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Zur Typologie des Verhaltens der Hochschullehrer im Dritten Reich | APuZ 46/1965 | bpb.de

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APuZ 46/1965 Zur Typologie des Verhaltens der Hochschullehrer im Dritten Reich

Zur Typologie des Verhaltens der Hochschullehrer im Dritten Reich

Ernst Nolte

Die Fragestellung

Wenn im folgenden der Versuch gemacht werden soll, einige Gedanken zur Typologie des Verhaltens der Hochschullehrer im Dritten Reich zu entwickeln, so gibt bereits die Formulierung zu erkennen, daß wir gewisse vereinfachende Thesen nicht akzeptieren, die in den Jahren nach 1945 im Schwange waren: weder die Behauptung von Max Weinreich, vor dem Weltgewissen stehe die gesamte Gelehrtenwelt überführt da, noch die entgegengesetzte einer deutschen Zeitschrift: einzig die Kirchen und die Universität hätten sich während des Dritten Reiches integer halten können. Es gab vielmehr unter den Hochschullehrern eine Vielfalt von Verhaltensweisen, die von der vorbehaltlosen Selbstidentifizierung mit dem Regime bis zu Akten unverhüllten Widerstandes reichen.

Vom Verhalten soll freilich nicht in dem Sinne die Rede sein, daß es die ganze Fülle „menschlicher" Reaktionen auf bestimmte, mit der nationalsozialistischen Machtergreifung oder -behauptung verknüpfte Situationen umfaßte. Hochschullehrer sind Menschen wie andere Menschen auch: mutig oder ängstlich, charakterfest oder opportunistisch, begeisterungsfähig oder nüchtern, opferwillig oder egoistisch. Es wäre die Sache eines Mitlebenden oder eines Schriftstellers, ein anschauliches Bild von der Atmosphäre des Frühjahrs 1933 und von den unterschiedlichen Reaktionen der Hochschullehrer auf den Massentaumel großer Teile der Bevölkerung, auf die SA-Uniformen in den Hörsälen, auf die Diskriminierung der jüdischen Kollegen zu beschreiben. Der Angehörige einer jüngeren Generation tut besser daran, nicht in einen hoffnungslosen Wettbewerb einzutreten, sondern seine Distanz von den Geschehnissen zur Entwicklung einer engeren, vielleicht aber auch präziseren Fragestellung auszunutzen. Nicht das Verhalten der Hochschullehrer als Menschen, sondern ihr Verhalten als Hochschullehrer soll unser Thema sein. Als Hochschullehrer aber verhalten sie sich primär zur Wissenschaft, d. h. zu einem bestimmten Wissenschaftsbegriff und zu einer bestimmten Konzeption vom Wesen und von den Aufgaben der Hochschule, die ihrerseits historisch geprägt und in gewisser Weise vorgegeben sind.

Wenn im Thema von „den" Hochschullehrern gesprochen wird, so kann damit natürlich nicht die Summe aller einzelnen oder auch nur die Gesamtheit aller Fakultäten gemeint sein. Typologische Betrachtungsweise setzt ständige Selektion voraus und arbeitet Paradigmata heraus, selbst wenn sie sich mit Individuen beschäftigt. Unser Blick wird vorwiegend auf die Fächer Philosophie und Geschichte gerichtet sein, und das nicht zufällig, denn sie bilden zumal in Umbruchszeiten den Kern der Philosophischen Fakultät, welcher wiederum im Rahmen der deutschen Universitätstradition ein unbezweifelbarer Vorrang zukommt. Doch sind Hinblicke auf andere Fächer und Fakultäten durch diesen Ansatz nicht ausgeschlossen, er hat vielmehr seine Fruchtbarkeit dadurch zu erweisen, daß er solche Hinblicke möglich macht. Dabei wird weitgehend eine Konzentration auf einzelne Persönlichkeiten erfolgen, damit Gedankengänge zu Gehör kommen, und nicht lediglich eine Unzahl von Namen genannt oder eine Reihe herausgegriffener Äußerungen zitiert werden.

Schließlich soll unter dem „Dritten Reich" zwar die gesamte Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft verstanden sein, ganz vorwiegend wird die Betrachtung sich aber auf die ersten Jahre, ja die ersten Monate erstrecken. Damals wurden die Weichen gestellt und die wesentlichen Verhaltensweisen geprägt. Unser letztes Absehen geht ja durchaus nicht auf eine und sei es typologische Deskription von Ereignissen oder Stellungnahmen, sondern über die Wissenschafts-und Hochschulkonzeption des Dritten Reiches, auf die das Verhalten bezogen ist, hinaus wird in einem letzten und freilich ganz flüchtigen Ausblick die Natur jenes Dritten Reiches selbst thematisch werden, weil nur von ihr aus das Verhalten beurteilbar wird.

Der Nationalsozialismus als Typus und sein Verhältnis zur Universität

Die vorgesehene Typologie würde nun ihres historischen Horizontes beraubt und damit in ihrem Erkenntniswert gemindert, wenn es unterlassen würde, zuvor den Typus zu bestimmen, den die nationalsozialistische Bewegung im europäischen Rahmen darstellt. Der deutsche Nationalsozialismus ist ja in der europäischen Zwischenkriegsepoche keineswegs etwas Atypisches und Exzeptionelles gewesen: es hat vergleichbare Bewegungen, die insgesamt als kriegsgeborene, den traditionellen Konservatismus sowohl verschärfende wie bekämpfende Parteiformationen neuartiger Struktur gekennzeichnet werden können, an vielen Stellen und nicht nur in Italien gegeben. Sie sind auch durchaus nicht überall schwach, unbedeutend oder bloße Nachahmungen gewesen. Man darf die 5 Parlamentssitze, die die rumänische „Eiserne Garde" 1932 errang, nicht mit den 230 des „gleichzeitigen" deutschen Nationalsozialismus vergleichen, sondern mit den 12 nationalsozialistischen Mandaten von 1928, denn Codreanus Bewegung war jünger als diejenige Hitlers und Rumänien trat nicht zum gleichen Zeitpunkt und auf die gleiche Weise in die große Krise ein wie Deutschland. Und der meteorische Aufstieg des belgischen Rexismus in den Jahren 1935 und 1936 ist schwerlich durch die Existenz des Nationalsozialismus Deutschlands, sondern durch eigenständige Ursachen hervorgerufen worden. Ähnliches ließe sich von der spanischen Falange, dem Parti Populaire Franais Jacques Doriots, ja sogar Oswald Mosleys British Union of Fascists sagen. In unserem Zusammenhang ist nun allein die Frage von Interesse, wie hochschulfern oder -nah diese Bewegungen waren. Da drängt sich die Feststellung auf, daß z. B. die Eiserne Garde ihrem Ursprung nach eine ausgespro-chene, von einem Teil der Professoren unterstützte und geleitete Studentenvereinigung war, die ihre Existenz hauptsächlich dem alten Kampf zwischen dem zahlenmäßig sehr starken jüdischen Element und den soziologisch im Aufstieg und Angriff befindlichen Söhnen des rumänischen Kleinbürger-und Bauerntums verdankte. Die Mutter des Rexismus war die alte Universitätsstadt Löwen, und seine Führer hatten ein lebendiges Verhältnis zur katholischen Soziallehre. Selbst der italienische Faschismus, so pragmatisch und theoriefeindlich er sich gab, stand mit Mussolini in enger Verbindung zwar nicht zur Universität, wohl aber zu den anerkannten Zweigen des europäischen Geisteslebens. Die Ursprünge des Nationalsozialismus dagegen sind nicht in der Universität oder nur in ihrer Nähe zu finden. Sie liegen, sofern sie spezifisch sind und nicht bloß eine allverbreitete alldeutsch-nationalistische Atmosphäre betreffen, im deutschen Vulgärantisemitismus des Volksschullehrers Ahlwardt, des Rittmeisters Liebermann zu Sonnenberg, des Bibliothekars Boeckei, des entsprungenen Mönches Georg Lanz und außerdem in den abseitigen, von der Wissenschaft nicht akzeptierten Bereichen des Geisteslebens, wo sich Gobineau und H. St. Chamberlain angesiedelt hatten. Adolf Hitlers persönliche Mentoren waren der Dichter Dietrich Eckart, der Hauptmann Röhm, der Amateur-theoretiker Gottfried Feder; bis an sein Lebensende hat er mit keinem Hochschullehrer in engerem Kontakt gestanden, niemals ging sein wissenschaftliches Interesse über die „Welteislehre" hinaus. Der Nationalsozialismus war, das läßt sich nicht bezweifeln, unter allen faschistischen Richtungen der Zwischenkriegszeit eine der hochschulfernsten.

Die Studentenschaft als Motor der nationalsozialistischen Hochschulrevolution

Gleichwohl enthält diese richtige Feststellung erst die halbe Wahrheit. Denn bereits im Jahre 1923 heißt es in einem so glaubwürdigen, weil entlegenen Zeugnis wie einem Bericht der deutschen Gesandtschaft in Bukarest, die aus Deutschland heimkehrenden siebenbürgischen Studenten trügen „alle ihren Adolf Hitler im Herzen" und es komme daher ständig zu schweren Konflikten zwischen den Generationen. So hochschulfern dieser Nationalsozialismus seinem Ursprung nach war: Er errang bereits früh große und schließlich sogar überwältigende Erfolge im empfindlichsten und ungefestigtsten Bezirk der Hochschulen, näm-lieh der Studentenschaft. Zwei Jahre vor ihrem Triumph im Reich erzielten die Nationalsozialisten auf dem deutschen Studententag in Graz 1931 eine einwandfreie Mehrheit; die Zeitungen waren in den nächsten Jahren voll von Berichten über Ausschreitungen und Übergriffe nationalsozialistischer Studenten, die linksgerichteten und jüdischen Professoren lärmend ihr Mißtrauen kundtaten und die akademischen Behörden auf jede Weise unter Druck zu setzen versuchten. Und so gewiß auch bei der Hochschulrevolution der Frühlingsmonate des Jahres 1933 Manipulation und Spontaneität zusammenwirkten, sie war doch in besonders starkem Maße eine echte Umwälzung von unten — mit all ihrem dumpfen Enthusiasmus und kopflosen Schwung. Es soll hier nicht von den Boykottisten gesprochen werden, von den Razzien auf Buchhandlungen und den Bücher-verbrennungen, von den Lagern und Gelände-märschen, vom Wehrsport und vom SA-Geist. Vielmehr wollen wir unsere Aufmerksamkeit für einen Augenblick dem geistigen Komplement zuwenden: den Aufsätzen in der Zeitschrift „Der deutsche Student", dem Organ der deutschen Studentenschaft. „Ist die Universität heute noch möglich?", fragt ein Mitarbeiter gleich im ersten Heft, und er kommt zu dem Ergebnis, daß die alte Universität tot sei und nicht erneuert werden könne, weil sie im liberalen Geist und aus der Überzeugung gelebt habe, daß der Mensch im Wissen den primären Zugang zur Wirklichkeit besitze und in der neuen Rangordnung der Werte der Handelnde über dem Betrachter stehe. Die Hochschule müsse durch den Arbeitsdienst revolutioniert und der Student in ihm politisch erzogen werden, lassen sich andere Beiträge vernehmen. Was als Ziel vorschwebe, werde sich wesentlich im Soldatenrock und in derben Stiefeln abspielen. Damit nicht genug: „Die Allein-, ja auch die Vorherrschaft der Wissenschaft wird mit der Umgestaltung unserer humanistischen Bildungsakademien in politische Hochschulen der Erziehung dahinschwinden" und „Politische Soldaten in Uniformen rücken auf die Hochschule; der Intellektuelle fürchtet sich vor solchem Barbarentum; die junge Generation aber freut sich, daß sie zum Urwald zurückfand." Die Universität müsse durch eine Neuform der alten Ritterakademie ersetzt werden, ist die Meinung eines weiteren Mitarbeiters; die eigentlich wissenschaftliche Ausbildung könne zugunsten der Charakterbildung und der körperlichen Erziehung auf ein Minimum reduziert werden, für den Richter etwa werde es genügen, zwei Semester Staatskunde zu hören, weit wichtiger sei eine praktische Tätigkeit von 6— 8 Semestern in der Siedlung oder in der Industrie.

Vor dem Hintergrund so radikaler Thesen muß alles gesehen werden, was in dieser Zeit von Professoren zur Hochschulreform geäußert wird. Da erhält selbst eine so halbherzige und opportunistische Entgegnung wie die eines Berliner Altphilologen den Charakter einer Polemik, der in derselben Zeitschrift als „Meinung des Professors" die Auffassung vertritt, man dürfe auf die Wissenschaft nicht verzichten, weil man sonst dem Ausland einen Trumpf zuspiele. Es ist daher nur konsequent, wenn damals all die vielen zeitgenössischen Auslassungen deutscher Professoren über die politische Universität, das politische Semester usw. unbarmherzig als Halbheiten kritisiert werden. Die junge Akademische Generation ist entschlossen, sich eine Welt nach ihrem Bilde und aus dem Geiste Adolf Hitlers zu schaffen, und in dieser Welt hat die überlieferte Universität keinen Platz.

Die Radikalität dieser Position ist festzuhalten. Sie bildet den extremen Pol und den Ausgangspunkt für unsere Aneinanderreihung typischer Verhaltensweisen, weil sie von einer kleinen Gruppe besonders zu kennzeichnender Hochschullehrer, wenn auch in der Regel mit gewissen Abschwächungen und Änderungen, übernommen und begründet wird.

Die überlieferte deutsche Hochschulkonzeption

Zuvor aber ist, freilich in äußerster Kürze und Verkürzung, zu umreißen, worin denn jener deutsche Wissenschaftsbegriff und jene Hochschulkonzeption bestand, den die nationalsozialistischen Studenten so entschieden verneinten und für welche die deutschen Hochschullehrer zu jedem Opfer und selbst zum Tode hätten bereit sein müssen, wenn sie noch die Ursprünglichkeit und Überzeugungsmacht von einst besessen hätte.

Als ersten Grundzug wollen wir den Vorrang der Philosophie nennen. Die neue deutsche Universität, wie sie sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts herausbildete, ist nicht so sehr ein Kind Humboldts als der Bewegung des Deutschen Idealismus im ganzen, die vor allem, und bis tief in ihre Dichtung hinein, eine philosophische Bewegung war. Durch sie und in ihr wurde in Deutschland die Begrifflichkeit der überlieferten abendländischen Metaphysik mehr als in irgendeinem anderen Lande Europas festgehalten und bewahrt: Sinnlichkeit und Vernunft, Notwendigkeit und Freiheit, a posteriori und a priori, Heteronomie und Autonomie, Empirie und Spekulation. Diese Begrifflichkeit aber wird in einem Denkzusammenhang verwendet, der sich von der Konzeption der christlichen Metaphysik ganz wesentlich unterscheidet und um den Begriff der menschlichen (oder doch im Menschen sich vollziehenden) Selbsttätigkeit und Freiheit zentriert ist. Im Philosophieren wird diese Freiheit ihrer selbst inne, mag sie sich nun wie bei Kant auf das moralische Handeln verwiesen sehen oder mag sie bei Hegel sich als absolutes Wissen begreifen. Diese Freiheit zeigt sich in den einzelnen Wissenschaften als Forschung, als lebendiges und unablässiges Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten. Die Forschung, die um ihre eigene Natur weiß, ist daher der Lebensgrund der Lehre an den Hohen Schulen und zugleich das Einheitsprinzip, welches die Fächer zusammenhält und jegliche Selbstgenügsamkeit verhindert, vornehmlich in der Philosophischen Fakultät, in welcher sich das Wesen dieser Universität am reinsten darstellt.

Da die Freiheit das Allgemeinste, den Menschen als Menschen Bestimmende ist und gleichwohl nur im individuellen Selbstbewußtsein die Stätte ihrer Offenbarkeit hat, sind für die Philosophie des deutschen Idealismus Universalismus und Individualismus gleichermaßen kennzeichnend. Selbstbestimmung heißt nichts anderes, als daß das Individuum die Kraft des Allgemeinen und Vernünftigen in sich zum Siege über das Sinnliche und bloß Individuelle gelangen läßt. So vermag es sittlich zu sein, so dem unendlichen Anspruch der Wahrheit genugzutun. Es gibt Wissenschaft, weil es das ständige Sich-Abstoßen vom Jeweiligen gibt. Und wie Selbstbestimmung nichts zu tun hat mit dem Eigensinn einer bloßen Selbstbehauptung, so meint die „Entfaltung aller Anlagen und Kräfte" nicht das wilde Wuchern aller möglichen Ansprüche und Fähigkeiten, sondern deren Gestaltung zur Vernunft, d. h. zum fortschreitenden Miteinander, das letzten Endes nichts anderes als das Miteinander aller Menschen in freier wechselseitiger Anerkennung sein kann. Insofern ist die Philosophie des Deutschen Idealismus von Anfang bis zu Ende politisch, von Kants Protest gegen die widervernünftigen Privilegien des Adels über Fichtes Kampf gegen die napoleonische Zwangsherrschaft bis zu Hegels Ausführungen über die künftige Rolle Rußlands und Amerikas. Aber diese Politik ist von nichts weiter entfernt als von einer „reinen" Politik, die sich als Kunstlehre von der rücksichtslosen Selbstbehauptung eines zufälligen Staatsgebildes versteht. Gegen diesen möglichen Charakter der Staatlichkeit bleibt vielmehr ein lebhaftes Mißtrauen wach, nicht nur bei Schleiermacher. Die Staatsfreiheit der Universität wird daher nicht als etwas bloß Negatives, als Existenz im elfenbeinernen Turm verstanden, sondern als die unbestechliche Instanz, die den Staat an seine allgemeine und sittliche Natur erinnert, d. h. an seine Bezogenheit auf das Menschheitsgeschick im ganzen.

Der Vorblick auf die Zukunft orientiert sich aber fast immer an einem Rückblick auf die Vergangenheit. Hier liegt einer der Ursprünge für einen weiteren Hauptwesenszug der deutschen Universität: die hervorgehobene Stellung des Griechischen, die paradigmatische Bedeutung der griechischen Welt. Gegenüber der Zerrissenheit und Unsittlichkeit der Gegenwart erscheinen die Griechen als das Volk der Harmonie, des Gleichgewichts der verschiedenen Kräfte, der Einheit von Mensch und Welt. Wenn sich diese Konzeption auch leicht mit dem dialektischen Schema der Philosophie verbinden läßt, so enthält sie doch zugleich den Keim einer Kritik an der Philosophie, die für die scharfe Ausbildung der Gegensätze in der Gegenwart verantwortlich gemacht werden kann.

Daß das Bild der deutschen Universität sich nicht auf logischem Wege aus einem Prinzip oder Grundtatbestand ableiten läßt, daß sie vielmehr auch in der Zeit ihrer höchsten Blüte ein komplexes, widerspruchsreiches Gebilde war, wird noch deutlicher, wenn als weiterer Wesenszug der Historismus genannt wird. Zwar war die Philosophie des Deutschen Idealismus weitgehend eine Philosophie der Geschichte, und insofern bildet sie eine Voraussetzung des Historismus. Aber es ist die konstruierende und mediatisierende Methode, gegen die Ranke das unableitbare Eigenrecht der Individualität verteidigt, welche in ihrer Un-wiederholbarkeit des Begriffes spottet und nur aus ihren eigensten Voraussetzungen und im Rahmen ihrer jeweiligen Umgebung „verstanden" werden kann. Aber da Ranke die „Ver6 stehbarkeit" nie in Zweifel zog, sprengte die historische Denkweise, die sich in wenigen Jahrzehnten über fast alle Fächer ausbreitete, die Einheit der deutschen Universitätskonzeption nicht grundsätzlich, sondern blieb wie die Gegenwartskritik des Philhellenismus eher ein Korrektiv als eine Verneinung.

Und eine Verneinung war nicht einmal die kleindeutsche Geschichtsauffassung, die den Patriotismus eines Ranke und Niebuhr zum preußisch-kleindeutschen Nationalismus fortbildete, so eng und parteiisch begrenzt ihr Wille zum Verstehen, so überschießend ihre Hingabe an das politische Werk Bismarcks war. Aber man täte Heinrich v. Treitschke großes Unrecht, wenn man ihn mit den eben genannten Vulgärantisemiten zusammenstellen wollte. Auch für ihn blieb die Ausbreitung der allgemeinen Freiheit das Ziel der Geschichte und die Rückgängigmachung von Emanzipationsbewegungen, etwa der jüdischen, ein unvollziehbarer Gedanke.

Die entscheidende Frage bestand darin, wie diese einmalige und großartige Konzeption, die aber keineswegs spannungsfrei und dem geschichtlichen Wandel durchaus nicht entziehbar war, inmitten einer rapid sich ändernden Welt fortentwickelt werden sollte: in trotziger, lediglich zu „Konzessionen" geneigter Selbstbehauptung, in vorsichtiger Anpassung an das Neue, in schöpferisch-bewahrender Umgestaltung, in radikaler Verneinung. Die typologischen Orte, die wir zu entwickeln haben werden, sind durch bestimmte Antworten auf diese Frage charakterisiert, und diese Antworten sind deshalb keine bloßen hochschulpolitischen Spezialismen, weil die deutsche Hochschule aufgrund ihrer Tradition keine Spezialität, sondern die Stätte des allgemeinsten Interesses war.

Repräsentanten der radikalen Rechten: Ernst Krieck und Alfred Bäumler

Den äußersten rechten Platz in dem Halbkreis, den wir uns zur Erleichterung der Orientieiung vorstellen können, nehmen — zwar nicht allein, doch ohne viel Gefolgschaft unter den deutschen Hochschullehrern — die beiden führenden Philosophen des Nationalsozialismus ein: Ernst Krieck und Alfred Bäumler. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß sie von außen, im Zuge der Ereignisse von 1933, in die Universität gelangt sind. Ernst Krieck, vom Neuidealismus herkommend, ursprünglich Volksschullehrer, dann Professor an der Pädagogischen Akademie Frankfurt, wurde 1933 an die Universität Frankfurt berufen und sogleich zum Rektor erhoben. Alfred Bäumler, 1887 geboren und wenige Jahre jünger als Krieck, war seit 1924 Privatdozent für Philosophie, dann außerordentlicher Professor an der TH Dresden gewesen und hatte sich durch eine ausgezeichnete Einleitung in eine Bach-ofen-Auswahl „Der Mythus von Orient und Okzident" einen Namen gemacht. Gleich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde er auf den neuerrichteten Lehrstuhl für politische Pädagogik an der Universität Berlin berufen. In seiner Antrittsvorlesung sammelten sich im Braunhemd und unter Mitführung von Fahnen die Kolonnen, die anschließend zur Bücherverbrennung hinauszogen. Das erste Heft der eben erwähnten Zeitschrift „Der deutsche Student" wird mit einem Aufsatz von ihm eingeleitet. Er galt noch mehr als Krieck, der in einer gewissen Verdrossenheit und Abseitigkeit die Spuren seines lebenslangen Kampfes gegen die „Zukunftswissenschaft" bewahrte, als der geistige Führer und Mentor der nationalsozialistischen Hochschuljugend.

Man darf weder Krieck noch Bäumler mit den Simplismen der zitierten studentischen Äußerungen in eins setzen. Es ist vielmehr evident, daß beide sich an bestimmten Zügen der deutschen Universitätstradition orientierten, an die sie ihr eigenes Denken anzuknüpfen und von denen aus sie die anderen Wesenszüge zu eliminieren versuchten. So fordert Krieck eine „neue Philosophie", die „die Vielheit der Einzelfächer in einem gemeinsamen Weltbild, einer Domkuppel, sinnhaft überwölbt", eine Philosophie freilich, die auf ihre Verknüpfung mit dem Humanismus und damit auf ihren Anspruch, aus der eigenen Autonomie dem Staat Wege zu weisen, entschlossen verzichtet und sich zum Glied des völkisch-politischen Gemeinwesens gemacht hat. Die Ergebnisse der Wissenschaft selbst scheinen Krieck dieses Postulat zu stützen, denn „die euklidische Geometrie, die Keplerschen Gesetze, die analytische Geometrie, die Infinitesimalrechnung, die Formel mv 2, das Parallelogramm der Kräfte haben ihren festen und unverlierbaren völkischen und geschichtlichen Ort. Sie konnten nur hier und jetzt'entstehen, gefunden oder erkannt werden". Es ist also der Historismus, der hier in einem seiner Aspekte, unter Aussparung des Problems der Gültigkeit und der Übertragbarkeit, zum Rammbock gegen die Philosophie gemacht wird, deren Führungsrolle aber gleichwohl im engeren Rahmen der angeblich geschlossenen und dauerhaften Volksentität festgehalten und behauptet wird. So kann Krieck sagen: „An die Stelle der humanistischen Universität tritt damit die völkisch-politische Universität, die durch Wissenschaft, durch Erziehung und Bildung der Ausleseschicht ihren Anteil zu leisten hat am Aufbau des völkisch-politischen Gemeinwesens der Deutschen. Nationale Willensbildung und Charakterbildung sind die Aufgaben der neuen Universität. Wir anerkennen künftig keinen Geist, keine Kultur und keine Bildung, die nicht im Dienste der Selbstvollendung des deutschen Volkes stünde und von da aus ihre Weisung empfinge". Wie sehr diese nationale Willensbildung aber ein Teil jener umfassenden Mobilmachung ist, die in der schlichteren Sprache der Studenten sich in der ständigen Wiederkehr des Wortes „Lager" ausdrückte, wird unübersehbar, wenn Krieck den Hauptmangel des bisherigen Bildungsideals gerade darin erblickt, „daß die Hochbildung und die soldatische Erziehung der deutschen Jugend nicht auf dieselbe einheitliche Sinnrichtung gebracht worden sind."

Für Alfred Bäumler ist, seiner Herkunft von Bachofen und Nietzsche entsprechend, ein Bild des griechischen Lebens der Orientierungspunkt. Es sind die heroischen Männerbünde Spartas und Thebens, die er im Auge hat, in welchem das Verhältnis von Mann und Mann nicht wie in der Gegenwart durch die Herrschäft der Stadtkultur und des Weibes verkümmert war, jene heroischen Männerbünde, für deren letzte weltgeschichtliche Gestalt er das deutsche Heer erklärt. Von hier aus kritisiert er die Demokratie als eine Form der Dekadenz und sucht ihr, mindestens für Deutschland, die Lebensfähigkeit abzusprechen: „Weil der Deutsche wesentlich kriegerischer Natur ist, weil er Mann ist, weil er für die Freundschaft geboren ist, deshalb kann die Demokratie, die in ihrer letzten Konsequenz dazu führt, daß Weiber über Männer richten dürfen, niemals in Deutschland gedeihen." Als Dekadenzform erscheint in konsequenter Fortführung dieses Ansatzes — und, wie sich versteht, im Anschluß an Nietzsche — der theoretische Mensch als das fiktive Subjekt einer bloß in der Einbildung bestehenden „reinen Wissenschaft", die sich über die Kämpfe der Zeit und das konkrete Hier und Jetzt erheben zu können meint. Die historistische Überzeugung von der irreduziblen Geschichtlichkeit des je Vorhandenen macht Bäumler sich ebenso gut zu eigen wie Krieck, aber mindestens an einigen Stellen verbirgt er sich deren auch für den Volks-und erst recht für den Rassenbegriff auflösenden Konsequenzen nicht: „Kein Forscher verfügt über die Wahrheit, kein Politiker verfügt über das Ganze des Volkes. Wer die Verfügung über die Wahrheit in der Wissenschaft wie in der Politik für das uns angemessene Ideal hält, der beuge sein Knie und lasse Wissenschaft und Politik." Die Philosophie des heroischen Männerbundes grenzt hier an eine Philosophie des heroischen Relativismus, die ihr in ihren politischen Implikationen so sehr entgegengesetzt ist. Aber wenn die Bemerkung auch isoliert und ohne Folgen bleibt, so läßt sie doch das eigentümlich Krampfhafte und Gewollte des Tatbestandes evident werden, daß Intellektuelle wie Bäumler und Krieck unter Berufung auf die relativierenden Ergebnisse der Wissenschaft sich auf dieselbe Weise einem konkreten Menschen übereignen, wie ihre Vorfahren es einzig der Idee gegenüber für menschenwürdig hielten: „Hitler ist nicht weniger als die Idee — er ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich."

Die „Jungen"

Bäumler und Krieck am nächsten steht eine Gruppe, die man zunächst nur als die der „Jungen" bezeichnen kann. Es ist gleichsam der Vortrupp der radikalen Studentenschaft innerhalb der Hochschullehrer. Die Angehörigen dieser Gruppe gehören in der Regel den ersten Geburtsjahrgängen nach 1900 an, sie haben am Weltkrieg nicht mehr teilnehmen können und waren 1933 noch nicht Ordinarien, zum großen Teil nicht einmal Privatdozenten. Sie haben nicht Autorität und Erfahrung genug, um sich so grundsätzlich äußern zu kön-nen wie Krieck und Bäumler. Zum überwiegenden Teile sind sie Einzelwissenschaftler und bemüht, ihr jeweiliges Fach mit nationalsozialistischem Geiste zu erfüllen. Häufig sind sie Mitarbeiter an prononciert nationalsozialistischen Zeitschriften und Periodica wie den Forschungen zur Judenfrage, dem Schulungsbrief oder den nationalsozialistischen Monats-heften. Ihre Zitadelle in der Geschichtswissenschaft ist das Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland unter seinem Präsidenten Walter Frank, der mit seinen Angriffen gegen die „Epigonen" und „Graeculi", mit seinem Eintreten für eine „kämpfende Wissenschaft" wohl der bekannteste Repräsentant dieser Jungen ist. Aus einer Fülle von Namen sei der des Münchener Philosophen Hans Alfred Grunsky herausgegriffen, weil sich die eigentümliche Funktionsveränderung, welche die Wissenschaft unter den Händen dieser Jungen erfährt, gut an dem Spinoza-Aufsatz demonstrieren läßt, den er im 2. Band der Forschungen zur Judenfrage veröffentlichte. Es handelt sich keineswegs um eine kenntnislose Propagandaschrift. Wenn Gründlichkeit schon die Wissenschaft ausmacht, läßt sich ihr Wissenschaftlichkeit nicht absprechen. Auch die Fragestellung muß in bestimmten Grenzen durchaus legitim gelten: Spinozas Stellung zur Tradition des talmudischen Denkens. Aber der Ort der Veröffentlichung und die Art, wie die Frage angesetzt wird, lassen erkennen, daß das Hauptergebnis von vornherein feststeht, daß Spinoza hier nicht zu Wort gebracht, sondern durch Ausstoßung aus der europäischen philosophischen Tradition diffamiert und sozusagen geistig ermordet werden soll. Wissenschaftliche Kenntnis und wissenschaftliche Methode treten so in den Dienst einer unwissenschaftlichen, ja antiwissenschaftlichen Haupt-intention, und Vergleichbares ist in den meisten Schriften dieser jungen Aktivistengruppe der Fall, ob sie sich mit Frankreichs Rhein-politik, mit der Deutschfeindlichkeit des Vatikans oder der Kulturlosigkeit des Ostjudentums beschäftigen. Einen extremen Fall stellt Johann von Leers dar, der, 1903 geboren und aus dem diplomatischen Dienste kommend, 1933 Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik und 1940 ordentlicher Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des deutschen Bauerntums in Jena wurde. Ein Buch wie „Die Verbrechernatur der Juden" hat mit Wissenschaft nicht einmal äußerlich etwas zu tun, sondern ist reine Mordpropaganda. Der Vorwurf, mit Massenmord und Genocid in unmittelbare, wenngleich „rein geistige" Berührung gekommen zu sein, läßt sich auch den Mitarbeitern und Lesern einer Zeitschrift wie des Rosenbergschen „Weltkampf" nicht ersparen, wo während des ganzen Krieges kaum mißzuverstehende Zahlen über die „Lösung der europäischen Judenfrage" erschienen. Hier handelt es sich um das geisteswissenschaftliche Komplement zu der Mitarbeit von Hochschullehrern der Medizin in Auschwitz, und wir rühren an das dunkelste Kapitel zwar nicht „der" deutschen Wissenschaftler, wohl aber einiger deutscher Wissenschaftler und einer ganzen geistigen Atmosphäre. Nirgendwo herrschte der von bisher genannten Männern und ihren Verbündeten in den Ministerien getragene Geist im Bereich der Universität so widerspruchslos wie in den Dozenten-lagern, denen sich niemand entziehen konnte, der sich nach 1933 in Deutschland habilitieren wollte. Läßt sich schon in der jungen Aktivistengruppe oft schwer entscheiden, wo die Überzeugung aufhört und das Karriereinteresse beginnt, so wurde die Atmosphäre dieser Lager erst recht von einer kaum entwirrbaren Mischung von Idealismus, Opportunismus und geheimer Gegnerschaft bestimmt. Daß der Großteil des wissenschaftlichen Nachwuchses sie nur sehr widerstrebend ertragen hat, geht aus zahlreichen Zeugnissen unwidersprechlich hervor.

Motive nationalsozialistischen Verhaltens unter den älteren Professoren

Wie aber verhielten sich die älteren Gelehrten, die 1933 bereits einen Lehrstuhl innehatten und die weder um ihre Existenz noch um ihr Fortkommen zu bangen hatten?

Eine relativ kleine Gruppe schloß sich den soeben genannten „Jungen" an und trat inner-halb und außerhalb der Wissenschaft unverkennbar für den Nationalsozialismus ein. Es ist überaus charakteristisch, daß die Motive fast stets in einer bestimmten Einschätzung der erwarteten Auswirkungen des Nationalsozialismus für das eigene Fach oder für die deutsche Hochschulkonzeption bestanden. So erklärt der Marburger Psychologe Erich Jaensch, nur wenige hätten bisher ein rechtes Verständnis dafür gehabt, wie sehr die Ehre des Faches unter dem Ministerium Becker zertreten worden und wie notwendig sein eigener Kampf gegen die Herrschaft einer undeutschen Gruppe in der Psychologie gewesen sei; unter der Herrschaft Adolf Hitlers aber würden die Verhältnisse sich endlich zum Besseren wenden.

In einer philosophischen Zeitschrift wird die Meinung vertreten, daß mit der Machtergreifung die Philosophie das ihr gebührende Zepter wieder an sich genommen habe.

Einige Altphilologen sehen die Zeit für eine Renaissance des griechischen Geistes und für eine Neubelebung der klassischen Studien gekommen. Bei nicht wenigen Naturwissenschaftlern ist die Überzeugung verbreitet, der Nationalsozialismus bedeute den endgültigen Abschied von der hemmenden überlieferten Metaphysik und die Eröffnung des Weges zu einem „lebensgesetzlichen", an den naturwissenschaftlichen

Erkenntnissen sich orientierenden Lebens. Die Überzeugung ist um so fester, je umstrittener die wissenschaftliche Bedeutung des Faches bis dahin war und je höher es sich durch die nationalsozialistische Weltanschauung gestellt sieht — bei den Rassenforschern in erster Linie.

Eine besonders eigenartige und in vielen Fällen tragische Position nimmt die Gruppe der Grenz-und Ausländsdeutschen ein, als deren bekanntester Repräsentant Heinrich v. Srbik gelten darf. Durch die Bismarcksche Entscheidung von Deutschland getrennt, Erben einer Tradition, die das kleindeutsche Geschichtsbild und seine Einseitigkeit durch ein umfassenderes Verständnis korrigieren zu können schien, stellten sie sich großenteils nach ihrer besten Überzeugung in den Dienst einer Tendenz, die alle Einseitigkeit der kleindeutschen Auffassung noch potenzierte, indem sie die Österreicher und die Ausländsdeutschen in einer Politik verbrauchte, die alle echte österreichische Tradition vernichten und den deutschen Minoritäten in Osteuropa die moralische Grundlage entziehen mußte.

Die Mittelgruppe der „reinen Wissenschaftler"

Die größte Zahl der deutschen Hochschullehrer aber setzte ihre Arbeit fort, als wenn nicht viel geschehen wäre. Wenn es ein Charakteristikum der nationalsozialistischen und generell der faschistischen Revolution ist, daß sie potentielle Gegner entwaffnet, indem sie deren Sache zu vertreten oder mindestens nicht zu befehden scheint, so ergibt sich daraus auf der anderen Seite, daß sie nur langsam in die Tiefe dringt, daß das Bild des Lebens, von der farbenbunten Oberfläche abgesehen, lange Zeit unverändert bleibt. Männer, die 1932 in der Historischen Zeitschrift Aufsätze mit einer gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern durchaus versöhnlichen Tendenz publiziert hatten, konnten auch 1936 ähnliche Untersuchungen veröffentlichen. Die ganze philosophische Diskussion, die sich an den Namen Nicolai Hartmanns knüpft, ging in Publikationen und Zeitschriftenartikeln unverändert weiter, als ob es keinen Nationalsozialismus gäbe.

Es ist bezeichnend, daß W. Frank und seine Leute innerhalb der HZ sozusagen ein Getto „unter dem Strich" innehatten, wo sie ihre Berichte „zur Judenfrage" gaben. Freilich, die objektiven und versöhnlichen Aufsätze von 1936 entsprachen gleichwohl einer großen Linie der Propaganda oder widersprachen ihr mindestens nicht. Daß die „Blätter für deutsche Philosophie" nicht das Bild einer Propagandazeitschrift boten, stimmte mit einem Interesse der Politik zusammen. Das unveränderte Ethos der soliden deutschen Wissen-schäft war in eine veränderte politische Konstellation einbezogen und diente damit nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich ihren alten Zwecken. So grenzt die große Mittel-gruppe der Hochschullehrer je nach den Umständen bald an den Bereich der Vertreter aktiver Mitarbeit, bald an denjenigen des verhüllten oder unverhüllten Widerstandes.

Heidegger als Paradigma

Aber bevor wir den nächsten Schritt tun, soll einer Frage nicht ausgewichen werden, die sich nicht nur dem Kenner aufdrängt: Wo findet in dieser Anordnung der Gruppen, die mit dem Nationalsozialismus zusammenarbeiteten oder sich ihm mindestens nicht widersetzten, der bedeutendste und einflußreichste der deutschen Philosophen, wo findet Martin Heidegger seinen Platz? Diese Frage zureichend zu beantworten, bedürfte es eines eigenen Beitrags. Es muß hier genügen, die Elemente einer Antwort zu skizzieren.

Der anschauliche Tatbestand, von dem ausgegangen werden muß, ist der, daß Heidegger 1933 als Rektor der Freiburger Universität ein Ausmaß nationalsozialistischer Aktivität entfaltete, das ihn Krieck und Bäumler an die Seite stellt. Wir sind über diese Vorgänge seit kurzem dank der Mühen eines Schweizer Bibliothekars mit großer, ja fast exzessiver Genauigkeit unterrichtet. Auf der anderen Seite ist allgemein bekannt und durch eine Reihe von Veröffentlichungen belegt, daß Heidegger sich mit seiner Zuwendung zu Hölderlin schon bald der weitverbreiteten Tendenz zum Rückzug von der nationalsozialistischen Realität anschloß, wobei polemische Wendungen durchaus nicht fehlen, so daß er der zuletzt genannten Gruppe zuzuordnen wäre.

Die fundamentale Frage ist die, ob Heideggers Verhalten 1933 konsequent aus seiner Philosophie hervorgegangen oder aber auf zufällige und persönliche Ursachen zurückzuführen ist.

Doch die Alternative ist wohl nicht erschöpfend. Ein großer Denker hat nicht nur zwei, sondern mehrere Seelen in seiner Brust, d. h., in seinem Werk verbinden sich verschiedene Denktendenzen zu einem nicht schlechthin unauflösbaren Ganzen. Vielleicht läßt sich in sträflicher Kürze so viel sagen: Sofern die Heideggersche Philosophie die sublimste Ausprägung dessen ist, was man die „Demütigung des idealistischen Geistes", d. h.seine Verzeitlichung nennen kann, zeigt sich eine Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Philosophie, die aber viel zu formal ist, als daß sie eine genuine Gemeinsamkeit begründen könnte.

Sofern Heidegger die Wechselbezogenheit von Dasein und Nichts entwickelt, ausdrücklich die Neutralität seiner Analyse gegen Bestimmungen wie Geschlechtlichkeit (und also, dürfen wir hinzufügen, erst recht gegen ethnische Charaktere) unterstreicht, im engen Anschluß an Kant seinen Begriff der „Transzendenz" entwickelt, repräsentiert er eine konsequente Entfaltung der bisherigen Philosophie und ist dem nationalsozialistischen Blut-und Rassen-denken aufs schärfste entgegengesetzt; sofern er aber in Sein und Zeit nach den sorgfältigen Analysen der Angst und der Temporalität ohne alle nähere Untersuchung den Begriff des „geschichtlichen Volkes" einführt oder in der Rektoratsrede im Anschluß an die Stimmungsanalyse von erd-und bluthaften Kräften spricht, zeigt sich eine Nähe zu nationalsozialistischen Gedankengängen, die aber mehr auf die Anwesenheit der entsprechenden Tendenzen im geistigen Klima als auf ein Entspringen im Zentrum seines eigenen Denkens zurückzuleiten sein dürfte. Es dürfte eine Bestätigung dieser Sonderung sein, daß das vielzitierte und berüchtigte Wort: „Nicht Lehrsätze und , Ideen'seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz" nicht einen Fehler des Denkens, sondern einen Irrtum der konkreten Urteilskraft in sich schließt. Und so wird man sagen können, daß Heidegger mit seiner Doppelposition auf den entgegengesetzten Enden der bisher entwickelten typologischen Reihe als Paradigma gelten darf für die Ursachen der großen Hoffnungen und die Gründe der tiefen Enttäuschungen, die in ihrem Ineinander das Verhältnis eines großen Teils der deutschen Hochschullehrer zum Nationalsozialismus so ambivalent und zwielichtig machen.

Widerstand und Emigration

Diese Zwielichtigkeit ist ja sogar bei einem Manne wie Eduard Spranger sichtbar, dem doch unzweifelhaft ein Platz im anderen Teil unseres Halbkreises zuzuweisen ist. Kurz nach der Machtergreifung spricht er in seiner Zeitschrift „Die Erziehung" von dem großen positiven Kern der nationalsozialistischen Bewegung, dem er als negativ nur den „übersteigerten" Antisemitismus entgegenstellt. Freilich ist ein Ton des Protestes nicht zu überhören, wenn er vor einer Militarisierung der gesamten Erziehung warnt und alle guten deutschen Traditionen zum Zeugnis gegen ein etwaiges und, wie er sagt, undenkbares Staats-Sklaventum herbeiruft. Aber es ist doch auch Sprangers Ausblick zugleich richtig getroffen, wenn Wilhelm Flitner in einem Aufsatz derselben Zeitschrift seine eigene Stimmung angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung als „teils hingerissen, teils beklommen" beschreibt, rechnet es Spranger dem Nationalsozialismus doch ausdrücklich als Verdienst an, mit der Zersetzung durch Marxismus, Psychoanalyse und ähnliches ein Ende gemacht zu haben. Wer von einem Manne wie Eduard Spranger erwarten würde, daß er 1933 mit fliegender Fahne die Barrikade entschlossenen Widerstandes bestiegen hätte, verkannte ganz die Natur der faschistischen Revolutionen, die ja als geglückte nationale Restaurationsbewegungen beginnen und nicht ohne Glaubwürdigkeit eine Reihe der besten Über-lieferungen für sich in Anspruch nehmen. Von Spranger und Litt war nur zu erwarten, daß sie die Postulate einer nicht politisierten Wissenschaft auch weiterhin öffentlich vertraten, und dazu gehörte schon wenige Monate nach der Machtergreifung Mut genug.

Einen ausgeprägteren öffentlichen Widerstand als diesen hat es an den Hochschulen im nationalsozialistischen Deutschland nicht gegeben und konnte es nicht geben. Die Hochschullehrer, die verhaftet oder gar hingerichtet wurden, wie Kurt Huber, hatten nur außerhalb der offiziellen Lehrveranstaltungen ihren Überzeugungen rückhaltlos Ausdruck geben können. Gerhard Ritter wurde nicht wegen seiner Vorlesungen, sondern wegen seiner Bekanntschaft mit Carl Goerdeler verhaftet. Er ist ein eindrucksvolles Beispiel für jenes andere, dem eben erwähnten entgegengesetzte Faktum, daß faschistische Revolutionen schließlich selbst mit den Vertretern derjenigen Traditionen feindlich Zusammenstößen, auf die sie sich am Anfang am meisten und lautesten berufen haben. Wo unzweideutiger Widerstand zu erwarten war, schlug der Nationalsozialismus präventiv und in einem Umfang zu, den man als eine ungeheure Sicherheitsmarge bezeichnen könnte, wenn er nicht ausgeprägt ideologische Gründe gehabt hätte. Es ist nicht zu vermuten, daß von dem anderthalbtausend Hochschullehrern, die von ihren Wirkungsstätten vertrieben wurden, auch nur die Hälfte politisch bewußte und zu aktiver Tätigkeit entschlossene Gegner des nationalsozialistischen Regimes waren. Sie mußten gehen, weil sie Juden waren. Sie sowohl wie sogar ein Teil der politischen Emigration setzten in anderen Ländern ihre wissenschaftliche Tätigkeit fort, ohne sich im Kampf gegen das Dritte Reich, der ja zugleich ein Kampf gegen Deutschland zu sein schien, nennenswert zu engagieren. Zwar trug ihre bloße Existenz zur Entstehung des Klimas bei, das dem Nationalsozialismus schließlich zum Verhängnis werden sollte, aber im Vergleich mit der literarischen Emigration blieb die wissenschaftliche Emigration politisch verhältnismäßig wenig aktiv.

Einer der Gründe dürfte der gewesen sein, daß es auf den deutschen Hochschulen nur wenige Marxisten gegeben hätte. Die es gab, waren in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt. Als Beispiel sei Arthur Rosenberg erwähnt, der Berliner Althistoriker und ehemalige kommunistische Reichstagsabgeordnete, der 1934 in der Tschechoslowakei unter dem Pseudonym Historicus eine eindringende Analyse des Nationalsozialismus erscheinen ließ, in der alle Stärken, aber auch alle verhängnisvollen Schwächen der marxistischen Denkweise wie in einem Brennspiegel zusammengefaßt sind. Den sichtbarsten und insofern äußersten Platz auf der Linken unseres Halbkreises nehmen nicht die Marxisten ein, sondern jene Links-demokraten und Pazifisten, die sich rühmen durften, die ursprüngliche deutsche Universitäts-und Wissenschaftstradition — freilich ohne die späteren und vielleicht fremden Elemente des Historismus und der kleindeutschen Geschichtsauffassung — am treuesten bewahrt und am konsequentesten fortentwickelt zu haben. Als ihr vornehmster Repräsentant darf Albert Einstein gelten, der schon in den ersten Monaten nach der Machtergreifung und noch in den letzten Jahren des Krieges sich als einer derjenigen Gegner des Nationalsozialismus erwies, angesichts deren den Einsichtigen unter ihren Feinden die enge Zusammengehörigkeit und das Selbstmörderische der nationalsozialistischen Juden-und Wissenschaftspolitik hätte aufgehen können.

Wissenschaftskrise und Nationalsozialismus

Wir haben zu Beginn den Nationalsozialismus hochschulfern genannt und die These gleich einschränken und präzisieren müssen. Niemand wird sie nun am Ende dahingehend verstehen, daß auch nur die Hochschullehrerschaft und der Nationalsozialismus nichts miteinander zu tun gehabt hätten. Aber ihr richtiger Kern ist doch insofern zum Vorschein gekommen, daß wir demjenigen, was als spezifisch für den eigentlichen Nationalsozialismus gelten muß, nur am Rande begegnet sind, nämlich dem entschiedenen Antimarxismus qua antijüdischer und antislawischer Exterminationsund rassestählender Expansionspolitik, der in dieser Gestalt zwar Anhänger und Helfer, nicht aber Protagonisten unter den Hochschullehrern hatte. Statt dessen sind wir auf eine Problematik recht subtiler Art gestoßen, die um Begriffe wie Philosophie, Griechentum und Individualismus zentriert ist. Dieser Tatbestand zeigt zunächst, daß der Nationalsozialismus nicht lediglich ein zufälliger, aufschießender politischer Extremismus gewesen ist, sondern ein mehrschichtiges Gebilde mit einem ganzen Gewebe vielfältiger Voraussetzungen, die deshalb aber noch keineswegs als seine Gründe angesehen werden dürfen. Kein Mensch vermag ohne Luft zu leben, aber von der Luft wurde noch keiner erzeugt. Eine der Voraussetzungen des Nationalsozialismus ist die tiefe Krise, in die das deutsche Wissenschafts-und Hochschulideal durch die Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts geraten war. Diese Krise ist vom Nationalsozialismus nicht geschaffen worden, aber er nimmt in und zu ihr Stellung und sucht eine bestimmte Lösung durchzusetzen. Ich glaube, es läßt sich zeigen, daß diese Lösung falsch war, ganz unabhängig von allen Weiterungen, die sich aus ihr oder auch ohne sie ergaben.

Der überlieferte Vorrang der Philosophie wird als Vorrang einer einheitsstiftenden Welt-B anschauung aufrechterhalten, aber seines freien Ausgreifens entkleidet und in die Dienstbarkeit einer einzelnen Gruppe und ihrer ganz vorwiegend materiellen Ansprüche gestellt, während in Wahrheit, wie es scheint, die Philosophie längst endgültig ihren inhaltlichen Herrschaftsanspruch hat aufgeben müssen, um, ohne Verzicht auf ihre Selbständigkeit, den anderen Fächern um so freizügiger den Schatz ihrer Begrifflichkeit zur Verfügung zu stellen.

Mit der grundsätzlichen Leugnung des Aufeinanderbezogenseins des Einzelnen und des Ganzen (d. h.der Transzendenz) und mit der Zusammenschmiedung des Menschen und seiner Rasse wird die Kernthese aller Philosophie und der Ermöglichungsgrund aller Wissenschaft geleugnet, und das in einer Zeit, wo diese Zusammengehörigkeit aufgehört hat, eine bloße These zu sein, und eine anschaubare Realität geworden ist. Denn sie besagt ja nicht etwa, daß der einzelne Mensch ein Robinson ohne Familie und Vaterland wäre, der unablässig durch mächtige Fernrohre ins Weltall hinausspähte. Sie ist keine empirische Beschreibung, sondern eine Wesensaussage und bedeutet, daß nichts Gegebenes und Vorhandenes so groß ist wie in seinem Grunde das Bewußtsein, das nur im Einzelmenschen sich vollzieht und erfaßt. Die nationalsozialistische Rassenlehre dagegen orientiert sich in einem Zeitalter der Weltverkehrsgemeinschaft an einem Ideal archaisierender Reinheit und Beschränktheit, der alle reale Bewegung der Geschichte als Zersetzung erscheinen muß, obwohl ihr Auftauchen doch selbst offenkundig im Gefolge dieser Bewegung sich vollzieht.

Der Vorrang des Griechentums wird in gewisser Weise weiterhin anerkannt, aber gleichsam von Athen auf Sparta und die archaische Zeit umfunktionalisiert, während er doch nur durch eine radikale Historisierung und zugleich durch die Umbildung zum vornehmsten . Grenzbegriff" sich erhalten läßt.

Der Historismus wird zwar bis zum Blut-und Bodenextrem fortgebildet, aber durch die These von der Substanzialität der Rasse wieder aufgehoben und durch die Leugnung der Fähigkeit und des Willens zu universalem Verstehen seiner philosophischen Dimension beraubt.

Schließlich wird die ehemals kleindeutsche Geschichtsauffassung zu ihrem starrsten Extrem geführt, statt daß sie nach allzulanger Vorherrschaft endlich zum Gegenstand der Kritik gemacht würde. So gibt der Nationalsozialismus auf die großen Fragen nach der Bedeutung der Wissenschaft und ihrer Lehre eine simple, unter manchen Aspekten sehr naheliegende, ja berauschende, aber für die Wissenschaft mit Sicherheit tödliche Antwort, ganz ebenso wie er auf weniger subtiler Ebene — in der Frage des deutschen Verhaltens zum Ergebnis des Ersten Weltkriegs und mit der Konzeption des herrschaftlichen Rassenstaates — eine simple, unter vielen Aspekten nahe-liegende,ja berauschende, aber für das historisch gewordene Deutschtum mit Sicherheit tödliche Antwort gab. Bestürzend zu sehen ist die eigentümliche Wehrlosigkeit gerade seiner Gegner unter den Hochschullehrern, die häufig nicht klar sahen oder mindestens nicht genügend realisierten, daß der nationalsozialistische Begriff des „Judentums" sich letzten Endes gegen den Kern der Wissenschaft selbst, daß der Begriff der „Rasse" sich gegen die Nation und ihre internationalen Entfaltungsmöglichkeiten richtete. Aber diese Wehrlosigkeit war keine bloße perönliche Schwäche, sondern das Resultat einer überaus komplizierten historischen Entwicklung. Daher ist hier nicht etwa das Bild eines historischen Versagens gezeichnet worden, über das irgend jemand, und gar ein Unerprobter, sich geringschätzig erheben dürfte, sondern es ist versucht worden, den Weg zu einigen Fragen zu öffnen, die nicht ungefragt bleiben dürfen, wenn der Nationalsozialismus nicht bloß in seinen Teilbereichen geschichtswissenschaftlich erforscht und im einzelnen seine Aspekte moralisch verurteilt, sondern im ganzen wissenschaftlich und das heißt zugleich philosophisch begriffen werden soll.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Männerbund und Wissenschaft, S. 39.

  2. A. a. O., S. 107.

  3. A. a. O., S. 127.

Weitere Inhalte

Ernst Nolte, Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mar-burg, geboren 1923 in Witten. Veröffentlichungen u. a.: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action franaise, der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus, München 1963; Kapitel „Germany" in: The European Right, A Historical Profile, edited by Hans Rogger and Eugen Weber, Berkeley und Los Angeles 1965.