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China und die kommunistische Bewegung | APuZ 15/1966 | bpb.de

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APuZ 15/1966 Artikel 1 Was kommt nach der Eindämmung? Neutralismus und Polyzentrismus China und die kommunistische Bewegung

China und die kommunistische Bewegung

Geoffrey Hudson

Dreißig Jahre absolute Autorität der KPdSU

Nach der bolschewistischen Machtergreifung in Petrograd im November 1917 war Rußland fast drei Jahrzehnte lang das einzige Land der Erde, in dem eine kommunistische Partei die Staatsgewalt in ihren Händen hielt. Die anderen kommunistischen Parteien — ob sie sich nun legal betätigen konnten oder im Untergrund arbeiten mußten —-besaßen nicht die Machtmittel der Regierung, um ihre Ziele durchzusetzen, waren aber gleichzeitig frei von der Verantwortung für die Verwaltung eines souveränen Staates. Als Mitglieder einer organisierten internationalen Bewegung bestrebt, die Staatsmacht zu erobern wie ihre russischen Genossen, waren die nichtrussischen Parteien bereit, sich bei der Interpretation der marxistischen (oder nunmehr marxistisch-leninistischen) Lehre und bei der Festlegung der im gemeinsamen Interesse zu verfolgenden politischen Strategie den Weisungen Moskaus unterzuordnen. Moskau war ihr Mekka und ihr Rom; die russische Revolution ihr Vorbild und ihr Ansporn — ein Utopia, das nicht mehr im Reich des Idealen schwebte, sondern irdische Wirklichkeit geworden war. Die Sowjetunion vor den Machenschaften der kapitalistischen Mächte zu schützen, war ihr erstes Anliegen, und sie erhofften sich sowjetische Hilfe für den Tag, an dem sie ihrerseits Revolution machen würden. Unter den Verhältnissen der zwanziger und dreißiger Jahre war ihre Unterordnung unter die höhere Autorität der Kommunistischen Partei der Sowjetunion freiwillig; der Kreml besaß keine Mittel, den Gehorsam von Menschen zu erzwingen, die außerhalb der Reichweite seiner politischen Polizei lebten. Aber die Treuegefühle waren stark genug, um eine weltweite Disziplin aufrechtzuerhalten. Kritiker der sowjetischen Politik wurden zum Schweigen gebracht oder aus ihren Parteien ausgestoßen, und vergebens donnerte Trotzki, der eine „Vierte Internationale" schaffen wollte, gegen Stalin, den „Verräter der Revolution". Ketzereien und Schismen wurden überwunden; die Gemeinschaft der Gläubigen blieb ungeteilt, und der Marxismus-Leninismus in der Fassung, die ihm Stalin gab, war verbindlich für alle Kommunisten der Welt. Als Hitler in seinem Bunker Selbstmord beging, während die siegreiche Rote Armee in den Straßen Berlins stand, schien es, als seien alle Abweichler widerlegt und als stünde der internationale Kommunismus unter russischer Führung vor einem Triumph von noch gewaltigeren Ausmaßen als die Revolution von 1917.

Der Sieg legte den Keim zum Zerfall

Der Triumph war in der Tat gewaltig, denn binnen fünf Jahren nach Kriegsende setzten sich die Kommunisten nicht nur in den Ländern Ostmitteleuropas bis zur Adria und zur Elbe, sondern auch in dem riesigen China, dem volkreichsten Land der Welt, in den Besitz der Macht. Aber dieser Sieg barg auch den Keim des Zerfalls. Parteien, die souveräne Länder regierten, waren nicht mehr so leicht durch eine internationale Zentralinstanz zu lenken wie vordem, als sie in Opposition zu ihren jeweiligen Regierungen standen. Statt einfach zu glauben und zu tun, was man ihnen sagte, fingen sie an, sich „Gedanken zu machen". Selbst wo sie ihre Macht nur der Anwesenheit sowjetischer Besatzungstruppen verdankten, wie in Polen und Ungarn, wurde ihnen die russische Bevormundung bald lästig. Noch viel widerspenstiger waren sie, wo sie — wie in Jugoslawien — die Macht hauptsächlich aus eigener Kraft erobert hatten. Jugoslawien war das erste Land, das aus Stalins wohlgeordneter Völkerfamilie ausbrach. Der Streit war nicht von Anfang an ideologischer Natur; er entzündete sich an der groben russischen Einmischung in jugoslawische Angelegenheiten. Aber als der Brudi unwiderruflich geworden war und der ganze Propaganda-apparat der Sowjetunion in den Dienst der Verdammung Titos gestellt wurde, dehnten die Jugoslawen ihre Kritik, die bisher dem Verhalten der Russen gegolten hatte, auf die sowjetische Doktrin aus, und der „Titoismus“ wurde eine Ideologie. Obgleich ursprünglich eine Linksabweichung, stellte er keinen Versuch dar, Rußland an revolutionärem Kampfgeist zu übertreffen. Jugoslawien war schließlich ein kleines Land und konnte kaum den Ehrgeiz haben, selbständige Basis einer welt-revolutionären Bewegung zu werden. Zudem war es nie ein Zentrum des europäischen politischen Denkens gewesen, sondern hatte immer unter dem geistigen Einfluß Westeuropas gestanden, so daß, nachdem der russische Bann gebrochen war, zwangsläufig eine Rückwendung nach dem Westen hin erfolgte. Jugoslawien blieb ein kommunistischer Partei-staat, doch trat innenpolitisch eine gewisse Lockerung des Regimes ein, während es außenpolitisch ein „blockfreies" Land wurde und diplomatisch mit bürgerlichen, aber nach links neigenden, antikolonialistischen Staaten wie Indien und Ägypten zusammenarbeitete. Im Westen wurde der Titoismus nicht als Gefahr betrachtet; im Gegenteil, man begrüßte ihn als Anzeichen einer höchst erfreulichen Entwicklung, die von der Schroffheit des Stalinismus und der Härte des Kalten Krieges wegführen würde zu normaleren Formen des internationalen Verkehrs.

Falsche Mutmaßungen über China

Das Beispiel, das Titos Jugoslawien gab, führte jedoch viele politische Kommentatoren des Westens in die Irre. Sie zogen nämlich daraus den Schluß, wenn sich das kommunistische China ebenfalls von der russischen Vormundschaft befreie, dann werde es eine Entwicklung in ähnlicher, für den Weltfrieden günstiger Richtung einschlagen. Diese Beobachter hatten recht mit der Annahme, daß, wenn der Nationalstolz des kleinen Jugoslawiens die Russenherrschaft nicht ertrug, ein kommunistisches Regime im menschen-reichsten Land der Erde erst recht nicht bot-mäßig bleiben würde. Aber unrecht hatten sie mit der Erwartung, ein des russischen Gängelbandes lediges China werde zur Aussöhnung mit dem Westen, zu einer Entspannung im Kalten Krieg und zu einer Abschwächung der revolutionären Ideologie geneigt sein. Genau das Gegenteil geschah: China nahm Rußland das Banner des militanten, weltrevolutionären Marxismus-Leninismus aus den Händen, gerade als Chruschtschow im Begriff war, es im Namen der friedlichen Koexistenz einzurollen. Dem Anspruch Moskaus, daß Beschlüsse der Parteitage der KPdSU für die ganze kommunistische Weltbewegung bindend seien, setzte Peking den Anspruch entgegen, der einzige Erbe des reinen, unbefleckten Marxismus-Leninismus zu sein, und es schmähte die Nachfolger Stalins an der Spitze der KPdSU zusammen mit Tito als degenerierte Revisionisten. Chinas Bruch mit Rußland hatte keinen Kompromiß mit dem Westen zur Folge, sondern ein Bekenntnis zum Kommunismus in seiner militantesten und kompromißlosesten Form, das sowohl gegen den Westen als auch gegen Rußland gerichtet war. Tatsächlich wurden der Westen und Rußland auf eine Stufe gestellt, nicht nur wegen des angeblichen Zusammenspiels zwischen Chruschtschows Rußland und dem amerikanischen Imperialismus, sondern auch auf Grund der Tatsache, daß Rußland im wesentlichen eine europäische Macht ist, geopolitisch und historisch mit dem Westen verbunden, und damit im Gegensatz zu der afrikanisch-asiatischen Welt steht, deren Führungsmacht China sein will.

Russisches Überlegenheitsgefühl

Der Prozeß, durch den sich in China der Marxismus einem ethnozentrischen Nationalismus assimilierte, war die Wiederholung eines gleichartigen Prozesses in Rußland. Wie China war auch Rußland lange dem westlichen Einfluß ausgesetzt gewesen, und der Marxismus gehörte zu dem aus dem Westen importierten Ideengut. Die „Verwestlichung", die mit den Reformen Peters des Großen begann, rüstete Rußland mit der modernen Technik aus und machte es zu einer europäischen Großmacht; aber es blieb auf jeder historischen Entwicklungsstufe hinter den anderen zurück und galt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als das „rückständigste" der großen Länder Europas. Die lange geübte Praxis, beim Westen kulturelle Anleihen zu machen und ihn als Quell aller Aufklärung zu betrachten, schuf in Ruß-18 land ein Gefühl der Demütigung und — als Reaktion — antiwestliche Ressentiments. Diesen Seelenzustand nutzten im 19. Jahrhundert die Slawophilen aus. Sie hielten die westliche Zivilisation für geistig verfault und sahen Rußlands Weg zum Heil in einer Wiedergeburt der religiösen Werte des alten orthodox-christlichen Rußlands, wie es vor den Reformen Peters gewesen war.

Aber dieser romantische Archaismus konnte sich in einer Zeit schnellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels nicht behaupten, und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts beschleunigte sich die Verwestlichung. Zu den radikalsten „Westlern" gegehörten die Marxisten. Sie waren Internationalisten, sahen ihr Vorbild in Westeuropa und glaubten — entsprechend der damaligen orthodox-marxistischen Auffassung —, daß die sozialistische Revolution zuerst in den höchst-entwickelten Industrieländern ausbrechen müsse. Es geschah jedoch genau das Gegenteil: Die Bolschewik! eroberten und behaupteten die Macht in Rußland, während die Hochburgen des Kapitalismus in Großbritannien, Frankreich und Deutschland unversehrt blieben. Die Ereignisse widerlegten die marxistische Prognose, aber sie bestätigten die Vision Bakunins, der die Flammen des Aufstands in Moskau als Fanal für die versklavten Völker der ganzen Welt gesehen hatte. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet: da der Sozialismus die vorbestimmte höhere Stufe der menschlichen Entwicklung war, hatten sich die Russen durch ihre sozialistische Revolution mit einem Schlag aus einem rückständigen Volk in die Vorhut der Menschheit verwandelt. Sie waren jetzt keine Schüler mehr, sondern Lehrer; die Welt hatte von ihnen, den Pionieren der neuen Kultur, zu lernen. Von diesem momentanen Überlegenheitsgefühl war es nur ein Schritt zur Verherrlichung der nationalen Vergangenheit Rußlands, die unter Stalin so extreme Formen annahm: Die Russen, so hieß es jetzt, hatten als erste den Sozialismus erreicht, weil sie von jeher ein einzigartig begabtes und schöpferisches Volk waren. Bei all seinen Leiden in der Stalin-Zeit konnte sich das russische Volk doch immer an der Betrachtung der eigenen Größe erbauen, und seine internationale Isolierung war — von damit etwa verbundenen strategischen Gefahren einmal abgesehen — eher ein Anlaß zu Stolz als zu Bedauern. Es war nur natürlich, daß die kapitalistische Welt ihm feindlich gesinnt war, aber damit erkannte sie bloß seine Leistungen an. Fortschrittliche Menschen in aller Welt liebten und bewunderten es, wie die endlosen Züge von Pilgern bewiesen, die nach Moskau kamen und ihre preisenden Reden dem Eigenlob des Sowjetregimes hinzufügten.

China wurde wieder Reich der Mitte

All das hat sich nun in einem anderen Kontinent wiederholt, und diesmal nicht nur auf Kosten des Westens, sondern auch Rußlands. In China wie in Rußland war der Marxismus ein Einfuhrartikel aus dem Westen, nur mit dem Unterschied, daß er nach China via Ruß-land kam, denn in China gab es vor 1919 kaum jemanden, der etwas von Marx wußte. In China wie in Rußland ging der Marxismus im Zuge eines Verwestlichungsprozesses in das Geistesleben ein. Aber in China war dieser Prozeß nicht nur jüngeren Datums und viel abrupter, er war auch der Volkstradition bedeutend ferner und für die Chinesen weit demütigender, als er es je für die Russen gewesen war. Rußland mochte seit der Renaissance hinter der historischen Entwicklung Europas einherhinken; immerhin war es Mit-erbe der mittelalterlichen europäischen Kultur. China dagegen besaß seit drei Jahrtausenden seine eigene Kultur und hatte nur schwache Verbindungen zu vergleichbaren kulturellen Zentren. Die konfuzianischen Schriftgelehrten, die noch vor einem Jahrhundert das chinesische Reich regierten, waren überzeugt, daß sie die einzigen wahrhaft zivilisierten Menschen in der Welt seien. Die Katastrophen, die gegen Ende des 19. Jahrhundert über China herein-brachen, brachten die traditionelle Kultur in Mißkredit, und die jüngere Generation wandte sich verzweifelt der „westlichen Wissenschaft" zu; aber es war ein bitteres, traumatisches Erlebnis, dergestalt von der Höhe ethnischer Selbstachtung herabzusteigen und bei „barbarischen" Lehrern in die Schule zu gehen.

Der Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg brachte keine sofortige Änderung dieses Zustands. Das neue China schüttelte trotzig den dominierenden politischen und kulturellen Einfluß Amerikas ab und errang in Nordkorea einen militärischen Sieg über die Armee der Vereinten Nationen. Doch die Volksrepublik blieb ein volles Jahrzehnt im politi-sehen und kulturellen Bannkreis der Sowjetunion — nicht als gewöhnlicher Satellit, aber als Mitglied eines Staatenblocks, dessen anerkannter Führer die Sowjetunion war. Die chinesischen Kommunisten waren von der Wirtschaftshilfe Rußlands abhängig und auf seinen militärischen Schutz angewiesen; sie hegten große und echte Bewunderung für Rußland als Heimat des Marxismus-Leninismus und waren bereit, von den „sowjetischen Erfahrungen" zu lernen. Erst als der Zwist zwischen Peking und Moskau begann, von 1959 an, befreite sich China von der geistigen Vorherrschaft Rußlands, wie vorher von der Amerikas, und fand wieder zu sich selbst zurück — es wurde wieder das Reich der Mitte. Es borgte nicht mehr Ideen bei anderen, sondern war, seiner eigenen Einschätzung nach, die große Quelle von Wahrheit und Erleuchtung für die ganze Menschheit. Für diese Unabhängigkeit mußte ein hoher Preis gezahlt werden. Chinas Isolierung war wirtschaftlich drückend und strategisch gefahrvoll. Aber dafür haben die Chinesen seit 1960 die große Genugtuung, in ihren eigenen Augen und in denen ihrer Anhänger die einzigen wahren Marxisten-Leninisten zu sein. Gleich nach dem Begründer der wahren Religion kommt deren höchster rechtmäßiger Repräsentant; und diesen Rang nimmt China für sich in Anspruch, nachdem Rußland (nach chinesischer Auffassung) in die revisionistische Ketzerei abgeglitten ist.

Das soll nicht heißen, daß China den Streit mit Rußland vom Zaune gebrochen hätte, um seinen ideologischen Anspruch auf die Führung des Weltkommunismus geltend zu machen. Die Tatsachen, soweit sie bekannt sind, deuten darauf hin, daß China den Streit nicht gesucht hat; trat es doch noch auf der Moskauer Konferenz kommunistischer Parteien im November 1957 dafür ein, die Sowjetunion formell als Führer des kommunistischen Blocks zu bestätigen. Der Kampf wurde den chinesischen Kommunisten durch Chruschtschows Außenpolitik aufgezwungen, in der sie nicht zu Unrecht eine rücksichtslose Mißachtung ihrer Interessen erblickten. Als sich jedoch die politischen Meinungsverschiedenheiten zu einem ideologischen Disput ausgewachsen hatten und die Chinesen gründlich zum Widerstand gegen die russische Leitung der kommunistischen Weltbewegung gereizt waren, ging Peking von der Verteidigung zum Angriff über und trat als rivalisierender Führungsprätendent auf. Seit 1960 sind die chinesischen Ansprüche gewaltig gewachsen.

Chinesen bejahten sowjetische Führungsrolle

Wir haben uns so sehr an die Tatsache des Konflikts zwischen China und Rußland gewöhnt. daß es einigermaßen verblüffend wirkt, wenn man daran erinnert, daß China 1957 bemüht war, Polen zur ausdrücklichen Anerkennung der sowjetischen Führungsrolle im kommunistischen Block zu bewegen. Es ging um die Neuformulierung der kommunistischen Prinzipien, die aus Anlaß des vierzigsten Jahrestages der bolschewistischen Revolution vorgenommen wurde. Jugoslawien lehnte es entschieden ab, einer Formel zuzustimmen, mit der die sowjetische Vorrangstellung anerkannt wurde, und Polen fand sich nur mit größtem Widerstreben bereit, das Prinzip zu akzeptieren. Die Polen waren überrascht, daß die Chinesen so hartnäckig auf dieser Klausel bestanden. Sie betrachteten die Chinesen nämlich als ihre Verbündeten im Streben nach Polyzentrismus in der kommunistischen Welt-bewegung, und tatsächlich hatte Peking zur Zeit des „polnischen Oktobers" in Moskau Fürsprache für die Polen eingelegt. Aber Mao Tse-tungs Haltung war 1957 völlig konsequent. Er betrachtete den Block kommunistischer Staaten in erster Linie als ein Militärbündnis. Dieses brauchte einen Führer, der in Kriegszeiten die oberste Befehlsgewalt ausübte und im (zeitweiligen) Frieden Diplomatie und Strategie koordinierte. In diesem Sinne war die Sowjetunion dank ihrer überlegenen wirtschaftlichen und militärischen Stärke der natürliche Führer des Blocks. Andererseits bejahte Mao das Recht jedes Blockmitglieds, seine inneren Angelegenheiten ohne Einmischung Moskaus selbst zu regeln; die Idee der „verschiedenen Wege zum Sozialismus" hatte seine volle Unterstützung. Diese Konzeption des Blocks als Mächtekoalition ging von der Voraussetzung aus, daß sich die Sowjetunion in einem Zustand permanenter Feindschaft gegenüber der nordatlantischen Koalition unter Führung der Vereinigten Staaten befinde und daß jeder Verhandlung mit dem Feind Konsultationen innerhalb des kommunistischen Blocks vorausgehen müßten, damit die verschiedenen Interessen seiner Mitglieder berücksichtigt würden. Mao glaubte, daß der Block durch vereinte Anstrengungen große weltpolitische Erfolge erzielen könne. Zu dieser Zeit prägte er das Wort von dem Ostwind, der den Westwind besiege. Wie es scheint, war er tief beeindruckt von dem ersten russischen Sputnik und nahm an, daß Ruß-land damit das entscheidende militärische Übergewicht über den Westen erlangt habe.

Der Treuebruch der Sowjetunion

Tatsächlich trieb jedoch die Sowjetunion nach 1957 eine Politik, die die Chinesen zunächst enttäuschte und dann in Wut versetzte. Chruschtschow machte im Herbst 1958 eine drohende Geste gegen Berlin, unternahm aber nichts, als der Westen fest blieb, sondern leitete vielmehr versöhnliche Schritte gegenüber den Vereinigten Staaten ein, die schließlich in seiner Amerikareise und seinem Treffen mit Eisenhower in Camp David gipfelten. Zweifellos hoffte er, seine Ziele in Berlin auf die sanfte Tour zu erreichen. Da aber diese Aufgabe an sich schon schwierig genug war, hatte er keine Lust, sich die Sache noch schwerer zu machen, indem er zusätzlich chinesische Forderungen auf die Tagesordnung setzte. Bald wurde der chinesischen Regierung klar, daß er bereit war, mit den Amerikanern ein Übereinkommen zu schließen, bei dem China leer ausgehen würde. Dann kam im Herbst 1959 der militärische Zusammenstoß Chinas mit Indien in Ladakh, wobei sich die Sowjetunion für neutral erklärte. Das war in chinesischen Augen ein unverzeihlicher Treuebruch. In seinem Konflikt mit Indien erwartete und brauchte China keine materielle Hilfe von Ruß-land; aber das Prinzip der internationalen kommunistischen Solidarität verlangte, daß ein kommunistischer Staat einen anderen kommunistischen Staat im Streit mit einem bürgerlichen Staat stets politisch unterstützte. Später datierte die chinesische Presse von dieser Stellungnahme Moskaus den Beginn des sowjetisch-chinesischen Konflikts.

In den Augen der Chinesen versäumte es die Sowjetunion, die gemeinsamen Interessen der kommunistischen Staaten zu vertreten, die mit den sowjetischen Sonderinteressen nicht ohne weiteres identisch waren. Das war der Grund, weshalb sie es der Sowjetunion so sehr übel nahmen, daß sie China nicht half, eine Atommacht zu werden. Bei echter brüderlicher Solidarität der kommunistischen Staaten hätte es den Grundsätzen vernünftiger Arbeitsteilung entsprochen, wenn Rußland weiterhin für das nukleare Arsenal sorgte, während China sein relativ bescheidenes Industriepotential zur Herstellung konventioneller Waffen benutzte. Aber nach den Ereignissen von 1959/60 konnten die chinesischen Kommunisten nicht mehr vertrauensvoll auf Rußland als den Hüter ihrer Interessen blicken; die Verfolgung einer unabhängigen Großmacht-politik schien ihnen vielmehr den Besitz eigener Kernwaffen zu erfordern. Daher konzentrierten sie alle Anstrengungen auf die Produktion solcher Waffen, obgleich dadurch der chinesischen Wirtschaft schwere Lasten auferlegt wurden. Die Schwierigkeit der Aufgabe, Atombomben ohne sowjetische Hilfe herzustellen, verstärkte die Erbitterung der Chinesen gegen die Russen. Weiter verschärft wurde der Konflikt, als die Sowjetunion mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen-versuchen abschloß. Peking erblickte darin einen Versuch, den Besitz nuklearer Macht für alle Zeiten auf jene Staaten zu beschränken, die sie bereits besaßen, und eine Bestätigung seiner These, daß Moskau und Washington unter der Hand einig geworden seien, sich in die Weltherrschaft zu teilen.

Ist China wirklich kriegslüstern?

In der ideologischen Polemik, die diese politischen Konflikte auf die Ebene der Theorie hebt, vertreten die Chinesen den Standpunkt, die heutigen russischen Kommunisten verschleuderten das Erbe Lenins und Stalins, sie seien schlaff und feige geworden, verteidigten nicht mehr die Sache des internationalen Kommunismus und hätten sich der Illusion er-geben, man könne den Sieg ohne bewaffneten Kampf und ohne Blutvergießen erringen. Sie lehnen die auf dem XX. Parteitag der KPdSU verkündete These ab, eine kommunistische Partei könne ohne Gewaltanwendung die Macht im Staat übernehmen, und werfen den Russen vor, sie sprächen von der „friedlichen Koexistenz", als sei dies eine Zauber-B formel,, durch die man die Realitäten des Klassenkampfes und der imperialistischen Aggression verschwinden machen könne. Auf die sowjetische Anschuldigung, sie seien Kriegstreiber, erwiderten die Chinesen, über Krieg oder Nicht-Krieg entschieden die Imperialisten, und diese würden einen Krieg weniger leichtfertig anfangen und ihn weniger erfolgreich führen, wenn ihnen kampfbereite revolutionäre Kräfte gegenüberstünden. Imperialisten seien Papiertiger, sagen die Chinesen; sie seien nicht so stark, wie sie aussähen, man dürfe nur keine Angst vor ihnen haben; die Russen in ihrer übertriebenen Kriegsfurcht beugten sich der „nuklearen Erpressung" der Amerikaner und duldeten die Unterdrückung nationaler Befreiungskriege, während China das Banner des unbefleckten Marxismus-Leninismus hochhalte und allen Völkern helfen würde, die im Kampf gegen den Imperialismus stehen.

Aus dieser ganzen Polemik schält sich das Bild eines sanften, friedlichen Rußlands heraus, das nie etwas tut, was Spannungen in der Welt erzeugen könnte; ihm gegenüber steht ein rabiates, kriegslüsternes China, das Unruhe stiftet, wo es nur kann. Soweit dieses Bild im Westen ernst genommen wird, ist es äußerst vorteilhaft für Rußland; denn gerade die Tendenzen, die von den chinesischen Kommunisten als Vorstöße gegen marxistischleninistische Parteipflichten gebrandmarkt werden, sind für den westlichen Liberalismus sympathische Züge. Vergleicht man jedoch nicht die polemischen Äußerungen Rußlands und Chinas, sondern ihr wirkliches Verhalten in den letzten Jahren, so stellt man durchaus nicht den Kontrast fest, den man eigentlich erwarten sollte. Seit 1945 war die Welt einem großen Krieg am nächsten während der KubaKrise im Jahre 1962, aber damals war nicht China, sondern Rußland der Hauptakteur auf der kommunistischen Seite. Formosa ist für China ein schmerzhafterer Pfahl im Fleische als West-Berlin für Rußland, aber seit 1958 hat China nicht den leisesten Versuch gemacht, auch nur die Inseln Quemoy und Matsu unmittelbar vor seiner Küste zu erobern. Selbst was die „nationalen Befreiungskriege" anlangt, kann man schwerlich behaupten, daß China hier in den letzten fünf oder sechs Jahren energischer oder provozierender eingegriffen hätte als Rußland. Es war Rußland und nicht China, das Castros Kuba materiell gegen die zürnenden USA unterstützte; China leitstete seine Hilfe hauptsächlich in Form von Massenkundgebungen in Peking. In der Geschichte der ausländischen Einmischungen im Kongo seit 1960 figuriert Rußland an ebenso prominenter Stelle wie China; nicht China, sondern Rußland errichtete eine „LumumbaUniversität" und ermunterte Ägypten, den kongolesischen Rebellen Waffen zu liefern, die es aus eigenen Beständen zu ersetzen versprach. In dem an China grenzenden Laos, wo die Bedingungen für eine chinesische Intervention besonders günstig schienen, hat es fast überhaupt keine Intervention gegeben; auf prokommunistischer Seite militärisch einzugreifen, überließ China den Nord-Vietnamesen, und die Luftbrücke zu den Pathet Lao im Jahre 1961 stellten nicht chinesische, sondern russische Flugzeuge her. Im VietnamKrieg schließlich ist Chinas Hilfeleistung an Nord-Vietnam bisher nicht wesentlich größer gewesen als die Rußlands, obwohl die chinesischen strategischen Interessen viel mehr berührt sind als die russischen. Sowohl Rußland als auch China helfen dem vietnamesischen kommunistischen Regime, aber zur Stunde ist keines von beiden bereit, die Hilfe bis zu direkten Kampfhandlungen gegen die amerikanischen Streitkräfte zu treiben.

Wirkungen der chinesischen Polemik

Es scheint also, daß in der Praxis die revolutionäre Aktivität Rußlands in den letzten Jahren größer und die Chinas geringer war, als man auf Grund ihrer gegenseitigen Beschuldigungen annehmen sollte. Das Gebrüll des chinesischen Löwen klingt zwar furchteinflößend, aber die Bestie steht nicht zum Sprung bereit, sondern liegt ruhig da. Das Gebrüll hat jedoch eine Wirkung auf Rußland. Denn die Russen sind zwar ebenso aufgebracht über die Chinesen wie umgekehrt, aber es kann Rußland nicht gleichgültig sein, wenn vor den kommunistischen Parteien der ganzen Welt und vor den antiimperialistischen Fanatikern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas seine revolutionäre Ehre in den Schmutz gezogen wird. Es ist schwer abzuschätzen, in welchem Maße die Furcht vor chinesischen Anschuldigungen und der Wunsch, China bei den „fortschrittlichen Elementen" auszustechen, den Kreml von Bahnen abgeführt haben, denen er sonst gefolgt wäre. In einigen Fällen hätte Rußland wohl auch ohne das höhnende und anstachelnde China so gehandelt, wie es ge22 handelt hat. Aber in der jüngsten Phase des Vietnam-Krieges wäre Rußland wahrscheinlich bereit gewesen, einer internationalen Konferenz zuzustimmen, hätte es nicht die chinesische Anklage befürchten müssen, es verrate das vietnamesische Volk in seinem Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus.

Am stärksten wirkt aber die chinesische Polemik ohne Zweifel auf die Chinesen selbst. Sie rechtfertigt das Regime vor der eigenen Bevölkerung, zeigt Mao Tse-tung in einer noch glanzvolleren Rolle und verschafft dem chinesischen Volk das Gefühl, wieder im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Die russischen Industrieberater mögen verschwunden sein und ihre Konstruktionszeichnungen mitgenommen haben; die „fortschrittliche militärische Technik", die die russischen Militärs die Chinesen lehren sollten, mag noch fehlen; aber die Chinesen können sich der eigenen Tugendhaftigkeit freuen und glücklich sein in dem Gedanken, wie recht sie haben. Sie haben jetzt den Urquell der wahren Lehre in Besitz, und das ist wichtiger als jeder materielle Fortschritt. Aber ein erheblicher materieller Fortschritt ist nichtsdestoweniger zu verzeichnen, wenn er auch bedeutend langsamer vor sich geht, als ursprünglich erhofft wurde. Und schließlich sind auch die Atomexplosionen in der Wüste Lop für China eine Bestätigung, daß es wirklich eine Großmacht ist und daß es in Zukunft noch stärker sein wird als jetzt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Geoffrey Hudson, Fellow of St. Antony' s College Oxford und Direktor des Instituts für Fernöstliche Studien dieses Colleges, Mitherausgeber der Londoner Vierteljahreszeitschrift „China Quaterly". Veröffentlichungen u. a.: Europe and China; Far East in World Politics.