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Zur Frage nach dem Vaterland | APuZ 50/1965 | bpb.de

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APuZ 50/1965 Zur Frage nach dem Vaterland Vaterland -Vergangenheit und Zukunft

Zur Frage nach dem Vaterland

Friedrich Minssen

„Daß es nun freilich das größte Glück ist, sich nur mit den Angelegenheiten seiner eigenen Seele zu beschäftigen — das ist wohl aller Welt begreiflich; aber da mußt Du auch das beherzigen, daß jeder von uns nicht allein für sich selbst geboren ist: sondern ein Teil von unserem Dasein gehört dem Vaterlande, ein Teil den Eltern, ein Teil unseren anderen Lieben, der meiste Teil aber ist für die zum Gutestun geeigneten Momente bestimmt, welche uns zufällig in unserem Leben zustoßen. Und auf den Ruf des Vaterlandes zur Besorgung seiner Interessen nicht zu hören, ist auch ganz unvernünftig, denn dadurch kommt zugleich das Unglück, daß auch eine Laufbahn für nichtsnutzige Menschen übrig-bleibt, welche bei ihrem Schreiten zu Staatsämtern sich nicht von der heiligen Idee leiten lassen."

Plato, IX. Brief „An Archytas", in der Übersetzung von Wilhelm Wiegand

Weltkrise des Nationalbewußtseins

Das Nationalbewußtsein herkömmlicher Art ist in eine Krise geraten.

Sofern die Betrachtung auf die deutschen Verhältnisse beschränkt bleibt, wird sich gegen diese These kaum Widerspruch erheben; dafür sind die durch Geschichte und Gegenwartssituation bedingten Schwierigkeiten der deutschen kollektiven Identifikation zu augenfällig. Die These wird jedoch mit Sicherheit angezweifelt werden, wenn sie auch die Bewußtseinslage außerhalb der ungewissen deutschen Grenzen zu kennzeichnen unternimmt, denn weite Teile des Erdballs, besonders die von „jungen" Völkern und Staaten besiedelten, unterliegen offensichtlich fiebrigen nationalen Emotionen, die an Intensität und Aggressivität den in Europa im Risorgimento und im Zeitalter des Imperialismus grassierenden kaum nachstehen. Indes ist zu vermuten, daß es sich dabei um eines jener vielfältigen Anpassungs-und Nachholphänomene im Zuge des universalen Europäisierungsprozesses handelt, wie sie den „jungen Völkern" auf ihrem energischen Voranschreiten zu entwikkelteren Gesellungsformen notwendig begegnen und die schon deshalb keine Prognosen auf längere Sicht gestatten, weil sie für nichts anderes charakteristisch sein dürften als für eine Epoche stürmischer Übergänge.

Aufschlußreicher als die Lage bei den Entwicklungsländern ist die Qualität, die das Nationalbewußtsein bei den entwickelten und hochindustrialisierten Völkern und Staaten in West und Ost angenommen hat. Mit Ausnahme eines einzigen, die Weltöffentlichkeit um so erregenderen Beispiels, das sich freilich bei genauerem Hinhören lediglich als die ein-Walther Hofer:

Vaterland — Vergangenheit und Zukunft .................................................... S. 16 same Stimme eines schon recht alten Mannes zu erkennen gibt, vernimmt man heute in den politischen Bekundungen der Staatsmänner der Industrienationen selbst in Krisenzeiten nicht mehr jene schneidenden Töne absoluten Geltungsanspruchs, wie sie noch vor 50 Jahren die gängige Idolatrie des eigenen Gemeinwesens mindestens dessen Angehörigen gegenüber zu erfordern schien. Der Verwirklichung ausschweifenden imperialistischen Denkens, das selbstverständlich im Raum der Phantasie stets möglich bleibt, steht heute das brutale Faktum entgegen, daß kein Staat mehr in der Lage ist, sich selbst als absoluten Be-zugspunkt seines eigenen politischen Lebens zu setzen. Mit anderen Worten: In der Wirklichkeit der staatlichen Souveränität ist ein Wandel eingetreten, dem ihr Begriff freilich noch nicht überall nachgekommen ist. Den Akteuren der Politik ist die Souveränität ihrer Staaten unter den Händen entglitten.

G Der Souveränitätsbegriff ist ein Geschöpf der Neuzeit; er hat seine Ausprägung in der Epoche des Absolutismus, im Zeitalter der Kabinettspolitik erfahren. Heute neigt man vielfach dazu, diese in einem verklärenden Licht zu sehen, weil sie sich gleichsam als reine Mechanik der Macht und relativ entfernt von den Emotionen der Völker und Massen vollzog, die nur als Leidende und noch nicht, wie in den letzten Jahrhunderten, als mithandelnde Engagierte beteiligt waren. Demgegenüber tut es gut, zur Korrektur eines solch einseitigen Geschichtsbildes an eine berühmte Seite aus „Gullivers Reisen" zu erinnern, auf der Jonathan Swift die Extreme jener Mechanik der Macht in einer satirischen Zuspitzung dargestellt hat, die klassische Geltung beanspruchen darf:

„Mein Herr fragte mich, wodurch es denn eigentlich zu Kriegen käme. Es gibt dafür viele Gründe und Ursachen', sagte ich, von denen die wichtigsten etwa die folgenden sind: der Ehrgeiz eines Fürsten, der nicht genug Land und Menschen unter seiner Herrschaft zu haben glaubt; die Korruption von Kleinstaaten, die das Staatsoberhaupt zu einem Krieg überreden, um dadurch die Klagen der Untertanen über schlechte Verwaltung abzulenken oder im Keim zu ersticken, und schließlich: Meinungsverschiedenheiten. Ja, gerade sie haben schon Millionen von Menschen das Leben gekostet. .. Aus solchen Meinungsverschiedenheiten ergaben sich von je die grausamsten und blutigsten Kriege, besonders wenn es sich dabei um gleichgültige Dinge handelte. .. .'. Zuweilen muß ein Krieg auch darüber entscheiden, welcher von zwei Fürsten einem dritten Teile seines Gebietes abnehmen darf, auf die keiner von beiden einen rechtmäßigen Anspruch hat. Dann wieder überfällt ein Fürst den anderen aus Angst, seinerseits von dem anderen überfallen zu werden. Manchmal entstehen Kriege, weil der Feind zu stark, manchmal, weil er zu schwach ist. Es ist ein gerechter Grund zum Krieg, wenn man ein Land überfällt, das durch Hungersnot, Pest oder Parteihaß geschwächt öder verödet ist. . . Läßt ein Fürst seine Streitmacht gegen eine Nation marschieren, deren Angehörige Hunger leiden und unzivilisiert sind, dann darf er nach dem Gesetz die Hälfte der Einwohner umbringen lassen und die andere Hälfte zu Sklaven machen, um sie dadurch zu erziehen und einem glücklicheren Leben entgegenzuführen. . .'"

Gestaltwandel der großen Politik

Die Generation der heute Vierzigjährigen hat, ähnlich wie es Goethe bei Valmy widerfuhr, in den Atomblitzen von Hiroshima und Nagasaki erfahren, wie eine Epoche sich ankündigt. Der entscheidende Zug dieser neuen Ära ist der tiefgreifende Gestaltwandel, dem die Politik der internationalen Beziehungen unterliegt. Durch die Atombombe ist vieles vordem Denkbare undenkbar, vieles vordem Undenkbare denkbar geworden.

Die Inhaber der Atommacht sind in der Lage, Vorgänge in der Welt zu unterbinden, die ihnen nicht genehm sind. Das zeigte sich gelegentlich der Suez-Krise, als das siegreiche Vordringen der englischen, französischen und israelischen Heeresteile in Ägypten eingestellt wurde, nachdem die Sowjetunion mit dem Raketenbeschuß der britischen Hauptstadt gedroht hatte. Dabei ist es vergleichsweise unerheblich, ob der Rückzug der damaligen Alliierten aus dem Suez-Abenteuer tatsächlich durch die russische Raketendrohung oder auch noch durch andere Interventionen veranlaßt worden ist — die genaue Feststellung der damaligen, für den zeitgenössischen Betrachter undeutlich gebliebenen Vorgänge bleibt ohnedies den Historikern überlassen —, entscheidend ist der für die Weltöffentlichkeit entstandene Eindruck, daß es die russische Raketendrohung war, die eine „Strafexpedi-tion" nach dem klassischen imperialistischen Muster vereitelt hat; hier liegt jedenfalls wohl auch der Grund für die vermehrte Insistenz, mit der Frankreich seitdem seine Atomrüstung betreibt.

Ein weiteres, für den neuen politischen Stil des atomaren Zeitalters bezeichnendes Ereignis war die Kuba-Krise, als die USA die Sowjetunion durch die Konfrontation mit dem Risiko des atomaren Ernstfalls dazu veranlaßte, auf den geplanten atomaren und raketentechnischen Einbruch in die militärische Machtsphäre der USA verzichten.

An Hiroshima und Nagasaki, an Suez und Kuba ist der Gestaltwandel der internatio-nalen Beziehungen sinnfällig geworden; an ihnen wurde das Ende sowohl der bisherigen nationalen wie der bisherigen imperialen Politik offenbar. Dagegen hatten es bisher die Proteste der Weltöffentlichkeit und die ausgeklügelten Systeme der Koalitionen nur selten vermocht, den Frieden zu sichern und Staaten und Völker dazu zu veranlassen, auf die Gewaltanwendung als Mittel der zwischenstaatlichen Politik zu verzichten. Durch das weltumgreifende Instrument der modernen Rüstungstechnik ist fortan ein wirksames Veto gegen Ausuferungen der herkömmlichen Machtpolitik in den Bereich der Möglichkeit gerückt.

Schwund der Souveränität

Der Alleinbesitz der Atommacht hätte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg der USA jene Machtbefugnis für das Weltganze eingeräumt, die das Monopol der Gewaltanwendung dem Einzelstaat innerhalb seines jeweiligen Machtbereichs erteilt. Diese Chance der Friedenssicherung haben die USA nicht genutzt; nunmehr läge sie im Zusammenwirken der Atommächte, das die beiden größten anzustreben scheinen. Immerhin zwingt das atomare Patt die beiden Weltmächte, wie Kuba gezeigt hat, zu einem rücksichtsvollen Umgang miteinander und in den Angelegenheiten, die sie beide betreffen, und das gilt fast im Weltmaßstab, da ihre Einfluß-und Interessengebiete weltumspannend sind.

Kriegerische Auseinandersetzungen in den Randzonen dieser Einfluß-und Interessengebiete — Indochina, Indien — sind freilich weiterhin möglich; das sind Bewegungen, die sich außerhalb des Atomschattens vollziehen. Im ganzen wirkt die atomare Drohung im Sinne der Erhaltung des Status quo.

Fraglich bleibt freilich, ob die mögliche Proliferation der Atomwaffe sich nicht im Gegen-sinne auswirkt. Wenn es Mächten zweiten oder dritten Ranges gelingen sollte, sich in den Besitz wirksamer Atom-und Raketenwaffen zu setzen — was allerdings möglicherweise ihre wirtschaftliche und technische Leistungskraft übersteigt —, dann könnten diese erhebliche Machtverschiebungen auslösen, nicht anders als seinerzeit Brandenburg-Preußen durch den Besitz und den Einsatz eines überdimensionierten stehenden Heeres das System der großen Mächte in Europa entscheidend verändert hat. Ein möglicher Schutz wären Defensivbündnisse mit Atommächten der nicht mit eigenen Atomwaffen ausgestatteten Staaten gegen die Bedrohung durch einen potentiellen Atomgegner. Anders aber als in den herkömmlichen Defensivbündnissen wird diese Schutzgarantie stets zweifelhaft bleiben. Hier würde sie nämlich bedeuten, zur Verteidigung eines anderen den eigenen Selbstmord zu riskieren. Die Versorgung aller Staaten mit Atomwaffen könnte freilich wiederum zu einer erhöhten Sittigung und Verfeinerung in den internationalen Beziehungen führen, weil nichts die Menschen so zur Rücksichtnahme veranlaßt wie Situationen, in denen sie einander gleichmäßig gefährlich werden können.

Die Herrschaft der Gewalt in den internationalen Beziehungen, wie sie Swift geißelt, beruhte auf den Machtunterschieden der Staaten, die den einen ein weitgestecktes Maß von Handlungsfreiheit einräumten, während sie den anderen das Bestreben eingaben, sich mit allen Mitteln aus der Ohnmacht in die Zone der Macht vorzuarbeiten, um zum unbeeinträchtigten Genuß der Handlungsfreiheit zu gelangen. Die Nötigung, über die Grenzen des eigenen Interesses hinauszublicken und sich mit den anderen zu identifizieren, weniger anspruchsvoll: sich, um kooperieren zu können, vorübergehend auf dessen Standpunkt zu stellen, war nur für den Schwachen zwingend, so zweckdienlich sie sich auch für das politische Kalkül des Starken erweisen mochte. Das Spiel der Macht vollzog sich prinzipiell außerhalb der Kontrolle höherer, friedens-sichernder Instanzen. Eben das besagt der klassische Begriff der Souveränität — Handlungsfreiheit nach innen wie außen, Beliebigkeit des Machteinsatzes.

Das aber hat sich entscheidend geändert. Bereits die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung hat einen Zustand des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins hervorgerufen, der die Bekundung einzelstaatlicher Souveränität im Ernstfall in Frage stellt. Durch die Existenz der Atomwaffe ist völlige Handlungsfreiheit für die Nichtbesitzer von Atommacht vollends chimärisch geworden, wie sie für ihre Besitzer, sofern sie sich gegeneinander kehren oder die herrschende Machtverteilung einreißen wollen, selbstmörderisch geworden sein dürfte.

Durch das Nichtvorhandensein bzw. die Ohnmacht weltumgreifender rechtssichernder Instanzen blieb die Domäne der internationalen Beziehungen bisher weitgehend der Normierung entzogen. Durch die wachsende internationale Verflechtung, besonders aber durch die Existenz der Atomwaffe, verringert sich das Maß der Unabhängigkeit der Staaten voneinander, wird die zwischenstaatliche Politik potentiell, wenn nicht aktuell, der Normierung unterworfen, wandelt sich die bisher normierungsfreie Domäne der Außenpolitik tendenziell mehr und mehr zu einer Zone der Weltinnenpolitik, in der dieselben Grundsätze von Sitte und Ordnung sich durchzusetzen vermögen, die das innerstaatliche Leben regeln.

Der neue Weltbürger

Weltinnenpolitik scheint freilich den Weltstaat und den Weltbürger, den „citoyen du monde" vorauszusetzen.

Dem rechten Verständnis des neuen unauflöslichen, weltumspannenden politischen Wirkungszusammenhangs der Gegenwart, in den wir alle gestellt sind und der sich nicht ohne Zwangsläufigkeiten und Gesetzmäßigkeiten vollzieht, steht freilich der deutsche Begriff des Weltstaats mit seinen Implikationen von straffer, sogar zentralistischer Organisation entgegen. Dem wirklichen Sachverhalt einer sich abzeichnenden föderalistischen Ordnung mit ihren noch äußerst undeutlich erkennbaren institutionellen Verfestigungen, wie sie in der UN und anderen Weltorganisationen sich auszuprägen beginnen, würde der Begriff einer „civitas mundi", die die Lebensverhältnisse aller beinflußt und auf die diese nicht ohne Rückwirkungen bleiben, eher gerecht. Jedenfalls hat die unerhörte Verstärkung der politischen Interdepedenz infolge der durchgreifenden planetarischen Verflechtung dem Weltbürger, der ursprünglich bei seiner Wiederkehr nach dem Untergang der Antike in der Sphäre reiner Abstraktion angesiedelt war, Züge von ungeahnter Realität angemessen. Aus dem bloßen, durch das reine Interesse am Spektakel der großen Haupt-und Staatsaktionen an entlegenen Schauplätzen „hinten, weit, in der Türkei" bewegten Zuschauer ist ein besorgter, weil beteiligter Beobachter geworden. Im Wirkungsgeflecht der Einen Welt hängt Fernes und Nahes, hängt alles mit allem zusammen, und es gibt wenig, was ganz ohne Auswirkungen auf die Politik des eigenen Landes und auf die eigene Lebenssphäre bliebe.

„Civitas" und „Vaterländer"

Wenn Plato einen Teil der Person, und nicht ihren geringsten, für den Dienst am Vater-lande bestimmt, so meinte er damit die jewei-lige griechische Polis. Für den Römer der Zeit des Augustus war das Vaterland Rom, also das Imperium: „Tu regere imperio populus, Romane, memento. . Im Zeitalter der deutschen Kleinstaaterei gab es so viele Vaterländer als Kleinstaaten — auf dem Hintergründe freilich der sich zunehmend kräftiger abzeichnenden Idee der nationalen Zusammengehörigkeit. Im nationalstaatlichen 19. Jahrhundert fielen die Grenzen des Vaterlandes mit den Grenzen des Nationalstaats zusammen.

So wandeln sich die Räume des politisch-gesellschaftlichen Wirkungsbereichs, der dem einzelnen offensteht und auf den er angewiesen ist, mit den Epochen. Diesem ständigen Wandlungsprozeß sind unsere abendländischen Sprachen unterschiedlich und wohl nie völlig gerecht geworden. Mit „Heimat" und „Vaterland" unterscheidet das Deutsche genauer als das Lateinische („patria") zwischen dem engeren und dem weiteren unmittelbaren Wirkfeld des einzelnen. Für „civitas" — „eite" — hingegen, das den Bereich der politischen Wirkungsmöglichkeiten im umfassenden Sinne bezeichnet, wie z. B. in der „Civitas Dei“ des Augustinus deutlich wird, gibt es kein deutsches Analogon. In „civitas" ist die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgehoben (oder nicht eingetreten), die im deutschen „Staat" vom Zeitalter des Absolutismus her und unter der Nachwirkung Hegels un-überhörbar mitschwingt. Die politisch-gesellschaftliche Aktivität des „citoyen" wird mit „civitas" stets mitgemeint, während die des „Staatsbürgers" im „Staate" allenfalls gelegentlich aufscheint und spätestens an den äußeren Grenzen des konkreten Staates ihr gedachtes Ende findet. Das ist bei „Vaterland" weitaus weniger der Fall. Diesem Worte eignet, wie uns scheint, weil es angesichts der Misere der deutschen Kleinstaaterei dem Gedanken des größeren Integrationsraumes der Deutschen Ausdruck gab, ein postulatorischer, die jeweils konkreten einzelstaatlichen Grenzen transzendierender Zug. Deshalb ist es im Deutschen leichter als im Französischen möglich, ohne dem Wort Gewalt anzutun, von einem „Vaterlande Europa" zu sprechen. Im ganzen gilt, daß in unserer Ära einer sich formierenden Ökumene die „civitas" an den Grenzen der herkömmlichen Vaterländer nicht mehr haltmachen kann.

So ist die Aufgabe unserer Zeit die Einbeziehung der weltbürgerlich-universalen wie der kontinental-regionalen Aspekte in den Begriff jenes Wirkungszusammenhangs, den wir mit der Bezeichnung „Vaterland" nur unvollkommen benennen. Die Aufgabe der Gegenwart, weltpolitisches und nationales Bewußtsein ins richtige gegenseitige Verhältnis zu setzen, gilt ebensosehr für die Angehörigen der Weltmächte wie für die kleinerer, älterer oder jüngerer Nationen; ihre Bewältigung ist eine Bedingung für das Zusammenleben im V/irkungsgefüge der Einen Welt. Sie stellt sich dringlich auch für uns Deutsche, wenn wir nach den Zusammenbrüchen unserer Vergangenheit unsere nationale Identifikation wiedergewinnen wollen.

Die heutigen Wortführer eines ausschließlich auf den jeweiligen Einzelstaat oder das Einzelvolk bezogenen und deren weltweite Verflechtung ignorierenden politischen Bewußtseins gleichen Niedersachsen, Hessen oder Bayern, die die Realität der Bundesrepublik nicht zur Kenntnis nehmen wollen, oder Bürgern von Lemnos, Mytilene, Syrakus oder Massilia um die Zeitenwende, die, das Macht-gefüge des Imperiums ignorierend, die politischen Spiele der Polis des 6. vorchristlichen Jahrhunderts fortzuführen suchten — provinzielle Romantiker, über deren unreife Traum-gespinste der Weltgeist achtlos zur Tagesordnung schreiten wird.

Von solch moderierenden Einsichten wird auch der neue Nationalismus der jungen Völker nicht verschont bleiben. Das kündigt sich an in der Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan, die ganz im Sinne eines Konflikts zwischen Nationalstaaten angelegt war. Wenn die Auseinandersetzung nach dessen Regeln nicht zu Ende geführt werden kann, so ebensosehr deshalb, weil seine Bereinigung im Lebensinteresse nicht nur der Weltmächte liegt, wie deswegen, weil die wirtschaftlichen und technischen Anforderungen im technischen Zeitalter heute auch die Kräfte volkreicher Staaten übersteigen, während der Krieg für vollindustrialisierte Staaten ein Existenzrisiko darstellt, das auf sich zu nehmen es einer pathologischen Figur wie Hitler und eines Schwarmgeistertums wie des Nationalsozialismus bedurfte.

Gradualismus der Loyalitäten

Aber ist das Bedürfnis nach nationaler Identifikation nicht ein rührender, lächerlicher oder gar ärgerlicher Anachronismus in einem Zeitalter, in dem die Menschheit dabei ist, sich in größeren als nationalen Ordnungen zu organisieren? Ist die Stelle, die die nationale Einheit in unserem Denken einnahm, nicht durch die Idee der europäischen oder gar der atlantischen Einheit besetzt?

Es geht hier offenbar um eine Rangordnung von Gruppenzugehörigkeiten und Loyalitäten, die den einzelnen beanspruchen und deren Funktion es ist, geordnetes Zusammenleben und Zusammenwirken in Gruppenverbänden zu ermöglichen. Für den einzelnen hat es Ausschließlichkeit derartiger Loyalitäten streng-genommen nie gegeben, allenfalls für Priester oder Mönche. Schon Plato schreibt im 9. Brief von der Teilung des Daseins zwischen Vaterland, Eltern, Familie, guten Werken und der Arbeit an der eigenen Seele, und Cicero spricht in „De Legibus" von der Teilung seiner Zuneigung zwischen seiner Heimatstadt Arpinum und seinem Vaterlande Rom. Der Gradualismus der Loyalitäten zwischen Kirche und Reich, das große Motiv des Mittelalters, ist das leitende Thema von Dantes „De Monarchia". Der Gradualismus der Loyalitäten zwischen der Ökumene der Einen Welt, den Kontinental-Regionen, den Völkern und Staaten, den Ländern und Heimatgemeinden und den vielen anderen Bindungen geistiger und materieller Art, in denen wir stehen und denen wir uns verpflichtet fühlen, ist wieder eines der großen Themen unserer Epoche.

Hier gilt Friedrich Schlegels Satz, der größte Feind des Menschengeschlechts sei das Absolute: Jede Verabsolutierung eines Teilaspekts führt zur Verzerrung der Perspektiven und damit zum Unheil.

Gewiß hat jenes Integrationsinstrument, das mit Nationalbewußtsein, Nationalgefühl, Nationalismus — jeweils recht unzureichend — bezeichnet wird, seine Funktion im ganzen. Der Gedanke, daß „die Idee des Patriotismus und die Idee des Kosmopolitismus einander nicht widerstreiten, sondern vielmehr einander beleben" (AdamMüller), findet sich immer wieder an. Heute sieht der Historiker Hans Kohn den Nationalismus dazu bestimmt, „nicht nur die Konvergenz der Menschheit, sondern auch ihre Mannigfaltigkeit zu ermöglichen und die Menschheit gegen die Gefahr eines von Technokraten gelenkten uniformen Welt-staates zu sichern." (Merkur, August-Heft 1964). Freilich vzird der Nationalismus seine allzuoft bewiesene zerstörerische Virulenz behalten, wenn er als autonomer „Regelmechanismus" (Eugen Lemberg) sein Werk weiter-treibt und wenn es nicht gelingen sollte, ihn ideell übergreifenden Ordnungsvorstellungen und praktisch einer föderalistischen Weltfriedensordnung zu unterwerfen.

Historischer Rückgriff

Im Gegensatz zu manchen anderen europäischen Nationen bringt Deutschland aus seiner Geschichte einige Voraussetzungen mit, die ihm die Chance geben, die im Hinblick auf die Bedingungen der Epoche notwendige Neuformulierung seines Nationalbewußtseins im Rahmen eines neuen politischen Weltverständnisses zu vollziehen.

Am Horizont unserer historischen Erinnerung steht noch der Abglanz der universalistischen Reichsidee, die als ehrwürdiges Relikt aus dem frühen Mittelalter in Gestalt der gravitätischen politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis in die Goethe-Zeit hinein sich selbst überdauernd fortlebte. Vom langen Nachwirken der Reichs-idee ist noch heute die bunte Landschaft des deutschen Südwestens mit ihren zahlreichen ehemaligen Residenzen und Freien Reichs-städten geprägt. Dies Nachwirken war zugleich die höchst ehrenvolle Ursache für unsere tragische Verspätung als Nation, die dann ein Extrem im Gegensinne zeitigte: das der Ausprägung eines auf sich selbst bezoge-nen, den Reichsgedanken als bloßes Herrschaftsinstrument mißdeutenden Nationalismus, der seine Übersteigerung und seine historische Widerlegung unter Hitler erfuhr.

So liegen die beiden konstitutiven Elemente eines möglichen neuen deutschen Welt-und Selbstverständnisses, Universalismus und Nationalismus, als Erinnerungen an jeweils anachronistisch gewordene Äußerungen von Extremen in unserem Bewußtsein gleichsam unverbunden nebeneinander, und es käme darauf an, sie von den Positionen unserer Epoche her neu zu überdenken und in das richtige Verhältnis zueinander zu bringen.

Die damit angedeutete Aufgabe ist jedoch keineswegs einfach. Nationalbewußtsein braucht, wenigstens innerhalb des deutschen Bezugssystems, keineswegs mit nationalstaatlichem Bewußtsein identisch zu sein, aber es läßt sich ebensowenig auf das bloße Bewußtsein der ethnischen oder kulturellen Zusammengehörigkeit einengen, das die Deutsch-sprechenden umfaßt. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die genannten Beschreibungsbegriffe — Staatsnation, Kulturnation — jeweils nicht für sich allein, sondern erst in ihrem Zusammenwirken der komplizierten deutschen Bewußtseinslage gerecht werden.

Zwar hat sich die Errichtung eines einheitlichen deutschen Nationalstaats, der alle Deutschsprechenden umfaßt, bisher als unmöglich, wenn nicht schon als im Ansatz verfehlt erwiesen; auch ist in Westeuropa möglicherweise die Stunde des Nationalstaats als vor-waltende Ordnungsidee, wie sie das 19. Jahrhundert beherrscht hat, abgelaufen. Dieser Verzicht auf den Einheitsstaat als nationale Heimstätte aller Deutschen, der uns von der Geschichte zwingend nahegelegt wird, nachdem Angehörige der deutschen Kulturnation wie die Schweizer zum Teil seit Jahrhunderten ihre eigene legitime politische Ordnung gefunden haben, bedeutet nun freilich keineswegs — und das sollte nicht eigens gesagt zu werden brauchen —• einen Verzicht auf den Gedanken der Wiedervereinigung der heutigen Bundesrepublik mit der Sowjetzone, die ja nichts anderes ist als die Wiederkehr eines gegen seinen Willen abgetrennten Teiles zu einem politischen Ganzen.

Die Anerkennung der Vielfalt der staatlichen Ordnungen, in die sich das von Deutschen bewohnte Gebiet gliedert, besagt aber auch nicht, daß nicht doch gewisse Gemeinsamkeiten bei ihnen hinsichtlich der Auffassungen ü er die notwendige staatlich-gesellschaftliche Ordnung bestünden, die es zu klären gilt. Das wird freilich erschwert durch die altüberlieferte deutsche Dichotomie von Macht und Geist, die es bewirkt hat, daß der fast ausschließlich politisch geprägte Gedanke des nationalen Machtstaats und der der vorwiegend unpolitischen Kulturnation in gleichsam romantischer Unverbundenheit beziehungslos nebeneinander standen. Eine solche Besinnung wird heute dadurch erleichtert, daß das Bismarcksche Reich und der österreichische Vielvölkerstaat als die charakteristisch einseitigen deutschen Ausprägungen des machtstaatlichen Gedankens von der Geschichte ebenso desavouiert worden sind wie Hitlers hypertrophes Tausendjähriges Reich, so daß der Blick wieder frei wurde für Ordnungen, in denen Geist und Macht ein innigeres Verhältnis einzugehen vermögen. Gemeinsamkeiten des deutschen Verhaltens, die Folgerungen über die Formen der uns angemessenen politisch-gesellschaftlichen Ordnung und die Inhalte unseres komplexen Nationalbewußtseins nahelegen, haben unsere Nachbarn übrigens stets beobachtet, aber unsere eigene Reflexion hat diese Motive nur selten ausgenommen, um sie zu bearbeiten.

Unterlassene Besinnung

Man hätte meinen können, die Erschütterung durch die Ereignisse der folgenschweren braunen Episode hätte dazu führen müssen, die Frage nach unserer nationalen Identifikation entschieden voranzubringen. Das ist aber nicht geschehen. Rückblickend möchte man vermuten, daß die damals ausgelöste Erschütterung unseres nationalen Selbstwertgefühls vor allem in der Generation der um 1945 etwa Zwanzigjährigen verständlicherweise eine Art Allergie hervorgerufen hat, die sich gegen alles richtet, was irgendwie dazu dienen könnte, kollektive Selbstwertgefühle für die Gruppe der Deutschen als solche zu bewahren, zu erzeugen oder zu festigen. Die nach 1945 von Ernst Niekisch vertretene These, der Gang der deutschen Geschichte sei der Weg einer deutschen Daseinsverfehlung, prägte sich jener Generation ein, die, aufgeschreckt aus dem induzierten, jugendlich-blinden Enthusiasmus für Führer, Reich und „Weltanschauung", im Tausendjährigen Reich die fluchwürdigste Schinder-stätte der neuen Geschichte und in ihrem Führer einen neurotischen, gewissenlosen Vabanquespieler erkennen mußte. Zudem führte die Usurpation, die der Nationalsozialismus mit allen Beständen der deutschen Überlieferung vollzogen hatte, soweit sie seinen Zwecken nur irgend dienen konnten, dazu, daß die Aufgabe, für die sich die Formel von der „Bewältigung der Vergangenheit" eingebürgert hat, oft dahingehend mißverstanden wurde, mit der deutschen Vergangenheit und mit ihren Überlieferungsbeständen überhaupt tabula rasa zu machen. So richteten sich die Deutschen in Ost und West in der Nachkriegswelt ein, ohne die historischen Verbindungen genauer zu untersuchen, die aus der Welt von Vorgestern ins Heute geführt haben, oder sich ausdauernd um die Konzeptionen zu bemühen, die vom Heute ins Morgen führen können.

Auch die Geschichtsschreibung ist dem Auftrag, von den neuen Positionen her sich Rechenschaft über die Vergangenheit zu geben, offenbar nur zögernd gefolgt. Aber nicht nur bei den Historikern und nicht nur in Deutschland, allenthalten sind gewisse geistige Ermüdungserscheinungen nach den Exzessen der ersten Jahrhunderthälfte deutlich erkennbar. Außerdem wird das politische Bewußtsein im allgemeinen weniger von der historischen Wissenschaft als von den Intellektuellen, der Publizistik und allenfalls, mit einem gewissen, wohl unvermeidlichen „cultural lag", von der Schule her geprägt. Und seit je ist in Deutschland eine die Situation analysierende, deutliche Alternativen herausarbeitende, richtungweisende politisch-gesellschaftlich-philosophische Reflexion, wie sie etwa Walter Lippmann für die USA, Ortega für Spanien, Barres, Gide, Massis, Camus, Sartre und viele andere in Frankreich betrieben haben, selten gewesen. Angesichts der stets komplizierten deutschen Situation mit ihrer kontinentalen Mittellage, ihrer unübersichtlichen historischen Erbschaft, der ständigen Hinauszögerung, Vertagung und Nicht-erledigung der ihr auferlegten Entscheidungsfragen bedürfe es dafür freilich auch Figuren von der geistigen Potenz etwa eines Max Weber, die nicht jeder Generation beschert sind.

Eine Folge der geistig unaufgearbeiteten deutschen Nachkriegslage war es, daß manche Intellektuellen bei uns eine Neigung entwickelt haben, die, unter anderen Voraussetzungen und mit anderer Zielrichtung, doch gewisse Vergleiche mit der sogenannten „inneren Emigration" im „Dritten Reich" zuläßt. Wenn man unter „innerer Emigration" das Zurückweichen vor einer schwer zu meisternden äußeren politisch-gesellschaftlichen Realität in ein „inneres Reich" des Guten, Wahren, Schönen von hochgradiger Unverbindlichkeit versteht, so gehört ein solches Verhalten geradezu zur Tradition deutscher Geistigkeit. Goethes und Schillers Weimarer Klassik, die Romantische Bewegung, Grillparzer und Hebbel lassen sich als „innere Emigration" vor der Unruhe der aufgeregten Zeit deuten, und für einen ganzen großen Abschnitt der deutschen Geistesgeschichte, von der Französischen Revolution bis in unsere Tage hinein, eignet sich als Motto Friedrich Schlegels Fragment aus dem „Athenäum": „Nicht in die politische Welt verschleudere du Glaube und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und der Kunst opfere dein Innerstes im heiligen Feuerstrom ewiger Bildung."

Verlust der historischen Dimension?

Eines freilich vermochten die Erschütterungen durch den Nationalsozialismus und seinen Zusammenbruch: die politisch-gesellschaftliche Dimension, die verlorengegangen war und eine Art blinden Fleck des deutschen Denkens dargestellt hatte, wurde wiedergefunden; zugleich aber ging die Beziehung zur eigenen Geschichte weitgehend verloren.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wurde im wesentlichen auf die Epoche des Nationalsozialismus und dessen, was ihm voranging, eingeengt. Das gilt freilich im wesentlichen für die Publizistik, aber sie ist nun einmal das wichtigste Instrument der Vermittlung zwischen der Sphäre der intellektuellen Reflexion und dem allgemeinen Bewußtsein. Es hat eine Art innere Emigration aus der historischen Dimension stattgefunden, die um ihren Verlust bangen läßt. Dieser Vorgang ist deshalb gefährlich, weil er die Orientierung auf längere Sicht erschwert und weil sich aus der Aktualität allein, um deren strukturelle Aufhellung sich die systematische Reflexion ebenfalls nicht allzu sehr bemüht, nur schwer Anhaltspunkte gewinnen lassen, die mögliche Richtungen zu erkennen geben.

Allerdings zeichnet sich eine Art untergründiger Gegenbewegung ab, eine Stimmung des Unbehagens, die sich freilich noch vorwiegend in der nichtöffentlichen Meinung und in den Winkelblättern rechtsradikaler Observanz äußert. Sie tendiert dazu, nun gerade wieder in der deutschen Vergangenheit aufzuwerten, was mit guten Gründen seine Aburteilung erfuhr: die Machtpolitik des Wilheiminismus und die nationalsozialistische Epoche. Selbst wenn diese Aufwertung sich deutlicher artikulierte, würde sie kaum etwas anderes zustande bringen als ein Nationalbewußtsein, das wiederum schon deswegen in der Gefahr der Verengung und Übersteigerung stünde, weil es sich auf die historischen Erscheinungen der letzten 50 Jahre vordergründig fixiert und die weiteren Horizonte außer acht läßt, innerhalb deren deutsche Geschichte sich vollzogen hat und auf die sie angelegt scheint.

Beide Reaktionen auf das Trauma der NS-Zeit, eine Neigung zu globaler Verurteilung alles Deutschen als solchem, die bis zum Selbsthaß gehen kann, für den es freilich in unserer Geschichte berühmte Vorbilder gibt, und der bornierte Neo-Nationalismus sind emotional; sie sind wenig reflektiert und kranken insbesondere an ihrem einseitigen Unverhältnis zur Geschichte. Beide starren wie gebannt auf die NS-Epoche und allenfalls auf den Wilheiminismus und die Bismarck-Zeit, über die sie nicht wesentlich hinauszublicken vermögen. Es ließe sich darüber streiten, welches dieser beiden im Vordergründigen fixierten Extreme die ungünstigere Ausgangsposition für die Lösung der Aufgaben ist, die sich unserer Generation und den Nach-lebenden stellen. Beiden fehlt es schon im Ansatz am Augenmaß wie an der geduldigen, ebenso ergriffenen wie distanzierten Beziehung zum Gegenstand, an den Bedingungen dafür, daß Leistungen gelingen, die den Tag überdauern.

Werk ohne Liebe?

Der einzelne sieht sich hineingestellt in eine Umwelt, an deren Gestaltung er ebensosehr mitwirken will als soll. Soll er sich nicht in leerer und unbefriedigender Betriebsamkeit verbrauchen, benötigt er die Überzeugung vom Werte seines Tuns. Diese vermag er, neben Familie und Beruf, vornehmlich innerhalb des engeren politisch-gesellschaftlichen Aufgabenbereichs zu erfahren, in seinem Wirken als,, citoyen", auf jenem Felde, das Plato das vaterländische nennt und von dem in der Tat, nüchtern und fernab jeder mystifizierenden und mythisierenden Verklärung gesehen, das eigene politische Gemeinwesen und seine Menschen den unmittelbaren und vornehmlichen Wirkungsbereich darstellen. Es wäre eine beklagenswerte Verarmung, wenn sich diese Arbeit ohne Liebe zu ihrem Gegenstände vollziehen sollte, als eine bloße Pflichtübung, als ein karges Werk der Askese, als eine im Grunde mit Widerwillen geleistete und deshalb hoffnungslose Bemühung.

Dieser Wirkungsraum aber hat eine historische Dimension, deren Kenntnis die notwendige Bedingung seines Verständnisses und seiner Einschätzung ist. Wenn er diese Dimension nicht berücksichtigt, bleibt der Handelnde blind gegenüber vielen Möglichkeiten seines Wirkens, vermag er manche Hindernisse nicht frühzeitig zu erkennen und einzukalkulieren, auf die sein Vorhaben stoßen könnte. Aus ihrer Kenntnis kann er aber auch Ermutigung schöpfen; er sieht sich vielleicht sogar in übergreifende Zusammenhänge hineingestellt, die ihm sonst verborgen geblieben wären, die sein Tun gleichsam objektiv legitimieren und ihn eine Solidarität erkennen lassen, die Gleichstrebende über die Generationen hinweg verbindet, während er anders, der Aktualität überlassen, Isolierung und Entmutigung zu befürchten hätte. So kann die Unkenntnis der Vergangenheit zur Selbstentfremdung und zum Wertverlust führen.

Es ist demgegenüber notwendig, ein unerläßliches Mindestmaß positiver affektiver Besetzung für den unmittelbaren Umkreis politisch-gesellschaftlichen Wirkens, für das Verhältnis zum eigenen Volk, zum eigenen Staat, zur eigenen Nation zu sichern, darüber freilich die übergreifenden, universalistischen Bezüge nicht zu verlieren.

Uns Deutschen wird ein besonders enges Verhältnis zum Geschichtlichen nachgesagt; die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft war im wesentlichen eine deutsche Leistung. Heute ist dies Verhältnis gestört; es hat sich geradezu krankhaft zurückgebildet, und zwar vornehmlich deshalb, weil es bisher nicht gelungen ist, uns von der einseitigen Fixierung durch das Phänomen des Nationalsozialismus zu lösen.

Sind wir gebrandmarkt?

Es gibt Befragungen von Jugendlichen, die zeigen, wie schwer die Last ist, die den Angehörigen der nachfolgenden Generation durch die Auseinandersetzung mit der braunen Episode auferlegt ist, der sie sich nicht entziehen können und dürfen, obwohl sie sie nicht verschuldet haben. In einer dieser Untersuchungen wurde ein Obersekundaner aufgefordert, sich zu dem provozierenden Satz „Der Begriff Vaterland bedeutet heute für die deutsche Jugend nichts mehr" zu äußern. Er stimmte nicht zu und lehnte nicht ab; seine Reaktion lautete: „Ich weiß nicht". Aber er bemerkte dazu: „Wozu brauchen wir ein Vaterland? Durch Geburt sind wir an die deutsche Nation gebunden (gebrandmarkt)..."

Der Begriff Vaterland ist problematisch geworden; das ist eine Auswirkung der Welt-situation und der besonders komplexen deutschen Lage. Was aber den ganzen Ernst dieser Situation erkennen läßt, ist das Wort „gebrandmarkt", das dieser Junge in solchem Zusammenhang verwendet. In der Tat, so muß wohl die Frage lauten, die sich an alle stellt, die sich für politische Bildung in Deutschland verantwortlich fühlen: Wie kann die Jugend eines Volkes, das durch Hitler gebrandmarkt worden ist, zu jener Selbstachtung zurückfinden, ohne die keine politische Gruppe und kein Gemeinwesen auf die Dauer zu existieren vermag? Es hat fast den Anschein, als sei man bisher nicht dazu gelangt, dieser Frage mit dem ganzen notwendigen Ernst nachzugehen.

Das Geschehene läßt sich nicht ignorieren, nicht auslöschen, verdrängen oder bagatellisieren. Der Geschichtsunterricht muß sich der furchtbaren Wahrheit der NS-Epoche stellen, aber er müßte zugleich jene nicht minder wahren Züge der Vergangenheit herausarbeiten, die den Deutschen ihr Recht auf Selbstachtung und Würde zu sichern vermögen. Das kann freilich nicht dadurch geschehen, daß die im Namen Deutschlands geschehenen Verbrechen gegen die im Namen anderer Völker verübten Untaten verrechnet werden — Rostock, Hamburg, Dresden geben keine Rechtfertigung für Auschwitz her, die Vertreibungsgreuel keine Entlastung für die systematische Liquidierung der polnischen Intelligenz. Das Schuldkonto der Hitler-Ära ist nicht aufzurechnen. Unrecht bleibt Unrecht — das Moralische eignet sich nicht zu Verrechnungsopera-B tionen. Aber es kann klargestellt werden, wie es zu solchen Ungeheuerlichkeiten kommen konnte.

Der eigentliche Sündenfall der NS-Epoche lag in der leichten Verführbarkeit der Angehörigen unsres Volkes durch die biedermännischen und großsprecherischen Parolen einer Politik, die es auf die Gutgläubigkeit von Menschen abgesehen hatten, die seit Generationen an unkritische Obrigkeitsverehrung gewöhnt waren. Es sind demgegenüber die Ausnahmen, an denen sich das Bedürfnis nach Selbst-achtung zu halten vermag: die wenigen, die Widerstand geleistet haben und dafür ihr Leben einsetzten, und die mehreren, die entgegen den Gesetzen und Geboten des Unrechtstaates der Stimme des Gewissens zu folgen suchten. Im ganzen aber bleibt wohl die resignierende Feststellung, daß der Zeitabschnitt der Hitlerjahre nicht allzuviel bietet, was den Pessimismus hinsichtlich der politischen Einsicht und der politischen Möglichkeiten unseres Volkes — aber auch von Menschen überhaupt — zu entkräften vermag. Ähnliches gilt für die wilhelminische Epoche und zum Teil für die Bismarck-Zeit — so ungerecht es im einzelnen sein mag, ganze Epochen en bloc dem Richtspruch der Nachwelt zu überantworten, die freilich richten muß, da sie sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht, zu handeln, und also zu urteilen und zu werten. Die Jahre seit 1870 mit ihrer Faszination durch deutsche Weltmachtaspirationen, ihrem Kult „machtgeschützter Innerlichkeit", ihren reichen gedanklichen, wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Hervorbringungen in all ihren verwirrenden, selten bis aufs letzte durchreflektierten Widersprüchen, in ihrer oftmals glänzenden „silbernen Klassizität", wie Meinecke ihre geistige Widerspiegelung genannt hat, scheinen nicht allzuviel herzugeben, das geeignet wäre, den Defaitismus hinsichtlich konstruktiver deutscher politisch-gesellschaftlicher Möglichkeiten zu widerlegen. Dafür sind Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen" ein überwältigendes und tief deprimierendes Zeugnis, das in dieser seiner Wirkung noch verstärkt wird durch die spätere Distanzierung des Autors von seinem mühseligen Versuch einer geistigen Rechtfertigung der politischen Sendung des späten Wilheiminismus.

Motive historischer Besinnung

Man muß wohl schon hinter den historischen Horizont der letzten hundert Jahre zurückgehen, wenn man der Faszination im Bösen wie im Guten durch die NS-Epoche und ihre Wegbereiter, aber auch durch die Verhängnisse, die zu ihr führten, etwas entgegensetzen will. Erst dann lassen sich Motive auffinden, in denen Deutschlands menschheitsgeschichtliche Beiträge sich kräftiger ausprägen und an welche die Bemühungen der Gegenwart, der Frage nach dem Vaterland als eines in sich sinn-und werthaltigen Wirkungsfeldes verläßlichere Grundlagen zu geben, anknüpfen können.

Die Inhalte eines neuen Nationalbewußtseins, soll es nicht wiederum anachronistisch entarten, können nicht mehr ausschließlich national-und machtstaatlich bestimmt sein. Deshalb werden jene Motive der deutschen Geschichte besonders bedeutungsvoll, mit denen sie an der Herbeiführung sinnvoller, freier und menschenwürdiger Daseinsordnungen mitgewirkt hat. Diese Beiträge sind nicht geringfügig, und sie sind dem Historiker nicht unbekannt; es kommt nur darauf an, daß das allgemeine Bewußtsein sich ihrer deutlicher entsinnt. Freilich ist es nicht möglich, hier mehr als skizzenhaft anzudeuten, in welcher Richtung eine Betrachtung unserer Vergangenheit denkbar scheint, die das „alte Wahre" für die Gegenwart faßbar machen könnte.

Ein klassisches Motiv der europäischen Geschichtsschreibung, das als solches noch bei Ortega nachklingt, ist die Herleitung des nach-antiken Freiheitsgedanken aus dem Germanentum. Freilich haben wir Deutsche die germanische Abkunft mit anderen Völkern gemeinsam, und wenn es in der Sphäre von Herrschaft und Freiheit um einen spezifischen deutschen Beitrag geht, so scheint, mindestens für die neu-zeitliche deutsche Geschichte, eher die Ausbildung des Obrigkeitsstaates und des Untertanengehorsams charakteristisch zu sein. Demgegenüber darf aber die kräftige Mit-und Gegenwirkung der Stände an der Gestaltung der deutschen Territorialstaaten, der Zünfte an den städtischen Ordnungen, die rechtsförmige Normierung der Herrschaftsverhältnisse im Gebiet des Alten Reiches, die zum Teil den Absolutismus zu überdauern vermochte, dürfen die deutschen Mitstreiter der französischen Revolution wie die Mainzer Clubisten und der Homburger Kreis um Sinclair, darf weder die Städteordnung des Freiherrn vom Stein noch insbesondere der Sieg und die tragische Niederlage des bürgerlichen Freiheitsgedankens in der Revolution von 1848 übergangen werden; die einseitige Fixierung auf den preußisch-deutschen Geschichtsstrang hat das historische Bild von Grund auf verfälscht. Wir sollten uns dessen erinnern, daß der „redliche, aufrechte Deutsche" das Bild der Franzosen von unserem Lahde, allerdings in der durch Mme.de Stael und indirekt die Brüder Schlegel bewirkten romantischen Verklärung, bis 1870 bestimmt hat. Die Wirklichkeit hat diesem Bilde nicht durchaus und nicht immer widersprochen, und erst nach der französischen Niederlage setzte sich der Preußen-Deutsche an seine Stelle. Und die Erinnerung an eine starke und tragfähige bürgerliche freiheitlich-rechtliche Tradition ist eigentlich erst mit dem Aussterben der 1848er Generation und mit den trügerischen Erfolgen des Wilhelminismus eingeschlafen.

Am Anfang der deutschen Geschichte steht die Reichsidee. Sie zielte, mit ihren Nachklängen in der Reformation, auf die Verwirklichung der „Civitas Dei", auf eine religiös bestimmte universale Ordnung des Diesseits, und wirkte noch in Epochen hinein, in denen die anderen sich ausschließlich machtstaatlich zu orientieren begannen. Das ist der ehrenvolle Anachronismus, die melancholisch-würdige Verspätung der deutschen Geschichte, die uns, wie Nietzsches „Meistersinger" -Aphorismus es ausspricht, der Vergangenheit zuordnet, zugleich aber Wesenszüge aufbewahrt haben könnte, die für eine Epoche vielleicht konstitutiv zu werden vermögen, die sich nicht mehr ausschließlich am einzelstaatlichen Souveränitätsbegriff zu orientieren weiß. In all seiner Monstrosität und Umständlichkeit war das „Heilige Römische Reich", das den Bezugsrahmen für die Beiträge eines zugleich nach rückwärts und vorwärtsgewandten politischen Denkens bei Leibniz, Pufendorf und noch Kant bildete, doch ein exemplarischer Versuch, das Zusammenleben von Staaten verschiedenster Herkunft und Prägung in einer föderativen Ordnung rechtsförmig zu lösen.

Der Föderalismus hat neue Aktualität gewonnen, in einem Zeitalter, in dem die bisherigen Formen einzelstaatlicher Zusammenordnung sich zunehmend als überfällig erweisen, als die wohl einzig tragfähige und dauerhafte Antwort auf die Herausforderung zu überstaatlicher Kooperation, die dem Einzelstaat seine Autonomie beläßt und seine Unterwerfung unter eine diktatorische überstaatliche Ordnung vermeidet. Das alles ist Grund genug, über dieses lehrreiche Kapitel unserer Vergangenheit weniger achtlos hinwegzugehen als bisher. Unsere bedeutende föderalistische Tradition zu würdigen und anzunehmen, mag auch zu unserem Selbstverständnis beitragen und mithelfen, die Ungewißheit um Deutschlands Rolle in der Welt von morgen, die immer noch unaufgelösten, berüchtigten „incertitudes allemandes", zu beseitigen. In dieser Schicht unserer Vergangenheit ist übrigens auch das Vorhandensein halb in Vergessenheit geratener Erfahrungen zu vermuten, die es neu zu beleben gilt und auf die wir mit Nutzen bei der Lösung der uns dringlich gestellten Aufgabe zurückgreifen können, unzeitgemäß gewordene autokratische durch kooperative Verhaltens-und Umgangsweisen abzulösen. Auch für das Vorhandensein dieser Erfahrungen hat uns die einseitige Beschäftigung mit der preußisch-deutschen obrigkeitsstaatlichen Tradition den Blick verstellt.

Freilich darf aber auch das so oft und gewiß nicht ohne Grund gescholtene Preußen nicht übergangen werden, wenn es sich um die humanitär bedeutsamen Beiträge der deutschen Vergangenheit handelt. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Abschaffung der Folter, die Durchsetzung des Toleranzedikts, die Begründung des Rechtsstaates und seine Kodifizierung im Allgemeinen Landrecht, das sind einige der Leistungen, in denen der aufgeklärte Obrigkeitsstaat manches von dem vorwegnahm, was anderwärts erst die bürgerlichen Revolutionen verwirklichten.

Schließlich hat Deutschland sowohl in der sozialistischen Bewegung wie in den Beiträgen der christlichen Sozialreformer, in der Sozial-gesetzgebung Bismarcks, in der Verwirklichung sozialer Forderungen in der Weimarer Verfassung sowohl wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Programme sowohl wie Beispiele setzend, an der Ausgestaltung der sozialen Grundrechte mitgewirkt, deren endgültige Berücksichtigung im Katalog der Menschenrechte sich erst vor einem Jahrzehnt vollzogen hat.

An solchen historischen Motiven — und entsprechend in der Gegenwart in dem leidenschaftlichen Selbstprüfungsprozeß, der sich in unseren Tagen als Folge der Geschehnisse unter dem Nationalsozialismus vollzieht, in der Bemühung um die Beseitigung obrigkeitsstaatlicher und antidemokratischer Residuen, in dem Versuch, auf dem Wege systematischer politischer Bildung ein deutsches Bürgerbewußtsein zu kräftigen, vielfach freilich erst zu erzeugen — an solchen Motiven, oft weniger einer tiefsinnigen und glänzenden Geistesgeschichte als des konkreten politischen und gesellschaftlichen Geschichtsablaufs, lassen sich Hoffnungen dafür schöpfen, daß ein neues, ausgewogenes deutsches Selbstverständnis entstehen kann, das zugleich den nieder-drückenden Belastungen aus der Hitler-Epoche standzuhalten vermag und eine Vorstellung von den spezifischen Zukunftsmöglichkeiten unserer Volkes vermittelt.

Fussnoten

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Friedrich Minssen, Dr. phil., geb. 26. 2. 1909, ist seit 1962 Leiter des Studienbüros für politische Bildung in Frankfurt/Main. Er studierte Romanistik, Germanistik, Geschichte, wurde 1937 aus politischen Gründen aus dem Danziger Schuldienst entlassen, war dann im Verlagswesen beschäftigt, später Sol-dat und kehrte erst nach Kriegsende in den Schuldienst zurück. Während wiederholter Reisen in Amerika studierte er die Methoden des politischen Unterrichts in amerikanischen Schulen. Von 1953 bis 1961 war er als Oberschulrat im Hessischen Kultusministerium tätig. Er ist Gründer und Mitherausgeber von „Gesellschaft, Staat, Erziehung", Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der 1964 gegründeten „Deutschen Vereinigung für politische Bildung" und hat sich in zahlreichen Zeitschriftenpublikationen zu Fragen der politischen Bil-dung geäußert.