings mit der gleichen Deutlichkeit, mit der seine Theorie von der klassischen Lehre abweicht, von dieser Parteienstaats-Deutung distanzieren müssen. Die klassische Demokratietheorie ist reine Konstruktion. Sie ist noch nirgendwo praktisch realisiert worden. Alle dahin gehenden Versuche scheiterten. Sie hat damit den Beweis ihrer praktischen Bewährung bisher nicht erbringen können. Sie hat allerdings viel zur Mißinterpretation und darauf beruhenden Mißbilligung parteienstaatlicher Wirklichkeit beigetragen. Die Konkurrenztheorie verfügt demgegenüber über den bemerkenswerten Vorzug, nicht deduktiv vom Katheder her, sondern induktiv auf Grund geschichtlicher Erfahrungen konzipiert worden zu sein. Stimmt man zu, daß in der französischen Geschichte ernsthaft der Versuch unternommen wurde, das klassische Demokratiemodell zu realisieren, so läßt sich mit Fraenkel sagen:

„Der kontinentale Radikaldemokrat zeichnet sich durch den Mut zur Konsequenz aus; der insulare Repräsentativdemokrat hat — ohne übermütig zu werden — den Übermut zur Inkonsequenz besessen. So mag es sich erklären, daß während langer Jahrzehnte die Engländer sich als unfähig erwiesen haben, das Regierungssystem, das sie praktizieren, zu analysieren, während die Franzosen dieses Regierungssystem zwar zu analysieren, aber nicht zur praktizieren verstanden haben."

Joseph Schumpeter hat die zwei Grundkonzeptionen der Demokratie in die Kurzformeln gebracht:

Nach der klassischen Lehre ist „die demokratische Methode jene institutionelle Ordnung zur Erzielung politischer Entscheide, die das Gemeinwohl dadurch verwirklicht, daß sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden läßt, und zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen" Demgegenüber erweist sich die demokratische Methode nach der Konkurrenzlehre als „diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben"


III. Parteienstaat und Opposition in Großbritannien und den USA

Das in den angelsächsischen Ländern weitaus vorherrschende Verständnis des Parteienstaates entspricht dem Modell der Konkurrenz-lehre. Dabei sind zwei Grundformen institutioneller Zuordnung entwickelt worden, die das Erscheinungsbild des modernen demokratischen Parteienstaates entscheidend prägen: in den Vereinigten Staaten das präsidentielle Regierungssystem und in Großbritannien das parlamentarische System. Zum Geschichtlichen sei nur so viel vermerkt: Als die amerikanische Bundesverfassung kurz vor der französischen Revolution konzipiert wurde, befand sich das parlamentarische Regierungssystem im britischen Mutterland noch völlig im embryonalen Entwicklungsstadium. Erst seit 1830 (Kabinett Lord Grey), endgültig erst nach 1841 (zweites Kabinett Sir Robert Peel) wurde es zum anerkannten Verfassungsprinzip.

Das parlamentarische Regierungssystem war eine Schöpfung der Parteien im Parlament. Die das politische Leben bis 1688 eindeutig beherrschende Konfrontation von Krone und Parlament hatte sich seitdem mehr und mehr auf die Konfrontation von „His Majesty's Government" und „His Majesty's Opposition" verlagert. Das setzte voraus, daß die Institution „Opposition" als legitim und legal erachtet wurde. Das System konnte nur funktionieren, wenn die Opposition nicht als Außenseiter, Rebell oder Widerständler galt, sondern als ein anerkanntes Vollmitglied des Herrschaftsverbandes, das lediglich eine grundlegende Gegenposition zur Regierung vertrat. Die Geschichte des britischen Regierungssystems kann demnach im wesentlichen als die Geschichte der parlamentarischen Opposition gesehen werden. Den wichtigsten Etappen ihrer Frühgeschichte bis zur Ausreifung als loyale, systematische, ständige Opposition „Ihrer Majestät" hat Archibald S. Foord in seinem Buch „His Majesty’s Opposition, 1714— 1830" eine eingehende, ausgezeichnete Analyse gewidmet Es war das letzte Mal kurz vor und vor allem nach der Französischen Revolu-tion und den Napoleonischen Kriegen, da die „formierte Opposition" gegen „Ihrer Majestät Regierung" von führenden Politikern der Mehrheit als „unpatriotisch", „republikverdächtig", wenn nicht gar prinzipiell verfassungwidrig erachtet wurde. Als Sir John Cam Hobhouse während einer Unterhausdebatte im Jahre 1826 erstmals von „His Majesty's Opposition" sprach, wurde sein gezielter Scherz noch mit Lachen quittiert Kurze Zeit darauf gewann die neugeprägte Formel jedoch das Gewicht eines grundlegenden Verfassungsprinzips, das die Praxis des britischen Regierungssystems fast 100 Jahre lang bestimmte, bevor es 1937 im „Ministers of the Crown Act" auch verfassungsrechtlich bestätigt wurde. „His Majesty’s Opposition" kennzeichnet danach eine Partei oder Parteien-gruppe, deren Loyalität gegenüber der Krone und Verantwortlichkeit gegenüber Volk und Land keineswegs in Frage stehen, die aber nicht an der Regierung beteiligt ist, vielmehr als geschlossene Gruppe deutliche, öffentlich wirksame Kritik an ihr zu üben hat, für eine permanente, scharfkritische Regierungskontrolle sorgen muß, Mahner zur Wahrung von Recht und Freiheit sein will, notfalls Alternativpositionen erarbeiten soll und vor allem das Gemeinwesen mit einer Alternativregierung, einer zur Regierungsübernahme bereiten und befähigten „Mannschaft" unter Leitung eines vertrauenswürdigen und qualifizierten Premieraspiranten auszustatten hat. Bei Ivor Jennings heißt es knapp: Die Opposition „is not only Her Majesty's Opposition, but also Her Majesty's alternative Government." Parla-mentarisches System und „formierte" Opposition sind somit die Grundmerkmale des britischen Regierungssystems, des „Party Government", des britischen Parteienstaates Diese Verfassung ist das Geschöpf der britischen Parlamentsparteien.

Als sich die Amerikaner 1787 eine Bundesverfassung gaben, konzipierten sie ein geschriebenes Dokument, das von den Parteien nicht nur keine Kenntnis nahm, das vielmehr die Parteien bewußt als „unerwünscht" „draußen" ließ. Die das politischen Leben bestimmenden Kontrahenten sollten Kongreß und Präsident sein. Da die Verfassung ohne Parteien nicht funktionieren konnte, erschienen sie bald auf dem Plan. Wohl konnte sich auch hier so etwas wie „Opposition" bilden, aber die Funktion einer „formierten", permanenten, systematischen, geschlossen auftretenden, agierenden und entscheidenden Opposition wurde nicht zur Grundbedingung des Systems. Da der amerikanische Präsident — als Staatsoberhaupt, Regierungschef und einziger „Minister", den die Verfassung kennt — vom Kongreß nicht abberufen werden kann (die Ab-berufbarkeit der Regierung bzw. ihres Chefs gilt als das Grundmerkmal eines parlamentarischen Regierungssystems), geraten weder Regierung noch präsidentielles System in eine Krise, die falls Partei, der der Präsident angehört, im Kongreß über keine unzuverlässige völlig Parlamentsmehrheiten verfügt. Präsident Eisenhower mußte während seiner achtjährigen Amtszeit (Januar 1953 bis Januar 1961) sechs Jahre lang mit einem Kongreß zusammenarbeiten, in dem die demokratische „Opposition" die Mehrheiten stellte. Die demokratische Parlamentsmehrheit fand wiederum sechs Jahre lang die republikanische „Opposition" im Besitz des Weißen Hauses.

Der amerikanische Präsident operiert mit adhoc-Mehrheiten. Sie finden ihr Pendant in adhoc-Oppositionen. Wohl stehen sich im Kongreß fast immer eine klare Einparteimehrheit und eine klare Einparteiminderheit gegenüber. Das Zweiparteiensystem arbeitet insofern perfekt. Für die Organisation beider Häuser des Kongresses ist das auch von fundamentaler Bedeutung. Bei der Entscheidung substantieller Fragen können sich jedoch we-der Mehrheitsführer noch Minderheitsführer auf ihre Fraktionsgenossen verlassen. Präsident Kennedy ist während seiner Regierungszeit bei Entscheidungen, die sein Prestige zen-tral betrafen, trotz überwältigender demokratischer Mehrheiten in beiden Kongreßkammern sechsmal im Repräsentantenhaus und zehnmal im Senat nur dadurch vor einer eklatanten Niederlage bewahrt worden, weil Abgeordnete der republikanischen „Opposition" gegen ihre Fraktionsmehrheit und für die Position des Präsidenten stimmten. Selbst Präsident Johnson, der im Repräsentantenhaus über eine demokratische Zweidrittelmehrheit „verfügt", konnte am 30. Juni 1965 bei einer entscheidenden Abstimmung zum Miethilfengesetz — bei dem es um grundlegende Prinzipienfragen und Milliardenbeträge ging — nur dank der Tatsache, daß vier Republikaner ihrer Fraktionsführung den Gehorsam verweigerten, einer bedeutungsvollen Schlappe entgehen Eine Niederlage der Regierung hätte das Prestige der Opposition erheblich gestärkt. Da derartige Disziplinlosigkeiten einzelner Abgeordneter oft genug vorkommen, also Tradition sind, die Regierung sowieso nicht gestürzt werden kann und das System so angelegt ist, daß es auch ohne eine formierte Opposition zu funktionieren scheint und seine Identität behält, haben die vier republikanischen Herren aus New York auch nichts Ernsthaftes von Seiten ihrer Fraktion oder Wahlkreispartei zu befürchten.

Der Parteienstaat amerikanischer und der Parteienstaat britischer Fasson sind zwei erheblich verschiedenartig strukturierte Phänomene. Präziser: Der amerikanische Bundesstaat des präsidentiellen Systems und der britische Einheitsstaat des parlamentarischen Systems repräsentieren zwei grundverschiedene Erscheinungsformen des demokratischen Zweiparteiensystems. Im britischen Parteienstaat sehen sich die parlamentarischen Parteien zwei Möglichkeiten gegenüber: Entweder verzichten sie auf hohe Gruppenkohäsion, indem sie ihren Mitgliedern auch im Plenum völlige Entscheidungsfreiheit einräumen und nehmen damit das Risiko einer instabilen, krisenanfälligen, seiner Amtsdauer niemals sicheren Regierung in Kauf, oder sie legen Wert auf eine verantwortungsvolle, relativ krisensichere, arbeitsfähige Regierungsführung, die im parlamentarischen System allerdings eine stabile, verläßliche, allein durch Fraktionsdisziplin erstellbare Regierungsmehrheit voraussetzt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts folgte die britische Verfassungspraxis weitgehend dem erstgenannten Fall. Im Zeitalter eng begrenzter Wählerschaften, als lediglich eine kleinere, weitgehend homogene Bevölkerungsschicht aktiv am politischen Entscheidungsprozeß teilnehmen durfte, konnte sich bei den anfallenden Regierungsaufgaben Großbritannien ein derartiges Verfahren einige Jahrzehnte lang erlauben.

Mit dem Anwachsen der Staatsaufgaben — weigehend bedingt durch Bevölkerungswachstum und Industrialisierung — sowie dem unaufhaltsamen Demokratisierungsprozeß (Wahlgesetze von 1867 und insbesondere 1884/85) wurde die bisher praktizierte „Möglichkeit" parlamentarischer Regierungsweise ernsthaft in Frage gestellt. Industriestaat und Demokratie zwangen den britischen Parteien-staat zur Verfahrensreform Die Regierung festigte ihre Position im Parlament vermittels Geschäftsordnungsreform und „Gefolgschaftsverpflichtung", die parlamentarische Opposition die ihre durch das „Schließen eigener Reihen" und den Appell an die „Öffentliche Meinung" — sprich: Wählerschaft. Die „Partei im Lande" wurde hierfür zum entscheidenden Hebel. Die englischen Parlamentsparteien haben es dabei jedoch bis heute verstanden, ihre Parteien im Lande nicht zum Herren ihrer politischen Entscheidungen in Parlament und Regierung werden zu lassen. Sie ließen es nicht zu, daß das Grundprinzip des britischen parlamentarischen Regierungssystems, wonach sich die Regierung (Kabinett) vor dem Parlament und das Parlament vor den Wählern zu verantworten hat, durch Gehorsam gegenüber der eigenen Partei im Lande durchbrochen wird Lediglich die nach 1900 gegründete Labour Party, die als einzige britische Groß-partei nicht vom Parlament hinaus, sondern „von draußen" her ins Parlament hineinwuchs, stellte dieses Prinzip einige Zeit ernsthaft in Frage. Wenn wir McKenzies grundlegender Arbeit zum modernen britischen Parteienstaat folgen dürfen, so hat sich auch diese Partei weitgehend dem traditionellen britischen Parlamentssystem angepaßt.

Wie wirkte sich diese Entwicklung auf die Rolle von „Her Majesty’s Opposition" im modernen demokratischen Parteienstaat aus?

An ihren Grundfunktionen hat sich gegenüber „früher" prinzipiell nichts geändert. In der Methode mußte die Opposition jedoch neue Strategien und Taktiken entwickeln. Ihre Funktionen sind dieselben geblieben: Kritik an der Regierungspolitik, Kontrolle aller Regierungsaktionen, Mahner zur Wahrung von Recht und Ordnung sein, Erarbeitung realisierbarer Alternativpositionen, Selektion qualifizierter Regierungsaspiranten, stete Bereitschaft zur Regierungsübernahme. Der Wille zur Regierungsübernahme, der Wille zur Verantwortung bleiben die treibende Kraft jeder ernsthaften Opposition. Dieser Wille muß erlahmen, wenn das gesteckte Ziel unerreichbar wird.

Im britischen Unterhaus einen Regierungswechsel durch Mißtrauensvotum herbeiführen zu wollen, erwies sich auf Grund der verfestigten Parteifronten in diesem Jahrhundert als immer aussichtsloser. Der Wahlerfolg bildet die einzig reale Chance. In England sind Wahlen alle fünf Jahre fällig, es sei denn, der Premierminister setzt einen früherem Termin. Für diesen Augenblick stets gerüstet zu sein, ist eine der Aufgaben der Opposition. Das läßt sich, wie die Praxis lehrt, leichter postulieren als realisieren. Das oppositionelle Unterfangen, eine etablierte Regierung im Rahmen allgemeiner Wahlen aus dem Amt zu drängen — im Zweiparteiensystem die einzige Möglichkeit —, sieht sich wachsenden Schwierigkeiten gegenüber. Diese Feststellung trifft offensichtlich nicht nur auf die moderne Opposition in Großbritannien zu, sondern gilt, wie u. a. Manfred Friedrich am Beispiel Englands, Schwedens und der Bundesrepublik zu zeigen versuchte, für die Opposition im parlamentarischen Wohlfahrtsstaat schlechthin

Hier setzt denn auch die Kritik der von uns als „demokratisch-pluralistische Zweifler" bezeichneten Beobachter des parlamentarischen Parteienstaates ein. Ebenso die einiger radikaldemokratischer Kritiker.

IV. Das Ende des Parteienstaates?

Den größten Zweifel an der Zukunft des Parteienstaates hat der radikaldemokratisch argumentierende Politologe Ekkehart Krippendorfs 1962 in seinem Monat-Artikel „Das Ende des Parteienstaates?" vorgetragen Das Fragezeichen steht allerdings nur im Titel, der Text setzt klare Ausrufungszeichen. Der Verfasser beabsichtigt, „die vor Jahren im . Monat'von Wilhelm Grewe gestellte Frage . Parteien-staat oder was sonst?'ihres rhetorischen Charakters zu entkleiden und einer ernsthaften (!) Diskussion des . was sonst?'den Weg zu bereiten"

Krippendorffs Resultate und Thesen sind eindeutig: Das Ende des Parteienstaates europäischer Prägung ist abzusehen; der Entwicklungstrend geht eindeutig zum Einparteistaat; die „große Koalition" ist lediglich eine Vor-form dieses Zukunftsstaates, in dem die politische Kontrolle in die „Einheitspartei" verlagert wird; das Ende des Parteienstaates bedeutet nicht notwendigerweise das Ende politischer Freiheit überhaupt, denn der Einparteistaat ist „als solcher nicht notwendig vom Übel: unter einer Führung mit verantwort -

lichem politisch-historischem Auftrag kann er durchaus stimulierend und progressiv arbeiten. Die Chance der Freiheit in einem nicht mehr in Frage gestellten Gesellschaftssystem liegt dann in der effektiven Verwirklichung innerparteilicher Demokratie"

Es gibt sicherlich wenige, die bereit wären, Krippendorffs Argumentationen bis zur letzten, als logisch begründetes Resultat präsentierten Konsequenz zu folgen. In der März-nummer 1962 des Monats hat er jedenfalls un-ter den vier Autoren, die sich zu seiner „Provokation" äußerten — Helmut Wagner, Hans Schuster, Arnulf Baring, Joachim Rede-mann —, insoweit nur scharfen Widerspruch gefunden In der deutschen Gegenwartsdiskussion gibt es aber doch einige Gesprächspartner, die sich genötigt sehen, ihn bei seinen Überlegungen eine gute Wegstrecke weit zustimmend zu begleiten. Die „demokratisch-pluralistischen", d. h. an der Konkurrenzlehre der Demokratie orientierten Zweifler am Fortbestehen des überkommenen Parteienstaates gehen dabei allerdings von anderen Grund-ansichten aus als Krippendorff. Denn Krippendorfs ist — sehr im Gegensatz etwa zu Wilhelm Grewe, der sich grundsätzlich zum demokratisch-pluralistischen Konkurrenzmodell bekennt — Vertreter der klassischen Demokratietheorie. Nur so läßt sich seine These verstehen, wonach das „eigentliche Dilemma des Parteienstaates" darin liege, daß er „darauf angelegt sei, über das Instrument der Volkspartei sich selbst aufheben zu müssen, indem er die Bedingungen der Möglichkeit von Oppositionsparteien aufhebt". Ebenso „könne und dürfe keine Regierung die Existenz einer Opposition anders werten denn als Zeichen eigener gesellschafts-politischer Fehler bzw.

als Zeichen dafür, daß sie ihr eigentliches Ziel, die gerechte und jeden befriedigende Sozialordnung, noch nicht erreicht habe" Diesen Thesen liegt ein Verständnis von „Volkspartei" und „Opposition" zugrunde, dem kein Anhänger der Konkurrenzlehre — die Krippendorfs als „Dogma liberaler Weltanschauung"

mit leichter Hand verwirft — zustimmen kann.

Daß „bereits der Begriff einer ausdrücklich sich an alle wendenden modernen . Volkspartei'einen jede Oppositionspartei ausschließenden absoluten Anspruch impliziert", bleibt kühne Behauptung. Warum es „zumindest begrifflich nicht zwei , Volksparteien'zugleich innerhalb eines und desselben Staates geben kann" ist unerfindlich. Der Begriff Volkspartei besagt nichts weiter, als daß sich eine Partei bei ihrem Wählerappell nicht ausschließlich an eine Klasse oder eine engere Klassenkombination wendet und sich aus ihr rekrutiert, sondern, zumindest der Intention nach, an das „ganze Volk". Der Terminus . Volkspartei'

ist immer noch vom Wort . Partei'her zu definieren, das begrifflich ein Gegenüber, eine Gegenpartei voraussetzt und den Konkurrenzbegriff mit einschließt. Partei und Klassenpartei sind keine Synonyme. Krippendorffs einseitige Definitionen determinieren den Beweis der Argumentation. Auf diese Weise wird auch das Todesurteil über die Oppositionsparteien gefällt. „Seiner Majestät der Volksmehrheit loyale Opposition" ist danach blanker Unfug. Das Ende der Klassenparteien bedeutet auch das Ende der Oppositionsparteien, heißt es. Sobald eine Oppositionspartei nicht mehr willens und in der Lage ist, eine bestehende Gesellschaftsordnung prinzipiell in Frage zu stellen und ein prinzipiell anderes gesellschaftliches „Leitbild" zu setzen, verliert sie nach Krippendorff die entscheidende, ihre Existenz legitimierende Funktion Opposition hat das System in Frage zu stellen oder abzutreten. Andere Funktionen sind bloßes Beiwerk. Die gesamte Geschichte von „His Majesty’s loyal Opposition" wird mit einer Handbewegung vom Katheder gefegt und das alte, der klassischen Demokratietheorie adäquate Vorurteil von der Opposition als „des Volkes fünfter Kolonne" faktisch wieder aufpoliert.

Bei Krippendorff wird der Parteienstaat jedoch nicht nur „zu Tode definiert", vielmehr werden zahlreiche ernsthafte Argumente angeführt, die auch und gerade den „demokratisch-pluralistischen Zweiflern" keine Ruhe lassen. Allerdings „schießt", wie Manfred Friedrich kommentiert, Krippendorff hierbei ebenfalls „über das Ziel hinaus" Wohl teilen zahlreiche Beobachter Krippendorffs Auffassung, daß „amtierende Regierungen durch Wahlen nicht mehr ablösbar zu sein scheinen" Zu ihnen gehört auch Friedrich, der sich um den Nachweis bemüht, daß den modernen Wohlfahrtsstaaten die generelle Tendenz einer zunehmenden Stärkung und Festigung der Regierungspositionen eigen ist, wogegen es „für die Opposition immer schwieriger wird, die Wählerschaft (in der Innen-wie Außenpolitik) mit einer klar erkennbaren Alternative zur Regierungspolitik zu konfrontieren"

Während Friedrich jedoch vorsichtig von einer generell feststellbaren erheblichen Erschwerung spricht, geht Krippendorff entschieden weiter. Aus der allgemeinen Tendenz wird bei ihm letztlich ein unausweichliches Entwicklungsgesetz:

„Es scheint sich herauszustellen, daß die parlamentarische Demokratie als ein System sich in der Machtausübung durch Wahlentscheidung ablösender Parteien das Produkt einer Übergangszeit ist (oder war), das auf der Annahme beruhte, der gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungsprozeß sei entweder prinzipiell nicht lenkbar oder aber Planung und Lenkung seien schädlich für den Fortschritt. Diese Annahme stellt sich als falsch heraus: Umfassende Planung ist nicht nur wissenschaftlich möglich, sondern auch für einen krisenfreien Fortschritt nötig geworden.

Das impliziert früher oder später das Ende des Parteienstaates. Es tritt früher ein, wenn die Oppositionspartei das jeweilige gesellschaftliche System nicht mehr prinzipiell in Frage zu stellen gewillt oder in der Lage ist. Nur wo eine Oppositionspartei nicht diesen Weg geht, hat der Parteienstaat noch eine gewisse, aber auch dann nur beschränkte Zukunft."

Es dürfte kaum strittig sein, daß der moderne, komplizierte Sozialstaat ohne ein erhebliches Maß an Planung und Lenkung immer funktionsunfähiger zu werden droht und daß zahlreiche sozioökonomische Entwicklungstendenzen berechenbar sowie gewisse Unzufriedenheiten in der Bevölkerung „erfragbar" und ihre Ursachen weitgehend feststellbar sind. Wohl wird auch jede vernünftige Regierung daraus, wenn sie kann, Konsequenzen ziehen, die ihre Position erheblich zu festigen vermögen. Krippendorffs extreme Erwartungen gegenüber Wissenschaft und praktisch-politischer Nutzanwendungsmöglichkeiten beruhen jedoch offensichtlich auf einem Verständnis des Menschen und seiner Berechenbarkeit — als Individuum wie als Gruppenglied —, das alles andere als wissenschaftlich gefestigtes Uberzeugungsgut sein dürfte. In Krippendorffs Zukunftsstaat wie Marxens klassenloser Ge-Seilschaft — die beide prinzipiell konfliktlose, berechenbare Gemeinwesen sind — wird nur noch verwaltet.

V. Der Einparteistaat — eine demokratische Alternative?

Krippendorffs Prophezeiung ist der Einparteisiaat, seine Freiheitshoffnung die innerparteiliche Demokratie. Liegt darin eine demokratische Alternative zum Parteienstaat? Wilhelm Grewe hatte es 1951 unter Verweis auf die Erfahrungen mit dem totalitären „Einpartei-staat“ abgelehnt, darauf überhaupt näher einzugehen Heute wird uns insbesondere unter Hinweis auf die Einparteigebilde einiger Entwicklungsländer vorgehalten, daß man diese Organisationen nicht unbedingt als undemokratisch abtun könne, geschweige denn mit den totalitären Einheitsparteien kommunistischer oder faschistischer Version in einen Topf werfen dürfe. Letzteres muß sicherlich zugestanden werden.

Es würde hier zu weit führen, auf das komplizierte Problem einer exakten Beschreibung von Funktion und Realität der durchweg sehr verschiedenartigen „Parteien" in diesen jungen Ländern, über die wir noch sehr wenig wissen, näher einzugehen. Wir wollen uns mit der Frage begnügen, ob denn jeder nichttotalitäre Einparteistaat qua definitione ein demokratischer Einparteistaat im Sinne der Konkurrenzlehre sei. Offenkundig nicht. Er wäre es nur dann, wenn in ihm tatsächlich der Wähler unter (mindestens zwei) miteinander konkurrierenden Kandidaten im Rahmen rechtlich geordneter und kontrollierter Verfahren für alle entscheidenen politischen Staatsämter — vor allem direkt oder indirekt für das des Regierungschefs — frei seine Auswahl treffen könnte. Sobald ein Einparteistaat diese Grundbedingung erfüllt, sobald er sich dieser demokratischen Methode zur Fällung politischer Entscheidungen bedient, wird man ihn wohl einen „demokratischen Staat" bzw. „nicht undemokratischen Staat" nennen müssen. Ein derartiger Staat wäre demnach theoretisch möglich. Es hat ihn in der Wirklichkeit jedoch, abgesehen von schwachen Ansätzen, noch nie gegeben. Er ist eine Definitions-Konstruktion, wobei man um der begrifflichen Sauberkeit willen in diesem Zusammenhang eigentlich mit Grewe von einem „Staat mit politischer Einheitsorganisation" sprechen sollte.

Wie hätte die politische Wettbewerbspraxis in einem derartigen Staat auszusehen?: Konkurrierende Kandidaten für politische Staatsämter müßten sich den Wählern nur unter ein und demselben „Parteinamen" präsentieren, dürften in ihrer Wahlkampagne nur andere Wahlkonkurrenten, nicht jedoch „die Partei" angreifen und über keine eigene, von der Gesamtpartei unabhängige Organisation, etwa zur Wahlkampf-Finanzierung, verfügen. Diese Kandidaten müßten sich also freier Amts-bewerbung stellen — Kriterium der Demokratie —, dürften sich und ihre Anhänger aber nicht vermittels eines eigenen politischen Namens als Gruppe kenntlich machen und präsentieren sowie als eigenständige Gruppe organisieren. Sie müßten sich folglich ein ähnliches Verhalten auferlegen, das normalerweise von Bewerbern für die Nomination innerhalb einer Partei gefordert wird, die sich dann in einer Wahl den Kandidaten einer anderen Partei zu stellen haben. Das wäre eine die freie Wettbewerbsaktion des einzelnen Kandidaten äußerst stark beengende Auflage. Warum sollte er sich dieser „unnatürlichen Prüderie" unterwerfen? Dort, wo eine solche Praxis befolgt wird, hat sie stets ihre sehr realen Gründe. Zwei Beispiele: Entwicklungsländer und Südstaaten der USA.

Entwicklungsländer mit Einparteiherrschaft — d. h. in der Praxis solche, in denen eine Groß-partei eindeutig vorherrscht, neben der lediglich völlig konkurrenzunfähige Splitterparteien bestehen — befinden sich gegenwärtig durchweg in einer staatlichen „Notstandssituation". Sie suchen nach ihrer nationalen Identität, sind mit der Errichtung staatlicher Institutionen und den ersten Versuchen ihrer Flandhabung befaßt und müssen das ungeheure Problem einer Mobilisierung des Volkes zur Überwindung des sozioökonomischen Entwicklungsrückstandes bewältigen. In einem derartigen Ausnahmezustand käme der Versuch, dem charismatischen Volksführer und Regierungschef — der normalerweise zugleich der erfolgreiche Führer der nationalen Un-B abhängigkeitsbewegung ist — eine „formierte Opposition" gegenüberstellen zu wollen, einem „Verrat an der Sache" gleich. In einer solch exzeptionellen Konstellation, wie sie in den Entwicklungsländern gegeben ist, den Ansatz für eine allgemeine Entwicklungstendenz zu einer „nicht undemokratischen" Alternative zum Parteienstaat entdecken zu wollen, scheint mir ziemlich kühn zu sein. Diese Einparteistaaten sind bestenfalls „gutwillige Erziehungsdiktaturen" bzw. „gelenkte Demokratien", d. h. autoritäre Staaten, in denen der ernsthafte Versuch gemacht wird, demokratische Ansätze auszubauen und zu fördern. Die Bewährungsprobe kommt, wenn sich der Staat etabliert hat. Die Realität der einparteistaatlichen Entwicklungsländer zeichnet da jedoch keineswegs so rosige Bilder. Franz Ansprenger, der beste deutsche Kenner der Parteien-problematik in den afrikanischen Entwicklungsländern, hat u. a. in seiner ausgezeichneten Studie „Zur Rolle der Führungspartei in einigen jungen Staaten Afrikas" einiges Material präsentiert Nach einer Analyse wichtiger Äußerungen afrikanischer Staatsführer zum Parteienproblem kommt er zum Schluß: „(Die angeführten Zitate) schildern drei Phasen der Erfahrung junger afrikanischer Staaten (aus der Sicht ihres Führers) mit dem Parteiensystem als politischem Entscheidungsorgan. In der ersten Phase unmittelbar nach der Unabhängigkeit . . . drängt sich die Vorherrschaft der einen Führungspartei schlecht-weg als vom Volke gewollter Tatbestand auf. In der zweiten Phase verraucht die spontane Begeisterung für die neue Souveränität . . .; das Volk steht erste Enttäuschungen und Krisen durch, und die Partei muß — wenn sie ehrlich bleiben will — beständig kritisch an sich selbst arbeiten, um das hohe Gut der Einmütigkeit zu bewahren: den . Familiengeist', der nach Nyerere Voraussetzung für eine vernünftige Pflege des Gemeinwohls in Afrika ist. Muß dann eine dritte Phase folgen (Ansprenger bezieht sich hier auf eine drohende Rede Nkurmahs aus Ghana vom 2. April 1960), in der die Identität von Partei und Volk mit Drohungen und Repressalien, Konzentrationslagern gar, geschützt wird, in der organisierte Opposition nur deshalb nicht exisitiert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf?"

Ansprenger weist darauf hin, daß wir über diese dritte Phase noch fast gar nichts wissen, da sich die meisten Staaten noch in den ersten Entwicklungsjahren befinden. „Bis zur Stunde", schreibt er 1963, „ist immer noch der Drang nach nationaler Einmütigkeit, die sich konkret in der einheitlichen Führungspartei niederschlägt, so deutlich und im unabhängigen Afrika so allgemein verbreitet, ... daß wir von einer typischen Erscheinung für diesen Erdteil und die gegenwärtige Zeit, nämlich die erste Phase moderner unabhängiger Staatlichkeit, sprechen dürfen. Ja, die Übernahme der politischen Entscheidungsfunktionen durch eine einheitliche Partei scheint uns das hervorragende Kennzeichen des Afrika der sechsziger Jahre zu sein" Man sollte sich vor allen weiterreichenden Prognosen hüten, muß jedoch auch zur Kenntnis nehmen, daß „oppositionelle Politiker im Gefängnis oder in Ungnade oder Verbannung leider keine Seltenheit mehr in Afrika" sind

Deutlich autoritäre Zügen wiesen — und weisen teilweise auch heute noch — die Einparteistaaten im Süden der Vereinigten Staaten auf. In diesen Staaten ist die Demokratische Partei die unbestrittene „Führungspartei". Wenn den einzelnen Bundesstaaten der USA — die im Gegensatz zu den afrikanischen Entwicklungsländern die Grundzüge eines präsidentiellen und nicht die eines parlamentarischen Systems aufweisen — auch alle Merkmale „souveräner Staatlichkeit" im völkerrechtlichen Sinne fehlen, sie vielmehr den Charakter selbstbewußter und immer noch recht machtvoller „Bundesländer" haben, so sei doch auf dieses Phänomen verwiesen. Der Grund für die Errichtung jener Einparteiordnung ist eindeutig in dem Bemühen der Weißen zu suchen, die von der Sklaverei befreite Negerbevölkerung vom politischen Entscheidungsprozeß innerhalb ihres Staates auszuschalten und den Bund durch demonstrierte Solidarität daran zu hindern, in der Rassenfrage intervenierend tätig zu werden. In der Rassenfrage duldete die führende Schicht der Weißen weder außerhalb noch innerhalb der „Partei" irgendwelche Opposition. (Mit der neuerdings zunehmenden Intervention des Bundes in die südstaatliche Handhabung der Negerfrage werden heute dieser Haltung allerdings Grenzen gesetzt, die deutlich die Tendenzen zur Entwicklung eines Zweiparteiensystems fördern).

Jenseits dieser entscheidenden Tabu-Zone gab und gibt es durchaus innerparteilichen Konkurrenzkampf — von Staat zu Staat im einzelnen unter jeweils recht verschiedenartigen Bedingungen. Allen Staaten gemeinsam ist jedoch die Tatsache, daß die Nomination in der Demokratischen Partei faktisch der Wahl gleichkommt. Die Nomination erfolgt durch „Vorwahlen" (primaries), an denen in der Re-gel fast jeder Wahlberechtigte (eine bereits durch Wahlregistraturen begrenzte Gruppe) in seiner Eigenschaft als „Parteiangehöriger" teilnehmen kann. Bei diesen innerparteilichen Nominationswahlen sind in der Regel wiedeium zwei Typen bzw. Etappen zu unterscheiden: 1. die „Vor-Vorwahlen" (pre-primaries) und 2. die „Stich-Vorwahlen" (run-off primaries). An den pre-primaries kann sich jeder Parteiangehörige als Bewerber beteiligen. In den anschließenden run-off primaries fällt die Entscheidung zwischen den jeweiligen zwei Spitzenkandidaten, es sei denn, ein Kandidat hat bereits bei der pre-primary die absolute Mehrheit gewonnen.

Stellt das nicht ein faires Verfahren dar, das allen formellen Anforderungen eines demokratischen Konkurrenzkampfes gerecht wird? V. O. Key ist dieser Frage in seinen grundlegenden Studien „Southern Politics" und „American State Politics" nachgegangen

Er kommt zum Ergebnis, daß in Staaten mit straffer Parteiorganisation die „Vorwahlen"

in der Regel zur Farce werden, da die Parteiführungsgruppen den „Wahlausgang" zu len-ken wissen. Gibt es die „Partei" demgegenüber weitgehend nur dem Namen nach, weil weder Organisation noch klare Führungsgruppen bestehen, so führen die primary-Verfahren zu unkontrollierbarer Willkür. Eine Orien-tierung an Sachfragen wird kaum möglich, da die einzelnen Kandidaten nicht als Repräsentanten bestimmter, erkennbarer politischer Gruppen, deren politische Grundtendenzen und bisherige Leistungen bekannt sind, auftreten, sondern als „unabhängige Persönlichkeiten". Wer sich einen „Namen" gemacht hat, ganz gleich auf welche Weise und auf welchem Gebiet, wer momentan „Lokalheld" ist, wer über Geld und entsprechende Hintermänner verfügt, dem bietet sich oftmals eine überraschende Erfolgschance. Im primary-Wahl-kampf wird die „Person" des Gegenkandidaten zum Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen, weniger die Stellungnahme zu anstehenden Sachfragen. Dem Demagogen bieten sich alle Möglichkeiten, da er Großes versprechen kann, ohne ernsthaft verpflichtet zu sein, seinen Versprechungen später nachzukommen, denn er gelangt ins Parlament als „Person" — einer von hundert — und nicht als Mitglied einer erkennbaren, handlungsfähigen Gruppe, die sich als solche zu einer gewissen Grundhaltung und Politik bekennt und daraufhin später in Verantwortung genommen werden kann Key weist nach, daß derartige primary-Prozeduren die Herausbildung befähigter politischer Führungsgruppen stark erschweren, in den Parlamenten zu unkontrollierbaren Überraschungsentscheidungen führen, eine Kontrolle parlamentarischer Aktion durch die Wähler fast unmöglich ma-chen, zur Lähmung effektiver Parlamentsarbeit erheblich beitragen und nur dort ertragbar erscheinen, wo von Parlamenten weitsichtige und wichtige Entscheidungen kaum erwartet werden Im Hintergrund steht die Überzeugung, daß ein Minimum an Regierung und staatlicher Tätigkeit überhaupt ein Maximum an bürgerlicher Freiheit bedeute. Bei diesen Einpartei-Parlamenten haben wir es mit Gremien zu tun, die ein buntes Gewirr unkontrollierbarer Cliquenund Interessenkombinationen produzieren, die Herausbildung klarer, auf Dauer angelegte Mehrheits-und Minderheitsfronten jedoch unmöglich machen. Nur ein präsidentielles System befindet sich mit einem derartigen Parlament nicht in permanenter Regierungskrise.

VI. Die Lage der Opposition im demokratisch-parlamentarischen Parteienstaat

In einem parlamentarischen System lassen sich Regierungskrisen nur dann vermeiden, wenn sich die Regierung auf eine tragfähige Parlamentsmehrheit stützen kann. Ein parlamentarisches System funktioniert lediglich unter der Bedingung praktizierter Mehrheitsdisziplin. Setzt sich diese Mehrheit aus einer Parteien-koalition zusammen, so wird die Koalitionsdisziplin zur conditio sine qua non. Am klarsten zeigen sich die Fronten im Zweiparteiensystem. Konflikte müssen innerhalb der Mehrheit ausgetragen werden und finden ihre Grenze in der „Kabinettsfrage". Die Existenz einer Opposition mit ihrem permanenten Regierungsanspruch bildet die entscheidende Voraussetzung für das geschlossene Auftreten der Regierungsmehrheit. Die Opposition zielt immer auf die Öffentlichkeit. Die Opposition zwingt die Mehrheit, ihre Entscheidungen vor der Wählerschaft zu erklären und zu rechtfertigen. Sie bedient sich dabei des Angriffs und der „Gegenvorstellung", d. h.der Begründung und Propagierung von Alternativpositionen. Gelingt es ihr dadurch, die Regierungsmehrheit zu sprengen, d. h. so viele Stimmen auf ihre Seite zu ziehen, daß sich die Gewichte entscheidend verlagern, wird sie selbst zur „Regierungsmehrheit".

Da, wie die Erfahrung lehrt, eine Opposition nicht damit rechnen kann, die Regierungsmehrheit im selbst zu „sprengen", weil hier „Disziplin" geübt wird, richtet sich ihr Bemühen auf die „Mehrheit im Lande". Nur auf diesem Wege einer permanenten Einwirkung auf die Wählermehrheit bietet sich eine reale Chance, aus der Minderheit herauszukommen. Eine Opposition, der es mit ihrem Regierungswillen ernst ist, hat sich diesen Tatsachen zu stellen und entsprechend zu verhalten, notfalls Illusionen aufzugeben. Nur wenn sie auf diesem Wege erfolgreich ist, kann sie auch ihre Oppositionsfunktion wirksam erfüllen, d. h. die Politik der bestehenden Regierungsmehrheit (Regierung und Parlamentsmehrheit als Einheit verstanden) beeinflussen sowie insbesondere die Parlamentsmehrheit zur Wahrnehmung ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Regierung anhalten

Um die Lage einer konkreten Opposition beurteilen zu können, müssen vor allem zwei Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Einmal die allgemeine Position einer Opposition im modernen Wohlfahrtsstaat schlechthin und zum anderen die besondere geschichtliche Situation, in der sich eine zur Diskussion stehende Oppositionspartei gerade befindet.

Zur allgemeinen Lage wird u. a. angeführt, daß es der Opposition rein objektiv im modernen Sozialstaat immer schwerer werde, der Regierungspolitik gegenüber ein grundlegendes Alternativprogramm zu entwickeln. Es sei denn, so heißt es, die Opposition sei willens, die bestehende Gesellschaftsordnung prinzipiell in Frage zu stellen. Nur dann sei Opposition im echten Sinne überhaupt möglich.

Wenn diese Ansicht zutrifft, ist ein funktion-

nierendes parlamentarisches Regierungssystem in einem demokratischen Parteienstaat qua definitione niemals möglich. Denn zwei einander ausschließende Thesen stehen sich gegenüber:

These 1: Ein parlamentarisches Regierungssystem kann nur dann funktionieren, wenn sowohl Mehrheit als auch Opposition ihre systembedingten Funktionen erfüllen, was voraussetzt, daß beide die gesellschaftliche Ordnung prinzipiell nicht in Frage stellen, zwischen ihnen mehr Gemeinsames als Tren -

nendes besteht und beide die geltenden Spielregeln des Regierungssystems nicht mißbrauchen. Nur so ist ein Wechselspiel zwischen Opposition und Mehrheit möglich, nur dann bedeutet ein Regierungswechsel eine mehr oder weniger wichtige „Neubesetzung" und Neuorientierung und nicht eine legalisierte Form der Revolution.

These 2: Ein parlamentarisches System kann nur funktionieren, wenn die Opposition willens ist, prinzipielle Alternativen aufzustellen, was wiederum ein prinzipielles In-Frage-Stellen des bestehenden Gesellschaftssystems voraussetzt.

Das parlamentarische Regierungssystem Großbritanniens hat im wesentlichen deshalb bisher „funktioniert", weil es die in These 1 skizzierten Grundbedingungen stets erfüllte. Der langsame Demokratisierungsprozeß des britischen parlamentarischen Systems hat be-wirkt, daß neu hinzukommende Wählerschichten — im Verfolg eines dazu parallel verlaufenden, langsamen gesamtgesellschaftlichen Evolutionsprozesses — erst dann in den politischen Entscheidungsprozeß einbezogen wurden, als sie zur Befolgung der Grundbedingungen des Systems prinzipiell bereit waren. In Großbritannien — wo eine Debatte um eine „große Koalition" zur Rettung der Opposition, die sich angeblich im modernen Wohlfahrtsstaat allerorts in aussichtsloser Lage befindet, nicht geführt wird — funktioniert das parlamentarische System offensichtlich auch als demokratischer Parteienstaat. Man ist sich dort sehr wohl bewußt, daß die besonderen Schwierigkeiten der Labour Party als Oppositionspartei primär durch ihre eigene Geschichte, Parteistruktur und zu enge Bindung an bestimmte Klassenpositionen bedingt sind. Die Geschichte der Labour Party beweist, daß die Parteiführung sich dieser Problematik wohl bewußt ist und man sich den systembedingten Notwendigkeiten zu stellen bemüht ist.

Zur allgemeinen Lage der Opposition wird des weiteren angeführt, daß es heute nicht mehr um „wirkliche" Alternativen, sondern um „Persönlichkeiten" gehe: man wähle nicht mehr zwischen Sachalternativen, sondern nur noch zwischen Personalalternativen. Nun ist es sicherlich eine unbestreitbare Tatsache, daß bei allen Parlaments(bzw. in USA auch Präsidenten-) Wahlen niemals „Sachen", sondern immer Personen gewählt werden. Aber das wird ja auch nicht bestritten. Gemeint wird vielmehr, daß bei „früheren" Wahlen Pro-gramme eine größere Rolle spielten, während heute Personen deren Leitbildfunktion übernehmen. Daß diese Unterscheidung zwischen früher und heute auch auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen zutrifft, wird von niemandem ernsthaft behauptet. Dieser Wandel scheint demnach eine Besonderheit des parlamentarischen Systems zu sein. Das hat seine guten Gründe.

In jedem Lande stellt die Wahl des Regierungschefs die bedeutungsvollste Personalentscheidung dar. In den USA bildet die gesamte Nation eine Art Einmannwahlkreis zur Bestellung des Regierungschefs. Hier kann der Wähler direkt über die Person des künftigen Amtsinhabers entscheiden. Seine Person steht für den Wähler nicht nur zur Diskussion, sondern zur Disposition. Anders im parlamentarischen System. In ihm wird der Regierungschef entweder, wie in der Bundesrepublik, direkt vom Parlament gewählt oder — wie in Großbritannien, wo der Premier formell von der Krone ernannt wird — indirekt: Da das britische Unterhaus den Premierminister abberufen kann, kann nur der eine Regierungschef werden, den das Parlament nicht abberufen wird. Darüber entscheidet de facto die Mehrheit. Nur der hat eine Chance, sich im Amt zu halten, den sie als Fraktion erwählt.

Im parlamentarischen System wird der Regierungschef zunächst „gleichrangig" wie jeder andere Abgeordnete ins Parlament gewählt. Im Vielparteiensystem überträgt sich die Ungewißheit über die spätere Zusammensetzung der regierungstragenden Koalition auch auf die Person des künftigen Regierungsoberhauptes. In einem Zweiparteiensystem mit disziplinierten Parlamentsparfeien können beide Parteien ihre Premierbzw. Kanzlerkandidaten dem Wähler unmittelbar „zur Disposition" stellen. Jetzt wählt der einzelne Bürger seine Regie-jung direkt, indem die Nation zum Einmannwahlkreis für den Kanzlerkandidaten wird, während alle anderen Abgeordneten insoweit als „Elektoren", deren Verpflichtung auf den einen oder den anderen Kandidaten durch ihre Parteizugehörigkeit bekannt ist, fungieren

Es ist nun dem Wähler anheimgestellt, ob er sich bei seiner Stimmabgabe primär an der Person des Kanzlerkandidaten orientiert oder ob er sich bewußt wird, daß er mit ihm auch eme „Regierungsmannschaft" bestellt und eine Abgeordnetengruppe, die eine bestimmte Grundhaltung bei künftigen Sachentscheidungen erwarten lassen. Bei der Wahl eines Regierungschefs steht normalerweise nicht irgendeine Person zur Disposition, die, einmal im Amt, in völliger Unabhängigkeit die „Richtlinien der Politik" bestimmen kann. Diese Person ist vielmehr im Verlauf eines langwierigen Selektionsprozesses als jener Kandidat herausgestellt worden, der im Namen seiner Partei und zunächst ihr gegenüber verpflichtet des Vertrauens der Wähler für würdig erachtet wird. Das bindet und verpflichtet mannigfach. Der Kanzlerkandidat repräsentiert im Rahmen seiner Regierungsmannschaft de facto stets eine politische Programmatik. Der Wähler ist sich dieser Tatsachen wohl bewußt: „Parteiprogramme sind der großen Mehrzahl der Wähler nahezu unbekannt, ebenso vielen Parteianhängern. Person plus Parteirichtung bestimmen die politischen Vorstellungen des Wählers: . Anstelle der Identifizierung mit Programmen tritt eine Personifizierung der Parteiziele zutage'(Emnid)." „Früher", heißt es, gab es noch klare Programme. Im Vielparteiensystem mußten sich die Parteien u. a.deshalb hinter fixierten Programmen verschanzen, weil sie dem Wähler in der Regel keine Kanzlerkandidaten mit glaubwürdiger Erfolgschance präsentieren konnten. Sie kündeten mit ihrem Programm insofern an, unter welchen Gesichtspunkten sie in eventuelle Koalitionserörterungen treten würden. Das endgültige Regierungsprogramm blieb dabei stets mehr oder weniger im Ungewissen. Je geringer die Mehrheitschance einer Partei im modernen Großstaat ist, desto profilierter wird ihr Programm sein.

Keine Opposition kann ohne „Alternativen" existieren; nur so vermag sie ihre Identität zu bewahren. Sie bietet sich mit ihrer Regierungsmannschaft dem Wähler zugleich als Personalalternative wie als politisches Alternativprogramm an Auch die Regierungsmehrheit muß um ihre Identität bedacht sein und sich als Alternative von der Opposition absetzen. . „Die Frage der Prioritäten, der Rangordnung der zu lösenden Aufgaben, die Methoden und Akzente" sie kennzeichnen den Bereich, in dem eine moderne Opposition ihre wichtigsten Alternativpositionen erarbeiten muß. Dieses Setzen von zeitlichen und sachlichen Rangordnungen, von Methoden und Akzenten ist eine eminent politische Entscheidungsaufgabe. Mit diesen Setzungen wird in das Leben der Bürger nehmend und gebend, zuordnend und Grenzen setzend, regulierend und verpflichtend eingegriffen. Keine Maß-nähme trifft alle Individuen und Gruppen gleich: Wem soll und muß was zugemutet werden — und wann! Wer in diesem Bereich keinen Ansatz für „wahre“ Alternativen finden kann, verkennt den politischen Charakter staatlich zu fällender Entscheidungen. Günter Gaus hat kürzlich in Westdeutschland geschrieben: „Die grobschlächtigen Unterscheidungsmerkmale der Parteien sind zu Nuancen geworden, was als eine ungewohnte Novität die intellektuellen Wähler ebenso zu verstören scheint wie die an politische Hausmannskost gewöhnten Durchschnittsbürger Man kann für „Parteien" getrost „Alternativen" setzen.

Materialien für Alternativen werden nicht von den Parteien erfunden, sondern an sie herangetragen, ihnen aufgedrängt. Die Parteien haben die realisierbaren Alternativen herauszuarbeiten. Sie werden sich dabei zum Sprecher und Sachwalter jener Anliegen machen, die sie für berechtigt halten, von deren Durchsetzung und Propagierung sie sich einen Nutzen versprechen und für deren Realisierung sie bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen. In diesem Zusammenhang muß das weite Feld komplizierter Wechselbeziehungen zwischen Parteien und Interessengruppen gesehen und bedacht werden. Diese Gruppen streben vor allem innerhalb der Parteien nach Einfluß und Berücksichtigung und versuchen durch sie — oder direkt — auf deren Repräsentanten in den entscheidenden Staatsämtern einzuwirken. Gleichzeitig darf die Funktion und Wirksamkeit all jener anderen „Unruhestifter", Alternativ-Initiatoren und „Anreger" gegen eine Erstarrung der Großparteien nicht unberücksichtigt bleiben, die nach Einfluß streben und von der „öffentlichen Meinung" über konkurrierende Kleinparteien sowie politische und sonstige Klubs bis zu den verschiedenartigsten Beratergruppen reichen

VII. Zur Problematik einer Großen Koalition

Der Einparteistaat ist keine demokratische Alternative zum Parteienstaat. Krippendorff hat eine „Große Koalition" im parlamentarischen System als eine „Vorform des Einparteistaates" bezeichnet Diese These mag einiges für sich haben. Die Bildung einer „Großen Koalition" wird in der Regel mit ähnlichen Begründungen zu rechtfertigen versucht, wie sie Einparteistaaten für ihre Selbstrechtfertigung in Anspruch zu nehmen pflegen: Wahrung der Einheit aller politischen Kräfte, um anliegende außerordentliche Gemeinschaftsaufgaben bewältigen zu können. Dennoch besteht ein essentieller Unterschied zwischen einem Einparteistaat und einem Staat mit Großer Koalition oder Allparteienregierung — vorausgesetzt, die Parteien können jederzeit ihre Eigenständigkeit wiedergewinnen. Während im Einparteistaat eine organisierte Opposition weder innerhalb noch außerhalb der Partei geduldet werden darf, da er sich sonst aufgeben und zum Parteienstaat entwickeln würde, setzt die Bildung einer Großen Koalition die Existenz organisatorisch voneinander unabhängiger Parteien voraus. Es handelt sich hier demnach um Parteien, die zwar in einem „Koalitionsvertrag" bzw. einer „Koalitionsabsprache" eine engere Zusammenarbeit vorsehen können, potentiell aber jederzeit zur völligen Unabhängigkeit zurückzukehren vermögen. Eine auf Dauer angelegte Regierungsführung durch Große im -Koalition birgt jedoch parla mentarischen System erhebliche Gefahren in sich. Da die einzelnen Koalitionspartner, falls sie sich weiterhin als Parteien erhalten wollen, um ihre Eigenständigkeit bemüht sein müssen, stellt sich die Frage, wie sie vor dem Wähler gemeinsam die als Regierung tragende Parteien ihre Identität bewahren und glaubhaft begründen sollen. Die Klarheit der Verantwortlichkeiten geht in einem Parlament ohne unabhängige Opposition, die als solche erkenntlich wird, in entscheidendem Maße verloren. Die Parteien sind der Gefahr ausgesetzt, ihr Erstgeburtsrecht verantwortlicher Eigenständigkeit für das Linsengericht des „Dabeiseins" preiszugeben. Die Wähler haben nur noch die Wahl zwischen einem Etwas-mehr-

hiervon und Etwas-mehr-davon. Das Proporzprinzip wird zum Grundprinzip auch bei der Besetzung aller politischen Ämter in den entscheidenden staatlichen Letztinstanzen. Die „Proporzdemokratie" wird so zur generellen Methode. Die Entscheidung für eine völlig neue Regierungsmannschaft wird den Wählern erheblich erschwert. Die wechselseitige Kontrolle zwischen den Koalitionspartnern findet weitgehend hinter verschlossenen Türen statt. Der Appell an die Öffentlichkeit erfolgt nur noch punktuell und verliert jegliches Profil. Es gibt keine Opposition, die von dem Geschäft der „Öffentlichkeitsarbeit" leben muß. Österreich bietet ein geradezu klassisches Modell dafür, was eine Große Koalition in der Praxis bedeuten kann. Österreich ist mit seinen 7 Millionen Einwohnern der zweitgrößte demokratische Parteistaat Europas, der sich mit diesem Experiment auf längere Zeit eingelassen hat. Das geschah — selbst abgesehen von der außenpolitischen Sondersituation beim Abschluß des Neutralitätsvertrages — alles andere als freiwillig. Die beiden Groß-parteien — österreichische Volkspartei und Sozialistische Partei Österreichs — sind aus allen Nachkriegswahlen fast gleichstark hervorgegangen. Dem Versuch, neue Wähler-schichten zu erschließen, sind in einem Lande, in dem die Wahlbeteiligung immer um und über 95 0/0 der Wahlberechtigten beträgt, engste Grenzen gezogen. Keine der beiden Groß-parteien kann von sich aus eine Regierung bilden, ohne die parlamentarischen Splitterparteien zum Zünglein an der Waage werden zu lassen Gleiches gilt für den größten europäischen Parteienstaat (über 9 Millionen Einwohner), dessen Regierungsmehrheit auf einer Großen Koalition basiert: Belgien, mit seiner gesetzlichen Wahlpflicht für alle über 21 Jahre alten Männer und Frauen. Da die „Jungwähler" überwiegend „links" wählen und zu den Gruppen gehören, die eine relativ geringe Wahlbeteiligung erbringen, mag in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen werden, ob eine Wahlpflicht in der Bundesrepublik bei der gegenwärtigen Parteien-konstellation nicht der SPD zugute käme, den der Großparteien" Trend zum „Gleichziehen fördern und damit die Vorbedingungen für die Bildung einer Großen Koalition verstärken würden. Die politische Bereitschaft, eine Große Koalition zu bilden, wird stets mit dem Verweis auf eine „besondere Notlage" begründet. Das war auch bei fast sämtlichen Gesprächspartnern an der jüngsten Koalitionsdebatte in der Bundesrepublik der Fall. Hier wurde die Notlage entweder mit besonderen außen-oder (und) innenpolitischen Aufgabenstellungen begründet oder, wie bei Manfred Friedrich, aus einer allgemeinen Oppositionslage heraus erklärt, die „durch jene Entwicklungstendenzen, die in den modernen Wohlfahrtsstaaten als unausweichlich erscheinen", bedingt sei

Die Diskussionen um die Große Koalition hatten 1961 in der Bundesrepublik einen ersten Höhepunkt erreicht, der von den lebhaften Erörterungen vor den letzten Bundestagswahlen noch bei weitem übertroffen wurde. Seit dem 19. September 1965 hat die Problematik in den Tageskommentaren offensichtlich ihre Aktualität völlig eingebüßt. Im Rahmen unserer Überlegungen zur Kritik am Parteienstaat kommt dieser Problematik jedoch eine prinzipielle Bedeutung zu — abgesehen davon, daß sie auch in der politischen Tagespraxis erneut an brennender Aktualität gewinnen kann. Eine Auseinandersetzung mit Thesen der jüngsten Diskussion zur Großen Koalition sollte daher auch heute nicht nur von rein theoretisch-spekulativem Interesse sein.

Von einigen Gesprächspartnern der jüngsten Koalitionsdebatte sind Thesen aufgestellt worden, die wegen ihrer grundlegenden Bedeutung nicht unerwähnt bleiben dürfen. So ist beispielsweise Ulrich Lohmar in einer 1963 veröffentlichten und vielbeachteten Studie so weit gegangen, die Bildung einer Großen Koalition als „den einzigen zur Zeit gangbaren Weg zu bezeichnen, eine Gewaltenteilung in der Machtstruktur der Bundesrepublik und zugleich eine Beteiligung aller qualifizierten politischen Kräfte der großen Parteien bei der Bewältigung der Staatsaufgaben zu erreichen . . Die besondere Notlage ergibt sich nach Lohmar aus der „Immobilität der Machtstruktur der Bundesrepublik". Die Tatsache, daß die SPD als eine der zwei Groß-parteien seit 1949 in der Opposition stand, diente ihm damals als Beweis für seine These.

Die Immobilität der Machtstruktur wird nach Lohmar auch dadurch nicht aufgelockert, daß die Oppositionspartei in der Bundesrepublik auf Bundesebene zwar Oppositionspartei, auf Landesebene jedoch Regierungspartei sein kann und dies bekanntlich in mehreren Bundesländern der Fall war und ist. Das Problem der „föderalistischen Struktur der Bundesrepublik" wird bei ihm mit einem Satz abgetan Die bedeutsame Mitwirkung der Länder über den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung spielt keine Rolle. Es bleibt der Vorwurf, daß in der Bundesrepublik die Arbeit der Opposition nicht honoriert werde, sie faktisch aus dem politischen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen sei und alle Macht bei der Regierungsmehrheit und ihrer Führung konzentriert liege.

Diese besondere Lage wird nun in der vorliegenden Studie nicht primär aus den geschichtlich, sozialpsychologisch und partei-strukturell bedingten Eigenheiten erklärt, denen sich die SPD als Oppositionspartei seit 1949 konfrontiert findet und mit denen sie sich auseinanderzusetzen hat, sondern aus einer angeblich grundgesetzfremden Verfassungsentwicklung. Lohmar erklärt: „Die Gewaltenteilung in der Bundesrepublik entspricht ...

nicht dem Modell des Grundgesetzes" Das scheint mir eine unhaltbare Behauptung zu sein. Sie beruht auf der falschen Annahme, daß das Grundgesetz ein Gewaltenteilungs„Modell" vorsehe, das einem funktionierenden parlamentarischen Regierungssystem entgegenstehe. Lohmar liest in den Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes, der u. a. proklamiert, daß die Staatsgewalt „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" werde, offensichtlich eine an Montesquieu orientierte Gewaltenteilungs-Vorstellung hinein; eine Vorstellung, die dem Gewaltenteilungsschema des präsidentiellen Systems entspricht. Zwar erwähnt er, gleichsam en passant, die „Verantwortlichkeit der Regierung" (Wahl und Abberufbarkeit des Bundeskanzlers durch den Bundestag), zieht aber aus dieser entscheidenden, vom Grundgesetz ge-wollten Abweichung vom Montesquieuschen Gewaltenteilungskonzept (vgl. Art. 63, 65, 67 und 68 GG) keinerlei Konsequenzen.

Lohmar konstruiert demgemäß einen Gegensatz zwischen einem der Verfassung unterstellten Modell der Gewaltenteilung (Regierung und Verwaltung auf der einen Seite, das Parlament auf der anderen Seite) und der de facto-Gewaltenteilung zwischen der Regierungsmehrheit (als der politischen Einheit von Regierung und Parlamentsmehrheit) einerseits und der Opposition andererseits. Das parlamentarische System lebt aber gerade von dieser Gegenüberstellung. Es kann auf die Dauer nur arbeitsfähig bleiben und verantwortlich handeln, kurz funktionieren, wenn Regierung und Parlamentsmehrheit eine geschlossene Handlungseinheit bilden, der eine Opposition gegenübersteht, die durch ihren permanenten, systematischen Appell an die Wählerschaft die Regierungsmehrheit zur öffentlichen Rechtfertigung und Begründung ihrer Aktionen nötigt, d. h. Regierung und Parlament zur Publizität ihrer Handlungen zwingt. Dieses Gewaltenteilungssystem ist vom Grundgesetz nicht nur „geduldet", sondern gewollt. Das Grundgesetz sieht verfassungsrechtlich vor, daß Regierung und Parlament als selbständige Organe über bestimmte Kompetenzbereiche verfügen, sie miteinander kooperieren müssen und in einem wechselseitigen Kontrollverhältnis zueinander stehen. Verfassungspolitisch kann das System nur funktionieren und voll aktionsfähig sein, wenn Regierung und Parlamentsmehrheit als eine integrierte Handlungsgruppe fungieren und als geschlossene Gruppe vom Wähler in kollektive Verantwortung genommen werden können.

Daß eine derart integrierte Regierungsmehrheit ein inneres Kontrollgefüge aufweisen wird und aufweisen muß — sowie ihre internen Konflikte haben wird —, soll damit keineswegs bestritten werden. Ganz im Gegenteil: Erst diese internen Kontrollbeziehungen und belebenden Spannungen befähigen die Mehrheit, politische Erstarrungen zu vermeiden und verantwortlich zu handeln.

Die geringste Kontrolle innerhalb der Regierungsmehrheit und der höchste Grad an Integration zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung sind in der Person des Ministers erreicht: Er ist — im Regelfälle — in Personal-union zugleich „hundertprozentiger" Abgeordneter und „hundertprozentiges" Regierungsmitglied. Er ist sowohl Repräsentant des Parlaments als auch der Regierung. Seine Abgeordnetenkenntnisse kommen ihm als Minister zugute; sein Wissen als Regierungsmitglied kommt ihm als Parlamentsmitglied zugute. Die Minister bilden demnach innerhalb der Parlamentsmehrheit eine Abgeordnetengruppe, die über ein Höchstmaß an Informationen, Entscheidungsbefugnisse und politischen Einfluß verfügt. Diese herausgestellte und mit besonderen Regierungskompetenzen ausgestattete Führungsgruppe der Mehrheitsfraktion (bzw.der die Mehrheit konstituierenden Fraktionen — ein Umstand, der die mannigfachen Wechselbeziehungen um einiges komplizierter gestaltet) muß von der „restlichen" bzw. nur im Parlament verbleibenden Fraktion — wenn sie sich nicht in blinde Abhängigkeit von ihrer eigenen ministeriellen Führungsgruppe bringen will — stets in Verantwortung gehalten werden. Die wache Kontrolle der Parlamentsmehrheit der Ministergruppe gegenüber — vermittelt durch den erweiterten Fraktionsvorstand — mag zwar nach außen nicht so deutlich in Erscheinung treten: dafür hat primär die Opposition zu sorgen. Es wird jedoch gefährlich, wenn auch die interne, mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen stattfindende Kontrolle zunehmend erlahmt und unwirksam wird, denn im Extremfall könnte eine unkontrollierte Regierungs-* führung zur faktischen Regierungsdiktatur entarten.

Auch in einer integrierten Regierungsmehrheit gilt die Funktionsteilung zwischen regieren und kontrollieren: Die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion (bzw. Mehrheitsfraktionen), die in der Regierung sitzen, sol-len regieren, die übrigen Fraktionsmitglieder primär kontrollieren. Kontrollieren heißt beeinflussen, zustimmen sowie notfalls kritisieren und ablehnen. Eine Regierungsmehrheit darf es nicht so weit kommen lassen, daß sie sich auf Zustimmung und Beeinflussung beschränkt und der Fähigkeit zur öffentlichen Kritik „ihrer" Regierung begibt. Letzteres wäre beispielsweise dann gegeben, wenn das Parlament der Regierung die Entscheidung über reine Exekutivmaßnahmen, wie etwa die Entscheidung für oder gegen bestimmte Flugzeugtypen, abnehmen würde.

Im Bundestag wurde diese Frage am 19. Februar 1965 in einer interessanten Aussprache aufgegriffen (166. Sitzung, S. 8295— 8305). Es ist immerhin bemerkenswert, daß es der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Will Rasner, war, der — unter Berufung auf „den" Gewaltenteilungsgrundsatz — im Plenum für seine Fraktion erklärte:

„Dieses Haus hat eine legislative Aufgabe und eine Kontrollfunktion. Es hat keine exekutive Funktion und sollte nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung keinerlei exekutive Funktion auf sich ziehen. Wir tun auch nicht gut daran, wenn wir der Regierung erlauben, sich auf Kosten dieses Hauses bei Regierungsmaßnahmen zu entlasten. ...

Wir selbst stehen der Ausübung unserer eigenen Kontrollfunktion entscheidend im Wege, wenn wir durch Abstimmung Mitverantwortung für Regierungsmaßnahmen, für reine Exekutivmaßnahmen, auf uns ziehen. Es scheint mir undenkbar zu sein, daß, wenn dieses Haus Mitverantwortung für eine exekutive Maßnahme auf sich zieht, es anschließend die Regierung wegen solcher Maßnahmen kritisiert. Das kann in extremen Fällen zu schweren verfassungspolitischen Konflikten führen."

VIII. Große Koalition — Ordnungsmodell oder Übergangslösung?

Solange die Regierung eine Politik betreibt, die die Zustimmung der Mehrheit findet und so angelegt ist, daß sie — trotz aller entgegenwirkenden Tätigkeit der Opposition — die Majoritätspartei einem erneuten Wahlsieg zuzuführen verspricht, wird die Parlamentsmehrheit der Versuchung ausgesetzt sein, sowohl ihre öffentliche wie nichtöffentliche Regierungskontrolle zu vernachlässigen. Eine schwache Opposition trägt demnach zur Schwächung einer wirksamen parlamentarischen Regierungskontrolle bei. Erst eine starke Opposition, d. h. eine Opposition, die sich so verhält, daß ihr Wahlsieg zur realen Chance wird, trägt zur Stärkung einer parlamentarischen Regierungskontrolle bei. Lohmar ist weitgehend zuzustimmen, wenn er sagt: „Solange die Opposition diese (Wahl-) Chance nicht greifbar vor sich sieht, ist sie eine quantite negligeable" Sobald diese Situation in einem parlamentarisdien System gegeben ist, leidet nicht nur die Opposition, sondern drohen dem ganzen System Lethargie und Erstarrung. 65

Die entscheidende Frage in einer derartigen Lage darf aber weder falsch gestellt noch allzu leichtfertig beantwortet werden. Sie lautet nicht — wie etwa Manfred Friedrich meint —, ob Opposition überhaupt noch möglich sei. Sie muß zunächst von der Vorfrage ausgehen, warum eine konkrete Partei, die die Oppositionsfunktion auszuüben hat, den „Modellerwartungen" nicht gerecht wird. Im Falle der SPD als Oppositionspartei werden die Antworten auf diese Vorfrage dann — ganz konkret — zu drei weiteren Fragen führen: 1. Muß das System geändert werden, da die SPD die „Modellerwartungen" nicht erfüllen kann? oder 2. ist die SPD willens und in der Lage, sich als Partei dem parlamentarischen System anzupassen? oder 3. empfiehlt sich eine vorübergehende Lösung, die der SPD den Anpassungsprozeß erleichtert und damit gleichzeitig dazu beiträgt, die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen System zu sichern bzw. die nötigen Grundbedingungen hierzu zu schaffen?

Ulrich Lohmar mag die dritte Frage im Auge gehabt haben, er stellt sich jedoch nur der ersten. Auf Grund seiner eigenwilligen Ver36 fassungsdeutung lautet für ihn diese Frage allerdings etwas anders. Er will nicht das System „ändern", sondern ein angeblich verfremdetes System zur Verfassungskonformität zurückführen. Sein Ordnungskonzept ist das „Modell der Großen Koalition, das die Kommunen geschaffen haben", das sich dort bewährte und „als zur Zeit einzig gangbarer Weg" auch auf Bundesebene zur Anwendung gelangen müsse und zwar mit dem ausdrücklichen Anspruch, damit „die Gewaltenteilung im Staate wiederherzustellen". Wie würde diese vermittels des Modells der Großen Koalition „wiederhergestellte" Gewaltenteilung aussehen? Lohmar schreibt:

„Das Parlament und seine Fraktionen würden sich wieder als Legislative und als Kontrollorgan der Regierung betrachten können; ein der Verfassung entsprechendes Selbstverständnis des Parlaments könnte möglich werden. Die Mehrheitsfraktion wäre nicht länger die parlamentarische Exekutive der Regierung, sondern die beiden großen Fraktionen im Parlament würden der Regierung, die aus Vertretern beider Parteien gebildet wäre, gegenüberstehen."

Was Lohmar hier als Gewaltenteilungsmodell formuliert, erweist sich als die Beschreibung eines präsidentiellen Regierungssystems, in dem die politischen Auseinandersetzungen nicht primär zwischen Opposition und Regierungsmehrheit, sondern in erheblichen Ausmaße zwischen Parlament und Regierung stattfindet. Es gibt vor allem zwei Staaten, auf die Lohmars Darstellung weitgehend zutrifft: die Schweiz und die USA. Beide haben kein parlamentarisches Regierungssystem. Auch das amerikanische Beispiel nähert sich Lohmars Beschreibung in gewisser Weise sogar darin, daß gelegentlich „Vertreter beider Parteien" selbst in höchsten Regierungsämtern zu, finden sind: sowohl Eisenhower als auch Kennedy und Johnson waren bemüht, einige der Oppositionspartei nahestehende Personen in wichtige Regierungsämter aufzunehmen. Unter Kennedy waren dies — um berühmte Fälle zu erwähnen — auf Kabinettsebene z. B. die „Republikaner" Mac-Namara als Verteidigungsminister und insbesondere Dillon als Finanzminister.

Die „Arbeitsleistung" seines Modells beschreibt Lohmar weiterhin mit der Bemerkung: „Das heute bestehende Machtkartell von parlamentarischer Mehrheit, Regierung und Verwaltung wäre damit beseitigt." Deutlicher läßt sich die Tatsache, daß damit eine der wesentlichen Grundvoraussetzungen für ein funktionierendes parlamentarisches System, nämlich die Geschlossenheit der Regierungsmehrheit im weiteren Sinne, zerstört wäre, wohl kaum hervorheben.

Lohmar empfiehlt demnach de facto nichts weniger als eine grundlegende Verfassungsrevision, um der SPD, die angeblich in der verfestigten „Machtstruktur der Bundesrepublik" keinerlei Wahlchancen habe und daher eine „quantite negligeable" sei, neues Leben einzublasen; denn, so Lohmar, „der Wähler identifiziert sich nicht gern mit einer Partei, , die nichts zu sagen hat'". Es wird also nicht dafür plädiert, daß die SPD eine Politik betreiben müsse, die sie in die Lage versetzt, sich den Grundregeln des „Systems" so anzupassen, daß sie in ihm „funktionsgerecht" wirksam werden könne. Nicht die SPD wird zur Reform und Systemanpassung aufgerufen, sondern das System sollte einer entscheidenden Korrektur unterzogen werden, damit auf diese Weise — wie sich logischer-weise folgern läßt — der speziellen Problematik der SPD-Opposition Rechnung getragen werde.

Ist der hier aufgezeigte Weg wirklich der „zur Zeit einzige", der zur „Rettung" der sozialdemokratischen Opposition und damit des parlamentarischen Parteienstaates zu führen vermag? Ist die SPD tatsächlich auf eine derartige „Rettung" angewiesen? Dies wirft die zweite der oben angeführten Fragen auf: Ist die SPD willens und in der Lage, sich als Partei dem parlamentarischen System derart anzupassen, daß sie zur konkurrenzfähigen Regierungsalternative zu werden verspricht?

Neben vielen anderen hat sich Günter Gaus kürzlich dieser Frage gestellt und um eine Antwort bemüht Er weist darauf hin, daß es vor allem Herbert Wehners historisches Verdienst ist, die SPD auf den Weg einer Anpassung an die parlamentarische Wirklichkeit und ihrer Spielregeln gewiesen zu haben und diesen Weg mit eiserner Energie und Konsequenz weiter verfolgt. Mit dem Godes-berger Programm von 1959 als sichtbarem Wendepunkt habe die SPD-Führung den Willen dokumentiert, die Partei als Volkspartei auszubauen und damit in den Bereich echter Wahlchancen geleitet. In den ersten zehn Jahren der Bundesrepublik habe die SPD in doppelter Hinsicht einen hoffnungslosen Kampf geführt: sie gab sich weitgehend als Klassenpartei und legte großen Wert auf die Formulierung prinzipieller Alternativen. Sie gebärdete sich als modellgerechte Opposition, ohne in der Lage zu sein, die wichtigste Grundbedingung zu erfüllen: der Regie -rungsmehrheit so gefährlich zu werden, daß sie um ihre Wählermehrheit ernsthaft ban-gen mußte. Mit der Erweiterung zur Volkspartei und dem Verzicht auf prinzipielle Alternativen unterwarf sie sich zwar schmerzhaften Reformen und zog sich den schärfsten Tadel sowohl traditionsverhafteter Funktionäre und Anhänger wie theoretisierender Kritiker zu, sie wurde aber zunehmend „wahlfähig".

1961 zog die SPD erstmals mit neuem Gesicht in den Wahlkampf. Erst seitdem hat die SPD wirksam damit begonnen, aus ihrem Willen, regierungsfähige Mehrheit zu werden, die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Ein neues Kapitel parlamentarischer Oppositionsgeschichte hat damit begonnen. Gaus ist zuzustimmen: „In diesem Jahre 1965 führt(e) sie (die SPD) ihren zweiten Wahlkampf als eine Partei, die die bundesdeutsche Wählermehrheit so anspricht, wie es der westdeutschen Realität gemäß ist: mit einem Alternativangebot, das den seit 1949 von den Regierungsparteien gezogenen Rahmen nicht mehr sprengen, sondern anders ausfüllen will."

War das erste Jahrzehnt der sozialdemokratischen Opposition in Bonn „die heroische Zeit der Nachkriegs-SPD so kann die erste Hälfte des zweiten Jahrzehnts als „die Zeit der realistischen Orientierung" bezeichnet werden. Mit diesem Bemühen der SPD-Opposition, sich den politischen Realitäten und Spielregeln des Systems zu stellen und anzupassen, leistet die Partei nicht nur sich selbst, sondern dem gesamten parlamentarischen System einen unschätzbaren Dienst. Gaus verweist auf zentral bedeutsame Tatbestände, wenn er schreibt: „Allein auf diese Weise nämlich wird West deutschland zu einem normal funktionieren den Parlamentarismus gelangen können: was wäre ein Zweiparteiensystem, in dem die eine Partei für die Mehrheit des Wählervolks aul Dauer als unwählbar erscheint? Mit der von Wehner herbeigeführten Anpassung der SPD an die derzeitigen Gegebenheiten und Wählerbedürfnisse wird zum ersten Mal überhaupt die Vorbedingung für einen politischen Zustand geschaffen, der bei oberflächlicher Betrachtung zwar schon lange zu bestehen scheint —-die Konzentration der politischen Kräfte auf zwei Parteien nebst kleinem freidemokratischem Anhang —, dem jedoch bisher das Entscheidende fehlte: die Überzeugung der Wähler, daß ein Regierungswechsel in Bonn nichts Radikales zeitigen würde."

Die SPD sieht sich auf ihrem „neuen Wege"

innerhalb wie außerhalb der Partei enormen Schwierigkeiten gegenüber. Abgesehen von traditionsund parteistrukturell-bedingten Gegebenheiten, die es insbesondere der SPD sehr schwer machen, dem Grunderfordernis des parlamentarischen Repräsentativsystems gerecht zu werden, daß nämlich die politische Führung der Opposition primär im Parlament zu liegen hat und nicht bei der „Partei im Lande", abgesehen hiervon weiß sich gerade die SPD mit einem ganz besonderen Problem konfrontiert: sie hat sich als sozialdemokratische Partei und Opposition nicht nur Urteilen, sondern vor allem verfestigten Vorurteilen zu stellen. Wenn es Herbert Wehner — und mit ihm der Partei — gelingen sollte, „diese Schutthalde politischer Klischees abzutragen", meint Gaus, „so wird er nicht nur seiner Partei Zutritt zur Regierungsmacht verschafft haben:

er würde der Bundesrepublik insgesamt zur politischen Normalität verhelfen."

Die Wahlen vom 19. September haben gezeigt, daß es der SPD trotz der von Willi Brandt, Herbert Wehner und Fritz Erler verfochtenen Strategie nicht gelungen ist, die kurz vor den Wahlen sehr hochgetriebenen Erwartungen zu erfüllen. Sicherlich hat sich die Arbeit, verfestigte Vorurteile abzubauen, als weit mühseliger herausgestellt, als von einigen Hoffnungsvollen erwartet worden war. Dennoch wäre es zu billig, allein in den Vorurteilen der Wähler die Gründe für das enttäuschende Abschneiden der SPD suchen zu wollen. Vorurteile abbauen ist die eine Seite der Medaille; dabei zu viel des Guten tun, das eigene Profil mehr als vertretbar verlieren und dadurch vor den Urteilenden in Verruf geraten, die andere. Die CDU/CSU stellte sich zum erstenmal in ihrer Geschichte dem Wähler mit einem neuen Kanzlerkandidaten, der sich zudem auf Leistungen berufen konnte, die die Mehrheit der Wähler im eigenen Wohlstand bestätigt sahen: Ludwig Erhards Popularität war in Westdeutschland erheblich größer als die des — gemeinsam mit seinen „Landeskindern" nicht wahlberechtigten — Berliners Willi Brandt. Wenn die SPD am 19. September 1965 trotz aller ungünstigen Konstellationen dennoch den prozentual größten Wahlerfolg ihrer Geschichte erringen konnte, so sollte dieser Tatbestand in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden. Gemessen an manch hochgeschraubten Erwartungen mag das Wahlresultat für die Oppositionspartei ziemlich enttäuschend sein. Gemessen an den realen Schwierigkeiten, denen sich die SPD konfrontiert findet, bedeutet das Wahlergebnis für die Stabilisierung des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik und damit des westdeutschen Parteienstaates jedoch einen begrüßenswerten Achtungserfolg, der allerdings dann vertan werden könnte, wenn sich die Partei für eine völlig neue Strategie, eine Abkehr vom Grundprogramm der letzten Jahre und damit vom bisher konsequent verfolgten Anpassungsprozeß an das gegebene Regierungssystem entscheiden sollte.

Die dritte der oben angeführten Fragen zur jüngsten Diskussion scheint zur Zeit nur noch von akademischem Interesse zu sein: Empfiehlt sich eine vorübergehende Lösung, die dazu angetan wäre, den Anpassungsprozeß der SPD zu fördern und zu forcieren? Ganz konkret: bietet das „Modell der Großen Koalition" bzw.der „Allparteienregierung" in diesem Zusammenhang einen akzeptablen Vorschlag? Da diese Frage gestellt wurde, sei auf sie abschließend kurz verwiesen. Günter Gaus, der die Allparteienregierung befürwortet, beantwortete die Frage eindeutig positiv. (Daß er dabei den „Lehrsatz: eine Opposition muß sein" in seinem Buch etwas zu leichthin angeht und zerpflückt, sei nur am Rande vermerkt Gaus preist die Allparteienregierung aber nicht nur mit dem Argument, daß durch akzeptierte Regierungsbeteiligung und öffentlich propagierte „Kabinettswürdigkeit" politisch-psychologisch ein entscheidender Beitrag zur Stärkung der SPD und damit des parlamentarischen Systems insgesamt geleistet würde. Ein ganzer Komplex innen-und vor allem außenpolitischer Gründe wurde vielmehr mitangeführt. Die Bundesrepublik sehe sich wichtigster Aufgaben gegenüber — hieß es in Übereinstimmung mit vielen anderen Stimmen —, die nur von allen Parteien gemeinsam gelöst werden könnten.

Dazu ließe sich vieles sagen; das Wahlresultat vom 19. September hat jedoch politische Tatbestände geschaffen, die gegenwärtig eine eingehendere Diskussion im vorliegenden Rahmen überflüssig machen. Entscheidend bleibt allerdings die Gültigkeit der generellen These, daß eine Große Koalition (CDU/CSU — SPD) oder Allparteienregierung (CDU/CSU — SPD — FDP), wenn überhaupt, so nur als Übergangslösung zu befürworten wäre und sinnvoll sein könnte. „Ein Dauerzustand nach österreichischem Muster (dürfte eine) oppositionslose Zeit nicht werden."

Ein demokratischer Parteienstaat wird ein recht unterschiedliches Parteiengefüge — selbst in der Form eines Zweiparteiensystems — aufweisen, je nachdem, ob ihm ein parlamentarisches oder ein präsidentielles Regierungssystem zugrunde liegt, ob er zugleich Bundesstaat oder Einheitsstaat ist. Ein demokratischer Parteienstaat mit parlamentarischem Regierungssystem, wie er im Grundgesetz der Bundesrepublik angelegt ist, wird aber nur dann dauerhaft funktionieren sowie eine Erstarrung und autoritäre Verfälschung vermeiden können, wenn in ihm ein offener Konkurrenzkampf zwischen Opposition und Regierungsmehrheit das politische Leben prägt. Bundeskanzler Erhard ist grundsätzlich zuzu-

slimmen, wenn er im Hinblick auf das bestehende parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik sowie die Diskussionen zur Großen Diskussion, zur Rolle der Opposition und damit zum westdeutschen Parteien-staat warnte und bekannte:

„In der Proporzdemokratie wird die Politik hinter verschlossenen Türen von einem kleinen Kreis gemacht. Seine Vorschläge passieren das Kabinett ohne Panne, im Bundestag gibt es dann keine Diskussion mehr. Die Fragen, in denen man sich einig ist, werden überhaupt nicht geregelt."

Und:

„Es gibt keine glaubhafte parlamentarische Ordnung ohne Opposition."

In der modernen Demokratie ist eine systematische, verantwortliche, öffentlich-wirksame parlamentarische Opposition aber nur im Rahmen eines konkurrenzoffenen Zwei-odei Mehrparteiensystems möglich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wilhelm Grewe, Parteienstaat — oder was sonst?, in: Der Monat, Heft 36, September 1951, S. 563— 577.

  2. Ebda., S. 568.

  3. Ebd., S. 566.

  4. Ebd., S. 568.

  5. Als Grewe schrieb, war im März 1950 gerade eine Denkschrift des Deutschen Gewerkschaftsbundes „Zur Neuordnung der deutschen Wirtschaft" erschienen, in der die Bildung eines Bundeswirtschaftsrates gefordert wurde.

  6. Vgl. Max Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in: Politische Schriften, Berlin 1921, S. 287 f.

  7. fn seinem Gutachten vom 30. /31. Oktober 1964 hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft zur vom Deutschen Gewerkschaftsbund erneut angeregten Schaffung eines Bundeswirtschaftsrates, in dem die großen Interessenverbände zusammengefaßt und gegenüber dem Bundestag eine beratende Funktion übernehmen sollten, Stellung genommen. Er lehnte sie unter Hinweis auf die schlechten Erfahrungen, die man mit dem „Reichswirtschaftsrat" in der Weimarer Republik, dem französischen „Conseil National Economique" und dem italienischen „Nationalrat für Wirtschaft und Arbeit" gemacht hat, ab. Wörtlich heißt es, derartige Bestrebungen, einen Wirtschaftsrat zu schaffen, hätten „bewußt oder unbewußt das Ziel, die Politik durch Sachverstand, die Wirtschaftspolitik durch den ökonomischen Sachverstand zu ersetzen; damit verkennen sie das Wesen der Politik. . . Ein Bundeswirtschaftsrat . . . würde das Ende der parlamentarischen Demokratie bedeuten". Eine solche Ständevertretung würde die Bürger dem Sonderinteresse der als politische Machtfaktoren etablierten Stände ausliefern.

  8. Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933, S. 45 f. Forsthoff leitete seine Abhandlung mit den Worten ein: Diese Schrift steht nicht im Dienste historischen Erkennens, sondern der politischen Aktion", ebd., S. 8.

  9. Grewe a. a. O., S. 576.

  10. Man fragt sich unwillkürlich, inwieweit de Gaulle diesen Satz variieren würde.

  11. Siehe z. B. Werner Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Festschrift für Carl Schmitt, hrsg. von Hans Barion, Ernst Forsthoff und Werner Weber, Berlin 1959, S. 266 u. 272.

  12. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 55.

  13. Der Aufsatz ist abgedruckt im Sammelband „Deutschland und die westlichen Demokratien", Stuttgart 1964, S. 48— 68, und in „Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", Nr. 9 v. 26. 2. 1964.

  14. Ich zitiere aus dem Pamphlet des „Komitees": „Notstandsgesetze vernichten Demokratie — Gutachten über Umfang und Ursachen des Abbaus der demokratischen Grundrechte in Westdeutschland", o. O. und J. (Juni 1965), S. 45.

  15. Siehe hierzu Gerhard Leibholz'Aufsatzsammlung: Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, insbes. S. 71— 155.

  16. Aufsatz „Der Strukturwandel der modernen Demokratie", in: Strukturprobleme . . ., S. 93 f.

  17. Ebd., S. 94.

  18. Ebd., S. 96.

  19. Ebd., S. 97.

  20. „ 4. Bundesparteitag der CDU", 1953, S. 100 ff.

  21. Siehe Ossip K. Flechtheim, Weltkommunismus im Wandel, Köln 1965, S. 190.

  22. Fraenkel a. a. O., S. 61.

  23. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950, S. 397.

  24. Ebd., S. 428. Schumpeters Konkurrenzlehre ist allerdings im Gegensatz zu Fraenkels „vertiefter Konkurrenztheorie der Demokratie" (vgl. Fraenkel a. a. O., S. 62- 68) noch äußerst einseitig am marktwirtschaftlichen Wettbewerbsmodell orientiert. Zur Kritik siehe auch Wolfgang Abendroth, Innerparteiliche und innerverbandliche Demokratie als Voraussetzung der politischen Demokratie, in: Politische Vierteljahresschrift, 5. Jgg., Heft 3, Sept. 1964, S. 307 ff.

  25. Archibald S. Foord, His Majesty's Opposition, 1714— 1830, Oxford 1964. Siehe auch Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition — Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik 'im 18. Jahrhundert, München 1956, und ders., Entwicklung und Idee der parlamentarischen Opposition (Literatur), in: Politische Vierteljahresschrift, 6. Jgg., Heft 2, Juni 1965, S. 219 228.

  26. Siehe hierzu Sir Ivor Jennings, Party Politics, Bd. II: The Growth of Parties, Cambridge 1961, S. 2 ff., und Bd. III: The Stuff of Politics, Cambridge 1962, S. 15 ff. Zum Folgenden auch Foord a. a. O., S. 415 f.

  27. Siehe Foord a. a. O„ S. 1 f.

  28. Sir Ivor Jennings, Parliament, 2. Ausl., Cambridge 1957. S. 174. Bezeichnend auch die Zusammenfassung bei Jennings (Party Politics, Bd. I: Appeal to the People, Cambridge 1960, S. XXXII f.): „It is not the function of the Opposition to oppose, but to find ideas or actions which they can oppose and then oppose. No doubt their purpose is to obtain Office for themselves, the sense of power which office brings, the applause which half the Population produces, though not always very enthusiastically, and the deference which everybody properly gives to Her Majesty's Ministers. In the process, however, they do seek out and expose grievances, challenge the ideas upon which government action is based, and remind Ministers that they are neither infallible for immortal . . . What the Opposition does is to remind them that, in less than five years, they must appeal to the people."

  29. 1855 schrieb die Edinburg Review: „It is the legal and acknowledged existence of an organized Opposition to the Government which is, in these times, the most salient characteristic of a free principal country and its distinction from despotism . . Zitiert nach Foord a. a. O., S. 4.

  30. Vgl. New York Times, 1. Juli 1965 und (eingehender) Congressional Quarterly Weekly Report, Nr. 27, 1965, S. 1269 ff. Der entscheidende Antrag des republikanischen Abg. James Harvey: „Rücküberweisung der Vorlage an den Ausschuß mit Instruktionen", wurde am 30. Juni mit 208 gegen 202 Stimmen abgelehnt. Zum Ganzen siehe auch den Artikel von Arthur Krock, Once More Into the Breach . . ., in: New York Times, International Edition, 5. Juli 1965, S. 4.

  31. Hierzu David Thomson, England in the Nine-teenth Century, 1815— 1914, Cambridge 1950.

  32. Siehe R. T. McKenzie, British Political Parties, 2. Auflg., New York—London 1963, insbes. S. 645. Eine deutsche Übersetzung der ersten Auflage liegt unter dem Titel: Politische Parteien in England, Köln und Opladen 1961, vor.

  33. Manfred Friedrich, Opposition ohne Alternative? — über die Lage der parlamentarischen Opposition im Wohlfahrtsstaat, 2. Auflg., Köln 1962.

  34. Ekkehart Krippendorff, Das Ende des Parteienstaates?, in: Der Monat, Heft 160, Januar 1962, S. 64— 70.

  35. Ebd., S. 65.

  36. Ebd., S. 70.

  37. Die Zukunft des Parteienstaates — Kritische Stimmen zu Ekkehart Krippendorffs Analyse, in: Der Monat, Heft 162, März 1962, S. 84— 94.

  38. Krippendorff a. a. O., S. 67.

  39. Ebd., S. 66.

  40. Ebd., S. 69.

  41. Friedrich a. a. O., S. 63 Anm. 1.

  42. Krippendorff a. a. O., S. 64.

  43. Friedrich a. a. O., S. 8.

  44. Krippendorff a. a. O., S. 69 f.

  45. Siehe oben S. 1 f.

  46. Franz Ansprenger, Zur Rolle der Führungspartei in einigen jungen Staaten Afrikas, in: Faktoren der politischen Entscheidung — Festgabe für Ernst Fraenkel, hrsg. von Gerhard A. Ritter und Gilbert Ziebura, Berlin 1963, S. 410— 451.

  47. Ebd., S. 411.

  48. Ebd., S. 412.

  49. Ebd., S. 444.

  50. V. O. Key, Southern Politics in State and Nation, New York 1949 (eine bedeutende Pionierleistung amerikanischer Politikwissenschaft), vgl. dort insbes. S. 298— 310, S. 406 ff. und 444 ff. — Ders., American State Politics: An Introduction, New York 1963, bes. S. 287 ff., und ders., Politics, Parties and Pressure Groups, 5. Ausl., New York 1964, bes. S, 386 ff. (mit zahlreichen Literaturhinweisen).

  51. Siehe Key, Southern Politics, S. 304 f.

  52. Key, American State Politics, S. 283 f.

  53. Vgl. hierzu Jennings, Parliament, S. 167— 182.

  54. Die Extrempositionen „Personenwahlen" und „Parteienwahlen" stehen hier in einem sachbegründeten Komplementärverhältnis zueinander.

  55. Joachim Raschke, Wahlen und Wahlrecht, Berlin 1965, S. 60.

  56. Zum Verhältnis zwischen „Person" und „Programmpunkt" bzw. Sachfrage schreibt V. O. Key (Southern Politics, S. 304); „When two distinct groups with some identity and continuity exist, they must raise issues and appeal to the masses if for no other reason than the desire for office. Whether the existence ol issues causes the for-mation of continuing groups of politicians or whether the existence of competing groups causes the issues to be raised is a moot point. Probably the two factors interact."

  57. Willi Brandt, Plädoyer für die Zukunft, Frankfurt/Main 1961, S. 19.

  58. Günter Gaus, Bonn ohne Regierung? Kanzlerregiment und Opposition — Bericht, Analyse, Kritik, München 1965, S. 139.

  59. Was für einen Einfluß etwa „ideologische Anreger" auf Parteien gewinnen können, hat kürzlich Henry J. Steck am Beispiel der englischen „Anti-Atomrüstungs" -Bewegung aufgezeigt: „The Re-Emergence of Ideological Politics in Great Britain: The Campaign for Nuclear Disarmament", in; The Western Political Quarterly, Bd. 18, Nr. 1, März 1965, S. 87— 103.

  60. Krippendorff a. a. O., S. 70.

  61. Siehe hierzu U. W. Kitzinger, Wahlkampf in Österreich, in: Politische Vierteljahresschrift, 2. Jg., Heft 1, März 1961, S. 36— 56. Vgl. auch Otto Kirchheimer, The Waning of Opposition in Parliamentary Regimes, in: Social Research, Bd. 24, Sommer 1957, S. 127— 156.

  62. Friedrich a. a. O., S. 108.

  63. Ulrich Lohmar, Innerparteiliche Demokratie — Eine Untersuchung der Verfassungswirklichkeit politischer Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1963, S. 131. Zum Folgenden siehe insbesondere Kapitel V („Gewaltenteilung im Parteienstaat") S. 125— 131.

  64. Siehe ebd., S. 126.

  65. Ebd., S. 126.

  66. Samuel Lubell hat darauf hingewiesen, daß in einem demokratischen Zweiparteiensystem die grundlegenden politischen Konflikte nicht nur zwischen Mehrheit und Opposition, sondern vor allem innerhalb der Mehrheit ausgetragen werden. Das amerikanische Zweiparteiensystem verglich er mit einem Sonnensystem, in dem die Mehrheit die „Sonne" und die Minderheit den „Mond“ dar-stellt. Die zur Entscheidung führenden Auseinandersetzungen werden im Mehrheitslager „hitzeerzeugend" ausgetragen. Solange die Mehrheit zum Ausgleich befähigt ist, verbleibt die Opposition beim Reflektieren erzeugter Hitze. Sobald die Konflikte im Mehrheitslager zur Überhitzung und Spaltung führen, ist die Stunde der Opposition gekommen. Sie fängt „belebendes Feuer", wird selbst zur Sonne und der „erkaltende Mehrheitsrest" sieht sich in die Rolle des reflektierenden Mondes verwiesen. Diese Bild weist der Opposition zwar eine ziemlich passive Funktion zu. Die Opposition kann jedoch darauf hinwirken, daß die Mehrheit zerfällt. Mit einem Frontenwechsel zwischen Mehrheit und Minderheit kann nach Lubell allerdings nur über längere Zeiträume hin gerechnet werden. Siehe Samuel Lubell, The Future of American Politics, 2. Ausl., New York 1956, Kapitel X: A New Theory of Political Parties, S. 210— 218.

  67. Lohmar a. a. O., S. 127.

  68. Ebd., S. 130 f.; siehe Anmerkung, 61, zweiter Absatz.

  69. Ebd., S. 130.

  70. Ebd., S. 130.

  71. Siehe Anin. 55.

  72. Gaus a. a. O„ S. 77.

  73. Ebd., S. 79.

  74. Ebd., S. 80.

  75. Ebd., S. 81.

  76. Siehe ebd., S. 113 ff.

  77. Ebd., S. 85.

  78. Zitiert nach „Die Welt", 19. Juli 1965, S. 2.

  79. Zitiert nach „Die Welt", 5. Juli 1965, S. 2.

Weitere Inhalte

Winfried Steffani, Dr. phil., Diplom-Politologe, geb. 1927 in Znin (Westpreußen), Wiss. Assistent am John F. Kennedy-Institut für Amerikastudien der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Untersuchungsausschüsse des Preußischen Landtages zur Zeit der Weimarer Republik, 1960; Funktion und Kompetenz parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, 1960; Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, 1962; Cannon ist tot, lang lebe Mahon! — Seniorität im amerikanischen Kongreß, 1964; Offene Fragen nach Johnsons Wahlsieg, 1964.