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Das Kennedy-Bild heute | APuZ 13/1966 | bpb.de

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APuZ 13/1966 Das Kennedy-Bild heute Artikel 1

Das Kennedy-Bild heute

Klaus Epstein

Der Herbst 1965 brachte die Veröffentlichung zweier wichtiger Studien über den am 22. November 1963 ermordeten Präsidenten John F. Kennedy. Theodore Sorenson, während elf Jahren der engste Mirarbeiter Kennedys, hat eine enzyklopädische Gesamtdarstellung der Regierungszeit geschrieben Arthur Schlesinger, der angesehene Historiker, der 1961 eine Harvard-Professur aufgab, um Sonderausgaben im Weißen Haus zu übernehmen, hat eine mehr memoirenhafte Darstellung gegeben Die beiden umfangreichen Bände sind völlig einig in der tiefen Verehrung für den ermordeten Präsidenten: sie ergänzen sich in den Schwerpunkten der Darstellung. Sorenson stand Kennedy weit näher als Schlesinger; er war in der Regel dabei und beteiligt, wenn historische Entscheidungen getroffen wurden; er identifiziert sich vollständig mit dem Präsidenten und sieht die Welt sozusagen stellvertretend mit dessen Augen. Schlesinger, obwohl auch er ein Büro im Weißen Haus hatte, war keine zentrale Figur in der Regierung des Präsidenten: er hat z. B. im Gegensatz zu Sorenson nicht an den Beratungen während der Kuba-Krise vom Oktober 1962 teilgenommen. Seine Darstellung konzentriert sich vorwiegend auf bestimmte außenpolitische Fragen (Lateinamerika, Vereinte Nationen, Europapolitik), zu denen er von Kennedy für Sonderaufträge bzw. zur Abgabe von Gutachten herangezogen wurde. Für Fragen, die er nicht aus eigener Erinnerung kennt, ist Robert Kennedy, der jüngere Bruder des Präsidenten, offensichtlich die Hauptquelle. Schlesinger hat den Vorteil innerer Unabhängigkeit gegenüber dem Präsidenten. Im Gegensatz zu Sorenson verdankt er ihm keineswegs seine Karriere. Die tieferen historischen Kenntnisse geben ihm auch eine breitere Perspektive. Sorensons unpersönliche Darstellung ist etwas farblos. Dagegen erhält Schlesingers Buch seinen besonderen Reiz durch die subjektiven Sympathien und Antipathien des Historikers.

Seine bissige Feindschaft gegenüber dem Außenminister Dean Rusk ist eine Fortsetzung der 1961 bis 1963 existierenden Friktionen zwischen dem energischen und phantasiebegabten „liberalen" Beraterstab im Weißen Hause und den bürokratisch-lethargischen Beamten des Außenamts. Beide Darstellungen beruhen auf Benutzung vieler Geheimakten, im Falle Schlesingers ergänzt durch Tagebuchnotizen. Es ist zumindest problematisch, ob die Publikation von Büchern mit solch intimer Sach-und Personenkenntnis nur zwei Jahre nach dem Tod eines Präsidenten im öffentlichen Interesse liegt. So bringen beide Autoren z. B. eine detaillierte Paraphrase der „geheimen" Gespräche zwischen Kennedy und Chruschtschow in Wien im Juni 1961. Werden nicht zukünftige „geheime Gespräche" erschwert, wenn ihr Inhalt ohne Erlaubnis noch lebender Gesprächspartner innerhalb einer Frist von nur vier Jahren publiziert wird? Ein ähnliches Problem ist die indirekte Bekanntgabe von Kennedys privater Meinung über noch heute aktive Politiker; Schlesinger zitiert z. B. eine private Äußerung Kennedys, er hätte die Absicht, Außenminister Rusk nach den Wahlen 1964 abzusetzen. Bei der Feindschaft gegenüber Schlesinger in vielen Regierungskreisen hat diese Indiskretion allerdings Rusks Position objektiv gestärkt — aber dies war sicher nicht die Absicht des Historikers.

Nicht umstritten ist, daß beide Bücher einem ausgeprägten Bedürfnis der amerikanischen Leser entsprechen, möglichst viel sobald wie möglich über Kennedy zu erfahren; ferner, daß sie für den Historiker unserer Zeit Quellen von unschätzbarem Wert sind. Sie erlauben schon heute eine Gesamtwürdigung der historischen Wirksamkeit Kennedys, wie sie in anderen Fällen nur nach Jahrzehnten möglich ist. Zweck unserer Abhandlung ist, dem deutschen Leser ein Bild von Kennedys Aufstieg, Innen-und Außenpolitik auf der Basis dieser und anderer Quellen zu vermitteln. Abschließend wird versucht, ein Gesamturteil über den Präsidenten zu geben, der wie keiner seiner Vorgänger die Phantasie unzähliger Deutscher gefesselt hat.

I. Kennedys Aufstieg (bis 1961)

Bewunderer wie Gegner Kennedys sind sich einig in der Meinung, daß seine Wahl zum Präsidenten 1960 praktisch als ein „politisches Wunder" angesehen werden muß. Es galt nämlich bis 1960 als feststehende politische Regel, daß in einem vorwiegend protestantischen Lande wie Amerika ein Bewerber katholischer Konfession keine ernsthafte Chance habe, Präsident zu werden. Nur einmal in der amerikanischen Geschichte hatte eine der großen Parteien einen Katholiken nominiert: Alfred Smith war im Jahre 1928 demokratischer Kandidat. Er wurde von dem Quäker Herbert Hoover entscheidend geschlagen — natürlich nicht nur wegen seiner Konfession, aber der Einbruch des Republikaners Hoover in die Wählerschaft des traditionell demokratischen, jedoch stark protestantisch eingestellten Südens war zum Teil durch religiöse Gründe bedingt.

Die Konfession war keineswegs Kennedys einziges Handicap bei der Bewerbung für das höchste Staatsamt. Im Alter von 43 Jahren galt er als zu jung für das Weiße Haus. Außerdem stand er vielen zu sehr im Schatten seines umstrittenen Vaters Joseph Kennedy, eines Erzreaktionärs in der Wirtschaftspolitik und entschiedenen „Isolationisten" in der Außenpolitik. Ferner fehlte Kennedy jede Verwaltungserfahrung, denn seine vierzehnjährige politische Laufbahn war eine ausschließlich parlamentarische. Auch warf man Kennedy mit einer gewissen Berechtigung vor, er habe seine Aufgaben als Senator wegen seines Ehrgeizes, Präsident zu werden, weitgehend vernachlässigt: überhaupt sei persönlicher Ehrgeiz die einzige Triebfeder seines politischen Handelns; ferner habe er bei der Auseinandersetzung mit dem McCarthyismus der fünfziger Jahre versagt, und es fehle ihm die für einen Demokraten notwendige „liberale" Grundüberzeugung. Ein weiteres Hindernis war die systematische Ausstreuung von Gerüchten durch seine Gegner, er sei wegen seiner Kriegsverletzung und einer angeborenen gesundheitlichen Schädigung nicht in der Lage, das Präsidentenamt auszuüben.

Nur ein Mann von politischem Genie — gepaart mit ungewöhnlichem Ehrgeiz und einer gewissen Rücksichtslosigkeit -— konnte diese Hindernisse überwinden. Die Gerüchte über seine schlechte Gesundheit sind durch seinen energischen Einsatz in den Vorwahlen widerlegt worden. Kennedy hat es ferner durch eine Taktik, die von vielen beinahe als erpresserisch empfunden wurde, verstanden, aus dem Hemmnis seiner Religionszugehörigkeit einen Vorteil zu erzielen. Nachdem er verschiedene Vorwahlen gewonnen hatte, erklärte er der Führungsgruppe der Demokratischen Partei unmißverständlich: „Wenn Ihr mir die Nominierung verweigert, werden meine Konfessionsgenossen glauben, Ihr hättet es nur wegen meiner Religionszugehörigkeit getan; dies wird notwendigerweise zu der Abwanderung traditionell demokratischer, katholischer Wähler zu den Republikanern führen." Bei „liberal" eingestellten Wählergruppen hat Kennedy verschiedentlich den Eindruck erweckt, man könne nur aus bigottem Antikatholizismus sein Gegner sein. Er hat übrigens nicht gezögert, den Episkopat seiner eigenen Kirche vor den Kopf zu stoßen durch seine streng „liberale" Haltung in der Frage der Trennung von Staat und Kirche; er war z. B. ein entschiedener Gegner der staatlichen Subventionierung kirchlicher Schulen und auch gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Vatikan. Durch diese Methoden hat Kennedy mindestens die „Neutralisierung der Religionsfrage" erreicht. Bei der Nominierung war seine Religion wahrscheinlich in der Endbilanz ein Haben, bei der Wahl allerdings ein kleines Soll.

Seine relative Jugendlichkeit hat ihm bei jüngeren und weiblichen Wählern eher geholfen als geschadet, übrigens waren viele im Lande der patriarchalischen Amtsführung Eisenhowers müde; man hörte oft den Ruf nach strafferer Zügelführung durch eine dynamische und energische Hand. Die Wahlparole: „Wir müssen das Land wieder in Bewegung bringen" (Let's get America moving again), wurde durch die Jugendlichkeit Kennedys glaubwürdig.

Kennedys enge persönliche Bindung an seinen umstrittenen Vater war für viele ein Stein des Anstoßes. Der ältere Kennedy hatte sich als Roosevelts Botschafter in London von 1938 bis 1940 einen Namen gemacht, aber dann mit Roosevelt aus Gegnerschaft gegen dessen „interventionistische" Außenpolitik gebrochen und seit 1940 nie wieder ein öffentliches Amt bekleidet. Seine isolationistische Grund-anschauung, seine reaktionäre Haltung in innenpolitischen Fragen, sein Renegatentum gegenüber dem „New Deal", sein rücksichtsloses Geldverdienen und seine Sultanslaunen bei der Verwaltung seines Millionenbesitzes machten ihn unpopulär. Man warf ihm ferner antisemitische Bemerkungen vor. Der Sohn hat es verstanden, sich von den meisten Meinungen des Vaters zu distanzieren, doch ohne irgendwelche Respektlosigkeit. Der Vater hat sich aus Rücksicht auf die Laufbahn des Sohnes seit Ende der fünfziger Jahre von öffentlichen Äußerungen zurückgehalten, in der klaren Erkenntnis, daß er sonst den Sohn kompromittieren würde, übrigens war der Vater keineswegs ausschließlich ein Hindernis bei Kennedys Aufstieg. Er gab dem Sohn den Vorteil eines bekannten Namens bei seiner ersten Bewerbung für ein Kongreßmandat von Massachusetts im Jahre 1946 und hat Millionen für die Wahlkämpfe des Sohnes verausgabt und die ganze Familie — einschließlich Mutter und sechs Geschwistern — für den aktiven Wahleinsatz mobilisiert. Es ist schwer, bei allen berechtigten Anfeindungen dem „Gründervater“ der Kennedy-Familie die Achtung zu versagen

Der Mangel an Verwaltungserfahrung war sicher eine große Schwäche in Kennedys Vorbereitung für das Präsidentenamt (es ist dem Lande bei dem Schweinebucht-Fiasko teuer zu stehen gekommen). Im amerikanischen Regierungssystem wird diese Erfahrung gewöhnlich auf dem Posten eines Staatsgouverneurs gewonnen, für den sich Kennedy aber nie beworben hat (er war während seiner ganzen Laufbahn vorwiegend an Außen-und Verteidigungsfragen interessiert und hat sich mit den im Aufgabenbereich der Gouverneure liegenden innenpolitischen Fragen nur selten und im Grunde ungern beschäftigt). Es war ein Glücksfall für Kennedy, daß der „traditionelle" Weg ins Weiße Haus über einen Gouverneurs-posten tatsächlich anachronistisch geworden war. Die Befähigung, außenpolitisch zu führen, war in den Augen vieler Wähler die entscheidende Qualifikation geworden. Die Bewährung in der innenpolitischen Kleinarbeit eines Gouverneurs wurde weitgehend als unwichtig angesehen. Außerdem war das Gouverneursamt im Zeitalter steigender Ausgaben und ungenügender Einnahmen (mangels eines realistischen Steuerausgleichs zwischen Bund und Ländern) ein „Grab aufstrebender Talente" geworden. Ein Senatsposten, besonders mit Mitgliedschaft im Auswärtigen Ausschuß (von Kennedy 1957 erreicht), war ein weit besseres Sprungbrett für eine Präsidentschaftskandidatur. Kennedys Vernachlässigung seiner Senats-Verpflichtungen ist ihm oft zum Vorwurf gemacht worden, weil er bei Abstimmungen weit öfter gefehlt hat als der Durchschnitt seiner Kollegen. Er hat kaum den Versuch gemacht, Eintritt in den engen Kreis der Führungsgruppe des Senats zu gewinnen; die Kärrner3) arbeit des Gesetzgebers hat ihn offensichtlich gelangweilt. Mit der Ausnahme einer von ihm 1958/59 vorgeschlagenen Gesetzesvorlage gegen die Veruntreuung von Gewerkschaftsgeldern hat er sich kaum mit umstrittenen Vorlagen entschieden identifiziert; er brauchte diese spezifische Gesetzesvorlage für seine Präsidentenambitionen, um gleichzeitig als Gegner der Korruption und Freund der Gewerkschaften zu erscheinen (seine „zahme" Vorlage sollte die Gewerkschaften prophylaktisch gegen schärfere Vorlagen abschirmen). Die Annahme ist sicher gerechtfertigt, daß Kennedy bewußt etwa 1955 den Entschluß gefaßt hat, seinen Senatsposten als Sprungbrett für Höheres und nicht als Endziel zu betrachten. Sein Heimatstaat Massachusetts hat sich kaum über Vernachlässigung beklagt; Kennedy wurde 1958 mit überwältigender Mehrheit auf seinem Senatorenposten bestätigt.

Seine Wähler waren stolz auf die Möglichkeit, einen zukünftigen Präsidenten zu stellen.

Kennedys brennender persönlicher Ehrgeiz, der viele vor den Kopf gestoßen hat, gehört nun mal zum politischen Geschäft; die Paarung mit einer angeblichen Prinzipienlosigkeit hat ihm aber sicher geschadet. Besonders übel nahm ihm der „liberale" Flügel der Demokratischen Partei — unter der Führung von Mrs. Roosevelt — seine mangelnde Zivilcourage während der McCarthy-Ära. Ein großer Teil seiner Wähler in Massachusetts bestand tatsächlich aus Anhängern McCarthys: Er hat es vollständig versäumt, sie über die Grundregeln politischer Moral aufzuklären (man muß zur Erklärung allerdings hinzufügen, daß es ihm vielleicht die weitere Laufbahn verdorben hätte). Der Vorwurf hat sich übrigens keineswegs auf mangelnde Zivilcourage beschränkt; man warf ihm ferner vor, er sei selber McCarthy-Anhänger gewesen oder habe zumindest das ganze Problem der politischen Brunnenvergiftung nicht durchschaut. Kennedys Vater hatte enge persönliche Beziehungen zu McCarthy gepflegt; der Sohn hielt 1949 Reden im Stile McCarthys über den Verlust Chinas wegen „kommunistischer Infiltration des Außenamtes unter Truman", die er übrigens laut Schlesinger später als „Sünden seiner politischen Kindheit" bereut hat. Noch bei seiner ersten Senatsbewerbung 1952 hat er seinem Rivalen Henry Cabot Lodge mangelnden Antikommunismus vorgeworfen, weil er Gegner eines totalen Wirtschaftsembargos des Ostblocks war. Kennedy hat sich nie im Sinne Adlai Stevensons gegen die McCarthyistischen Methoden der Verleumdung und der Hexenjagd — mit ihren verheerenden Folgen für den ganzen Regierungs-B apparat — ausgesprochen. Die Erklärung dieser bedauernswerten Tatsache muß in seinem Temperament und seinem Elternhaus gesucht werden: er war mehr ein Mann des Ehrgeizes als der Prinzipien. Es muß um so mehr anerkannt werden, daß Kennedy während seiner Präsidentschaft trotz früherer Unterlassungen einen echten Liberalismus entwickelt und unter dem Einfluß liberaler Ratgeber einige Opfer der McCarthy-Ära — z. B.den großen Physiker Robert Oppenheimer — öffentlich rehabilitiert hat. Natürlich ist er nie ein engagierter „Liberaler" im amerikanischen Sinne des Wortes geworden, vielleicht mit Ausnahme seines Einsatzes für die Bürgerrechtsgesetzgebung nach Beginn der „Negerrevolution" 1963. Er hat es aber verstanden, sich in den Jahren 1954— 1960 weitgehend nach „links" zu entwickeln (z. B. in allen Wirtschaftsfragen), und ist trotz einem zu seinen Lebzeiten nie verstummenden Unbehagen persona grata für den liberalen Parteiflügel geworden, übrigens hat die mangelnde Liberalität ihm unter den Volksmassen im Lande — im Gegensatz zu der Führungsgruppe seiner eigenen Partei — kaum oder gar nicht geschadet; denn der amerikanische „Liberalismus" stand in den fünfziger Jahren in Gefahr, eine pharisäisch-sektiererische Randerscheinung des amerikanischen Lebens zu werden. Um einem falschen Eindruck vorzubeugen, sei ausdrücklich betont, daß Kennedy natürlich nicht nur Nachteile zu überwinden hatte; er besaß auch viele Vorteile in der Bewerbung für den Präsidentenposten, die er in beispielhafter Weise zur Geltung brachte. Amerika liebt keine extremen politischen Positionen; Kennedys Stellung in der Mitte des politischen Spektrums — nicht konservativ, aber auch nicht zu „liberal" — entsprach den Wünschen des Landes am Ende der Eisenhower-Ara. Sein jugendlich eleganter Stil — noch mehr der seiner Frau — entsprach dem Geschmack der Leser der Boulevardpresse. Seine heroische Bewährung im Krieg und seine Verwundung im Pazifik wurden systematisch hochgespielt. Er hatte ferner den Vorteil, daß sein Heimatstaat Massachusetts ihm eine verläßliche politische Hausmacht gab, die es ihm erlaubte, sich auf Publikumswirksamkeit in anderen Teilen Amerikas zu konzentrieren und sich vom regionalen zum „nationalen" Politiker zu entwickeln. Er besaß ferner eine Kombination von Begabungen, wie sie sich nur selten in einer Person vereinigen. Nach Temperament ein Intellektueller und erfolgreicher Autor einer historischen Studie (Pro-files in Courage, 1955) hat es ihm trotzdem nicht an Volkstümlichkeit gefehlt. Er war ein engagierter Wahlkämpfer von unermüdlicher Energie; er kannte die Sprache des Berufs-politikers und galt als ausgezeichneter Kenner des Wahlgeschäftes; er war am liebsten sein eigener Pressechef mit souveräner Beherrschung aller Publikationsinstrumente; er kannte den Wert einer politischen Organisation, die Idealismus und Geld, Dilettantismus und Berufspolitikertum verbindet.

Die einzige Niederlage seines Lebens — die nur um Haaresbreite nicht gelungene Bewerbung für die demokratische Vizepräsidentschaftskandidatur auf dem Parteikonvent 1956 — war seiner Karriere behilflich. Der spannende Endkampf gegen seinen Rivalen Estes Kefauver hat ihn über Nacht zu einer nationalen Berühmtheit gemacht. Seine würdige Haltung nach der Niederlage und sein energischer Einsatz für die Stevenson-Kefauver-Kandidatur gegen Eisenhower hat ihm Sympathien unter den demokratischen Parteigrößen gewonnen. übrigens hat sich Kennedy später zu seiner Niederlage beglückwünscht, denn eine hoffnungslose Kandidatur mit Stevenson gegen die unbesiegbare Liste Eisenhower-Nixon hätte seinem Aufstieg sicher geschadet.

Kennedys Gegner in der Partei hätten die Niederlage nämlich sicher auf das Konto seiner Religion gebucht und dadurch seine Nominierungschancen für das Präsidentenamt 1960 zerstört.

Kennedys größter Vorteil in der Bewerbung 1960 lag aber in der Schwäche aller seiner demokratischen Rivalen. Adlai Stevenson war ein verbrauchter Mann mit einer Hypothek von zwei Wahlniederlagen; ihm fehlte der Ehrgeiz und die Energie, sich ein drittes Mal in die aufreibenden Vorwahlen zu stürzen.

Lyndon B. Johnson galt als Südstaatler bei den entscheidenden nordstaatlichen Politikern trotz seines großen Ansehens als „unwählbar“

für Neger, Gewerkschaftler und „liberale“

Wähler. Hubert Humphrey im Gegensatz dazu als zu weit „links" und deswegen für den südstaatlichen Flügel der Partei „untragbar";

außerdem fehlten ihm die nötigen Geldmittel für eine erfolgreiche Bewerbungskampagne (leider spielt Geld bei den Vorwahlen eine nicht unbedeutende Rolle). Stuart Symington, Senator aus dem Staate Missouri und ein Günstling des früheren Präsidenten Harry Truman, galt als unbedeutend und war im Lande weitgehend unbekannt; er sah seine Chancen als „Kompromißkandidat" und weigerte sich deshalb, an den Vorwahlen teilzunehmen, um es mit niemanden zu verderben.

Averell Harriman galt als zu alt und hatte außerdem im Jahre 1958 seinen New Yorker Gouverneursposten an Nelson Rockefeller verloren. Die Nominierung Kennedys im ersten Wahlgang auf dem Parteikonvent in Los Angeles am 13. Juni 1960 war der Lohn für eine der geschicktesten Bewerbungen in der amerikanischen Geschichte. Schon der nächste Tag brachte eine große Überraschung: Kennedy designierte Lyndon B. Johnson als Vizepräsidentschaftskandidat, obwohl Johnson ihn noch am Vortage in einer persönlich beleidigenden Weise angegriffen hatte und viele Anhänger Kennedys über Johnsons Kandidatur entsetzt waren. Kennedy zeigte sich als kühler Rechner ohne Ressentiment. Er brauchte Johnson, um die Mehrzahl der Südstaaten am Wahltage an der Stange zu halten; außerdem schätzte er Johnsons Fähigkeiten und wußte, daß er in seiner inneren Haltung keineswegs dem Stereotyp eines konservativen, rassistisch eingestellten Südstaatpolitikers entsprach. Nach allen Berichten war Kennedy überrascht, als Johnson sein Angebot annahm. Noch heute ist es nur schwer zu erklären, warum Johnson bereit war, den mächtigen Posten eines Mehrheitsführers im Senat für die Sinekure des Vizepräsidentenamtes aufzugeben. Die Möglichkeit der Nachfolge im Präsidentenamt hat vermutlich eine gewisse Rolle gespielt, entscheidend war aber wohl der Rat von Johnsons Mentor Sam Rayburn, dem langjährigen Speaker des Repräsentantenhauses. Rayburn sagte dem Sinne nach: „Du mußt die Vizepräsidentschaftskandidatur annehmen, denn ohne Deine Hilfe kann Kennedy nicht siegen. Sonst wird der . unmögliche'Nixon Präsident, der in der McCarthyzeit die ganze demokratische Partei als . Partei der Verräter'angepöbelt hat." Unter dem Druck von Rayburn hat Johnson mit einigem Widerwillen das Angebot Kennedys angenommen. Sein Entschluß war von größter Bedeutung, denn Kennedy hätte nach menschlichem Ermessen ohne Johnson die Wahl verloren; nur Johnson war in der Lage, die für den Wahlsieg unbedingt notwendigen Südstimmen bei der Demokratischen Partei zu halten.

Kennedy war zu Beginn des Wahlkampfes weit weniger bekannt als sein Gegner Richard Nixon. Der letztere machte den großen Fehler, sich auf vier Fernsehdebatten mit Kennedy einzulassen; dies gab Kennedy die Möglichkeit, sich dem Lande als ebenbürtiger Kandidat vorzustellen. Sein dynamisches Auftreten und seine rhetorische Schlagfertigkeit machten ihn zum eindeutigen Sieger der Debatten. Nixons zweiter Fehler war, daß er den noch immer legendär populären Eisenhower nur ungenügend im Wahlkampf einsetzte — vielleicht aus dem psychologisch verständlichen Wunsch, endlich aus dem Schatten Eisenhowers herauszutreten. Scharfe Angriffe des beliebten Präsidenten auf Kennedy hätten dessen Wahl wahrscheinlich unmöglich gemacht. Kennedy hat einen geschickten Wahlkampf geführt; der knappe Sieg beweist nicht das Gegenteil, sondern zeigt nur die inne-wohnende Schwäche seiner Ausgangsposition. Er redete betont aggressiv und siegessicher trotz düsterer Prophezeiungen der Meinungsforscher. Sein tüchtiger Bruder Robert war ein ausgezeichneter Wahlkampfleiter; die Organisation „klappte" und brachte zum erstenmal Millionen von potentiell demokratischen Wählern zur Wahlurne. Kennedy nutzte die Schwächen der letzten Jahre der Eisenhower-Amtsführung weidlich aus: das Unbehagen über den russischen Raketenvorsprung und den Sieg Castros in der kubanischen Revolution, die Furcht vor Ausbreitung der Arbeitslosigkeit in der seit April 1960 stagnierenden Wirtschaft und die Empörung der Neger über die republikanische Passivität in der Bürgerrechtsfrage. Ferner sprach für Kennedy die einfache Tatsache, daß seit Roosevelts Zeiten die demokratische Partei die Mehrheitspartei im Lande geworden war. Kennedy konnte sich mit seiner Partei identifizieren, Nixon mußte sich distanzieren. Der Katholizismus hat Kennedy in vielen Süd-und Randstaaten bedeutend geschadet, in einigen Nordstaaten mit starker katholischer Bevölkerung aber wesentlich geholfen. Im Endresultat hatte Kennedy bei einer Gesamt-wahlbeteiligung von fast 69 Millionen Stimmen einen Vorsprung von nur 120 000 gegenüber Nixon. Der deutsche Leser wird in diesem Zusammenhang an die Wahl Adenauers zum Bundeskanzler durch den Bundestag mit 202 gegen 201 Stimmen im September 1949 denken. Der knappe Sieg führte in beiden Fällen zu vielen hämischen Bemerkungen, genügte aber zur Erlangung der Regierungsgewalt, die durch geschickte und erfolgreiche Ausübung (einschließlich der Benutzung des Publizitätsapparates der Regierung) die Basis für große Leistungen — und daraus resultierende Popularität in der öffentlichen Meinung — werden konnte.

Selbst wenn Kennedy schon am Anfang seiner Präsidentschaft gestorben wäre, hätte er trotzdem eine bedeutende Rolle in der amerikanischen Geschichte gespielt. Er hat das Tabu zerstört, daß ein Mann katholischer Konfession nicht Präsident werden kann, und er hat seinen erfolgreichen Kampf gegen dieses Tabu mit bewundernswürdiger Virtuosität geführt.

II. Kennedys Innenpolitik

Von größter Bedeutung bei der Regierung Kennedys — und von enormer Anziehungskraft im In-und Ausland — war ihr Stil und der Geist der Männer der „New Frontier". Sie standen in schärfster Opposition gegen die Selbstzufriedenheit und den Immobilismus der Eisenhower-Arä und hatten den Ehrgeiz, die schwierigen Probleme der Innen-und Außenpolitik anzupacken und Amerika wieder zum geachteten Führer der freien Welt zu machen. Kennedy selber predigte und praktizierte die nüchterne, vernunftmäßige Analyse aller Probleme und gab ein glänzendes Beispiel für Rationalität und Selbstkritik — gepaart mit Humor und sittlichem Ernst. Kennedys Regierung hat den latenten Idealismus der keineswegs durch Wohlstand degenerierten amerikanischen Jugend mobilisiert, sie hat ferner eine seltene Synthese von Macht und Geist erstrebt und erreicht. Dies bezog sich nicht nur auf die Rolle von Harvard-Professoren in seinem Beraterstab; bedeutender war die Tatsache, daß das kulturelle Niveau des Weißen Hauses zum erstenmal seit Franklin Roosevelt wieder ein Vorbild für das Land wurde. Die öffentliche Ehrung von Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, wie z. B. das berühmte Essen für alle Nobelpreisträger des nordamerikanischen Kontinents, war ein bewußter und begrüßenswerter Gegenzug zum demagogischen Anti-Intellektualismus der McCarthy-Zeit. Kennedys große Reden, gewöhnlich von Sorenson oder Schlesinger entworfen, aber in letzter Fassung immer von der Persönlichkeit des Präsidenten geprägt, hatten nicht nur hohes rhetorisches Niveau, sondern versuchten auch, die amerikanische Öffentlichkeit mit den Grundfragen der Außen-und Wirtschaftspolitik in einer veränderten Welt bekanntzumachen. Besonders eindrucksvoll waren Kennedys Warnungen gegen die terrible simplificateurs des Rechtsradikalismus. Er hat im Gegensatz zu Johnson die grundsätzliche Auseinandersetzung mit seinen Gegnern nicht gescheut. Kennedy hat es verstanden, einen ungewöhnlich fähigen Stab von Ministern und Beratern für seine Regierung zu gewinnen. Sein Verteidigungsminister Robert McNamara wurde zum Reorganisator der gesamten Militärverwaltung; der Außenminister Dean Rusk war ein hervorragender Fachmann; die vielumstrittene Ernennung von Robert Kennedy, dem Bruder des Präsidenten, zum Justizminister ist durch seine bedeutenden Leistungen gerecht-1.Geist und Stil der Regierung fertigt worden; Douglas Dillon war ein solider Finanzminister; Orville Freeman ein mutiger Landwirtschaftsminister; Arthur Goldberg (heute Botschafter bei der UN) ein äußerst fähiger Arbeitsminister; Adlai Stevenson wurde (mit Kabinettsrang) für den schwierigen Posten des UN-Delegierten gewonnen. Der persönliche Stab des Präsidenten im Weißen Haus glänzte von Kapazitäten: McGeorge Bundy, früher Dekan der Harvard-Universität, betreute das Referat Außenpolitik, sein engster Mitarbeiter auf diesem Gebiet war der bekannte Wirtschaftshistoriker Walt Rostow.

Die Verfasser der oben genannten Bücher, Theodore Sorenson und Arthur Schlesinger, sahen den Präsidenten fast täglich. Bekannte Fachleute wie Henry Kissinger, Professor an der Harvard Universität, wurden oft zu Sonderberatungen nach Washington gerufen, obwohl sie kein offizielles Amt innehatten. Der verabschiedete General Maxwell Taylor wurde Militärberater im Weißen Haus, nachdem Kennedy infolge des Fiaskos in der Schweinebucht sein Vertrauen in seine offiziellen militärischen Untergebenen verloren hatte. Der brillante Wolfgang Heller, früher Professor an der Minnesota-Universität, wurde Hauptratgeber in allen wirtschaftlichen Fragen. Pierre Salinger bewährte sich als Pressechef, obwohl er einem Präsidenten diente, der am liebsten sein eigener Pressechef gewesen wäre.

Eine Regierungsmannschaft von ähnlicher Energie und Intelligenz hatte es seit Franklin Roosevelt in Washington nicht mehr gegeben. Sie alle haben Kennedy in seinem Ehrgeiz unterstützt, das Präsidentenamt zum Angelpunkt des amerikanischen politischen Lebens zu machen. In der Tat war die Stärkung des Präsidentenamtes innerhalb des komplizierten amerikanischen Regierungssystems vielleicht Kennedys größte innenpolitische Leistung. Sein Vorgänger Eisenhower hatte eine passive Konzeption seines Amtes; er hat das Land mehr verwaltet als geführt. Als Konservativer war Eisenhower im Grunde zufrieden mit dem Status quo und hat die ungelösten Probleme Amerikas kaum erkannt, viel weniger gemeistert. Er hielt es im Prinzip (nicht immer in der Praxis) für verfassungswidrig, den Kongreß unter Druck zu setzen, damit er Gesetzesvorlagen annehme; kein Wunder, daß die legislatorische Ernte der acht Eisenhower-Jahre außerordentlich dürftig war. Kennedy hatte im Gegensatz zu Eisenhower die Konzeption einer aktiven Präsidentschaft und strotzte von Aktivität; er hatte seinen Wahlkampf darauf zugeschnitten, daß es viele ungelöste Probleme _ der Armut, Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichen Wachstumsquote, Erziehung, Krankenversicherung usw. — in Amerika zu bewältigen gäbe. Kennedy glaubte an die Führungsrolle des Weißen Hauses und hat keine Druckmittel gescheut, um seinen Willen einem im Grunde konservativ eingestelltem Kongreß aufzuzwingen.

2. Die Gesetzgebung der Kennedy-Zeit Trotz bester Absichten sind Kennedy große legislatorische Leistungen versagt geblieben, denn für sein Programm fehlte ihm eine zuverlässige Kongreß-Mehrheit (der deutsche Leser muß sich klar machen, daß im amerikanischen Regierungssystem mit seiner Gewaltenteilung der Präsident mit dem Kongreß als unabhängigem Faktor rechnen muß; im Gegensatz zum parlamentarischen System fehlt jede „organische" Bindung der Exekutive zur Kongreßmehrheit). Kennedys Demokratische Partei hatte zwar eine große Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses: 262 : 174 im Repräsentantenhaus und 63 : 35 im Senat. Die Schwierigkeit lag darin, daß der konservative Südflügel der Demokratischen Partei (mit etwa 99 Mitgliedern im Repräsentantenhaus und 20 im Senat) Gegner von Kennedys „fortschrittlichem" Regierungsprogramm war. Das politische Gewicht des Südflügels wurde ferner gestärkt durch die Tatsache, daß südstaatliche Parlamentarier (mit garantierter Wiederwahl, da aus Staaten ohne wirksame republikanische Konkurrenz) durch Seniorität die meisten Schlüsselpositionen des Kongresses (einschließlich der Posten als Vorsitzende der wichtigsten Ausschüsse) inne-hatten. Für seine Gesetzesvorlagen konnte Kennedy in den meisten Fällen auf etwa 165 nordstaatliche „liberale" Demokraten im Repräsentantenhaus rechnen; ebenso war die Gegnerschaft von etwa 152 „konservativen" Republikanern ein berechenbarer Faktor. Etwa 20 „liberale“ Republikaner konnten in Einzelfällen gewonnen werden, obwohl diese Gruppe immer unter dem Druck ihrer Parteigenossen stand, aus Parteiloyalität einem demokratischen Präsidenten die Unterstützung zu verweigern. Von den 98 südstaatlichen Demokraten (die meisten mit sehr konservativer Einstellung) mußten etwa 35 jeweils vom Präsidenten durch den Appell an ihre Parteiloyalität gewonnen werden. Selbst dann war die Mehrheit äußerst prekär, wie die folgenden Ziffern zeigen: für die Regierung:

165 nordstaatliche Demokraten 35 südstaatliche Demokraten 20 „liberale" Republikaner 220 gegen die Regierung:

152 Republikaner 64 südstaatliche Demokraten 216 Kennedys effektive Mehrheit bestand also aus vier Stimmen, natürlich unter der Voraussetzung, daß es dem Präsidenten gelang, 35 südstaatliche Demokraten bei der Stange zu halten und 20 Republikaner zur Brechung der Parteidisziplin zu veranlassen.

Kennedys parlamentarische Schwäche zeigte sich in den ersten Wochen seiner Regierung. Um auch nur die Möglichkeit zu schaffen, Regierungsvorlagen zur Abstimmung zu bringen (selbst dies war problematisch), war es notwendig, die republikanisch-südstaatliche konservative Mehrheit im Rules Committee (dem mächtigsten Ausschuß des Repräsentantenhauses mit der Kompetenz, den Beratungskalender für Gesetzesvorlagen festzusetzen) durch Vermehrung der Ausschußmitglieder zu brechen. Diese entscheidende Maßnahme (entscheidend für die gesamte zukünftige parlamentarische Stellung der Kennedy-Regierung) wurde zwar erreicht, aber nur mit der kleinen Mehrheit von fünf Stimmen (217: 212): Kennedy konnte die Unterstützung von 22 liberalen Republikanern und 35 südstaatlichen Demokraten gewinnen. Die Mehrheit war erschreckend klein, wenn man bedenkt, daß die neu amtierende Kennedy-Regierung noch viele Stellen zu vergeben hatte und daß es an Versprechungen zur Stimmenbeeinflussung vor der Abstimmung nicht gefehlt hat. Ferner hatte der bewährte Speaker des Repräsentantenhauses, Sam Rayburn, sein in 48 Jahren Mandatsausübung angehäuftes Prestige energisch für den Präsidenten eingesetzt.

Der Konflikt zwischen dem Kongreß und dem Weißen Haus ist chronisch im amerinischen Verfassungsleben und entspricht durchaus der Absicht der Gründerväter des 18. Jahrhunderts; dieser Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem Kongreß war aber weit schärfer unter Kennedy als unter Eisenhower, obwohl Kennedy einen Kongreß mit einer Mehrheit seiner eigenen Partei hatte, während der Republikaner Eisenhower in sechs seiner acht Amtsjahre (1955 bis 1961) einem Kongreß mit demokratischer Mehrheit gegenüberstand. Die Erklärung liegt teilweise in persönlichen Antipathien gegen Kennedy, während der Kriegsheros Eisenhower kaum Feinde hatte. Die mächtigen Kongreßführer hielten Kennedy (noch kürzlich ihr ebenbürtiger Kollege) für einen Parvenu, den sie nicht richtig ernst nehmen konnten.

Bei der Bewerbungskonkurrenz für die Prä-

sidentschaftsnominierung 1960 hatten sie gewöhnlich entweder Johnson oder Symington unterstützt. Die Kongreßführer hatten eine instinktive Antipathie gegen einen „starken"

Präsidenten, der sie mit „liberalen" Gesetzesvorlagen überschwemmte, die in vielen wesentlichen Punkten ihrer konservativen Grundeinstellung widersprachen. Dies macht verständlich, daß Kennedy in seiner fast dreijährigen Amtszeit nur relativ wenige Gesetze durchbringen konnte. Eine Vorlage für Bundessubventionen für staatliche Schulen (Aid to Education Bill) wurde im Sommer 1961 schon in dem (eben erst mühsam vergrößerten) Rules Committee bei einer 8 : 7-Abstimmung abgelehnt; ein an sich „fortschrittlich" gesinnter nordstaatlicher Demokrat (Delaney aus New York) stimmte als Katholik gegen die Vorlage, da sie keine Mittel für die vorwiegend katholischen konfessionellen Privatschulen zur Verfügung stellte (Kennedy glaubte — als erster katholischer Präsident mußte er vielleicht aus politischen Rücksichten glauben —, die Subventionierung katholischer Schulen sei eine Verletzung des Verfassungsprinzips der Trennung von Staat und Kirche). Eine schon längst fällige Gesetzesvorlage für die Krankenversicherung der älteren Bevölkerungsteile (genannt Medicare) wurde vom Senat mit 52 gegen 48 Stimmen im Juli 1962 abgelehnt. Kennedy hat es gar nicht versucht, das noch konservativer eingestellte Repräsentantenhaus über die Gesetzesvorlage abstimmen zu lassen. Diese zwei Beispiele von legislatorischen Fehlschlägen könnten beliebig vermehrt werden; von nötigen, aber gar nicht erst eingebrachten Gesetzesvorlagen ganz zu schweigen.

Trotz dieser unglücklichen Sachlage ist es Kennedy vergönnt gewesen, wenigstens kleinere gesetzgeberische Erfolge zu erreichen. Die demokratischen Parteiführer im Senat (Mike Mansfield) und Repräsentantenhaus (Sam Rayburn und nach seinem Tode im Winter 1961 John McCormack) haben ihn loyal unterstützt. Er pflegte ferner ein gutes persönliches Verhältnis zu den republikanischen Führern Everett Dirksen (Senat) und Charles Halleck (Repräsentantenhaus). Kennedys Hauptberater in Kongreßfragen, Larry O'Brien, heute Postminister im Kabinett Johnson, war ein hervorragender Fachmann. Zu den legis10 latorischen Leistungen der Kennedy-Regierung gehört der Trade Expansion Act von 1962 (eine wichtige Vorbereitung für geplante Zollsenkungen der „Kennedy-Runde"), die Errichtung des Friedenskorps (freiwilliger Arbeitsdienst im Ausland), neue Gesetze für die Betreuung von Geisteskranken und zurückgebliebenen Kindern (Mental Health and Mental Retardation Acts), für die finanzielle Unterstützung von Universitäten und besonders von medizinischen Fakultäten (Higher Education and Medical Education Acts), für vermehrte Bundesausgaben in wirtschaftlichen Notstandsgebieten (Area Redevelopment Act)

und für die berufliche Umschulung von Opfern der fortschreitenden Automatisierung der Wirtschaft (Manpower Development and Retraining Act) usw.

Diese an sich respektablen Leistungen von Kennedy — respektabel, wenn man sich an die politische Konstellation im Kongreß erinnert und die Tatsache anerkennt, daß die Mehrheit des amerikanischen Volkes, durch die Selbstzufriedenheit der Eisenhower-Ära geprägt, kaum den Wunsch nach großen Sozialreformen äußerte — werden heute gewöhnlich beim Vergleich mit Johnsons spektakulären Leistungen ungenügend gewürdigt. In der Tat hatte Johnson vor Kennedy den Vorteil der absolut souveränen Beherrschung des parlamentarischen Geschäftes; schließlich war er sechs Jahre lang mächtiger Mehrheitsführer im Senat gewesen, wo Kennedy immer ein Außenseiter geblieben war. Ferner hatte sich Johnson schon immer vorwiegend für innenpolitische Fragen interessiert, während Kennedy sich auf die Außenpolitik konzentriert hatte. Die obige Aufzählung von Gesetzen zeigt aber, daß Kennedy im Grunde mit dem Kongreß nicht schlecht abgeschnitten hat. übrigens sind die beiden großen gesetzgeberischen Leistungen Johnsons des Jahres 1964 — die Bürgerrechts-Gesetzgebung und die Steuersenkung — von Kennedy vorbereitet worden; sie wären wahrscheinlich auch unter ihm Gesetz geworden. Johnsons Erfolge des Jahres 1965 beruhen auf der neuen „liberalen" Mehrheit im Kongreß, die erst im Sog des Goldwater-Fiaskos von 1964 geschaffen wurde.

3. Die Wirtschaftspolitik Die Wirtschaftspolitik der Kennedy-Regierung muß nicht nur als erfolgreich, sondern direkt als bahnbrechend bezeichnet werden. Der Präsident, obwohl zeit seines Lebens immer Befürworter des Primates der Politik über die Wirtschaft, hat wirtschaftlichen Fragen große Aufmerksamkeit gewidmet. In Professor Wolf-gang Heller fand er einen hervorragenden Sachberater auf diesem Gebiet (als Chairman of the Council of Economic Advisors); in seinem Finanzminister Douglas Dillon einen aufgeschlossenen Fachminister, der außerdem das Vertrauen wichtiger Bankierskreise besaß. Kennedy litt wie jeder demokratische Präsident unter dem Mißtrauen der Geschäftswelt und konnte dies trotz außerordentlicher Anstrengungen nicht aus der Welt schaffen. Er hat ernsthaft — trotz dieses Mißtrauens und der Wahlunterstützung der Gewerkschaften — versucht, über den Sozialpartnern zu stehen. Seine Haltung war die eines aufgeschlossenen Pragmatikers angesichts der großen Probleme der Armut inmitten der Wohlstandsgesellschaft, der strukturellen Arbeitslosigkeit trotz allgemeiner Prosperität, der ungenügenden Wachstumsquote der Gesamtwirtschaft und der ungünstigen Zahlungsbilanz.

Kennedys erste Sorge war der Kampf gegen die ererbte Wirtschaftsbaisse von 1960/61. Um das bestehende Mißtrauen konservativer Wirtschaftskreise nicht schon ganz am Anfang seiner Amtsperiode zu verstärken, weigerte sich der Präsident aus politischen Gründen, eine Antikrisen-Politik im Sinne der Keynes-sehen Schule — Steuersenkung und öffentliche Arbeitsaufträge ohne Rücksicht auf einen unausgeglichenen Haushalt — einzuleiten. Er war überzeugt, die Wirtschaft würde sich ohne große Regierungsintervention schnell erholen; sein Vertrauen hat sich im Herbst 1961 gerechtfertigt gezeigt. Seine ganze weitere Amtsperiode war eine Zeit beispiellosen Wohlstandes; aber eines Wohlstandes mit tragischen Randerscheinungen von Armut und Arbeitslosigkeit.

Kennedy hat als erster Präsident das strukturelle Element in der Armut und Arbeitslosigkeit hervorgehoben und als solches bekämpft. Gewisse Gegenden des Landes, z. B.

das Gebirgsgebiet der Appalachen mit seinen zahlreichen Bergwerken, litten unter der Umstellung großer Industriezweige von Kohle auf öl. Kennedy hat durch verschiedene Maßnahmen versucht, neue Industrien in Notstandsgebieten aufzubauen und ihre Bevölkerung umzuschulen. Er hat seinen persönlichen Freund Franklin Roosevelt Jr. t den Sohn des großen New Deal-Präsidenten, nicht nur aus symbolischen Gründen zum Verwalter des Appalachen-Programms gemacht. Kennedy hat ferner erkannt, daß Armut in einer dynamischen Wirtschaft, die auf persönlicher Konkurrenz beruht, sich sozusagen vererbt. Die Kinder armer Eltern werden oft vernachlässigt und verlassen die Schule ohne den Erwerb von Fähigkeiten, die im Wirtschaftsprozeß nützlich sind — ein Problem, dem im Zeichen einer fortschreitenden Automatisierung der Betriebe besondere Bedeutung zukommt. Es erschwert z. B. außerordentlich die Eingliederung der Negerbevölkerung in das amerikanische Leben.

Im Kampf gegen strukturelle Armut und Arbeitslosigkeit hat Kennedy nie vergessen, daß die Lösung beider Probleme eine starke Wachstumsquote der Gesamtwirtschaft zur Voraussetzung hat. Als Schüler von Keynes wußte Kennedy, daß ein geplantes Haushalts-defizit das wirksamste Mittel gegen eine stagnierende Wirtschaft ist. Er hat sich nicht gescheut, im Jahre 1963 ein Riesendefizit trotz allgemeiner Wirtschaftshausse vorzuschlagen. Sein nationalökonomischer Berater Heller hat unerhörte Aufregung durch seine Äußerung provoziert, ein ausgeglichener Bundeshaushalt sei ein Anachronismus aus der Zeit der „puritanischen Ethik". Kennedy hat in etwas weniger provokatorischer Weise darauf bestanden, daß der Kampf gegen soziale Mißstände wichtiger sei als die Vermeidung eines Defizits. Er hat dieses Thema in einer großen grundsätzlichen Rede in New Haven im Juni 1962 entwickelt. Bei seinem Kampf gegen die wirtschaftliche Orthodoxie hat Kennedy sich aber stets an die politischen Realitäten gehalten. Sein Freund Kenneth Galbraith, der bedeutende Nationalökonom (als angeblicher Radikaler eine politische Belastung und deswegen auf den Botschafterposten in Neu-Delhi abgeschoben), wünschte die Schaffung einer großen Haushaltslücke durch vermehrte Ausgaben für Erziehung, Straßenbau usw. Kennedy hielt dies im Prinzip für wünschenswert, erkannte aber die Unmöglichkeit, ein solches Programm beim Kongreß durchzubringen. Er entschied sich für den einfacheren Weg einer großen Steuersenkung. Sein Finanzminister Dillon wollte dies mit einer schon längst fälligen Steuerreform verbinden. Kennedy winkte ab, denn er wollte die Gegnerschaft der Nutznießer der bestehenden Steuermißstände nicht provozieren. Zusammen mit den Befürwortern eines ausgeglichenen Bundeshaushaltes hätten sie seine ganze Finanzpolitik zu Fall bringen können. Kennedy bestand auf dem Wesentlichen: der Abkehr vom goldenen Kalb des ausgeglichenen Haushaltes und der Priorität des Kampfes gegen Armut über das Festhalten an wirtschaftlichen Dogmen, selbst wenn seine Gegner diese Dogmen zu den „heiligsten Gütern der Nation" zählten.

Kennedy sah inflationistische Tendenzen als die große Gefahr auf dem Wege seiner expansionistischen Wirtschaftspolitik. Tatsäch-B lieh hat er aber eine erstaunliche Stabilisierung der Währung in den drei Jahren seiner Amtszeit erreicht. Er hat als erster Präsident in Friedenszeiten allgemeine Richtlinien für die Preis-und Lohnentwicklung gegeben und das Prestige des Präsidentenamtes bei ihrer Verwirklichung eingesetzt. In diesem Zusammenhang sei auf seinen großen Konflikt mit der Stahlindustrie vom April 1962 hingewiesen, in dem seine Rücksichtslosigkeit oft — m. E. zu Unrecht — kritisiert worden ist.

Die Entwicklung der Preise und Löhne in der Stahlindustrie gelten als Norm für große Teile der amerikanischen Wirtschaft. Deswegen haben sie besondere Bedeutung für die Kontrolle inflationärer Tendenzen. Im Frühjahr 1962 bestand die Gefahr, daß die Stahlindustrie der Metallarbeitergewerkschaft bei den fälligen Tarifverhandlungen eine so hohe Lohnerhöhung zugestehen würde, daß eine erhebliche Steigerung des Stahlpreises die Folge sein mußte. Kennedy hat daraufhin in Zusammenarbeit mit der Industrie die Gewerkschaftsführer gebeten, ihre Ansprüche im „nationalen Interesse" zurückzuschrauben, und zwar auf ein Niveau, das eine Preissteigerung erübrigte. Die Gewerkschaften reagierten positiv; sie akzeptierten einen Tarifvertrag, der der Metallarbeiterschaft wesentlich geringere Lohnerhöhungen als üblich einbrachte. Kennedy konnte einen großen Erfolg feiern: seine Devise, Lohnerhöhungen innerhalb der Grenzen des Produktivitätszuwachses zu halten, war von der entscheidenden Industrie des Landes befolgt worden.

Um so größer war seine Überraschung und Enttäuschung, als der größte Teil der Stahl-betriebe ihre Preise innerhalb von zwei Wochen bedeutend erhöhte. Kennedy reagierte mit äußerster Schärfe, obwohl ihm die Regierungsvollmachten fehlten, um die Preiserhöhung rückgängig zu machen. Auf einer großen Pressekonferenz zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung verurteilte er die Stahl-industriellen als unpatriotische Geldverdiener und instruierte das Justizministerium, die wahrscheinliche Verletzung der Anti-Kartellgesetze zu untersuchen (es war nämlich bezeichnend, daß fast alle großen Firmen dem Beispiel der führenden US Steel Corporation folgten). Außerdem wies er das Verteidigungsministerium an, Aufträge nur an die wenigen Firmen zu vergeben, die ihre Preise nicht erhöht hatten. Verschiedene Mitglieder des Kabinetts nahmen persönlichen Kontakt mit der Führungsgruppe von zwei bedeutenden Unternehmen (Inland Steel und Kaiser Corporation) auf, die gezögert hatten, dem Beispiel von US Steel zu folgen. Die FBI wurde eingesetzt, um Informationen über die durch geheime Absprache zustandegekommene Preiserhöhung zu sammeln; es kam zu einem kleinen Skandal, als übereifrige Agenten die Nachtruhe von einigen Journalisten ganz unnötigerweise störten. Die Stahlindustrie kapitulierte innerhalb 72 Stunden angesichts dieses Trommelfeuers (der deutsche Leser wird sich erinnern, daß ungefähr zur gleichen Zeit der damalige Bundeswirtschaftsminister Erhard die Preispolitik des Volkswagen-Generaldirektors Nordhoff scharf kritisierte; Nordhoff weigerte sich, die Preiserhöhung rückgängig zu machen und blieb schließlich Sieger in einer Kontroverse).

Kennedy errang einen vollständigen Erfolg; aber es war ein Erfolg auf Kosten der Verschlechterung seines an sich schon gespannten Vertrauensverhältnisses zur Geschäftswelt. Die Kolportierung einer vermutlich echten privaten Bemerkung auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung: „Mein Vater hat mir schon immer erklärt, alle Geschäftsleute seien Hurensöhne (sons oi bitches)", hat ihm sehr geschadet. Trotzdem hat er seine energischen Schritte nie bereut, denn er glaubte m. E. zu Recht, daß Passivität katastrophale Folgen gehabt hätte. Er hätte seine Grundsätze für die Preis-und Lohnpolitik aufgeben müssen und künftig nicht mehr die Möglichkeit gehabt, moralischen Druck auf Gewerkschaften im Sinne des Maßhaltens auszuüben; überhaupt hätte Passivität dem Ansehen und der Wirkungsmöglichkeit des Präsidentenamtes geschadet. Aus diesen einleuchtenden Gründen — nicht nur aus persönlicher Verärgerung — hat sich Kennedy für einen Gegenangriff entschieden. Er war nicht der Mann, mit halben Maßnahmen zu kämpfen und wußte, daß er siegen mußte, um großen Schaden zu verhindern — und er hat gesiegt.

Sein staatsmännisches Talent zeigte sich nach diesem größten innenpolitischen Sieg seiner Amtszeit — genau wie nach der Kuba-Raketenkrise von Oktober 1962, dem größten außenpolitischen Sieg — durch seine Zurückhaltung in der Stunde des Sieges. Er hat nie mit seinem Erfolg geprahlt und sofort Schritte unternommen, um sein gestörtes Verhältnis zur Geschäftswelt wieder zu bereinigen. Die Steuerbegünstigungen bei Abschreibungen für industrielle Investitionen wurden im Herbst 1962 bedeutend erhöht, außerdem wurde ein besonderer Steuerkredit für Investitionen eingeführt. Dem Bestreben der Gewerkschaften zur Einführung der 35-Stunden-woche hat Kennedy energisch widersprochen und den Wunsch nach einer Bundesgesetzgebung zum Verbot gewisser Anti-Gewerk12 Schaftsgesetze der Einzelstaaten nur platonisch unterstützt. Bei der kleinen Börsenpanik Ende Mai 1962, die nach Meinung seiner Gegner das Resultat einer durch den Stahlpreiskonflikt provozierten Vertrauenskrise war, hat Kennedy jede nervöse Reaktion vermieden; es kam zu keinem neuen Konflikt zwischen Regierung und Industrie. Die Preisstabilität blieb eine der größten Leistungen der Regierung Kennedys.

Sie spielte eine bedeutende Rolle bei der Behandlung eines schwierigen, von Eisenhower ererbten wirtschaftlichen Problems: der passiven Zahlungsbilanz. Sie war keineswegs bedingt durch ein Übergewicht der Importe. Im Gegenteil: die Handelsbilanz war erfreulich aktiv, aber nicht aktiv genug, um Auslandshilfe, Stationierungskosten amerikanischer Truppen im Ausland, Touristenausgaben und Auslandsinvestitionen der amerikanischen Privatindustrie voll zu decken. Seit 1958 waren die amerikanischen Goldreserven um etwa zweieinhalb Milliarden Dollar jährlich gesunken. Die Fortsetzung dieses Aderlasses bedrohte die amerikanische Währung. Kennedy war entschlossen, eine Abwertung des Dollars unter allen Umständen zu vermeiden. Den Wunsch einiger seiner Ratgeber nach Reform des internationalen Währungssystems, um die Macht „reaktionärer Bankiers" zu brechen, hielt er für Zukunftsmusik; das erste Imperativ war eine Stärkung des Dollars innerhalb des bestehenden Systems. Er hat dies auch tatsächlich durch eine Reihe kleiner Schritte erreicht: Die Ausgabe ausländischer Wertpapiere wurde einer Sondersteuer unterworfen, verbündeten Regierungen, wurde nahegelegt, mehr Waffen in Amerika zu kaufen und Schulden frühzeitig zurückzuzahlen, Stationierungskosten für amerikanische Truppen wurden zurückgeschraubt und energische Versuche unternommen, um europäische Touristen für Amerikabesuche zu interessieren u. a. m. Am wichtigsten aber war die Erhaltung der Preisstabilität zu einer Zeit wachsender inflationärer Tendenzen unter Amerikas Konkurrenten auf dem Weltmarkt; dadurch wurden die Exportmöglichkeiten wesentlich gesteigert.

Kennedy hat das Problem der Zahlungsbilanz keineswegs vollständig gelöst, aber er hat es wenigstens einer Lösung näher gebracht.

Zusammenfassend läßt sich über Kennedys Wirtschaftspolitik sagen: Er hat sein Ziel des steigenden Wohlstandes ohne Inflation im wesentlichen erreicht. Ferner hat er als Anwalt des „öffentlichen Interesses" den Konflikt selbst mit den mächtigsten Industriegruppen nicht gescheut und durch seinen Sieg über die Stahlindustrie gezeigt, daß die amerikanische Regierung keineswegs der Knecht kapitalistischer Interessen ist. Er hat den Kampf gegen strukturelle Armut und Arbeitslosigkeit eröffnet und damit seinem Nachfolger Johnson ein großes Ziel gesetzt. Seine Maßnahmen gegen die passive Zahlungsbilanz haben die Festigkeit der Dollarwährung gestützt. Wichtiger als alle diese Einzelmaßnahmen war seine Abkehr vom anachronistischen wirtschaftlichen Dogma. Die Keynes’sche Revolution im Wirtschaftsdenken — Unterordnung enger fiskalischer unter allgemein wirtschaftliche Gesichtspunkte — hat bei der Steuersenkungsvorlage von 1963 einen Triumph gefeiert. Die Verpflichtung der Regierung, den Haushalt als Instrument der Forcierung der Wachstumsquote und der Kampagne gegen Armut zu gebrauchen, ist von Johnson als wirtschaftspolitische Erbschaft übernommen worden.

4. Der Kampf für die Gleichberechtigung der Neger Das schwierigste innenpolitische Problem der Kennedy-Amtszeit lag im Kampf der Neger-bevölkerung für die Gleichberechtigung. Verschiedene Faktoren ermutigten die amerikanischen Neger zu verstärkter Aktivität. Entscheidend war das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges: Konnte Amerika im Kampf gegen den rassistischen Nationalsozialismus an seiner eigenen rassistischen Tradition festhalten? Ferner: Konnte man von Negern, die auf allen Schlachtfeldern der Welt gefochten hatten, erwarten, daß sie sich im Ghettoleben der Südstaaten zurechtfinden würden? Die Emanzipierung der Völker Asiens und Afrikas von europäischer Kolonialherrschaft wirkte auch auf die farbige Bevölkerung Amerikas anfeuernd. Dazu kamen verschiedene inneramerikanische Ereignisse: Die Neger fanden Führer von Format wie Martin Luther King; der Idealismus einer neuen Generation politisch aufgeweckter Studenten — weißer wie schwarzer — warf sich in den Kampf gegen Rassendiskriminierung, und die wirtschaftliche Entwicklung Amerikas im Zeichen der Wohlstandsgesellschaft erhöhte die Möglichkeit und das Verlangen nach einem würdigen Lebensstandard für die bisher zu großen Teilen in Armut lebende Negerbevölkerung. Von grundlegender Bedeutung war ferner die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen die existierende Rassentrennung in den südstaatlichen Schulen vom Jahre 1954.

Die Eisenhower-Regierung hat ihre Sympathien der Negerbewegung entgegengebracht und in dem Bürgerrechtsgesetz (Civil Rights Bill) von 1957 den Versuch unternommen, die Schranken gegen die Wahlbeteiligung der Neger zu beseitigen; der Versuch brachte aber kaum Erfolge. Eisenhower hat ferner den Widerstand eines südstaatlichen Gouverneurs, Orville Faubus von Arkansas, gegen die Beseitigung der Rassentrennung in den Schulen durch den Einsatz amerikanischer Truppen in der Stadt Little Rock gebrochen. Leider hat Eisenhower es aber versäumt, sich öffentlich für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu erklären, und zwar aus verfassungspolitischen Bedenken: Da der Präsident laut Amtseid alle Entscheidungen des Gerichtes in der Ausführung unterstützen muß, ist es unziemlich, daß er seine persönliche Meinung über diese Entscheidungen zum besten gibt. Das Resultat dieser Passivität war verheerend: Eisenhower galt (wenigstens in den Südstaaten) im Gegensatz zu seiner wirklichen — in seinen Memoiren 1965 ausgesprochenen —-Meinung als Gegner der Schulentscheidung, der im Kampf gegen Gouverneur Faubus nur seine „verdammte Pflicht und Schuldigkeit" tat. Diese Meinung hat die Intransigenz der südstaatlichen Verteidiger der Rassentrennung außerordentlich gestärkt und die Lösung des Negerproblems erschwert.

Kennedy hat sich vor und im Wahlkampf 1960 als entschiedener Befürworter der Aufhebung der Rassentrennung bekannt. Die große Mehrheit der stimmberechtigten Neger hat ihn 1960 unterstützt. Ein Telefonanruf Kennedys an die Frau von Martin Luther King in den letzten Tagen vor der Wahl, als der Staat Georgia ihren Mann wegen einer Lappalie ins Gefängnis warf, erwies sich als erfolgreiche Wahl-taktik (obwohl vermutlich hauptsächlich humanitär motiviert). Trotzdem galt Kennedy unter der Führungsschicht der Neger als ein unsicherer Kantonist, denn er hatte bis zu seiner Präsidentschaftskandidatur Rücksicht auf den süd-staatlichen Parteiflügel genommen, weil er dessen Stimmen auf dem Parteikonvent brauchte (oder glaubte, daß er sie brauchte).

Die Weigerung Kennedys im Frühjahr 1961, sich energisch für eine neue Bürgerrechtsvorlage einzusetzen, wurde ihm von den Neger-führern verübelt. Die Weigerung war sicher ein taktisch bedingter Entschluß. Wie oben dargelegt, fand sich der Präsident in einer äußerst schwierigen parlamentarischen Lage; er konnte es sich einfach nicht leisten, die mächtigen südstaatlichen Kongreßführer vor den Kopf zu stoßen, ohne sein gesamtes — ohnehin schon sehr umstrittenes — Gesetzgebungsprogramm zu gefährden.

Kennedy hatte seine Sympathie für die Neger-Bewegung aber durch energische Verwaltungsakte bezeugt. Er gab Anweisung an sämtliche Kabinettsmitglieder, nur vor gemischtem Publikum (desegregated audiences) Reden zu halten. Das von seinem Bruder verwaltete Justizministerium brachte unter den bisher vernachlässigten Bestimmungen des Bürgerrechtsgesetzes von 1957 Aktionen in Gang, um die Wahlausübung der Neger zu erzwingen. Die sogenannten „Freiheitsfahrer" (Ireedom riders), die unter bewußter Verletzung lokaler Rassentrennungsbräuche durch den Süden fuhren, standen unter dem Schutz der Bundesregierung. Die Lieferanten von Waren an die Regierung wurden angewiesen, als Bedingung des Kaufes die Rassentrennung in ihren Betrieben abzuschaffen. Als der Gouverneur des Staates Mississippi, Ross Barnett, die Ausführung einer richterlichen Entscheidung zur Immatrikulation des Negers Meredith an der Staatsuniversität verweigerte, erzwang Kennedy diese unter Einsatz bewaffneter Streitkräfte im September 1962. In gleicher Weise wurde der Widerstand von Gouverneur George Wallace gegen die Immatrikulation von zwei Negern an der Alabama-Staatsuniversität im Juni 1963 gebrochen.

Trotz all dieser Aktionen hat Kennedy lange gezögert, die weißen Südstaatler unnötig zu provozieren. Deswegen steigerte sich der Unmut der Bürgerrechtsbewegung gegen die Kennedy-Regierung. Der Präsident hatte im Wahlkampf 1960 versprochen, durch einen Federstrich die von Eisenhower geduldete Rassendiskriminierung bei der Vergabe von staatlich finanzierten Wohnungen zu beseitigen. Er hat volle 22 Monate, also bis nach Abschluß der zweiten Sitzungsperiode des 1960 gewählten Kongresses gewartet, bis er sein Versprechen eingelöst hat. Die dann ergangene Verwaltungsanordnung vom 20. November 1962 war auf das absolute Minimum beschränkt. Bei aller Vorsicht muß man Kennedy aber zugute halten, daß er auf den Moment wartete, in dem der Einsatz für die Bürger-rechte den größten Erfolg versprach.

Dieser Moment kam im Juni 1963 als Folgedes Rassenkampfes in der Industriestadt Birmingham im Staate Alabama. Es kam zu schweren Zwischenfällen zwischen der Negerbevölkerung unter der Führung von Martin Luther King und den intransigenten Weißen unter der Führung des brutalen Polizeipräsidenten Eugene Connor. Ganz Amerika, wenigstens außerhalb des Südens, war über den Einsatz von Polizeihunden gegen demonstrierende Negerkinder entsetzt. Es folgte eine Bomben-explosion in einer Negerkirche, durch die vier Kinder getötet wurden. Der Präsident erkannte seine große Chance: Eine immer stärker werdende Strömung der öffentlichen Meinung verlangte und ermöglichte eine großzügige neue Bürgerrechtsgesetzgebung.

Die neue Vorlage wurde gemeinsam von Kennedy und den republikanischen Kongreßführern Dirksen und Halleck ausgearbeitet. Bei dem Widerstand fast aller Südstaatler seiner eigenen Demokratischen Partei war der Präsident auf Unterstützung durch die Republikaner angewiesen — um so mehr, als im Senat ein südstaatlicher Filibuster zu befürchten war, d. h. die Ausnützung aller parlamentarischen Mittel, um eine Abstimmung zu verhindern (ein solcher Filibuster kann nur mit der schwer erreichbaren Zweidrittelmehrheit gebrochen werden). Kennedy bremste die zu-weitgehenden Vorschläge nordstaatlicher Demokraten, um die Zusammenarbeit mit den Republikanern nicht zu gefährden. Man einigte sich auf zwei wesentliche Bestimmungen: Maßnahmen zur Erzwingung des Wahlrechtes der Neger, die die ungenügenden Bestimmungen des Gesetzes von 1957 ergänzten, und die Beseitigung der Rassendiskriminierung in sogenannten „public accommodations“ (Hotels, Gaststätten, Geschäften, Schwimmbädern usw.).

Kennedy zeigte viel Geschick bei der Mobilisierung der öffentlichen Meinung für seine Vorlage. Er appellierte an das Gewissen einflußreicher Gruppen und Persönlichkeiten (Pfarrer beider Bekenntnisse, Gewerkschaftsführer und Herausgeber von Zeitungen). Er gab einer Riesendemonstration, dem „Marsch auf Washington" einer Viertelmillion Neger am 28. August 1963, seine moralische Unterstützung und sorgte dafür, daß die an sich nicht ungefährliche Ansammlung verbitterter Menschen reibungslos verlief.

Der Präsident hat die Verabschiedung dieses imposanten Bürgerrechtsgesetzes (im Juli 1964) nicht mehr erlebt, trotzdem wird es immer mit seinem Namen verbunden bleiben. Sein Nachfolger hat das Vermächtnis erfüllt. Der Inhalt der Vorlage, die Schaffung der nötigen parlamentarischen Konstellation und die Mobilisierung der öffentlichen Meinung waren Kennedys Verdienst. Daß ein aus dem Süden stammender Präsident, Lyndon B. Johnson, von seinem Vorgänger auf die Vorlage verpflichtet, sie im Endstadium durch den Kongreß gebracht hat, erhöht die Bedeutung des Vorgangs.

Kennedys erfolgreicher Einsatz für die Rechte der Neger hat eine doppelte Bedeutung: Innenpolitisch hat er die potentiell revolutionäre Bewegung in verfassungsmäßige Kanäle gelenkt, da er den Negern das Gefühl gab, daß alle ihre berechtigten Forderungen innerhalb des existierenden Regierungssytems erreicht werden könnten, und zwar mit Unterstützung großer Teile der weißen Bevölkerung. Außen-politisch war die Verbesserung der Lage der amerikanischen Neger eine Voraussetzung für Kennedys Bemühungen, die Sympathie der Dritten Welt für Amerikas Weltstellung zu gewinnen. Dieser außenpolitische Gesichtspunkt hat vermutlich bei Kennedys Entwicklung vom lauen Befürworter zum energischen Kämpfer für die Gleichberechtigung der Neger mitgespielt. Kein anderer Präsident in der Geschichte Amerikas hat so wie Kennedy an den Primat der Außenpolitik geglaubt. Wir müssen uns nun mit ihren Problemen während seiner Amtszeit eingehend beschäftigen.

III. Kennedys Außenpolitik

1. Die Grundkonzeption des Präsidenten Kennedy hat sein Amt mit bestimmten, sorgfältig im voraus ausgearbeiteten außenpolitischen Konzeptionen angetreten. Er hatte ein tiefes Verständnis für den Wandel in der Weltpolitik, der durch die Entwicklung der Kernwaffen verursacht worden war. Eine Auseinandersetzung mit der Sowjetunion d outrance war dadurch unmöglich geworden, da sie für beide Seiten Selbstmord bedeutet hätte. Deswegen war es eine absolute Notwendig-keit, den Kalten Krieg soweit wie möglich zu entschärfen. Natürlich blieb eine starke Atomrüstung zum Zwecke der Abschreckung von entscheidender Bedeutung. Tatsächlich hat der Präsident die glaubwürdige Drohung, Kernwaffen zur Verteidigung vitaler amerikanischer Interessen einzusetzen, nicht gescheut. Kennedy wußte genau, daß gewisse Bastionen der Freien Welt, wie z. B. West-Berlin, nicht mit konventionellen Waffen verteidigt werden können: Zur Erhaltung ihrer Freiheit gab es keine Alternative zur Atom-Abschreckung. Er hat sich stets bemüht, in der Behandlung von Konfliktsituationen größeren Spielraum zu gewinnen, um nicht vor die Alternative Kernwaffen-Einsatz oder Kapitulation gestellt zu werden. Dies war, wie unten eingehender dargestellt werden wird, der Sinn der nach Verteidigungsminister McNamara benannten neuen Strategie, auch für „kleine" konventionelle Kriege gerüstet zu sein — und nicht nur, wie unter Eisenhower, für den nuklearen „großen" Krieg.

Kennedy sah den Gegensatz zwischen Amerika und Rußland mehr als Pragmatiker denn als Moralist. Die Kreuzzugsideen von John Foster Dulles, beruhend auf der Grundthese, daß der Kommunismus als Inkarnation des Bösen früher oder später unter dem Druck der Freien Welt, die unter Gottes Schutz steht, verschwinden wird und muß, waren ihm vollständig fremd. Natürlich war ihm der Kommunismus tief verhaßt, und er fürchtete seine weitere Ausbreitung; aber er sah den Konflikt des Kalten Krieges vorwiegend politisch, nicht ideologisch. Als Nichtideologe hat er die Bedeutung der kommunistischen Ideologie wahrscheinlich unterschätzt. Sein außenpolitisches Hauptziel war, eine Verschlechterung des für Amerika günstigen Weltgleichgewichts zu verhindern. Er erkannte klar, daß keine der beiden großen Weltmächte eine ernsthafte Schwächung ihrer Position hinnehmen konnte. Deswegen sein echtes Entsetzen, als Chruschtschow im Herbst 1962 versuchte, das benachbarte Kuba in eine kommunistische Raketenbastion zu verwandeln, und seine energische Gegenaktion. Kennedy hat niemals versucht, die vitalen Interessen der Sowjetunion, z. B. in den osteuropäischen Satellitenländern, zu gefährden. Das „Zurückrollen" des Kommunismus als Vorstufe zu seiner Ausrottung im Sinne von John Foster Dulles stand nicht auf seinem Programm. Kennedy hat klar erkannt, daß die Eisenhower-Dulles-Politik der „Befreiungsphasen" (übrigens ohne konsequentes Handeln) in der Sowjetzone im Juni 1953 und in Ungarn im November 1956 ihr Fiasko erlebt hatte.

Seine Politik gegenüber der Sowjetunion kann zur ersten Charakterisierung thematisch auf drei Punkte reduziert werden: erstens Vermeidung einer nuklearen Auseinandersetzung, eng verbunden mit dem Versuch, Abkommen in Einzelfragen, für die ein gemeinsames Interesse vorhanden ist, zu erreichen, z. B. in Laos und in der Beendigung von Atomversuchen; zweitens entschiedener Widerstand gegenüber kommunistischer Bedrohung vitaler Interessen der Freien Welt, z. B. in der Berlin-Frage, selbst unter Anwendung atomarer Drohung, aber immer mit dem gleichzeitigen Versuch, andere Optionen zu entwickeln; drittens allgemeine Stärkung der Gesamtposition der Freien Welt durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen, um ihre Standfestigkeit gegenüber kommunistischer Aggression oder Unterwanderung zu behaupten, z. B. durch Integrierung der NATO und Intensivierung der Wirtschaftshilfe für die Entwicklungsländer. In diesem Zusammenhang verdient sein starkes Interesse an den Entwicklungsländern besonders betont zu werden. Er sah — neben der Verhinderung eines Atomkrieges — in ihrer Eingliederung in die Freie Welt eine der Hauptaufgaben der amerikanischen Außenpolitik in den nächsten Jahrzehnten. Sein Interesse galt keineswegs ausschließlich der Bekämpfung der kommunistischen Gefahr; denn er war unbedingt bereit, die Modernisierung der Entwicklungsländer auch ohne kommunistische Bedrohung aus moralischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen zu unterstützen. Kennedy zeigte großes Verständnis für die neutralistische Grundhaltung der Dritten Welt, die Dulles noch als „unmoralisch" angesehen hatte, und hob oft die positiven Erfahrungen hervor, die Amerika in seiner dynamischen Entwicklungsperiode am Anfang des 19. Jahrhunderts unter der politischen Parole des neutralistischen Isolationismus gemacht hat.

Die Identifizierung Amerikas mit den Bestrebungen der Dritten Welt ist ihm in einem erstaunlichen Grade gelungen. Kennedy hat sich gegen die letzten Reste des europäischen „Kolonialismus" in seiner berühmten Algerienrede schon 1955 ausgesprochen. Sein UN-Botschafter Adlai Stevenson bemühte sich mit Erfolg um die Zusammenarbeit mit den neu gebildeten Staaten. Das Friedenskorps unter seinem Schwager Sargent Shriver hat idealistische junge Amerikaner in die Entwicklungsländer geschickt. Das Programm „Ernährung zur Friedenssicherung" (Food for Peace Programm) unter George McGovern hat mit Energie und Phantasie den Hunger bekämpft. Die United States Information Agency unter Edward Murrow hat sich bemüht, der Welt eine wahrheitsgetreue, nicht schönfärberische Darstellung Amerikas zu geben und dadurch viele Sympathien bei Leuten erworben, die gegen Propaganda immun sind. Am positivsten für Amerikas Bild (image) vor der Weltöffentlichkeit war aber der Eindruck, den Kennedys ganzes Regierungsprogramm und sein brillanter Regierungsstil ausstrahlte. Die neue Regierung hat gezeigt, daß Amerika kein gesättigtes, selbstzufriedenes, an anachronistische Vorstellungen gebundenes Land ist. Im Gegenteil: Ein jugendlicher Kiese, strotzend vor Energie, nicht unkritisch gegenüber eigenen Schwächen und vor allen Dingen aufgeschlossen gegenüber den neuen Problemen einer neuen Zeit.

Zur Ausführung seiner Außenpolitik im Ausland hat Kennedy eine Gruppe von außerordentlich fähigen Botschaftern ernannt. Auch er konnte die schlechte amerikanische Tradition, „Außenseiter", d. h. nicht aus dem Auswärtigen Dienst stammende Persönlichkeiten auf Botschafterposten zu schicken, nicht durchbrechen. Jedoch hat er sich dabei aber nicht auf die üblichen Parteigeldgeber beschränkt, sondern auch eine Reihe von bedeutenden Gelehrten ernannt (vorwiegend Professoren der Harvard-Universität). Sein guter Freund Kenneth Galbraith (der bekannte Nationalökonom) ging nach Neu-Delhi und fand ein ausgezeichnetes Verhältnis zu dem oft schwierigen Nehru. Edward Reischauer, der beste Japan-Spezialist Amerikas, ging nach Tokio und bereinigte das sehr getrübte amerikanisch-japanische Verhältnis (noch im Frühjahr 1960 hatte die japanische Regierung den Präsidenten Eisenhower kurzfristig ausgeladen, weil sie seine persönliche Sicherheit nicht garantieren konnte). George Kennan, der in der Dulles-Ära aus dem Auswärtigen Dienst ausgeschieden und Professor in Princeton geworden war, wurde Botschafter in Belgrad, um die Konflikte innerhalb der kommunistischen Welt von diesem Brennpunkt aus sorgfältig zu beobachten.

Die Grundkonzeptionen Kennedys: eine pragmatische Haltung gegenüber der Sowjetunion einzunehmen, die zur Förderung des Friedens nach gemeinsamen Interessen sucht und damit aber gleichzeitig Festigkeit gegenüber kommunistischer Aggressivität verbindet; ein betontes Interesse an den Entwicklungsländern mit Verständnis für ihr Bestreben, sich aus dem Kalten Krieg herauszuhalten; eine dynamische, fortschrittliche Innenpolitik als Voraussetzung für Amerikas Führungsrolle in der Freien Welt — werden wahrscheinlich die Außenpolitik Amerikas für die nächsten Jahrzehnte bestimmen. Kennedy hat versucht, sie durch seine Reden und sein Handeln im amerikanischen Volke zu verankern, und er hat sich auch nicht gescheut, die undankbare Aufgabe zu übernehmen, das Volk mit „unangenehmen Tatsachen" zu konfrontieren. Er prophezeite eine lang andauernde Ära der „friedlichen Koexistenz" mit der Sowjetunion und verlangte die größten Anstrengungen, um Amerikas politischen und wirtschaftlichen Vorsprung zu erhalten. Er beschwor das Volk, veraltete Vorstellungen aufzugeben und sich einer durch das nukleare Gleichgewicht bestimmten neuen Weltlage anzupassen. Er verlangte vor allen Dingen Verständnis für die Pluralität der Welt und die Aufgabe der tief verwurzelten Vorstellung, die ganze Welt könnte oder müßte sich nach dem Leitbild Amerikas entwickeln. Seine eindrucksvollen Reden sind in ihrer Darstellung der Weltlage von keinem anderen Staatsmann übertroffen worden.

Es kann kaum überraschen, daß sein Handeln in konkreten außenpolitischen Fragen nicht immer ganz seinen Idealen noch seinen Konzeptionen entsprach — eine Tatsache, der er sich selbst bewußt war. Bevor wir seine Behandlung von Einzelproblemen analysieren, sei aber ausdrücklich festgestellt, daß er in seinem Wollen stets nach dem Höchsten getrachtet hat. Persönliche — im Gegensatz zu sachlichen — Motive haben seine Entschlüsse nur in den seltensten Fällen beeinflußt. Seine unvoreingenommene, nüchterne, rationale Analyse aller Weltprobleme muß als beispielhaft gelten.

2. Das Fiasko der Schweinebucht (April 1961) Die erste große außenpolitische Handlung der Kennedy-Regierung führte zu dem Fiasko der Schweinebucht. Eine von der Central Intelligence Agency (der amerikanischen „Abwehr") ausgerüstete, von Kennedy gebilligte Invasion auf Kuba durch 1400 Exil-Kubaner wurde von den Streitkräften des pro-kommunistischen kubanischen Diktators Fidel Castro innerhalb drei Tagen zerschlagen, und alle überlebenden Teilnehmer gerieten in Gefangenschaft. Das ganze Unternehmen war nicht nur in den Details der Planung und Durchführung, sondern vornehmlich in der Grundkonzeption völlig verfehlt, denn ein „Sieg" wäre den USA vermutlich noch teurer zu stehen gekommen als die schmähliche Niederlage. Die Verletzung internationaler Verpflichtungen war in beiden Fällen beschämend (es handelte sich nicht nur um die Verletzung der UN-Charta, sondern auch des Prinzips der Nichtintervention, auf dem das ganze inter-amerikanische System beruht). Durch die Niederlage geriet Amerika in den Ruf der Schwäche, als ob es in einer eigentümlichen Mischung von Dummheit, Draufgängertum und Halbheit im Grunde nicht wüßte, was es wollte. Diese Meinung über Amerika konnte aber glücklicherweise durch konsequentes Handeln in anderen Krisensituationen bald korrigiert werden. Ein „Sieg" in Kuba hätte andererseits verheerende langfristige Folgen gehabt; denn eine von Washington gesteuerte und auf amerikanische Bajonette gestützte „Satellitenregierung" in Havanna wäre von der Mehrheit der kubaniB sehen Bevölkerung gehaßt worden. Fidel Castro hätte sich auf seine frühere Guerillabastion zurückgezogen und von dort der Nachfolgeregierung das Leben schwer gemacht. Ein unbefriedigtes Kuba in einer permanenten Bürgerkriegssituation wäre eine furchtbare Belastung für die amerikanischen Beziehungen zu ganz Lateinamerika geworden. Die kommunistische Propaganda gegen den amerikanischen Imperialismus hätte auf der ganzen Welt Triumphe gefeiert.

Nach dieser politischen Verurteilung des ganzen Unternehmens lohnt es sich kaum, detailliert auf die Einzelfehler der militärischen Planung einzugehen. Der Invasionsplan ist zwischen Oktober 1960 und März 1961 mehrfach geändert worden. Die zuständigen Stellen im Pentagon und im Weißen Haus wußten kaum, welchen von den verschiedenen Plänen sie tatsächlich gebilligt hatten. Kennedy glaubte, die Invasion würde einen innerkubanischen Aufstand auslösen und Castros Armee würde sich bald nach der Landung der „Freiheitskämpfer" auflösen; aber nichts dergleichen geschah. Kennedy glaubte weiter, daß die Angreifer sich im Falle einer taktischen Niederlage als Guerilla-Krieger in die Berge zurückziehen könnten. Dies zeigte sich aus topographischen — also voraussehbaren — Gründen aber als vollständig unmöglich. Ferner war Kennedy der Meinung, die Exilkubaner seien über seinen Entschluß, unter keinen Umständen amerikanische Streitkräfte direkt einzusetzen, informiert und hätten sich trotzdem mit Siegeszuversicht freiwillig zur Invasion entschlossen. Sie sind aber in der Tat von ihren Ausbildern des amerikanischen Geheimdienstes in diesem Punkte arg getäuscht worden. Es würde in diesem Zusammenhang zu weit führen, alle Fehler der militärischen Planung zu erörtern, wie z. B.den Munitionsmangel und die Nicht-Ausschaltung von Castros kleiner, aber wirksamer Luftwaffe.

Die wichtigste Frage, die Beantwortung verlangt, ist die folgende: Wie konnte der sonst so kühle, kluge und überlegte Kennedy ein solches Vabanquespiel billigen? Die Erklärung ist einesteils in Kennedys Unerfahrenheit in administrativen Dingen als neu amtierender Präsident zu suchen, andernteils in der durch seinen Vorgänger Eisenhower geschaffenen Lage und ihren möglichen innenpolitischen Auswirkungen. Dem Neuling Kennedy fehlte die innere Sicherheit, das Urteil militärischer Fachberater und der Abwehr-Spezialisten anzuzweifeln; sein persönlicher Beraterstab war noch nicht genügend „angelaufen", um eine unabhängige kritische Durchleuchtung des Unternehmens zu garantieren. Die Notwendigkeit der Geheimhaltung begrenzte den Kreis der Eingeweihten praktisch auf die kleine Gruppe der aktiv Beteiligten, die natürlich keine innere Distanz zu ihrer eigenen Arbeit hatten. Sicher haben das Temperament des Präsidenten und sein persönliches Engagement durch seine Anti-Castro-Wahlkampfreden 1960 (um den Antikommunismus von Nixon zu übertrumpfen) auch zu der Billigung des Invasionsplanes beigetragen.

Zu Kennedys teilweiser Entlastung möge hinzugefügt werden, daß sein Vorgänger Eisenhower bis zu einem gewissen Grade ein fait accompli vor Kennedys Amtsantritt geschaffen hatte. Die Exilkubaner, seit Sommer 1960 in Nicaragua in der Ausbildung, mußten auf Drängen des nicaraguanischen Präsidenten das Land spätestens bis Juni 1961 verlassen. Wo sollte Kennedy sie hinschicken? Ihre Auflösung hätte auf jeden Fall zu großer Bitterkeit geführt und wäre von Kennedys innenpolitischen Gegnern an die große Glocke gehängt worden. Die republikanischen Wahl-demagogen hatten (nicht nur in den Zeiten McCarthys) den Demokraten stets vorgeworfen, sie wären dem Kommunismus gegenüber zu weich. Kennedy wollte die „Bestätigung“ dieses Vorwurfs unter allen Umständen vermeiden. Die Innenpolitik wirkte vergiftend bei dieser bedeutenden außenpolitischen Entscheidung. Kennedys Schuld ist folgendermaßen zusammenzufassen: Er hat sich auf das Urteil von Fachleuten verlassen, anstatt auf seinen gesunden Menschenverstand •—und deswegen an den Erfolg des Unternehmens geglaubt. Die politische Seite hat er nicht genügend in Betracht gezogen und seine sicher bestehenden Zweifel aus innenpolitischen Rücksichten unterdrückt.

Das Fiasko hatte katastrophale — obwohl glücklicherweise nur kurzfristige — Auswirkungen auf das außenpolitische Prestige Amerikas und der Kennedy-Regierung. Zwei Tatsachen sollen aber festgehalten werden, die Besseres für die Zukunft versprachen: Der Präsident hat sich in allen Stadien der Planung resolut geweigert, den direkten Einsatz amerikanischer Streitkräfte zu erlauben; er hat trotz Drängens der Militärs, als sich die Niederlage der Freiheitskämpfer abzeichnete, an diesem sicher richtigen Enschluß festgehalten. Ferner hat er sich nach der Niederlage nicht um die Verantwortung gedrückt und seine Fehler offen eingestanden. Mehr noch: er hat aus seinen Fehlern gelernt. Kennedy hat sich nie wieder unkritisch auf die Gutachten von „Fach-leuten" verlassen; er hat sein Temperament gezügelt und bei allen späteren wichtigen Ent18 Scheidungen auf freier und offener Diskussion in seinem Beraterstab bestanden. Das Lehrgeld war sicher teuer, aber es ist nicht umsonst gezahlt worden. Kennedys Außenpolitik während seiner weiteren Amtszeit verlief weit besser, als nach diesem kläglichen Anfang zu erwarten war.

3. Die „Allianz für den Fortschritt"

Dies gilt vor allem für Kennedys Südamerika-politik. Es ist ihm in der Tat verhältnismäßig schnell gelungen, den fatalen Eindruck, den seine Fehlentscheidungen bei dem Schweine-bucht-Unternehmen hinterlassen haben, durch eine großzügige, den schwierigen Problemen angemessene Politik wenn nicht auszulöschen, so doch wenigstens in relative Vergessenheit zu bringen. Die Kennedy-Regierung hat im Gegensatz zur Eisenhower-Regierung ein brennendes Interesse an allen lateinamerikanischen Problemen gezeigt. Unter Eisenhower und Dulles (letzterer soll Südamerika „langweilig" gefunden haben) waren Amerikas südliche Nachbarn arg vernachlässigt worden, wenn hier auch ein gewisser Wandel in den letzten zwei Jahren (1958— 60) eingetreten war. Die Steinwürfe auf Vizepräsident Richard Nixon in Caracas 1958 wurden als Sturmsignal verstanden. Der einflußreiche Bruder des Präsidenten, Milton Eisenhower, hat den Blick des Weißen Hauses auf die südamerikanischen Probleme gelenkt. Der Staatssekretär im Außenamt, Douglas Dillon (später Kennedys Finanzminister, obwohl der Parteizugehörigkeit nach Republikaner), hatte im Sommer 1960 ein großzügiges Wirtschaftshilfeprogramm entworfen. Trotzdem muß man sagen, daß die Eisenhower-Regierung in dreifacher Weise gegenüber Lateinamerika gesündigt hat. Dillons Programm für Wirtschaftshilfe kam zu spät und war nicht ausreichend; die Republikanische Regierung, in ihrem Wesen konservativ und an orthodoxe finanzielle Dogmen gebunden, zeigte kein Verständnis für die Nichtanwendbarkeit dieser doktrinären Finanzpolitik in Entwicklungs-ländern; sie verkannte die Notwendigkeit des sozialen und demokratischen Durchbruches gegen die in Südamerika vorherrschende traditionelle oligarchische Gesellschaftsstruktur und autoritäre Regierungsform.

Kennedy zeigte großes Verständnis für die verzweifelte wirtschaftliche Lage der meisten südamerikanischen Staaten unter dem Druck der Bevölkerungsvermehrung, der Preisstürze für Rohstoffe auf dem Weltmarkt und der wachsenden Ansprüche der durch Agitatoren aufgehetzten Masse der Armen. Er proklamierte am 13. März 1961 in einer Rede vor sämtlichen lateinamerikanischen Botschaftern in Washington die Notwendigkeit einer „Allianz für den Fortschritt" zum Kampf gegen diese Probleme. Er versprach ein großzügiges Unterstützungsprogramm, verlangte aber (ohne es öffentlich allzu direkt auszusprechen) als quid pro quo innere Reformen in den Empfängerländern, um zu garantieren, daß die breiten Massen (nicht die besitzenden Oligarchien) die Hauptnutznießer der amerikanischen Unterstützung würden. Zu diesem Zweck und um eine geplante Modernisierung voranzutreiben, forderte Kennedy Verwaltungsreformen, Steuerreformen, den Ausbau der Schulsysteme u. a. Dieses Programm wurde von vielen konservativ eingestellten Südamerikanern als Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Länder empfunden; aber es gab doch den nötigen Anstoß zur Inangriffnahme von Reformen, die schon lange fällig waren.

Kennedy hat mit klarer Einsicht das Notwendige angeregt, um die Rückständigkeit Lateinamerikas zu überwinden. Obwohl Katholik, hat er im weit größeren Ausmaß als der Protestant Eisenhower die Bereitstellung von öffentlichen Geldern für die Erforschung der Möglichkeiten der Geburtenkontrolle gefördert. Er erkannte die Notwendigkeit der Stützung der Rohstoffpreise durch internationale Verträge und hat sich nicht von republikanischen Beschwerden wegen der Verletzung des Laissez-Faire-Prinzips beeinflussen lassen. Dem Pragmatiker Kennedy war klar, daß ohne eine ausgeglichene Handelsbilanz eine wirtschaftliche Entwicklung kaum in Gang kommen konnte. Aus eigener'Anschauung, die er durch verschiedene Weltreisen in der Zeit vor seiner Präsidentschaft erworben hatte, wußte er, daß der Durchbruch zur Modernisierung in den Entwicklungsländern nur unter schwierigen sozialen Konflikten erreicht werden kann. Er hat sich auch nicht gescheut, Amerikas Sympathien selbst für revolutionäre Reform-bestrebungen zu zeigen — vorausgesetzt, daß sie nicht in kommunistisches Fahrwasser liefen. Die Eisenhower-Regierung befand sich im besten Einvernehmen mit den verschiedenen Militärdiktatoren Lateinamerikas. Kennedy hielt im Gegensatz dazu auf höfliche Distanz zu Diktatoren; seine Bewunderung galt demokratischen Sozialreformern wie dem Venezu-laner Betancourt und dem Chilenen Frei. Die amerikanische Regierung hat bei dem Sturz des berüchtigten Diktators der Dominikanischen Republik Trujillo im Juni 1961 mindestens moralisch mitgeholfen und schickte im November 1961 Seestreitkräfte in die Gewässer Santa Domingos, um eine drohende Restauration der Trujillo-Familie zu verhindern. Diese nordamerikanische Intervention zugunsten des demokratischen Fortschritts in Lateinamerika galt zu Recht als eine Sensation (leider ist der günstige Eindruck durch die unglückliche Intervention Johnsons unter umgekehrten Vorzeichen im April 1965 rückgängig gemacht worden).

Der Vorwurf, daß die USA erst durch den Aufstieg Fidel Castros gezwungen worden sind, sich um ihre südlichen Nachbarn zu kümmern, ist leider weitgehend berechtigt. Man muß Kennedy aber zugute halten, daß er — obwohl verspätet — die wirklichen Probleme erkannt und das Richtige für Südamerika nicht nur aus Furcht vor der Ausbreitung des Castroismus getan hat. Natürlich hat er in der bewußten Absicht gehandelt, die „freien" Nationen des Kontinentes gegen eine Ansteckung durch den Castroismus abzuschirmen; aber er hat zur gleichen Zeit unter großem persönlichen Einsatz den Kampf gegen Rückständigkeit und Armut begonnen. Die Resultate der „Allianz für den Fortschritt" haben anfangs seinen Hoffnungen kaum entsprochen: Die Hilfsaktion erstarrte oft in bürokratischer Routine; die erwünschten Reformen in den Empfänger-ländern wurden von der Herrenschicht sabotiert; undemokratische Militärregierungen hielten sich nicht nur, sondern wurden durch Staatsstreiche in Peru und Argentinien sogar noch vermehrt. Trotz dieser Fehlschläge hat Kennedy zumindest die Möglichkeit geschaffen, daß Südamerika sich in fortschrittlich-demokratischer Richtung entwickeln kann. Von dem Erfolg der „Allianz für den Fortschritt" hängt viel ab: Bei der Unhaltbarkeit der existierenden politischen und sozialen Strukturen sind Anarchie und Kommunismus (natürlich nicht notwendig moskauhöriger Kommunismus) die einzigen Alternativen zu der von Kennedy gewünschten Entwicklung.

Die „Allianz für den Fortschritt" war im Grunde nur ein Teilstück von Amerikas Bemühungen um die Entwicklungsländer der Welt. Kennedy hat das Programm der Wirtschaftshilfe (Foreign Economic Aid Program) von seinen zwei Vorgängern geerbt, fand aber zu seinem Bedauern einen zunehmenden Widerstand im Kongreß und in der öffentlichen Meinung gegen seine konsequente Fortsetzung — ein Ausdruck besorgniserregender Müdigkeit unter der Last, Führungsmacht der Freien Welt zu sein. Der Präsident hat energische Schritte unternommen, um das gefährdete Programm zu retten. In David Bell, früher Professor an der Harvard-Universität,fand er den besten Verwaltungschef, den die Wirtschaftshilfe seit ihrem Anlauf zur Zeit des Marshall-Plans gehabt hat. Die Koppelung von inneren Reformen mit dem Empfang amerikanischer Hilfe (wie im Falle der „Allianz für den Fortschritt") hat die Wirksamkeit amerikanischer Gelder bedeutend verstärkt. Das Bemühen, andere hochindustrialisierte Länder, z. B. die Bundesrepublik, für die Mitarbeit an der Entwicklungshilfe zu gewinnen, war von einigem Erfolg gekrönt. Fehlgeschlagen ist 1961 der Versuch, den Kongreß auf langfristige Verpflichtungen festzulegen und damit eine Voraussetzung für rationelles Planen zu schaffen; es war eine der unglücklichsten parlamentarischen Niederlagen der Regierung. Am wichtigsten war, daß der Präsident jedes Jahr sämtliche politische Mittel — Überzeugung, Drohung und Versprechung — einsetzte, um das Wirtschaftshilfeprogramm intakt durch den Kongreß zu bringen. Dabei war die Hilfe verantwortungsbewußter Republikaner unerläßlich. Kennedy hat es im Frühjahr 1963 verstanden, den hochangesehenen General Lucius D. Clay (den Helden der Berliner Blockade, heute Vorsitzender des republikanischen Finanzkomitees) als Leiter einer Studiengruppe zu gewinnen, die das ganze Programm gründlich untersuchte. Clay hat sich zwar entgegen Kennedys Erwartung für Kürzungen im Etat ausgesprochen, aber das Prinzip der Wirtschaftshilfe mit Entschiedenheit verteidigt. Erst Johnsons Erfolg bei den Wahlen von 1964 hat das Wirtschaftshilfeprogramm für die voraussehbare Zukunft außer Gefahr gebracht.

4. Das Berlin-Problem 1961/62 Der Sommer 1961 stand im Schatten der großen Berlin-Krise, die durch den Flüchtlingstrom aus der Sowjetzone verursacht wurde. Das Prestige und die Wirtschaft der „DDR" litten unter der „Abstimmung mit den Füßen"; in den zwölf Jahren seit ihrer Gründung hatten fast zwei Millionen Menschen, und zwar vorwiegend junge Menschen, ihre Heimat verlassen. Kein Regime konnte einen solchen Aderlaß auf die Dauer aushalten. Die „DDR" antwortete mit drakonischen Maßnahmen gegen „Republikflüchtlinge" und drohte mit der vollständigen Abschnürung des Flüchtlings-stromes. Diese Drohung führte paradoxerweise zu einem lawinenartigen weiteren Anschwellen des Stromes. Viele wollten sich noch kurz vor Toresschluß in Sicherheit bringen. Die „DDR“ (und ihre Herren in Moskau) drohte ferner mit Maßnahmen gegen das freie West-Berlin, welches in der Tat die Konsolidierungschancen der „DDR" durch seine Rolle als „Schaufenster der Freiheit" und leicht erreichbares Fluchtziel beeinträchtigte. Kennedy war fest entschlossen, die Freiheit und Lebensfähigkeit Berlins unter allen Umständen und um jeden Preis zu verteidigen. Er hat es wahrscheinlich bedauert, daß gerade Berlin — in einer geographischen Lage, die eine „konventionelle Verteidigung" ausschloß — zum Symbol amerikanischer Standfestigkeit und Vertrauenswürdigkeit geworden war, diese Tatsache aber als gegeben und unabwendbar akzeptiert und sich nicht gescheut, den Einsatz nuklearer Vergeltungswaffen für den Ernstfall anzudrohen. Gleichzeitig vertrat er aber ganz entschieden die Meinung, daß gerade wegen des Risikos eines Atomkrieges die größten Anstrengungen unternommen werden müßten, um das Berlin-Problem auf dem Verhandlungswege zu entschärfen. Seine Bereitschaft zum Einsatz von Atomwaffen galt nur für den Fall der direkten Verletzung der „Lebensfähigkeit" Berlins, nicht als Reaktion auf kleinere Provokationen.

Chruschtschow hat diese Sachlage klar erkannt und durch den Bau der Mauer nach dem 13. August 1961 rücksichtslos ausgenutzt. Er wußte genau, daß kein amerikanischer Präsident es wegen dem Bau einer Mauer innerhalb des de iacto russischen Herrschaftsgebietes zum totalen Atomkrieg kommen lassen würde. Eine begrenzte amerikanische Gegenaktion mit konventionellen militärischen Mitteln war aber wegen der örtlichen militärischen Überlegenheit der Sowjetunion und der Zone ganz unmöglich. Der noch heute oft gehörte Vorwurf, Kennedy hätte die Mauer durch die Panzer der amerikanischen West-Berliner Garnison niederwalzen sollen, verkennt diese einfache Tatsache. Was hätte Kennedy denn im Falle einer voraussehbaren örtlichen Niederlage der amerikanischen Streitkräfte als nächsten Schritt unternehmen sollen?

Man kann m. E. Kennedy seine Passivität auf militärischem Gebiet nach dem Mauerbau nicht zum Vorwurf machen; wenn Fehler gemacht worden sind, dann geschah das vor dem Bau der Mauer. Chruschtschow muß auf dem Wiener Treffen Anfang Juni 1961 den Eindruck gewonnen haben, daß Kennedy Provokationen widerstandslos hinnehmen würde, anders ist sein späteres Handeln während der kubanischen Raketenkrise 1962 nicht zu erklären. Er hat vermutlich damit gerechnet, daß Kennedy nicht auf den Mauerbau reagieren würde; aber das kann man Kennedy nicht zum Vorwurf machen. Kennedys Planungsstab hat vor der Krise offenbar versagt: Man hat zwar die verschiedensten sowjetischen Aktionen zur Abschnürung des Flüchtlingsstromes durchdacht, aber nicht mit dem Bau einer Mauer gerechnet. Deswegen gelang den Sowjets eine vollständige Überraschung, ohne daß ein „begrenzter" Gegenschlag vorbereitet gewesen wäre, wie z. B. ein NATO-Embargo für den Osthandel oder Reisebeschränkungen für Personen aus den Ostblockländern (die Möglichkeit oder Wünschbarkeit oder Wirksamkeit dieser Gegenmaßnahmen steht hier nicht zur Diskussion). Es war ein weiterer Fehler der amerikanischen Regierung, daß sie die fatale — obwohl glücklicherweise nur kurzfristige — psychologische Wirkung des Mauerbaus auf West-Berlin entschieden unterschätzte. Die Missionen von Johnson und Clay waren eine verspätete, aber dann erfolgreiche Reaktion auf die Vertrauenskrise in der Berliner Bevölkerung.

Es wirkt bestürzend bei der Lektüre der Bücher von Schlesinger und Sorenson, daß beide — vermutlich übereinstimmend mit Kennedy — das Ausmaß der amerikanischen Niederlage im Sommer 1961 fast völlig verkennen. Schließlich sind Vier-Mächte-Vereinbarungen über den freien Personenverkehr innerhalb Groß-Berlins durch eine einseitige sowjetische Handlung ausgelöscht worden: ein folgenschwerer Präzidenzfall! Auch darf die psychologische Komponente in dem dehnbaren Begriff „Berliner Lebensfähigkeit" nie außer acht gelassen werden. Ferner hat Amerikas Passivität dem Vertrauen Europas gegenüber Amerika sicher einigen Abbruch getan und damit den potentiellen „Gaullismus" gestärkt. Ein weiteres Resultat war die innere Festigung der Zone, da die Hoffnung auf Wiedervereinigung für voraussehbare Zeit zerstört wurde. Diesen negativen Folgen stand als Positivum nur die Demaskierung sowjetischer und ostzonaler Brutalität gegenüber. Die amerikanische Propaganda hat dann auch die Bloßstellung der Zone als sowjetisches Gefängnis weidlich ausgeschlachtet.

Kennedy war im Sommer 1961 — vor und nach dem Mauerbau — entschlossen, die Berlin-frage nach Möglichkeit durch diplomatische Schritte zu entschärfen. Seine Politik war — wie bei anderen Problemen — eine charakteristische Mischung von verstärkten Verteidigungsanstrengungen (einschließlich der Einberufung von Reservisten) und ausgesprochener Verhandlungsbereitschaft. Es war eine seiner Lieblingsvorstellungen, das Problem des Zugangs nach Berlin (mit der immer latenten Möglichkeit einer Neuauflage der Blockade von 1948/49) könne durch die Schaffung einer Internationalen Berliner Zugangsbehörde unter Zuziehung der UN gelöst werden. Er oder wenigstens viele seiner Berater waren bereit, erstaunlich weitgehende Konzessionen zu machen, um die Errichtung einer solchen Behörde zu erreichen: Mitgliedschaft der „DDR", was einer de facto-Anerkennung gleich gekommen wäre; Einwilligung in den längst von den Sowjets angedrohten Separat-friedensvertrag zwischen Moskau und Pankow; selbst Einschränkung der sogenannten „aufreizenden Handlungen" (irritant activities) West-Berlins wie z. B.der RIAS-Sendungen. Alles dies, um eine papierene sowjetische Garantie für den Zugang nach Berlin zu bekommen! Tatsächlich wären die Sowjets natürlich weiter in der Lage gewesen, den Berliner Zugangsverkehr jederzeit nach Belieben abzuschnüren. Der internationale Charakter der angestrebten Behörde und der Schutz der UN hätte sie sicher nicht davon abgehalten. Es war ein ungerechtfertigter Optimismus, von der Mehrheit der UN-Mitglieder Unterstützung gegen die Sowjetunion in der Verteidigung Berlins zu erwarten.

Diese Pläne Kennedys müssen geradezu als naiv bezeichnet werden. Sie sind glücklicherweise durch den Widerstand de Gaulles und Adenauers zu Fall gebracht worden, und Kennedy hat sie im Sommer 1962 endgültig fallen gelassen. Sie hatten aber in der Zwischenzeit zu einer ernsten deutsch-amerikanischen Vertrauenskrise geführt: Deutsche sprachen von „amerikanischem Verrat", Amerikaner von der Halsstarrigkeit der deutschen „letzten Mohikaner des Kalten Krieges". Sicher waren beide Eindrücke weit übertrieben: In Deutschland ist eine sicher zu weitgehende Konzessionsbereitschaft als „prinzipielles Nachgeben gegenüber dem Kommunismus", in Amerika die echte Sorge um die Zukunft Berlins als „Wunsch nach Fortdauer des Kalten Krieges" mißverstanden worden, übrigens hat Kennedy später gegenüber Mitarbeitern freimütig bekannt, daß er bei den Berlin-Verhandlungen große Fehler gemacht hat. Es war ein Fehler, eine Lösung ohne Einverständnis von Paris und Bonn zu suchen, da Washington auf die Zusammenarbeit mit ihnen angewiesen war. Insbesondere war es widersinnig, Bonn unter massivem Druck zur Annahme von Bedingungen zwingen zu wollen, die sich bei weiteren Verhandlungen für die Sowjets als „uninteressant" erwiesen. Im Endergebnis war Bonn verärgert, ohne daß man Zugeständnisse von Moskau erreicht hätte — das verdiente Resultat einer falschen Politik, die zwar dem ehrenwerten Motiv entsprang, einer nuklearen Aus-22 einandersetzung in der Berlin-Frage auszuweichen, tatsächlich die Gegebenheiten der Situation aber weitgehend verkannte.

5. Die Europapolitik Kennedys Bei keinem außenpolitischen Problem ist die Divergenz zwischen Erstrebtem und Erreichtem größer gewesen als bei Kennedys Europapolitik. Der Präsident hatte große Pläne (das sogenannte „Great Design") für die Integrierung der Staaten und Völker des gesamten nordatlantischen Raumes; aber diesen Plänen fehlte durchaus das konkrete Detail und die richtige Einschätzung der vorhandenen Kräfte. Das wirtschaftliche Hauptziel, die etwas großsprecherisch betitelte Kennedy-Runde der gegenseitigen Zollsenkungen, blieb bei den Genfer Einzelverhandlungen weitgehend auf der Strecke. Auch das militärische Hauptziel, die Schaffung einer multilateralen Atomstreit-macht, führte zu endlosen Reibereien ohne fruchtbares Resultat. Von gemeinsamen politischen Institutionen war kaum die Rede. In den großen Fragen der Weltpolitik, wie etwa Vietnam, Kongo oder Atomversuchs-Stopp, war nicht einmal eine einheitliche Haltung zu erreichen. Im Grunde erschöpfte sich das „Great Design" in leeren Worten ohne politische Bedeutung.

In der Behandlung der europäischen Nationen hat Kennedy in vielen Fällen eine unglückliche Hand gehabt, wie es z. B. die schon oben behandelte deutsch-amerikanische Vertrauenskrise zur Zeit der Berlin-Verhandlungen von 1961/62 gezeigt hat. Die Beziehungen zu Bundeskanzler Adenauer waren immer kühl. Der eindrucksvolle Deutschlandbesuch Kennedys im Juni 1963 hat daran wenig geändert, obwohl er durchaus eine politische Funktion erfüllte: er erschwerte die Position der „Gaullisten" und demonstrierte das Vertrauen der deutschen Bevölkerung gegenüber dem amerikanischen Bündnispartner. Kennedys große Reden in Frankfurt und Berlin enthielten eine kühl berechnete Antwort auf die Zweifler und Nörgler an Amerikas Bündnistreue und eine unüberhörbare Warnung vor den Sirenentönen aus Paris.

Der französische Staatspräsident de Gaulle war der gegebene Gegenspieler Kennedys in der Europapolitik. Dieser Konflikt war vermutlich unvermeidbar, da die Integrierung der westlichen Welt durch eine institutionelle Fortentwicklung der NATO unter amerikanischer Führung — ein Traum Kennedys — und die erstrebte Unabhängigkeit von Amerika durch ein von de Gaulle geführtes Westeuropa _ ein Traum de Gaulles — kaum auf einen Nenner zu bringen waren. Bei aller Unvermeidbarkeit des Konfliktes muß aber trotzdem hervorgehoben werden, daß Kennedy in der Behandlung de Gaulles bedeutende Fehler gemacht hat. Sein erster Botschafter in Paris, General James Gavin, sprach kaum ein Wort Französisch — bei de Gaulles Empfindlichkeit gegenüber dem Rückgang der Weltgeltung des Französischen eine unnötige Brüskierung. Die amerikanische Weigerung, de Gaulles Atom-rüstung (die force de frappe) zu unterstützen, hatte natürlich gute Gründe in der Gefahr der weiteren Ausbreitung von Atomwaffen und der Ablehnung der erstrebten französischen Sonderstellung in Westeuropa. Trotzdem bleibt es Tatsache, daß de Gaulle dadurch nur verbittert worden ist und keineswegs davon abgehalten wurde, die französische Atom-rüstung weiter voranzutreiben. Hätte Kennedy nicht wenigstens den Versuch machen sollen, die Unterstützung der sowieso unvermeidlichen force de trappe gegen eine weniger intransigente anti-amerikanische Haltung in anderen Fragen, z. B.der Einwilligung zu Englands Beitritt zum Gemeinsamen Markt, einzutauschen? Ob de Gaulle sich je auf einen solchen „Kuhhandel" eingelassen hätte, ist natürlich schwer zu entscheiden, aber der Versuch hätte unternommen werden'können. Sicher war es im Dezember 1962 psychologisch falsch, de Gaulle brieflich zum Beitritt zu dem anglo-amerikanischen Nassau-Abkommen aufzufordern. Für de Gaulle, mit seinen unglücklichen Erinnerungen an seine Lage im Zweiten Weltkrieg als geduldeter Klient des angloamerikanischen Kriegsbündnisses, mußte eine solche ex posf facto-Einladung direkt beleidigend wirken. Seine scharfe Reaktion kam für Washington völlig überraschend — ein weiterer Beweis, wie sehr es Kennedys Regierungsapparat mitunter an politischem Realismus mangelte.

Selbst zwei so große Bewunderer Kennedys wie Sorenson und Schlesinger sind sich einig in der Verurteilung des anglo-amerikanischen Abkommens von Nassau vom Dezember 1962. Die Krise im britisch-amerikanischen Verhältnis wurde durch eine technische Entscheidung des Verteidigungsministers McNamara ausgelöst: durch die Einstellung der kostspieligen Entwicklung der Skybolt Luft-Boden-Rakete, deren Lieferung an Großbritannien Präsident Eisenhower dem englischen Premier Macmillan noch 1960 versprochen hatte. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die politischen Folgen von McNamaras technischer Entscheidung, nämlich die Vereitelung des britischen Anspruchs, eine unabhängige Atomweltmacht zu bleiben, ungenügend berücksichtigt worden sind. Das ist übrigens kein Einzelfall für den großen Einfluß Mc-Namaras auf Amerikas Außenpolitik. Die britische Regierung war nicht nur über die Verletzung des Eisenhower-Macmillan-Abkommens empört. Sie sah in der amerikanischen Haltung eine vollständige Gleichgültigkeit gegenüber den Erfordernissen der englischen Verteidigungspölitik, wenn nicht sogar die bewußte Absicht, Englands noch verbliebene Weltstellung zu untergraben.

Auf der Nassau-Konferenz kam es zwischen Kennedy und Macmillan zu einem unglücklichen Kompromiß in der Atomrüstungsfrage. Kennedy, öffentlich auf die Einstellung des Skybolt-Programms festgelegt, konnte und wollte einerseits McNamaras Entscheidung nicht rückgängig machen, andererseits durfte er die Engländer aber auch nicht mit leeren Händen nach London zurückkehren lassen, weil er befürchtete, daß eine Brüskierung der konservativen Regierung zu deren Sturz führen könnte. Deshalb wollte er etwas tun, um ihre innenpolitische Stellung zu stärken; nicht wegen einer allgemeinen Sympathie für konservative Regierungen (ganz im Gegenteil), sondern aus dem einen Grund, weil die Konservativen den von Kemmedy gewünschten Eintritt Englands in den Gemeinsamen Markt im Gegensatz zur Labour Party befürworteten. Es klingt paradox, ist aber eine unzweifelhafte Tatsache, daß Kennedy das Nassau-Abkommen in der Absicht unterschrieb, um Englands Beitritt zur EWG zu fördern. Tatsächlich erreichte er aber das Gegenteil, da das Abkommen für de Gaulle Grund für sein Veto gegen den englischen Beitrittsantrag wurde.

Das Nassau-Abkommen erlaubte England im Rahmen einer neu zu errichtenden multilateralen Atomstreitmacht (abgekürzt MLF), bestehend aus Unterseebooten mit Polaris-Raketen, seine Stellung als unabhängige Atom-macht zu bewahren; denn das Recht, die britischen Streitkräfte innerhalb der MLF im Ernstfälle ihres internationalen Charakters zu entkleiden und durch einen selbständigen Entschluß der britischen Regierung einzusetzen, blieb ausdrücklich vorbehalten. Die Hoffnung, daß de Gaulle einer ähnlichen Lösung zustimmen würde, wurde bitter enttäuscht. Auch die Engländer sind über die Lösung des Problems keineswegs glücklich geworden. Das MLF-Projekt wurde bald ein bitterer Zankapfel innerhalb der NATO, und das heikle Problem der Beteiligung der Bundesrepublik an einer atomaren Streitmacht kam ohne zwingende Notwendigkeit und ohne daß die Deutschen sich mit sonderlichem Nachdruck darum bemüht hätten, auf die politische Tagesordnung.

Die technischen und politischen Probleme der MLF haben sich bis heute als unlösbar erwiesen. das amerikanische de facto-Monopol strategischer Raketenwaffen innerhalb der NATO blieb trotz unablässiger Diskussion über Multilateralisierung eine Tatsache, die gaullistische Opposition dagegen wurde keineswegs beschwichtigt. Das schlimmste Resultat von Nassau aber war de Gaulles Veto gegen den Brüsseler Antrag Englands und die Verschärfung der Krise innerhalb des NATO-Bünd-nisses.

Die Inhaltslosigkeit des „Great Designs", die Brüskierung der Bundesrepublik in der Berlin-

Frage, die nachteiligen Folgen der Streichung des Skybolt-Programms, der neue Tiefpunkt im amerikanisch-französischen Verhältnis — alle diese Tatsachen berechtigen zu der Feststellung, daß Kennedys Europapolitik zur Zeit seiner Ermordung in Trümmern lag. Trotzdem darf man nicht von einem vollständigen Fehlschlag sprechen, denn Kennedy hatte trotz aller Fehler einen großen Erfolg: er erwarb sich Sympathien in verschiedenen, früher antiamerikanisch eingestellten Kreisen Westeuropas. War es nicht ein großer Erfolg, Teile der europäischen „Linken" für Amerika zu gewinnen, und zwar durch die einfache Tatsache, daß die Kennedy-Regierung selbst, im Gegensatz zu der Eisenhower-Regierung, eine Art Linksregierung war und deswegen Reformbestrebungen unterstützte, die schon lange erforderlich waren?

Bezeichnend ist die Haltung Kennedys zur „Öffnung nach Links" in Italien. Eisenhower und Dulles waren Gegner dieser Entwicklung und hielten Pietro Nenni für einen Krypto-kommunisten; Kennedy sah in ihr die einzige Möglichkeit, Italien vom Fluch des innenpolitischen Immobilismus zu befreien, und er hielt es zumindest für möglich, daß Nenni seine Gegnerschaft gegen Italiens Mitglied-schaft in der NATO modifizieren würde. In beiden Punkten hat er recht behalten.

Der Grundfehler von Kennedys Europapolitik war der Mangel einer klaren und präzisen Konzeption. Kennedy wußte im Grunde kaum, was er wollte und verkannte die Schwierigkeiten der europäischen Situation. Obwohl im Prinzip ein Befürworter der politischen Integrierung der NATO-Länder, hat er sich in der Praxis zur Zeit der Kuba-Krise von 1962 geweigert, die Bündnispartner vor Absendung seines Ultimatums an die Sowjetunion zu konsultieren. Die in Nassau geborene MLF war eine Verlegenheitslösung, der Kennedy übrigens von Anfang an skeptisch gegenüberstand;

trotzdem hat er einigen seiner Untergebenen — z. B.dem Staatssekretär George Ball im Außenamt — erlaubt, die MLF mit missionarischem Eifer zu fördern. Seine Unterstützung der europäischen Einigungsbewegung war ungewöhnlich wohlwollend, obwohl er die Verschlechterung der amerikanischen Handelsbilanz durch die Errichtung neuer, gesamteuropäischer Zollmauern natürlich als unangenehm empfand. Die Ablehnung des britischen Antrages auf Beitritt zur EWG betrachtete er als persönliche Niederlage.

Entscheidend für das Verständnis von Kennedys Europapolitik ist die Tatsache, daß er — im Gegensatz zu Dulles und Eisenhower — den europäischen Problemen keineswegs den Vorzug vor anderen Weltproblemen gab. Dies mag für Europäer einen bitteren Klang haben, aber es reflektiert nur die globale Stellung Amerikas als Führungsmacht der ganzen nichtkommunistischen Welt. Kennedy hatte zwar enge persönliche Bindungen zu Europa und wollte die Beziehungen zwischen Amerika und Europa vertiefen. Trotzdem muß festgestellt werden, daß sein Verstand sich vorwiegend auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen konzentrierte — denn ein nuklearer Weltkrieg mußte unter allen Umständen verhindert werden —, während sein Herz vorwiegend der Entwicklung der unterentwik-kelten Gebiete Südamerikas und Afrikas galt. In erfrischendem Kontrast zu Kennedys Europapolitik war seine Afrikapolitik durchaus erfolgreich. Ihr Hauptziel war die Identifizierung Amerikas mit den Unabhängigkeits-und Modernisierungsbestrebungen der Neger-bevölkerung. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, die Einzelheiten seiner Afrikapolitik zu untersuchen. Einige Worte über seine stark umstrittene Kongopolitik müssen genügen: Kennedy hat die Bestrebungen der UN und der kongolesischen Zentralregierung unter Kasavubu gegen den Separatismus Tschombes energisch unterstützt. Diese Politik brachte ihn in Opposition zu Belgien, England und Frankreich, drei Ländern mit Kapitalinteressen in Katanga. Sie wurde von seinen republikanischen innenpolitischen Gegnern scharf angegriffen, denn für sie war Tschombe ein antikommunistischer Ordnungsheld und die kongolesische Zentralregierung ein Schrittmacher des Kommunismus. Die erfolgreiche Eingliederung Katangas in den kongolesischen Gesamtstaat im Spätherbst 1962 hat Kennedys Politik gerechtfertigt, ganz abgesehen von den positiven Begleiterscheinungen, daß die UN sich hier in einer Welt-krise bewährt hat, die drohende Intervention der Sowjetunion unterblieb und das amerikanische Prestige in den Augen maßgebender afrikanischer Staatsmänner gewachsen ist.

6. Die Südostasienpolitik Kennedys Die Südostasienpolitik Kennedys stand von Anfang an unter einem ungünstigen Stern. Der Präsident mußte in Vietnam eine traurige Erbschaft antreten. Es ist ihm nicht gelungen, mit den Problemen dieses unglücklichen Landes fertig zu werden. Im Gegenteil: die Lage hat sich während seiner Amtszeit bedeutend verschlechtert.

In der Bereinigung der Situation im benachbarten Laos ist ihm allerdings ein gewisser Erfolg gelungen. Eisenhower hatte den mißglückten Versuch unternommen, aus dem neutralistisch eingestelltem Land Laos eine antikommunistische Bastion zu machen. Der Sturz der „neutralistischen" Regierung Souvanna Phouma und der Aufbau des anti-kommunistischen Generals Nosavan waren das Werk der Central Intelligence Agency. Leider gelang es Nosavan nicht, seine Autorität im ganzen Lande durchzusetzen. Eine kommunistische Revolte brachte die nördlichen Provinzen unter die Kontrolle der kommunistischen Pathet Lao-Bewegung. Aus Verärgerung über die amerikanische Einmischung arbeitete eine neutralistische Gruppe mit den Kommunisten zusammen. Im Winter 1960/61 kam es zu einem Bürgerkrieg, in dem die von Amerika unterstützten Truppen Nosavans wenig Kampf-lust zeigten. Die meisten Beobachter rechneten mit einem kommunistischen Sieg in naher Zukunft. Eisenhower war in den letzten Wochen seiner Amtszeit sogar bereit, einn solchen Sieg durch eine direkte amerikanische militärische Intervention zu verhindern. Kennedy scheute eine solche Intervention. Er hatte aus dem Koreakrieg die Lehre gezogen, daß Amerika unter allen Umständen einen Landkrieg in Asien zwischen amerikanischen und einheimischen Truppen vermeiden müsse und suchte deshalb nach anderen Wegen, um den drohenden kommunistischen Sieg zu verhindern. Eine Teilung des Landes schien nach den Erfahrungen mit den geteilten Ländern Deutschland, Korea und Vietnam wenig verlockend, dagegen die Neutralisierung des ungeteilten Landes eine weit günstigere Lösung. Kennedy hielt Neutralismus — im Gegensatz zu Dulles — keineswegs für unmoralisch. Er distanzierte sich auch von dem oft ausgesprochenen Dogma, eine Koalitionsregierung zwischen Kommunisten und Nicht-Kommunisten müßte notwendigerweise ein Zwischenstadium auf dem Wege zum Kommunismus sein.

Es gelang Kennedy in der Tat, die verschiedenen laotischen Gruppen an den Verhandlungstisch zu bringen und die Sowjetführer ebenso wie die Laoten davon zu überzeugen, daß ein neutralistisches Laos mit einer Koalitionsregierung unter dem Neutralisten Souvanna Phouma den Interessen aller Beteiligten gerecht würde. Um dies zu erreichen, hat Kennedy die Drohung der Entsendung amerikanischer Truppen nicht gescheut. Er machte seinen kommunistischen Gegenspielern klar, daß er ein kommunistisches Laos unter keinen Umständen akzeptieren würde. Die weitere Entwicklung hat Kennedy wenigstens bis heute recht gegeben: Laos ist aus dem Kalten Kriege praktisch ausgeklammert worden (obwohl die Nord-Vietnamesen gegen den Willen der laotischen Regierung das Dschungelgebiet an der Grenze von Vietnam für ihre militärischen Aktionen benutzen). Die neutrale laotische Regierung hat ihre Unabhängigkeit nach allen Seiten bewahrt und ist nicht zum Schrittmacher des Kommunismus geworden.

Die viel schwierigeren Umstände im Nachbarland Vietnam haben eine ähnliche Lösung bis heute leider verhindert. Hier hat Kennedy von Eisenhower die Verpflichtung geerbt, das wenig populäre Regime des süd-vietnamesischen Diktators Diem gegen den von Nord-

Vietnam geförderten Vietcong-Aufstand zu unterstützen. Im Grunde widersprach es Kennedys außenpolitischen Grundsätzen, ein solches Regime zu unterstützen; er glaubte, daß nur progressive und (soweit wie möglich) demokratische Regimes auf die Dauer in der Lage wären, der Gefahr der kommunistischen Unterwanderung zu begegnen. Kennedy hat sich trotzdem für die Fortsetzung des amerikanischen Einsatzes in Süd-Vietnam entschieden: Er fühlte sich an das Versprechen Eisenhowers gegenüber Diem aus dem Jahre 1954 gebunden; das amerikanische Prestige schien unwiderruflich engagiert; der Teil der Bevölkerung, der im Vertrauen auf amerikanische Hilfe eine stark antikommunistische Haltung bewahrt hatte (einschließlich etwa 900 000 Flüchtlingen aus dem Norden), durfte nicht verraten werden; außerdem beschwor ein kommunistischer Sieg in Süd-Vietnam die Gefahr herauf, daß ganz Südostasien kommunistisch würde (nach der sogenannten Domino-Theorie). Der amerikansiche Einsatz blieb aber unter Kennedy begrenzt. Entgegen der Meinung seiner militärischen Ratgeber hat sich der Präsident resolut geweigert, größere amerikanische Truppenkontingente nach Vietnam zu entsenden. Noch kurz vor seiner Ermordung hat er seine Grundüberzeugung wiederholt, daß der vietnamesische Krieg von vietnamesiB sehen Truppen durchgefochten und gewonnen werden müsse — natürlich mit Hilfe amerikanischer Waffen, Truppenausbilder und besonders geschulter Anti-Guerilla-Sondertruppen.

(In der Tat wurde das amerikanische Personal in Vietnam unter Kennedy von etwa 500 auf 16 000 vermehrt.) Die Wirtschaftshilfe wurde gleichzeitig intensiviert, und Diem unter Druck gesetzt, durch zeitgemäße Sozialreformen Anhänger zu gewinnen. Von einem großen Erfolg dieser Bemühungen kann leider keine Rede sein: Die Vietcong-Rebellen haben in den Jahren 1960— 1963 den größten Teil des Landes unter ihre Kontrolle gebracht, entscheidende Sozialreformen sind unterblieben, der Diktator Diem fand sich mehr und mehr von der Bevölkerung isoliert. Als er sich dann auch noch in einen Konflikt mit den Buddhisten stürzte, waren seine Tage gezählt. Der Militärcoup vom November 1963, der Diems Diktatur beseitigte, entsprach durchaus den Wünschen der amerikanischen Regierung, wenn auch der Mord an dem gestürzten Diem weder geplant noch vorausgesehen war. Kennedy starb in der Hoffnung, daß die Nachfolgeregierung ein sauberes, progressives und militärisch erfolgreiches Regime aufbauen würde.

Diese Hoffnung ist nicht in Erfüllung gegangen. Ob Kennedy den dadurch „notwendig" gewordenen Großeinsatz in Vietnam ebenso wie sein Nachfolger Johnson unternommen hätte, ist schwer zu sagen. Er hat sich verschiedentlich — natürlich in weniger verzweifelten Situationen — konsequent gegen die Entsendung eines amerikanischen Expeditionskorps ausgesprochen, übrigens hat der Präsident (laut Schlesinger) im Herbst 1963 bereut, sich wegen der Fülle anderer Geschäfte nicht eingehender mit dem ganzen Vietnamproblem befaßt zu haben.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Kennedy das von seinem Vorgänger übernommene Engagement verstärkt und die Möglichkeit eines amerikanischen Rückzuges aus einer verzweifelten Lage verringert hat. Von energischen Bemühungen um eine friedliche Lösung des Problems, z. B. im Sinne einer Rückkehr zu der Genfer Vereinbarung von 1954, war während seiner Amtszeit kaum die Rede, ferner hat er Diem viel zu lange unterstützt. Er hat die moralische Belastung Amerikas vor der Weltöffentlichkeit durch die Intervention zugunsten eines reaktionären Diktators wahrscheinlich unterschätzt. Von Mitschuld an dem heute unglücklichen und schwierigen Stand der amerikanischen Vietnampolitik kann Kennedy keineswegs freigesprochen werden. 7. Die Verteidigungspolitik Der Vietnam-Konflikt zeigte mit klassischer Deutlichkeit die Grenzen der amerikanischen Verteidigungspolitik der Eisenhower-Ära. Die sogenannte „Radford-Strategie" der sofortigen Vergeltung mit Atomwaffen gegen kommunistische Aggression wurde als nicht anwendbar im Kampf gegen Vietcong-Guerillas erkannt. Vielmehr wurden besondere „Anti-Guerilla" -

Streitkräfte (Conter-insurgency lorces) mit Spezialisierung im Dschungelkrieg gebraucht. Kennedy hat gegen den Widerstand des Pentagons die Schaffung solcher Sondereinheiten durchgesetzt und durch persönlichen Enthusiasmus viel dazu beigetragen, daß die „Männer mit den grünen Baskenmützen" im Volke populär wurden.

Die Aufstellung von Anti-Guerilla-Einheiten muß im Zusammenhang mit der sogenannten „McNamara-Strategie" gesehen werden, deren eigentlicher Kern die Vorbereitung für alle möglichen Kriege — nicht nur den unwahrscheinlichen großen Atomkrieg — war. Dies bedeutete Vermehrung der konventionellen Streitkräfte und Erhöhung ihrer Einsatzfähigkeit durch Verbesserung des Flugtransportwesens. Dabei wurde die nukleare Rüstung natürlich nicht vernachlässigt. Im Gegenteil: Er hat das Präsidentenamt mit dem festen Vorsatz übernommen, die angeblich von Eisenhower tolerierte sogenannte „Raketenlücke“, die bei einem nuklearen Konflikt vielleicht kriegsentscheidend sein konnte, zu schließen. Die Kennedy-Regierung konnte sich glücklicherweise nach ihrer Amtsübernahme überzeugen, daß eine solche Lücke in Wirklichkeit gar nicht bestand. Kennedy hat große Ausgaben veranlaßt, um die friedenssichernde „Fähigkeit zum nuklearen Gegenschlag“ (second strike capacity) nach einem vorangegangenen sowjetischen Angriff zu schaffen. Dadurch entfiel für die Sowjets jeder Anreiz für einen Überraschungsangriff im Stile von Pearl Harbor.

Dem Zwecke der Friedenssicherung galt auch Kennedys Betonung der Notwendigkeit von Schutzbauten gegen Atomangriffe. Die Schutzbaufrage ist eines der wenigen Probleme gewesen, bei dem Kennedy als Führer vor der Öffentlichkeit versagt hat. Seine Befürwortung des Baues von Schutzräumen im Mai 1961 führte zu üblen Erscheinungen in der öffentlichen Meinung und im Wirtschaftsleben. Teile der Bauindustrie förderten aus Gewinnsucht die Hysterie vor einem bevorstehenden sowjetischen Atomangriff. Moraltheologen diskutierten über das Recht vorsorglicher Besitzer von Schutzräumen, im Ernstfall ihren Nachbarn die Benutzung mit Waffengewalt zu verweigern. Kennedy hat es versäumt, ein konkretes, durch Regierungsgelder finanziertes Programm vorzulegen und der Hysterie durch kühle, überzeugende Führung entgegenzutreten. Kennedys Sorge vor einer möglichen sowjetischen Atomüberlegenheit hat ihn schweren Herzens veranlaßt, im April 1962 Atomversuche wiederaufzunehmen. Die Sowjets hatten im September 1961 unter Verletzung eines Gentleman's Agreement eine große Serie von die Atmosphäre vergiftenden Atomexplosionen unternommen; dies setzte Kennedy unter den Druck der Militärs und einer aufgeregten öffentlichen Meinung, den noch bestehenden amerikanischen Vorsprung auf nuklearem Gebiet durch neue Versuche zu festigen. Der Präsident hat lange gezögert: Die Gefahr, die eine atomare Verseuchung der Atmosphäre für zukünftige Generationen in sich barg, hat ihm als verantwortlichen Staatsmann große Sorge gemacht. Er ließ sich nur schwer von der absoluten militärischen Notwendigkeit neuer Versuche überzeugen; er wünschte die größtmögliche propagandistische Ausbeutung der unpopulären sowjetischen Handlung vor der Weltöffentlichkeit. Erst nach dem Fehlschlag eines weiteren Versuchs, auf der neu einberufenen Genfer Abrüstungskonferenz im März 1962 einen vertraglich gesicherten Atomversuchs-Stopp zu erreichen, hat Kennedy die notwendigen neuen nuklearen Experimente erlaubt. Im Gegensatz zur überraschenden sowjetischen Aktion, deren Urheber es nicht einmal für nötig hielten, ihr Handeln vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen, hat Kennedy so lange wie möglich gezögert und dann mit verblüffender Offenheit die praktischen Gründe für seine Aktion der ganzen Welt mitgeteilt. Sein Wunsch, trotzdem einen Atom-versuchs-Stopp-Vertrag sobald wie möglich zu erreichen, blieb unerschüttert und wurde im Sommer 1963 durch einen großen Erfolg gekrönt.

Der’von Kennedy im Mai 1961 gefaßte Entschluß, die nachhinkende amerikanische Raumforschung zu intensivieren und bis zum Jahre 1970 durch Ausgabe von 20 Milliarden Dollar eine Mondlandung — wenn möglich vor der Sowjetunion — zu erreichen, beruhte bei der engen Verbindung von Raumfahrt und Raketenentwicklung teilweise auf militärischen Überlegungen, obwohl Kennedy verschiedentlich versucht hat, die Kooperation der Sowjetunion für eine gemeinsame Raumforschung zu gewinnen. Kennedy war davon überzeugt, daß der bestehende sowjetische Vorsprung auf diesem Gebiet aus militärischen, außenpolitischen und psychologischen Gründen unbedingt eingeholt werden müsse; er hat die für Amerikas Weltgeltung ungünstigen Folgen der sowjetischen Sputniks von 1957 klar erkannt. Die bedeutenden amerikanischen Leistungen bei verschiedenen Raumflügen seit 1962 haben Kennedys Vertrauen, daß der sowjetrussische Vorsprung überwunden werden könnte, gerechtfertigt. Ob diese Leistungen auf Kosten objektiv wichtigerer Aufgaben, z. B. in der amerikanischen Sozialpolitik oder der Auslandshilfe zustande gekommen sind, bleibt sehr umstritten. Last not least muß noch die größte Leistung der Verteidigungspolitik von Kennedy und McNamara erwähnt werden: Die systematische Reorganisation des gesamten Verteidigungsapparates. Die traditionelle kostspielige Rivalität der drei Wehrmachtsteile wurde rücksichtslos beseitigt und ein gemeinsames Beschaffungssystem eingeführt, überflüssige militärische Anlagen wurden trotz der Proteste der wirtschaftlich betroffenen Gemeinden geschlossen. Bei der Entwicklung neuer Waffen wurden streng rationelle Maßstäbe angelegt, wobei der Kostenfaktor vorrangige Geltung hatte (daß dies manchmal ungünstige politische Wirkungen hatte, wurde bereits am Fall der Streichung des Skybolt-Raketen-Pro-gramms gezeigt). Dieses Programm wurde von McNamara mit einem Stab vom neuen Typ der „Militärintellektuellen" durchgeführt: meistens junge Zivilisten, deren militärisches Fachwissen ausschließlich aus Büchern und Universitätsaiskussionen aerrührt. Es kam notwendigerweise zu scharfen Konflikten zwischen den dreißigjährigen Theoretikern und den kampferprobten fünfzigjährigen Generalen. McNamaras Unterstützung der ersten Gruppe führte zeitweilig zu einer ernsten Vertrauenskrise in den Kreisen der altgedienten Soldaten. Sicher sind im einzelnen große Fehler von McNamara gemacht worden, aber das Ziel der Rationalisierung der gesamten Verteidigungspolitik unter Führung von Zivilisten wurde gegen den Widerstand der Berufs-militärs erreicht. Das Pentagon wurde zum Instrument des verantwortlichen Ministers und des Präsidenten: Staatskunst und Kriegshandwerk gingen Hand in Hand bei klarem Primat der Politik. 8. Die Kuba-Raketenkrise vom Oktober 1962 Die Koordinierung von Außen-und Verteidigungspolitik im Regierungsapparat. Kennedys hat sich in der Kubakrise vom Oktober 1962 sichtbar bewährt. Die Krise wurde durch Chruschtschows abenteuerlichen Entschluß ausgelöst, das Kuba Fidel Castros in einen offensiven sowjetischen Raketenstützpunkt zu verwandeln. Dies hätte eine schwerwiegende Wandlung des Welt-Gleichgewichts zuungunsten Amerikas bedeutet. Es bleibt noch heute unverständlich und rätselhaft, wie der sowjetische Diktator sich in dem Glauben wiegen konnte, die USA würden eine solche Entwicklung widerstandslos hinnehmen. In der Tat mußte aber jeder Präsident auf eine so provokatorische russische Politik mit einem scharfen „Niemals" reagieren. Warum hat Chruschtschow dies nicht vorausgesehen? Ist der sowjetrussische Regierungsapparat über die einfachsten Realitäten des amerikanischen politischen Lebens nicht informiert? Oder hatte Chruschtschow einen so ungünstigen persönlichen Eindruck von Kennedy — trotz oder wegen der Wiener Begegnung —, daß er seinen Gegenspieler einfach unterschätzt hat? Die Bedeutung von Kennedys Entscheidung lag nicht darin, daß er sofort nach Entdeckung des Baues der Raketenabschußrampen den Entschluß faßte, ihren Abbau auf jeden Fall zu erzwingen. Dieser Entschluß war — die Feststellung muß wiederholt werden — für jeden amerikanischen Präsidenten, der nicht von der öffentlichen Meinung fortgefegt werden wollte, selbstverständlich. Seine Bedeutung lag in der Form und in den Modalitäten, unter denen er den demütigenden sowjetischen Rückzug erzwang. Kennedys Ratgeber waren, wie zu erwarten war, verschiedener Meinung über die möglichen konkreten amerikanischen Gegenmaßnahmen. Eine Gruppe um Adlai Stevenson wollte den Rampenabbau durch Verhandlungen erreichen und war anscheinend bereit, den (tatsächlich schon länger geplanten) Verzicht auf die amerikanischen Raketenstützpunkte in der Türkei und Italien den Sowjets als quid pro quo anzubieten. Kennedy hat diese „Politik der Tauben" (doves) abgelehnt, da sie einen sowjetischen Sieg bedeutet (nämlich Abbau der seit Jahren bestehenden amerikanischen Raketenbasen auf Grund russischer Erpressung) und außerdem ihm innenpolitisch schwer geschadet hätte. Eine zweite Gruppe, die sogenannten „Habichte“ (hawks) um Robert McNamara und John McCone (Leiter der Central Intelligence Agency), wollte das Problem auf gewaltsame Weise durch einen Überraschungsangriff auf die im Bau befindlichen Rampen in Kuba lösen; sie dachten an eine Kombination von Luftangriff und Landung von Fallschirmjägern. Kennedy scheute eine so dramatische Reaktion, weil sie dem Ruf Amerikas in der Welt sehr geschadet, Erinnerungen an den japanischen Angriff auf Pearl Harbor wachgerufen und möglicherweise unbedachte sowjetische Gegenschläge in anderen Teilen der Welt (z. B. gegen West-Berlin) provoziert hätte.

Der Präsident hat sich nach langen Beratungen für einen Mittelweg entschlossen: zur Blokkade Kubas, die die notwendigen sowjetischen Lieferungen zur Fertigstellung der Raketen-rampen verhindern sollte. Die Blockade war als erster amerikanischer Schritt gedacht und ließ alle anderen Möglichkeiten (von Verhandlungen bis zum Luftangriff) für die Zukunft offen. Der Schritt demonstrierte zwar Amerikas Festigkeit gegenüber der sowjetischen Provokation, baute aber gleichzeitig den Russen (im Gegensatz zu einem militärischen Schlag) goldene Brücken für den Rückzug. Chruschtschow hat sich dann auch nach einer von Kriegsspannung geladenen Woche von der Unhaltbarkeit seines Abenteuers überzeugt und den sowjetischen Schiffen auf hoher See den Befehl zur Rückkehr gegeben. Als diplomatisches Nachspiel kam das sowjetische Versprechen, die begonnenen Bauten unter UN-Kontrolle vollständig abzureißen. Kennedy gab als quid pro quo das Versprechen, keinen unprovozierten Angriff auf Kuba zu unternehmen. Die Sowjets haben ihr Versprechen gehalten, obwohl eine Verifizierung wegen Castros Weigerung, UN-Inspekteure zu empfangen, unmöglich war. Dadurch wurde das Nichtangriffsversprechen Kennedys im technischen Sinne ungültig, aber Amerika hat sich selbstverständlich daran gehalten.

übrigens hat Kennedy Castros Sabotierung der von der UdSSR zugesagten internationalen Inspektion nicht tragisch genommen; er hat die in der Krise bewährte Luftaufklärung einfach fortgesetzt. Selbst seine mißtrauischen innenpolitischen Gegner haben sich mit der Zeit vom Abbau der sowjetischen Raketen-basen überzeugen lassen. Um so mehr kritisierten sie, daß Kennedy die Krise nicht zu einer endgültigen Lösung des Castro-Problems benutzt habe. Kennedy antwortete mit dem offenen Geständnis, daß er dafür keine Patentlösung bereit habe; man müsse Geduld haben und die Notwendigkeit erkennen, den Störfaktor Castro in den größeren Rahmen der ganzen Hemisphäre einzufügen. Im Falle des Erfolges der „Allianz für den Fortschritt" würde aus der „castristischen Gefahr" ein bloßes Ärgernis werden.

Der Präsident hat nach seinem bedeutendsten außenpolitischen Sieg staatsmännische Mäßigung bewahrt. Er verbat jede Form von Prahlerei und erlag nicht der Versuchung, den Sieg durch verstärkten Druck auf die Sowjets in anderen Teilen der Welt auszunutzen. Mit kühler Nüchternheit erkannte er die spezifischen Bedingungen des amerikanischen Erfolges: Die USA besaß eine große „lokale" militärische Überlegenheit; die sowjetischen Sicherheitsinteressen wurden durch einen Rückzug nicht entscheidend geschädigt; die Weltöffentlichkeit, empört über die provokatorische sowjetische Uberraschungsaktion, stand weitgehend auf Seiten der USA. Wenn Amerika diesen außenpolitischen Erfolg für andere Zwecke ausgenutzt hätte, z. B. durch verstärkten Druck auf das sowjetrussische Imperium in Osteuropa, wären alle diese Siegesaussichten in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Bei aller Freude über seinen Sieg hat sich Kennedy große Sorgen über die Tatsache gemacht, daß es überhaupt zu einer so gefährlichen Konfrontierung zwischen den zwei nuklearen Großmächten gekommen war. Eine rationale Staatsführung — ein Imperativ im nuklearen Zeitalter — war unmöglich, wenn Russen und Amerikaner durch Verkennung ihrer gegenseitigen Absichten so nahe an die Schwelle eines katastrophalen Krieges kommen konnten. Kennedys „Kreml-Astrologen" hatten ihm nach den ersten Gerüchten über den Raketenrampenbau in Kuba versichert, die Gerüchte müßten falsch sein, da sie der bekannten Vorsicht der russischen Außenpolitik diametral widersprachen. Die sowjetischen Amerika-spezialisten haben Chruschtschow vermutlich ähnlich falsche Analysen geliefert. Die Kubakrise hat gezeigt, daß die Kenntnis der gegenseitigen Realitäten eine Voraussetzung für die Erhaltung des Weltfriedens ist. Deshalb hat Kennedy sich energisch für eine Verbesserung der kulturellen Beziehungen eingesetzt.

9. Die Strategie des Friedens Der Erfolg in der Kuba-Krise hat Kennedy keineswegs zu einer Änderung der Grundlagen seiner Rußlandpolitik veranlaßt. Sie bestanden nach wie vor in der Kombination von Festigkeit in der Verteidigung fundamentaler Interessen mit Verhandlungsbereitschaft in allen Fragen und einem Suchen nach gemeinsamen Interessen. Seine größte Hoffnung war eine Entspannung im Kalten Krieg, der er in der großen American-University-Rede vom 10. Juni 1963 glänzenden Ausdruck gab.

Der Entgiftung der Beziehungen zur Sowjetunion diente die Errichtung einer direkten Te-lephonverbindung zwischen dem Kreml und dem Weißen Haus im Frühjahr 1963 (dem so-genannten „heißen Draht"). Der Mangel einer solchen Verbindung hatte die Meisterung der Raketenkrise erschwert und die Möglichkeit eines „In den Krieg Stolperns" vergrößert. Kennedy feierte einen weiteren Erfolg seiner Entspannungspolitik in dem Moskauer Atomversuchsstopp-Vertrag vom 25. Juli 1963. Dieser Vertrag war die Belohnung für Kennedys zähes Bemühen, selbst nach Wiederaufnahme der amerikanischen Versuche sobald wie möglich zu einer Verständigung mit den Sowjets in dieser Frage zu kommen. Der Vertrag war der erste und wichtigste Schritt auf dem Wege zur Abrüstung; bei der Unmöglichkeit, geheime Atomversuche in der Atmosphäre oder im Wasser durchzuführen, konnte die schwierige Frage der Inspektion, über die eine russisch-amerikanische Einigung unmöglich war, ausgeklammert werden. Die Gefahr der atomaren Verseuchung wurde trotz der Beitrittsverweigerung von Frankreich und China bedeutend verringert, ebenso die Gefahr der Ausbreitung von Atomwaffen an weitere Mächte. Diesen großen Vorteilen stand nur als relativ geringfügiger Nachteil die Tatsache gegenüber, daß der Beitritt zum Vertrag „legitimen" wie „illegitimen" Staaten offen stand; dies führte z. B. zu einer kleinen diplomatischen Aufwertung der „DDR". Die in der Bundesrepublik oft geübte Kritik an der ungenügenden Konsultierung Bonns während der Moskauer Verhandlungen verkennt die Tatsache, daß es für Bonn viel einfacher war, ein fait accompli zu akzeptieren als im voraus einer gewissen diplomatischen „Gleichberechtigung" der „DDR" freiwillig zuzustimmen. Kennedy hat sich mit Geschick bemüht, eine große Mehrheit im amerikanischen Senat für die Ratifizierung des Vertrags zu gewinnen. Er hat dies in der Tat trotz starkem Widerstand von Seiten vieler Militärs (die glaubten, Atomversuche wären für die weitere Waffen-entwicklung unentbehrlich) erreicht. Statt der notwendigen Zweidrittelmehrheit erhielt er eine Vierfünftelmehrheit von 80 : 19. Ferner zeigte die öffentliche Begeisterung bei jeder Erwähnung des Atomversuchsstopps in Kennedys Reden auf seiner Reise durch den amerikanischen Westen im September 1963, daß die überwältigende Mehrheit des Volkes hinter dem Vertragswerk stand.

Kennedy hat die Versöhnungspolitik durch den umstrittenen Verkauf amerikanischen Weizens an die von Hungersnot bedrohte Sowjetunion im Oktober 1963 fortgesetzt. Es war Kennedy durchaus zuwider, den Hunger als Kampfmittel im Kalten Kriege zu benutzen. Ferner sah er in verbesserten Handelsbeziehungen zur Sowjetunion einen Schlüssel zur Verbesserung der politischen Beziehungen. Er war ein unbedingter Befürworter der These, daß ein satter Kommunist weniger gefährlich sei als ein hungriger. Der von Republikanern geschürte Widerstand gegen den Weizenverkauf schien Kennedy als inkarnierte Unvernunft; denn sie war tatsächlich Ausdruck der primitiven Vorstellung, das Sowjetsystem könnte wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten zusammenbrechen. Die Gegner des Weizen-geschäftes verkannten die einfache Tatsache, daß Handel mit kommunistischen Ländern keine Wohltätigkeit Amerikas darstellt, sondern durchaus im gegenseitigen Interesse liegt (dies war um so mehr der Fall, da Rußland bereit war, den Weizen mit Gold zu bezahlen und damit der amerikanischen Zahlungsbilanz zu helfen). Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Schwierigkeiten, die Kennedys Außenpolitik überwinden mußte, daß er eine so selbstverständliche Sache wie den Weizen-export energisch gegen die engstirnige Opposition der republikanischen Parteiführung verteidigen mußte. Bei Würdigung dieser Schwierigkeiten sind die Erfolge seiner vernünftigen Versöhnungspolitik gegenüber der Sowjetunion noch höher zu bewerten. Ausländische Kritiker Kennedys sind oft geneigt, die innenpolitischen Belastungen der amerikanischen Außenpolitik zu übersehen

IV. Das Gesamturteil

John F. Kennedy ist als Unvollendeter aus dem Leben gerissen worden. Zur Zeit seiner tragischen Ermordung stand er auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit und konnte mit fünf weiteren Amtsjahren rechnen. Seine Wiederwahl im Herbst 1964 galt als sicher: der Regierungsapparat war glänzend eingespielt; durch das Zustandekommen des Moskauer Vertrages hatte er gerade einen großen außen-politischen Erfolg errungen; in der Innenpolitik stand die Verabschiedung der Bürgerrechtsvorlage, der Steuersenkungsgesetze und des Gesetzgebungswerks zum „Kampf gegen die Armut" durch den Kongreß kurz bevor. Er war sich seiner selbst sehr sicher und wurde weitgehend sogar von vielen Gegnern als Präsident von ungewöhnlichem Format geachtet. Die furchtbare, vollständig irrationale Mordtat von Dallas hat wahrscheinlich verhindert, daß er zu den wirklich „großen" Präsidenten der amerikanischen Geschichte gezählt werden wird.

Bei der Betrachtung von Kennedys Innenpolitik kann man von vier großen Leistungen sprechen. Erstens, daß er das Tabu gegen einen Präsidenten katholischer Konfession gebrochen hat: Sein großartiger Kampf für die No-minierung 1960 und seine unbedingte Unabhängigkeit vom Klerus während seiner Amtszeit haben die sogenannte „katholische Streitfrage" (Catholic issue) aus der amerikanischen Politik weitgehend eliminiert. Zweitens, die Verstärkung des Präsidentenamtes durch Belebung der von Eisenhower ungenützten Kompetenzen und Wirkungsmöglichkeiten: Unter Kennedy wurde das Weiße Haus wieder — wie zu Zeiten Franklin Roosevelts — zum dynamischen Motor der gesamten amerikanischen Politik. Drittens, die Lenkung der „Bürgerrechtsrevolution" in verfassungsmäßige Bahnen: Kennedy gab der Negerbevölkerung die Zuversicht, daß alle gerechten Ziele innerhalb des existierenden politischen Systems erreicht werden könnten. Viertens, die Abkehr von einer engstirnigen Finanzpolitik unter dem Vorzeichen anachronistischer Dogmen: Kennedy hat das Budget bewußt zu einem Instrument der Wirtschaftspolitik gemacht.

Seine Wirtschaftspolitik hatte bedeutende Erfolge, die sichtbar wurden in der Erreichung von großem Wohlstand bei gleichzeitigem Kampf gegen inflationäre Tendenzen und die von Eisenhower geerbte passive Zahlungs-bilanz. Wegen seiner wenig erfolgreichen legislatorischen Tätigkeit kann man ihm kaum einen Vorwurf machen, denn sie litt unter der Ungunst der parlamentarischen Verhältnisse und der Apathie der öffentlichen Meinung.

Kennedys schwerste Probleme und sein stärkstes Interesse lagen auf dem Gebiet der Außenpolitik. Seine historische Größe wird sicher weitgehend an seinen Leistungen auf diesem Gebiet gemessen werden. Man muß m. E. in der Beurteilung — wie oben dargelegt — scharf zwischen Konzeption und Ausführung unterscheiden. In der Konzeption seiner Politik gegenüber dem Kommunismus entwickelte er eine Mischung von Olivenzweig und Schwert, von Verhandlungsbereitschaft und vergrößerten Verteidigungsanstrengungen; er wurde dabei den Gegebenheiten des nuklearen Zeitalters durchaus gerecht. Die Reorganisation des Pentagons mit voller Durchsetzung des Primats der Zivilisten gegenüber dem Militär war eine hervorragende Leistung. Von großer Bedeutung war ferner das verstärkte amerikanische Interesse an den Problemen der unterentwickelten Länder, der sogenannten Dritten Welt. Kennedy zeigte volles Verständnis für ihren Wunsch nach Neutralität im Kalten Krieg und ihre Konzentrierung auf das schwierige Problem der „Modernisierung" primitiver Gesellschaftszustände. Er hat es ferner verstanden, seinen Landsleuten viele unangenehme Tatsachen der Gegenwart einzuhämmern und sie zu beschwören, sich rechtzeitig von anachronistischen Vorstellungen zu trennen. So betonte er u. a., daß es im nuklearen Zeitalter keinen vollkommenen Sieg über den Kommunismus geben kann, daß es utopisch ist, an die „Amerikanisierung" der existierenden „pluralistischen" Welt zu glauben, daß Amerika eine Dauerverpflichtung hat, den unterentwickelten Völkern wirtschaftlich zu helfen usw. Die Wahlniederlage Goldwaters 1964 zeigte, daß Kennedys „Umerziehung" des amerikanischen Volkes keineswegs vergeblich gewesen ist.

Der Größe seiner Konzeption steht die etwas enttäuschende Bilanz der Ergebnisse gegenüber. Die Schweinebucht-Invasion war eines der größten Fiaskos der amerikanischen Außenpolitik. Glücklicherweise ist der ungünstige Eindruck in der öffentlichen Meinung Südamerikas bald durch die „Allianz für den Fortschritt" ausgelöscht worden. Kennedys Europapolitik muß als wenig erfolgreich bezeichnet werden, obwohl er sich durch seine Aufge-

schlossenheit große Sympathien bei europäischen Intellektuellen erwerben konnte. Der Bau der Berliner Mauer konnte nicht verhindert werden; die Bonner Regierung wurde durch die amerikanische Verhandlungstaktik in der Berlin-Frage unnötig verärgert; die multilaterale nukleare Streitmacht war eine Fehlgeburt; England wurde durch die diplomatisch schlecht vorbereitete Streichung des Skybolt-Pro-gramms brüskiert; Frankreich verhinderte Englands Eintritt in den Gemeinsamen Markt und blockierte die institutioneile Weiterentwicklung des NATO-Bündnisses.

Im Gegensatz zur Europapolitik hatte Kennedys Afrikapolitik große Erfolge in der Verhinderung der Spaltung des Kongos und der Gewinnung von Sympathien unter den Führern der jungen unabhängigen Nationen. In Südostasien gelang Kennedy wenigstens zeitweilig die Lösung der Laos-Frage — ein Erfolg, der durch die richtige Mischung von militärischer Drohung und Verhandlungsbereitschaft mit Suche nach einer für Rußland ebenso wie Amerika befriedigenden Neutralisierung erreicht wurde. In der weit schwierigeren Vietnam-Frage hat Kennedy weniger Erfolg gehabt; er hat zwar eine massive Intervention vermieden, aber den amerikanischen Einsatz ohne kühle Abwägung der Erfolgschancen verstärkt und den unpopulären Diktator Diem zu lange unterstützt.

Von größter Bedeutung für Kennedys staatsmännischen Ruf war seine hervorragende Haltung in der Kuba-Raketenkrise vom Oktober 1962. Seine Festigkeit zwang die Sowjets zum vollständigen Abbau der Raketenrampen. Der Präsident gab ihnen aber gleichzeitig die Möglichkeit, ohne allzu großen Prestigeverlust den Rückzug anzutreten, und enthielt sich jedes demütigenden Jubels gegenüber dem Besiegten. Er setzte seine versöhnliche Politik gegenüber der Sowjetunion konsequent fort und erzielte einen großen Erfolg im Atomversuchsstopp-Abkommen vom Juli 1963.

Bestechender als Kennedys innen-und außen-politische Leistungen ist der unauslöschliche Eindruck seiner Persönlichkeit. Die attraktive Mischung von Idealismus und Pragmatismus, jugendlicher Aktivität und staatsmännischer Reife, Enthusiasmus und Rationalität, Sportlichkeit und Eleganz wirkten bestrickend innerhalb und außerhalb Amerikas. Im Gegensatz zu Eisenhower war er ein Mann von erfrischendem Humor und gnadenloser Selbstkritik. Er hat gezeigt, daß Amerika trotz Tendenzen zum Immobilismus und zur Selbstzu-B friedenheit bereit ist, sich ernsthaft mit den brennenden Problemen der zweiten Jahrhunderthälfte auseinanderzusetzen. Er hat sich nicht gescheut, die Last der Verantwortung der Führung der Freien Welt auf seine Schultern zu laden; dabei hat er es aber verstanden, Amerika und sich selbst weitgehend mit allen „fortschrittlichen" Tendenzen zu identifizieren. Sein Tod wurde fast in der ganzen Welt — in Moskau wie in Washington, London, Bonn, Neu-Delhi oder Rio de Janeiro — als Katastrophe empfunden. Seit Roosevelt hatten sich Ausländer mit keinem amerikanischen Präsidenten so eng verbunden gefühlt wie mit John F. Kennedy. In seiner kurzen Amtszeit von weniger als drei Jahren war die Persönlichkeit eindrucksvoller als die Erfolgsbilanz (besonders in der Außenpolitik). Ob es ihm vergönnt gewesen wäre, in einer längeren Amtszeit große außenpolitische Erfolge zu gewinnen, läßt sich nicht mit Gewißheit beurteilen; ebensowenig, ob er Entscheidungen Johnsons wie die Intervention in der dominikanischen Republik und den massiven militärischen Einsatz in Vietnam vermieden hätte.

Ein der Mitwelt und Nachwelt unerklärliches Fatum hat ihn fortgerissen, als er am Ende seiner Lehrjahre im Präsidentenamt stand. Wie würden Historiker Bismarck beurteilen, wenn er 1865 im Alter von 50 Jahren ermordet worden wäre, oder Adenauer, wenn er 1952 nach einer dreijährigen Amtszeit im Alter von 76 Jahren gestorben wäre? Kennedy wurde im Alter von nur 46 Jahren ermordet. „Wen die Götter lieben, der stirbt jung". Man ist erstaunt über die Fülle seines Lebens, deprimiert bei der Kontemplation der unerfüllt gebliebenen Möglichkeiten. Trotzdem muß bei aller Begeisterung für Kennedys Person die nüchterne Beurteilung des Staatsmannes mit einem Fragezeichen enden. Er wäre vielleicht ein wirklich großer Präsident geworden; zur Zeit seiner Ermordung war er es, trotz vieler Anzeichen historischer Größe, (noch?) nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Theodore Sorenson, Kennedy, New York 1965 (deutsch: München 1966).

  2. Arthur Schlesinger, A Thousand Days. John F. Kennedy in the White House, Boston 1965 (deutsch: 1000 Tage — John F. Kennedy im Weißen Haus, München 1966).

  3. Die beste Biographie des Vaters ist die gut abgewogene Studie von Richard J. Whalen, The Founding Father: The Story of Joseph P. Kennedy. New York 1964.

  4. So erklärt sich z. B. die objektiv kaum zu rechtfertigende Fortsetzung der Politik der diplomatischen Nichtanerkennung Rotchinas, die Kennedy trotz besserer Einsicht nicht revidiert hat.

Weitere Inhalte

Klaus Epstein, Dr. phil., Professor für Geschichte an der Brown University, Providence, Rhode Island, geb. 6. April 1927 in Hamburg, 1938 mit den Eltern nach den USA emigriert. Veröffentlichung u. a.: Mathias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin 1962.