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Zukunftsprobleme Chinas | APuZ 22/1966 | bpb.de

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APuZ 22/1966 Artikel 1 Die europäisch-antiamerikanische Partnerschaft Zukunftsprobleme Chinas

Zukunftsprobleme Chinas

Lucian W. Pye

Mangelhafte Informationen über China

Uber keines der großen politischen Systeme der Gegenwart besitzen wir so geringe zuverlässige Kenntnisse wie über das des kommunistischen Chinas. Dabei müssen wir auf Grund unserer heutigen Vorstellungen vom Charakter und von der Dynamik des chinesischen Volkes Entscheidungen fällen, die unsere Diplomatie und vor allem unsere militärischen Anstrengungen auf Jahre hinaus prägen werden. Es kann nicht ausbleiben, daß wir in Abstraktionen und grobe Verallgemeinerungen verfallen.

Freilich kann Peking nicht alles hinter der Mauer der Geheimhaltung verbergen. Geübte Beobachter, die das Verhalten der Chinesen Jahre hindurch kritisch verfolgen, vermögen hin und wieder unser Bild zu berichtigen. Viel kann man zusammentragen, wenn man die von Peking verbreiteten Meldungen studiert, zwischen den Zeilen der chinesischen kommunistischen Presse liest und in Hongkong Personen befragt, die verschiedene Teile des Festlands aus eigener Anschauung kennen. Die Gefahr ist nur, daß solche vereinzelten Informationen bei unseren Versuchen, das vielschichtige Phänomen des chinesischen Kommunismus zu deuten, ein Gewicht erlangen, das ihnen nicht zukommt. Unser China-Bild wird durch die Existenz des Bambusvorhangs in gewissem Grade verzerrt, daran ist nichts zu ändern.

Aber nicht nur Mangel an Tatsachenwissen erschwert den Versuch, die Realitäten der politischen Entwicklung Chinas zu erfassen, noch schwieriger ist das Problem, geeignete Maßstäbe zur Beurteilung des chinesischen Verhaltens zu finden. In welchen größeren historischen Zusammenhang müssen wir das kommunistische China stellen, um einen klareren Begriff von seinem gegenwärtigen Entwicklungsstadium zu bekommen? Was können wir mit einiger Sicherheit über seine Zukunftsperspektiven auf längere Sicht mutmaßen? Und wenn wir unsere eigenen politischen Reaktionen erwägen: mit welchem Grad von Fatalismus sollen wir der Gletscherbewegung der Chinesen zusehen, die gestern schwach und desorganisiert waren, heute aber geeint sind und Ansprüche geltend machen; die heute ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen und morgen die Hälfte sein werden?

Gesichtspunkte zur Beurteilung Chinas

Man kann die chinesische Wirklichkeit unter mehreren Gesichtspunkten betrachten. Sollen wir, beispielsweise, China als ein Entwicklungsland der afro-asiatischen Welt ansehen, das sich im Übergangsstadium zwischen traditioneller Ordnung und Modernität befindet? Wenn ja, dann können wir die chinesischen Erfahrungen mit denen anderer unterentwickelter Länder wie Indien, Indonesien und Ägypten vergleichen. Diese Betrachtungsweise würde jedoch eher dem China von 1910, 1920 oder auch noch 1930 gerecht. In den sechziger Jahren hat China, wie es scheint, alle anderen unterentwickelten Länder, die wir kennen, hinter sich gelassen. Zwar hat es seine ungeheuren Probleme noch keineswegs gemeistert, aber es segelt jetzt auf Meeren, für die es noch keine Seekarten gibt.

Der Fall China liegt auch insofern etwas anders, als es sich hier um die politische Entwicklung eines Landes handelt, das einst eine der großen Weltkulturen repräsentierte. Sollen wir China im Zusammenhang mit seiner historischen Vergangenheit sehen und die gegenwärtige Phase als Übergang aus einer Zeit der Wirren zu einer Zeit der Stabilität und Ordnung unter einer neuen Dynastie deuten? Oder bricht China gänzlich mit seiner bisherigen Geschichte und schafft eine Kultur ganz neuen Typs? Wie behandeln wir die Probleme der Kontinuität und des Wandels? Diese Fragen stellen heißt erkennen, wie schwierig es ist, eine tragfähige Grundlage für die Analyse der augenblicklichen Tendenzen der politischen Entwicklung Chinas zu gewinnen.

Eine andere Möglichkeit ist die, China als ein kommunistisches System zu betrachten, als ein Land im Griff einer totalitären Ordnung. Damit erheben sich wieder viele neue Fragen; denn wir wissen nicht, wie stark die Kraftquellen dieses Herrschaftssystems sind, und ebensowenig wissen wir von den Kräften, die es mit der Zeit vielleicht abtragen werden. Wenn wir uns ausschließlich auf die kommunistischen Aspekte der Entwicklung des Landes konzentrieren, können wir auch die spezifisch chinesischen Qualitäten aus dem Auge verlieren. Natürlich ist es verlockend, einen systematischen Vergleich zwischen dem chinesischen und dem russischen Kommunismus anzustellen; aber um diese Aufgabe zu lösen, ohne in Oberflächlichkeit zu verfallen, ist gründliche Kenntnis beider Länder und beider Systeme erforderlich.

Selbst wenn wir umfassendere historische Fragen zunächst beiseite lassen und uns auf die gegenwärtigen kurzfristigen Tendenzen beschränken, stehen wir immer noch vor vielen Problemen, weil wir keine ausreichenden Informationen und keinen gesicherten Stand-punkt zur Einschätzung des Verhaltens der Chinesen haben. Bis zu welchem Grade sollen wir die chinesischen Kommunistenführer für aggressiv, leichtfertig und verantwortungslos halten? (Die Russen möchten uns glauben ma-chen, daß sie es sind.) Wieweit sollen wir sie — was der Große Sprung nahelegt — als irre Fanatiker ansehen? Wieweit sollen wir in ihnen nüchterne, geschickte Lenker ihrer Gesellschaft erblicken, als die sie in der Phase der Erholung von den Torheiten des Großen Sprungs erscheinen? Wie ernsthaft sollen wir ihnen die Fähigkeit zutrauen, die Hand nach den unterentwickelten Gebieten Afrikas und Lateinamerikas auszustrecken und dort revolutionäre Bewegungen zu entfachen? Wieviel von ihren Ankündigungen sollen wir als Prahlerei abtun? In welchem Maße müssen wir ihre Fortschritte in letzter Zeit als wirklichen Machtzuwachs werten?

Das „Vernunft-Modell"

Zahlreiche Klischeevorstellungen von dem Pekinger Regime bieten sich uns an, und jedes enthält ein Körnchen Wahrheit. Zu einem Ganzen zusammengesetzt, ergäben diese Klischees ein Bild voller Widersprüche. Wir sähen ein Regime vor uns, das jetzt rücksichtslos Gewalttaten begeht und im nächsten Augenblick vorsichtig und geduldig manövriert.

Ignorieren wir jedoch die Klischees und holen uns Rat bei Fachleuten, die die Entwicklung Chinas während des letzten Jahrzehnts ständig beobachtet haben, so ergibt sich ein etwas anderes Bild-, das China, das man uns zeigt, scheint ausgeglichener, konsequenter zu sein. Je mehr wir unsere Aufmerksamkeit auf die bescheidenen, aber anhaltenden Fortschritte im Innern konzentrieren, desto mehr verlieren die Extreme des chinesischen Verhaltens an Bedeutung. China scheint dann ein planendes Regime zu haben, das auf mehr oder weniger intelligente Weise versucht, allmählich die Grundlage für nationale Einheit und Stärke zu schaffen. Wir wollen dieses Bild vom kommunistischen China das „Vernunft-Modell" nennen. Seine Anhänger neigen zu der Ansicht, daß die Führer in Peking zwar Fehler gemacht und viele Torheiten begangen haben, daß sie aber lernen können und keine Verrückten sind. Der Grundgedanke des Vernunft-Modells lautet: Die chinesischen Führer lassen sich von der kommunistischen Ideologie, wenn sie diese frischfröhlich befolgen, mitunter zu bösen und dummen Handlungen hinreißen; wenn aber die \\ Doktrin nicht die Oberhand gewinnt, dann verhalten sie sich hervorragend intelligent, geschickt und klug. Durch diese scharfe Trennung von Ideologie und Rationalität nach Art von Jekyll und Hyde isoliert das Vernunft-Modell die schockierendsten chinesischen Handlungen und tut sie gewissermaßen als Verirrungen ab. .

Nach dieser Ansicht bekennt sich dös Regime uneingeschränkt zur marxistisch-leninistischmaoistischen Lehre, strebt nach gr ößtmögli-cher Ausweitung seines Einflusses, treibt die sozialistische Revolution voran und, arbeitet am Aufbau der nationalen Macht cihinas; es verfolgt aber diese Ziele im wesentlichen aut vernünftige Weise und ist nicht bereit, übermäßige Risiken einzugehen. \ Dieses Bild vom kommunistischen China, das Ergebnis einer gründlichen Untersuchung der inneren Entwicklung, ist stark beeinflußt von Urteilen über die Perspektiven der chilesi-sehen Wirtschaft. Es geht vor allem davon us daß die Chinesen im wirtschaftlichen Berch nicht hexen können und auf die bescheidei Gewinne angewiesen sind, die sich bei ein Wachstum nach den Regeln der Zinseszii rechnung ergeben. Am Wesen der wirtscha liehen Entwicklung gibt es nichts zu deutel begreiflicherweise können wir daher die wi schaftlichen Möglichkeiten Chinas leichter realistisch einschätzen als die politischen. Da die Grenzen dessen, was die chinesische Wirtschaft erreichen kann, ziemlich genau abgesteckt sind, ist man versucht anzunehmen, die politische Entwicklung Chinas werde analog verlaufen. Man übersieht dabei, daß die ökonomischen Möglichkeiten enger begrenzt sind als die politischen.

Das Vernunft-Modell spiegelt wahrscheinlich auch die Rationalität und Nüchternheit der Analytiker wider, die es konstruiert haben. In ihrem Streben nach Verständnis dessen, was die Chinesen getan haben und vermutlich tun werden, suchen sie zwangsläufig nach vernünftigen Erklärungen; und wenn sie versuchen, sich in die Lage der chinesischen Führer zu versetzen, ist ihnen zwar völlig klar, daß sie sich die mutmaßlichen Werte und die ideologische Sehweise der Kommunisten zu eigen machen müssen, aber es fällt ihnen schwer, gleichzeitig ihre eigenen Begriffe von pragmatischem Denken und gesundem Menschenverstand beiseite zu lassen.

Vor allem ist das Vernunft-Modell Ausdruck der Tatsache, daß sich die Erfüllung normaler Tendenzen leichter voraussehen läßt als das Außergewöhnliche. Obwohl die letzten fünfzehn Jahre voll von unerwarteten Handlungen der Chinesen waren, besteht deshalb die Neigung, für die Zukunft mit einem normaleren China zu rechnen. Zum Beispiel erschien vor dem chinesischen Angriff auf Indien ein solcher Akt nicht wahrscheinlich. Ebenso schwierig war es, etwas so Extremes wie den „Großen Sprung" vorherzusehen.

Labile Situation macht Veränderungen wahrscheinlich

Trotz dieser-Einschränkungen spricht vieles für das Vernunft-Modell des chinesischen Kommunismus; man kann die Möglichkeit extremer Entwicklungen durchaus einräumen, die Aufmerksamkeit aber auf die normale politische Entwicklung konzentrieren, die mit dem wirtschaftlichen Aufbau Hand in Hand gehen könnte. Zugegeben, diese Betonung der Rationalität hat etwas Künstliches, da kein politisches System besonders rational ist; immerhin ist es ein nützliches Mittel, die bombastische Sprache, die die Chinesen so gern gebrauchen, auf gewöhnliches Maß zurückzuführen und uns die engen Schranken der chinesischen Macht ins Gedächtnis zu rufen. Das Vernunft-Modell würde noch zutreffender erscheinen, wenn China in Vietnam einen Rückschlag erlitte, nach einer fast ununterbrochenen Serie von außenpolitischen Niederlagen also eine weitere Enttäuschung erlebte.

Wenn wir für den Augenblick irgendeine Variante dieses Modells als brauchbares, annähernd richtiges Bild des politischen Entscheidungsprozesses in China gelten lassen, tun wir trotzdem gut daran, auf unerwartete Ver-Der erste und augenfälligste Grund, wichtige Veränderungen in China zu erwarten, ist das hohe Alter der Mitglieder der Führungsgremien. Mao Tse-tung selbst ist nicht nur alt; er ist auch gesundheitlich nicht auf der Höhe. Es gibt viele Anzeichen, daß das System im Laufe des letzten Jahres an Schwungkraft verloren hat, und zwar einfach deshalb, weil die änderungen gefaßt zu sein. Zur Zeit ist es in China auf innenpolitischem Gebiet verhältnismäßig ruhig, aber es ist wenig wahrscheinlich, daß diese Flaute auf unabsehbare Zeit anhalten wird. In der Vergangenheit war der Rhythmus des chinesischen politischen Lebens eine fast rasende Fortbewegung von einem Trauma zum nächsten. Die augenblickliche Atempause ist daher keineswegs normal.

Auch verschiedene Züge der gegenwärtigen Situation deuten darauf hin, daß sich das Regime in einem labilen Zustand befindet und daß mit Veränderungen irgendwelcher Art fast sicher zu rechnen ist. Bedeutsame Veränderungen für wahrscheinlich zu halten, heißt durchaus nicht, den Zusammenbruch des herrschenden Systems zu prophezeien. Der Kommunismus wird nicht durch ein Wunder aus dem größten Land der Welt verschwinden. Das kommunistische China wird bestehen bleiben, aber sein Aussehen wird sich sicherlich sehr verändern. Einige der Faktoren, die zu der jetzigen unstabilen Lage beitragen, wollen wir uns nun näher ansehen.

Überalterung der Führungsspitze

Beschlußfassung an der Spitze so schleppend vor sich ging. Doch nicht nur Mao wird in absehbarer Zeit von der Bühne abtreten; die ganze oberste Führung gehört im wesentlichen der gleichen Generation an. Keine andere Regierung der Welt ist in den Händen einer Gruppe so alter Männer. Das Durchschnittsalter im Politbüro beträgt 68 Jahre. Zahlreiche Spitzenposten müsse in absehbarer Zeit neu besetzt werden.

Es fällt auf, wie klar sich die Pekinger Führung der Tatsache bewußt ist, daß ihre Generation demnächst abtreten wird. Seit dem Tode Stalins und den radikalen Veränderungen, die die Chruschtschow-Ära in Rußland mit sich brachte, hat sich Mao unverhohlen bemüht, Vorsorge zu treffen, daß China bei seinem Tode nicht einen ähnlichen Kurswechsel vornimmt. Der Gedanke an die persönliche Sterblichkeit hat einen Personenkult um Mao hervorgebracht, der inzwischen wohl die gleichen Ausmaße erreicht hat wie einst der Stalin-Kult; und Sorge um die ideologische Standhaftigkeit hat die Weisung diktiert, daß die Mehrheit der Bevölkerung zweimal wöchentlich an Schulungszirkeln über die Lehren Maos teilnehmen muß. Trotz dieser heroischen, aber im Grunde rührenden Anstrengungen Maos, die Herrschaft seiner Ideologie zu festigen, wissen er und die Männer um ihn, daß vieles, was das heutige chinesische System kennzeichnet, verschwinden wird, wenn die Generation des „Langen Marsches" einmal nicht mehr da ist. Die derzeitige Stimmung der Pekinger Führer offenbarte eine Äußerung von Tschao Han: „Die Alten sagten: , Ein altes Pferd, das im Stalle liegt, möchte tausend Li am Tage laufen, und ein Held ist an seinem Lebensabend voll Ehrgeiz.'Diese Worte müssen wir uns zum Ansporn dienen lassen."

Wir sollten immer bedenken: Gerade weil es so schwer ist, den Einfluß einzelner Persönlichkeiten auf den Gang der Geschichte zu bestimmen, verfallen scharfsinnige Analytiker oft in den Fehler, die Bedeutung unpersönlicher sozialer und wirtschaftlicher Faktoren zu überschätzen. In den letzten Jahren haben wir jedoch in einem Land nach dem anderen erlebt, wie ein Wechsel in der obersten Führung meist tiefgehende Veränderungen im politischen System zur Folge hatte.

Mögliche Auswirkungen eines Führungswechsels

Es hat keinen Zweck, hier Vermutungen darüber anzustellen, wer die neuen Führer sein werden und welche Politik sie treiben werden. Wir können uns darauf beschränken, eine Hypothese zu äußern, nämlich: Die einzigartige Stabilität, welche die Pekinger Führungsspitze in den letzten Jahren aufwies — und die ihre Quelle im gemeinsamen Erlebnis des Aufstiegs des chinesischen Kommunismus und in der Kameradschaft des „Langen Marsches" hat —, wird in einer neuen Generation nicht fortdauern. Wenn Mao und seine Gruppe abgetreten sind, wird es voraussichtlich wachsende Schwierigkeiten bereiten, die Stabilität an der Spitze aufrechtzuerhalten. Spannungen und Konflikte werden zutage treten, und der Konkurrenzkampf um größeren Einfluß wird offener geführt werden. Solche Spannungen sind typisch für chinesische Organisationen; es hat sie im politischen Leben Chinas immer gegeben. Bis jetzt sind die Führerstellung Maos und die relative Macht der anderen Mitglieder des Politbüros unbestritten. Aber der Zustand, daß der Einfluß bestimmter Personen als angemessen anerkannt ist, wird aufhören, wenn die Führer der nächsten Generation sich im Wettbewerb untereinander zu bewähren haben.

Diese potentielle Uneinigkeit dürfte schwerwiegende Auswirkungen auf die gesamte chinesische Gesellschaft haben. Das chinesische Volk ist auf ein solches Schauspiel überhaupt nicht vorbereitet, und nach allem, was wir über sein Verhältnis zur Obrigkeit wissen, wird es vermutlich äußerst bestürzt sein, bei seinen Führern ein so ungehöriges Verhalten feststellen zu müssen. Die Folge könnte sein, daß es die Achtung vor den Führern verliert, daß sich Zynismus breitmacht und daß das Vertrauen zum System stark nachläßt.

Ein weiterer Grund für Unstabilität im Gefolge eines Führerwechsels liegt darin, daß fünfzehn Jahre lang so wenig dafür getan worden ist, das Herrschaftssystem zu institutionalisieren und in geordnete Formen zu bringen. Noch heute werden die Regierungs-und Verwaltungsgeschäfte in China in außerordentlich hohem Umfang auf halbrevolutionäre Weise betrieben. Man verläßt sich weitgehend auf spezielle Kampagnen und Aktionen sowie auf den persönlichen Arbeitseifer der einzelnen Kader. Obwohl eine ungeheure Bürokratie existiert, werden selbst alltägliche Angelegenheiten selten in regulären bürokratischen Formen behandelt. Offenbar fehlt den Chinesen die Fähigkeit, etwas ruhig und wirksam zu erledigen; sie machen noch reichlich Gebrauch von totaler Mobilisierung. Diese wiederum erfordert intensive Propaganda, die auf dem Anschein der Einmütigkeit beruht. Diesen Anschein zu schaffen, wird natürlich schwierig sein, wenn Anzeichen oder Gerüchte auf Uneinigkeit im Zentrum hindeuten. Aus diesen und anderen Gründen kann man annehmen, daß das chinesische System noch nicht stabil oder institutionalisiert genug ist, um einen großen Führungswechsel ohne bedeutsame Strukturveränderungen zu überstehen.

Ungelöste innenpolitische Probleme

Ein zweiter Grund, mit radikalen politischen Veränderungen in China zu rechnen, ist folgender: In den letzten Jahren hat sich die Pekinger Führung fast ausschließlich mit einigen wenigen Problemen beschäftigt; dadurch ist es zu einer gewissen Erstarrung im System gekommen, die nicht lange anhalten kann. Vor allem der chinesisch-sowjetische Streit hat die Aufmerksamkeit und die Kräfte der Führer übermäßig in Anspruch genommen. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß Mao vom Kampf mit Chruschtschow und dessen Nachfolgern besessen war und ist; infolgedessen haben viele innenpolitische Probleme keine ausreichende Beachtung seitens der obersten Führer gefunden. Es ist nicht nur eine Frage des Zeitdrucks: der chinesisch-sowjetische Konflikt hat auch die Möglichkeiten zu einem elastischen Vorgehen in der Innenpolitik erheblich vermindert. Der Schein der Einmütigkeit war für die Chinesen wichtiger als die Wirklichkeit.

Das Regime konnte weiterfunktionieren, weil die Fachleute mit großem Eifer an den ihnen übertragenen Aufgaben gearbeitet haben. Es ist aber beispielsweise ungewöhnlich, daß ein kommunistisches System über sechs Jahre lang ohne Fünfjahrplan wirtschaftet. Auch auf dem Gebiet der Volksbildung stehen wichtige Entscheidungen aus, die beträchtliche Auswirkungen auf die Verteilung der Mittel haben wer-den. Nahezu drei Jahre lang ist in China kein einziges neues Klassenzimmer gebaut worden, und die heutigen Bauleistungen sind im Vergleich zur Wachstumsrate der Bevölkerung geringfügig. Auf vielen Gebieten gibt es in der Entwicklung erhebliche regionale Unterschiede. Es ist unwahrscheinlich, daß dieser Zustand die ausdrückliche Billigung der Spitze hat.

Viele der Entscheidungen, die in den vergangenen Jahren, fast könnte man sagen, durch Nicht-Entscheiden getroffen worden sind, werden zwangsläufig früher oder später überprüft werden müssen; es wird dann nötig sein, wesentliche Fragen neu und unvoreingenommen zu durchdenken. Geschieht dies, so kommt es wahrscheinlich zu Spannungen unter den Kadern, denen abverlangt wird, eine andere Tätigkeit aufzunehmen und eine neue Rangordnung der Aufgaben anzuerkennen, überhaupt ist damit zu rechnen, daß sich, wenn die zentrale Leitung gestrafft wird, die uralten chinesischen Probleme der bürokratischen Kontrolle und der Konflikte zwischen Zentrum und Lokalbehörden verschärfen werden. Im ersten Jahrzehnt schien das Regime bei der Über-windung des Regionalismus stetige Fortschritte zu machen, aber in den letzten Jahren haben sich bestimmte latente Formen der Autonomie in das System eingeschlichen.

Außenpolitische Scheinerfolge

Ein dritter Punkt, der das Vernunft-Modell angreifbar erscheinen läßt, ist die chinesische Außenpolitik. Zwar liegt es nahe, darauf hinzuweisen, daß die Chinesen in den letzten Jahren bemerkenswerte außenpolitische Erfolge erzielt und an Einfluß im Ausland gewonnen haben, besonders in Südostasien, Afrika und auch Lateinamerika. In Wirklichkeit entsprang jedoch ein Großteil dieser Aktivität nur dem chinesisch-sowjetischen Konflikt. Die außenpolitischen Erfolge Chinas waren weniger auf seine eigene Macht zurückzuführen als vielmehr darauf, daß andere die Existenz eines revolutionären Chinas in der Welt praktisch fanden. Der chinesische Einfluß hat auch keine festen Grundlagen und kann in den kommenden Jahren leicht in Gefahr kommen, sich wieder zu verflüchtigen.

Der Tatsache, daß sie im Laufe des Konflikts mit der Sowjetunion Einfluß auf ein paar kommunistische Parteien hier und da in der Welt gewonnen haben, messen die Chinesen eine unrealistisch hohe Bedeutung bei, und sie machen sich in diesem Punkt wohl Illusionen. Es ist ihnen in gewissem Grade gelungen, die Russen in Verlegenheit zu bringen und die Position Moskaus in Frage zu stellen. Es wäre aber falsch, diese Vorgänge als Beweise für chinesische Macht oder Schlauheit zu deuten. Viele kommunistische Staaten oder Parteien haben lediglich deshalb ihre Sympathie — wenn nicht Solidarität — mit der chinesischen Position zum Ausdruck gebracht, weil sie dies als ein nützliches Mittel erkannten, sich größere Autonomie innerhalb der kommunistischen Bewegung zu verschaffen. Spitzenposten müsse in absehbarer Zeit neu besetzt werden.

Es fällt auf, wie klar sich die Pekinger Führung der Tatsache bewußt ist, daß ihre Generation demnächst abtreten wird. Seit dem Tode Stalins und den radikalen Veränderungen, die die Chruschtschow-Ära in Rußland mit sich brachte, hat sich Mao unverhohlen bemüht, Vorsorge zu treffen, daß China bei seinem Tode nicht einen ähnlichen Kurswechsel vornimmt. Der Gedanke an die persönliche Sterblichkeit hat einen Personenkult um Mao hervorgebracht, der inzwischen wohl die gleichen Ausmaße erreicht hat wie einst der Stalin-Kult; und Sorge um die ideologische Standhaftigkeit hat die Weisung diktiert, daß die Mehrheit der Bevölkerung zweimal wöchentlich an Schulungszirkeln über die Lehren Maos teilnehmen muß. Trotz dieser heroischen, aber im Grunde rührenden Anstrengungen Maos, die Herrschaft seiner Ideologie zu festigen, wissen er und die Männer um ihn, daß vieles, was das heutige chinesische System kennzeich. net, verschwinden wird, wenn die Generation des „Langen Marsches" einmal nicht mehr da ist. Die derzeitige Stimmung der Pekinger Führer offenbarte eine Äußerung von Tschao Han: „Die Alten sagten: , Ein altes Pferd, das im Stalle liegt, möchte tausend Li am Tage laufen, und ein Held ist an seinem Lebensabend voll Ehrgeiz. ’ Diese Worte müssen wir uns zum Ansporn dienen lassen."

Wir sollten immer bedenken: Gerade weil es so schwer ist, den Einfluß einzelner Persönlichkeiten auf den Gang der Geschichte tu bestimmen, verfallen scharfsinnige Analytiker oft in den Fehler, die Bedeutung unpersönlicher sozialer und wirtschaftlicher Faktoren zu überschätzen. In den letzten Jahren haben wir jedoch in einem Land nach dem anderen erlebt, wie ein Wechsel in der obersten Führung meist tiefgehende Veränderungen im politischen System zur Folge hatte.

Mögliche Auswirkungen eines Führungswechsels

Es hat keinen Zweck, hier Vermutungen darüber anzustellen, wer die neuen Führer sein werden und welche Politik sie treiben werden. Wir können uns darauf beschränken, eine Hypothese zu äußern, nämlich: Die einzigartige Stabilität, welche die Pekinger Führungsspitze in den letzten Jahren aufwies — und die ihre Quelle im gemeinsamen Erlebnis des Aufstiegs des chinesischen Kommunismus und in der Kameradschaft des „Langen Marsches" hat —, wird in einer neuen Generation nicht fortdauern. Wenn Mao und seine Gruppe abgetreten sind, wird es voraussichtlich wachsende Schwierigkeiten bereiten, die Stabilität an der Spitze aufrechtzuerhalten. Spannungen und Konflikte werden zutage treten, und der Konkurrenzkampf um größeren Einfluß wird offener geführt werden. Solche Spannungen sind typisch für chinesische Organisationen; es hat sie im politischen Leben Chinas immer gegeben. Bis jetzt sind die Führerstellung Maos und die relative Macht der anderen Mitglieder des Politbüros unbestritten. Aber der Zustand, daß der Einfluß bestimmter Personen als angemessen anerkannt ist, wird aufhören, wenn die Führer der nächsten Generation sich im Wettbewerb untereinander zu bewähren haben.

Diese potentielle Uneinigkeit dürfte schwerwiegende Auswirkungen auf die gesamte chinesische Gesellschaft haben. Das chinesische Volk ist auf ein solches Schauspiel überhaupt nicht vorbereitet, und nach allem, was wir über sein Verhältnis zur Obrigkeit wissen, wird es vermutlich äußerst bestürzt sein, bei seinen Führern ein so ungehöriges Verhalten feststellen zu müssen. Die Folge könnte sein, daß es die Achtung vor den Führern verliert, daß sich Zynismus breitmacht und daß das Vertrauen zum System stark nachläßt.

Ein weiterer Grund für Unstabilität im Gefolge eines Führerwechsels liegt darin, daß fünfzehn Jahre lang so wenig dafür getan worden ist, das Herrschaftssystem zu institutionalisieren und in geordnete Formen zu bringen. Noch heute werden die Regierungs-und Verwaltungsgeschäfte in China in außerordentlich hohem Umfang auf halbrevolutionäre Weise betrieben. Man verläßt sich weitgehend auf spezielle Kampagnen und Aktionen sowie auf den persönlichen Arbeitseifer der einzelnen Kader. Obwohl eine ungeheure Bürokratie existiert, werden selbst alltägliche Angelegenheiten selten in regulären bürokratischen Formen behandelt. Offenbar fehlt den Chinesen die Fähigkeit, etwas ruhig und wirksam zu erledigen; sie machen noch reichlich Gebrauch von totaler Mobilisierung. Diese wiederum erfordert intensive Propaganda, die auf dem Anschein der Einmütigkeit beruht. Diesen Anschein zu schaffen, wird natürlich schwierig sein, wenn Anzeichen oder Gerüchte auf Uneinigkeit im Zentrum hindeuten. Aus diesen und anderen Gründen kann man annehmen, daß das chinesische System noch nicht stabil oder institutionalisiert genug ist, um einen großen Führungswechsel ohne bedeutsame Strukturveränderungen zu überstehen.

Ungelöste innenpolitische Probleme

Ein zweiter Grund, mit radikalen politischen Veränderungen in China zu rechnen, ist folgender: In den letzten Jahren hat sich die Pekinger Führung fast ausschließlich mit einigen wenigen Problemen beschäftigt; dadurch ist es zu einer gewissen Erstarrung im System gekommen, die nicht lange anhalten kann. Vor allem der chinesisch-sowjetische Streit hat die Aufmerksamkeit und die Kräfte der Führer übermäßig in Anspruch genommen. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß Mao vom Kampf mit Chruschtschow und dessen Nachfolgern besessen war und ist; infolgedessen haben viele innenpolitische Probleme keine ausreichende Beachtung seitens der obersten Führer gefunden. Es ist nicht nur eine Frage des Zeitdrucks: der chinesisch-sowjetische Konflikt hat auch die Möglichkeiten zu einem elastischen Vorgehen in der Innenpolitik erheblich vermindert. Der Schein der Einmütigkeit war für die Chinesen wichtiger als die Wirklichkeit.

Das Regime konnte weiterfunktionieren, weil die Fachleute mit großem Eifer an den ihnen übertragenen Aufgaben gearbeitet haben. Es ist aber beispielsweise ungewöhnlich, daß ein kommunistisches System über sechs Jahre lang ohne Fünfjahrplan wirtschaftet. Auch auf dem Gebiet der Volksbildung stehen wichtige Entscheidungen aus, die beträchtliche Auswirkungen auf die Verteilung der Mittel haben wer-den. Nahezu drei Jahre lang ist in China kein einziges neues Klassenzimmer gebaut worden, und die heutigen Bauleistungen sind im Vergleich zur Wachstumsrate der Bevölkerung geringfügig. Auf vielen Gebieten gibt es in der Entwicklung erhebliche regionale Unterschiede. Es ist unwahrscheinlich, daß dieser Zustand die ausdrückliche Billigung der Spitze hat.

Viele der Entscheidungen, die in den vergangenen Jahren, fast könnte man sagen, durch Nicht-Entscheiden getroffen worden sind, werden zwangsläufig früher oder später überprüft werden müssen; es wird dann nötig sein, wesentliche Fragen neu und unvoreingenommen zu durchdenken. Geschieht dies, so kommt es wahrscheinlich zu Spannungen unter den Kadern, denen abverlangt wird, eine andere Tätigkeit aufzunehmen und eine neue Rangordnung der Aufgaben anzuerkennen, überhaupt ist damit zu rechnen, daß sich, wenn die zentrale Leitung gestrafft wird, die uralten chinesischen Probleme der bürokratischen Kontrolle und der Konflikte zwischen Zentrum und Lokalbehörden verschärfen werden. Im ersten Jahrzehnt schien das Regime bei der Über-windung des Regionalismus stetige Fortschritte zu machen, aber in den letzten Jahren haben sich bestimmte latente Formen der Autonomie in das System eingeschlichen.

Außenpolitische Scheinerfolge

Ein dritter Punkt, der das Vernunft-Modell angreifbar erscheinen läßt, ist die chinesische Außenpolitik. Zwar liegt es nahe, darauf hinzuweisen, daß die Chinesen in den letzten Jahren bemerkenswerte außenpolitische Erfolge erzielt und an Einfluß im Ausland gewonnen haben, besonders in Südostasien, Afrika und auch Lateinamerika. In Wirklichkeit entsprang jedoch ein Großteil dieser Aktivität nur dem chinesisch-sowjetischen Konflikt. Die außenpolitischen Erfolge Chinas waren weniger auf seine eigene Macht zurückzuführen als vielmehr darauf, daß andere die Existenz eines revolutionären Chinas in der Welt praktisch fanden. Der chinesische Einfluß hat auch keine festen Grundlagen und kann in den kommenden Jahren leicht in Gefahr kommen, sich wieder zu verflüchtigen.

Der Tatsache, daß sie im Laufe des Konflikts mit der Sowjetunion Einfluß auf ein paar kommunistische Parteien hier und da in der Welt gewonnen haben, messen die Chinesen eine unrealistisch hohe Bedeutung bei, und sie machen sich in diesem Punkt wohl Illusionen. Es ist ihnen in gewissem Grade gelungen, die Russen in Verlegenheit zu bringen und die Position Moskaus in Frage zu stellen. Es wäre aber falsch, diese Vorgänge als Beweise für chinesische Macht oder Schlauheit zu deuten. Viele kommunistische Staaten oder Parteien haben lediglich deshalb ihre Sympathie — wenn nicht Solidarität — mit der chinesischen Position zum Ausdruck gebracht, weil sie dies als ein nützliches Mittel erkannten, sich größere Autonomie innerhalb der kommunistischen Bewegung zu verschaffen. Gewisse Erfolge erzielten die Chinesen auch bei der Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zu nichtkommunistischen Ländern in Asien und Afrika. Aber in den meisten dieser Fälle war es eher so, daß die anderen Länder China für ihre Zwecke einspannten, als daß China sie ausbeutete. Pakistan zum Beispiel findet es wegen seines Konflikts mit Indien nützlich, enge Verbindung mit Peking zu halten. Afrikanische Führer vermochten leicht ihr revolutionäres Image aufzupolieren, indem sie Tschou En-lai die Hand schüttelten, während sie eine Politik verfolgten, die durchaus nicht revolutionär war. Ein Nasser und selbst ein König von Marokko können ihren Ruf als Revolutionäre durch bloßes Verhandeln mit den Chinesen festigen. Wenn aber die Chinesen versuchten, konkrete Ziele in Afrika und Lateinamerika zu erreichen, so stießen sie stets auf Schwierigkeiten; mehr noch, sie steckten eine Niederlage nach der anderen ein. Eines Tages wird Peking genötigt sein, seine auswärtigen Beziehungen auf stabilere, dauerhaftere Grundlagen zu stellen. Dabei wird es zunehmendem Druck von seifen verschiedener Länder ausgesetzt sein und nicht mehr so leicht den unverantwortlichen Wortführer der Weltrevolution spielen können.

Vorrang der militärischen Rüstung

Eine andere mögliche Quelle traumatischer Veränderung in China ist der unbedingte Vorrang, den Peking der Modernisierung seines Militärwesens eingeräumt hat. Am drastischsten kommt dieser Vorrang natürlich in den Investitionen zur Erzeugung von Atomenergie für militärische Zwecke zum Ausdruck. Wir müssen die Zündung von zwei Atombomben als eindrucksvolle Leistung anerkennen. Erhebliche Teile der knappen Mittel wurden dafür zur Verfügung gestellt; Peking muß sich also bedeutenden Nutzen davon versprechen. Chinas Investitionen auf militärischem Gebiet gelten jedoch durchaus nicht nur der Herstellung von Atombomben. Während der Wirtschaftskrise von 1959 bis 1962, als der industrielle Aufbau größtenteils zum Erliegen kam, fuhr das Regime fast ohne Unterbrechung fort, seine besten Fachleute und Arbeitskräfte in die Rüstungsproduktion zu stecken. Wie wir heute wissen, war China damals dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nahe. Um so bezeichnender ist es, daß die Regierung ein solches Risiko einging, um ein hohes Tempo der militärischen Entwicklung beizubehalten. In der Flugzeugindustrie, der Elektronik, der Entwicklung von Luftabwehrwaffen und vielleicht auch im Schiffs-und Unterseebootbau haben die Chinesen einige ihrer größten Erfolge erzielt. Diese Investitionspolitik entspricht in gewissem Grade den Anschauungen eines Regimes, das mit militärischen Mitteln an die Macht gelangt ist, und einer Gesellschaft, in der militärische Gesichtspunkte bei fast allen politischen Vorgängen des letzten Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt haben. Zugleich ist diese Politik ohne Zweifel eine Reaktion Pekings auf den Konflikt mit der Sowjetunion. Nachdem nämlich China während des Korea

Krieges sein Militärwesen mit sowjetischer Hilfe rasch hatte modernisieren können, stand es nach Ausbruch des Konflikts vor der Gefahr, in dem einen Sektor, der als nahezu modern gelten konnte, wieder ins Hintertreffen zu geraten. Dem Militär absoluten Vorrang zu gewähren, mag für die Chinesen ein beinahe instinktives Verhalten sein; und vielleicht sollte uns das nicht überraschen. Andererseits scheint sich ein erstes Mißverhältnis zwischen den Zuweisungen an das Militär und denen an andere Elemente der chinesischen Gesellschaft herauszubilden. Die Lage wird sich in den nächsten Jahren bestimmt noch weiter verschärfen, weil die Forderungen des Militärs steil ansteigen müssen, wenn China im militärtechnischen Wettlauf Schritt halten will. Die Streitkräfte beanspruchen für sich den Hauptteil dessen, was an Mehrleistungen aus der Volkswirtschaft herausgepreßt werden kann. Die derzeitigen Führer in Peking waren und sind im allgemeinen geneigt, diese Forderungen anzuerkennen. Aber wird dies auch für die neue Generation gelten, die vielleicht mehr technisch orientiert ist und weniger überzeugt davon, daß militärische Kräfte beim revolutionären Aufbau eine so große Rolle spielen? In diesem Falle könnte sich das Militär gedrängt fühlen, gemäß seinen eigenen Vorstellungen von nationalem Interesse zu handeln und zu versuchen, den dynamischen Geist der „chinesischen Revolution" zu bewahren. Eine solche Meinungsverschiedenheit müßte nicht unbedingt zu einer dramatischen Auseinandersetzung führen. Es bleibt aber die grundlegende Frage, ob eine Gesellschaft innenpolitisch stabil sein kann, wenn die Zuweisungen an den militärischen und die an den zivilen Sektor in einem so groben Mißverständnis zueinander stehen.

Herrschaft der Ideologen

Eine weitere Ursache bedeutsamer Veränderungen im kommunistischen China könnte in der Handhabung der Ideologie liegen. Schon seit einiger Zeit muß sich das Regime verschiedener Verwaltungsmaßnahmen bedienen, um die Bevölkerung ideologisch bei der Stange zu halten. In letzter Zeit versucht man, die ideologische Schulung zu bürokratisieren. 1964 zum Beispiel wurde mehreren Ministerien ein neuer Führungsstrang beigegeben, der speziell für ideologische Fragen zuständig ist. Durch diese organisatorische Maßnahme sind einige Züge des Politkommissar-Systems der Volksbefreiungsarmee auf zivile Einrichtungen übertragen worden. Teils gehört dieser Schritt zu der allgemeinen Kampagne „Lernt von der Volksbefreiungsarmee", teils kommt darin Maos Bemühen zum Ausdruck, die revolutionäre Qualität seines Staatsapparates zu stärken. Aber darüber hinaus soll er das fundamentale Problem des Widerstreits zwischen politischer Loyalität und fachlicher Tüchtigkeit lösen helfen — ein Problem, das vielleicht einen Grundmangel des chinesischen Systems widerspiegelt.

Entscheidend ist dieses Problem nicht nur wegen der großen Bedeutung der Ideologie im kommunistischen System, sondern auch wegen des ungeheuren Bedarfs an fachlich geschulten Arbeitskräften. Die chinesischen Kommunisten haben einen eigenen Namen dafür: sie nennen es das Problem „rot und Experte" zu sein. Es ist unmöglich, hier das Auf und Ab in der relativen Machtstellung der beiden Gruppen während er letzten Jahre zu verfolgen. Es genüge die Feststellung, daß das Regime bis zum heutigen Tag noch keinen Weg gefunden hat, seine Ansprüche auf dem Gebiet der Ideologie mit seinem Bedarf an Fachleuten in zufriedenstellenden Einklang zu bringen.

In Rußland war dies in den ersten Jahren des Kommunismus ein ernstes Problem; in China wird es sich, wie es scheint, als noch schwieriger erweisen. Zunächst einmal ist die offizielle Macht heute so uneingeschränkt in den Händen der Ideologen, daß man sich schwer vorstellen kann, sie könnten ihren Anspruch auf totale Herrschaft freiwillig herabschrauben. In China gibt es keine vorrevolutionäre Tradition, fachliche Fähigkeiten zu respektieren und Spezialisten die ihnen gebührende Autorität unter der allgemeinen Kontrolle politischer oder administrativer Führungsinstanzen zuzuerkennen. Man neigte stets dazu, Autorität als etwas Monopolistisches, Totales und Undifferenziertes aufzufassen. Es ist deshalb für die Chinesen nicht leicht, sich eine Arbeitsund Autoritätsteilung zwischen dem ideologischen Wächter und dem technischen Spezialisten vorzustellen. Sie kommen bestenfalls auf den recht banalen Gedanken, daß man beides sein soll, rot und Spezialist.

Mangel an Fachleuten

In den Jahren 1963/64 vernahm man aus dem kleinen Kreis der chinesischen Wissenschaftler ein leises Murren — Ausdruck des Wunsches nach mehr Freiheit von ideologischer Einmischung. Einige Wissenschaftler erklärten, solchen Forschern, die in ihrem Spezialfach wirklich gut seien, müsse gestattet werden, sich weniger mit Ideologie zu befassen, während sich Nicht-Spezialisten mehr auf die Ideologie konzentrieren sollten. Die Bedeutung dieser kritischen Äußerungen ist schwer zu ermessen, und ebensowenig ist abzuschätzen, wieviel Macht die Wissenschaftler in den nächsten Jahren haben werden, berücksichtigt man den Bedarf des Systems an immer mehr technischen Talenten. Klar ist aber, daß hier ein Problem vorliegt, das heikel werden könnte. Nach dem Abtreten Maos und der kommunistischen Führer alten Schlages dürfte diese Frage drängender werden und mehr in den Vordergrund rücken, da dann die Ideologen nicht mehr die mystische Autorität Maos als Rückhalt haben werden.

Wie dem auch sei; jedenfalls ist es wahrscheinlich, daß China in einigen Jahren eine Art Krise erleben wird, weil es zugelassen hat, daß ein so großer Teil seiner begabten Menschen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Propaganda und der ideologischen Lenkung ausgenommen hat.

In dieser Hinsicht bildet China einen bemerkenswerten Gegensatz zu Stalins Rußland. In der stürmischen Ära Rußlands mieden viele intelligente Menschen Politik und Parteiarbeit zugunsten der relativen Sicherheit technischer und wissenschaftlicher Berufe. In China ist paradoxerweise die persönliche Unsicherheit in der Parteilaufbahn nicht so groß, und außerdem ist hier die Bezahlung am höchsten. In diesem Punkt folgt China nicht dem Vorbild Rußlands, wo selbst unter einem Regime schwerer politischer Unterdrückung dem wissenschaftlich Begabten große Entfaltungsmöglichkeiten offenstanden. In China können aufgeweckte junge Leute, die vorwärtskommen wollen, dies am ehesten durch politische Arbeit erreichen, und das um so mehr, als die Bezahlung in anspruchsvollen wissenschaftlichen Berufen gegenwärtig unangemessen niedrig ist. Die Diskriminierung, der Söhne von ehemaligen Grundbesitzern und Kapitalisten unterworfen sind, hat allerdings viele dieser jungen Leute genötigt, sich einer technischen oder wissenschaftlichen Tätigkeit zuzuwenden, aber diese Erscheinung kann die Kluft zwischen politischer Arbeit und Fachwissen nur vertiefen.

Es ist bemerkenswert, daß in China unterhalb der Schicht der höchsten Wirtschaftsführer äußerste Knappheit an fachlich gebildetem Personal herrscht. Hauptsächlich liegt das daran daß die Generation der Fünfunddreißig-bis Fünfundvierzigjährigen durch den Krieg und die japanische Besetzung schwere Einbußen erlitten hat. Es besteht aber auch Anlaß zu der Frage, ob wenigstens jetzt genügend begabte junge Leute eine Fachausbildung erhalten, damit der künftige Bedarf gedeckt werden kann. Selbst nach den überhöhten chinesischen Angaben kommen weniger als 1, 5 Prozent der Jugendlichen im Hochschulalter heute in den Genuß einer akademischen Bildung. Und angesichts des Systems „halb Unterricht, halb Arbeit" ist die Qualität dieser Ausbildung zumindest fraglich.

Schwinden der revolutionären Mystik

Eine letzte Quelle potentieller Unstabilität in China ist das Schwinden der revolutionären Mystik. Regime und Volk müssen gleicherweise lernen, ohne den freudigen Schwung zu leben, den ihnen früher ihre Träume gaben. Auf allen Ebenen mußten die Menschen ihre Hoffnungen auf Wunder aufgeben. Die Partei selbst erkennt jetzt an, daß man den Weg zur Umwandlung der Gesellschaft nicht abkürzen kann; der einzige Kurs ist harte Arbeit und allmähliche Verbesserung. Einst glaubte man, die Mystik des Kommunismus, die esoterischen Doktrinen des Marxismus-Leninismus und die Lehren Maos enthielten wunderwirkende Antworten auf Chinas Modernisierungsprobleme. Jetzt müssen sich die Chinesen mit der Aussicht auf ein langsames Wachstum nach Zinseszins-Gesetzen abfinden. Kurz, China ist in der gleichen Lage wie die ganze übrige Menschheit.

Daß die Glut der Revolution verblaßt, und mit ihr das Charisma auch der revolutionärsten Partei, ist ein natürlicher Vorgang und gilt für jede Gesellschaft. In China mag jedoch dieser Prozeß besondere Bedeutung erlangen, denn in den Anfängen haben die chinesischen Kommunisten die Rolle des menschlichen Geistes bei der Veränderung der Welt außerordentlich stark betont. Das hervorstechendste Kennzeichen des chinesischen Kommunismus war wohl sein Voluntarismus; der Glaube, daß fortschrittliche Kräfte — worunter man Menschen mit einer bestimmten Haltung verstand — den Gang der Geschichte in einem Maße beeinflussen könnten, das mit einer doch vorgeblich materialistischen und deterministischen Philosophie nicht zu vereinbaren ist. Es wird der chinesischen Führung nicht leicht fallen, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß Anstrengung und Ermahnung allein keine politische Entwicklung und kein schnelles wirtschaftliches Wachstum herbeiführen können.

Die Massenkampagnen und organisierten Aktionen, von denen in den ersten Jahren des Regimes so reichlich und einfallsreich Gebrauch gemacht wurde, haben inzwischen einen schweren psychologischen Tribut gefordert. Anzeichen deuten darauf hin, daß der chinesische Bauer und auch der städtische Arbeiter in seinen Reaktionen auf die Politik der Regierung zynischer und vor allem berechnender geworden ist. Die Menschen tun noch, was ihnen befohlen wird, und sie suchen noch innerhalb des Systems soviel Sicherheit wie möglich; aber der einzelne ist jetzt eher geneigt zu fragen, was für ihn persönlich herausspringt — er unterdrückt nicht mehr solche Überlegungen, wie das in den ersten Jahren im allgemeinen der Fall war.

Wünsche nach materiellen Verbesserungen

Dieser Wandel im Verhalten ist vielleicht eine der verhängnisvollsten Folgen des „Großen Sprungs“ und des Versuchs, in den Volks-kommunen das Prinzip der freien Verteilung einzuführen. Dieses Erlebnis zerstörte allen etwa in der Bauernschaft vorhandenen Opfer-sinn und schuf ein schweres Problem des materiellen Anreizes. Viele Bauern begriffen sehr schnell, was sie umsonst bekommen konnten, und hatten es gar nicht eilig, etwas für das Kollektiv zu leisten. Als die Parteiführer dies erkannten, eröffneten sie eine öffentliche Dis22 kussion über Formen und Grundsätze des Arbeitsentgelts. Als die Diskussion in Gang gekommen war, fingen die Leute zu fragen an, warum der eine mehr Lohn erhalten solle als der andere, und ganz allgemein schärfte sich der Blick für Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Etwas ins Wanken geriet sogar die alte bäuerliche Einstellung, daß das Leben nun einmal hart sei und daß man arbeiten müsse, ohne zu fragen, weshalb Verwaltungstätigkeit besser bezahlt wird als Handarbeit. Diese und ähnliche Probleme wurden sowohl in wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften als auch in dörflichen Gruppen erörtert.

Das Bestreben, jedermann zu bewußterem Nachdenken über Produktion und Anreiz zu veranlassen, wirkt jetzt auf die Partei zurück, denn das Volk stellt Fragen nach dem Verhältnis von Produktion und Entlohnung. Was das Regime zwingt, weiterhin Getreide zu importieren, ist — neben Transportschwierigkeiten — vor allem die Tatsache, daß sich die Regierung nicht mehr ohne weiteres in der Lage sieht, Produktionsüberschüsse aus einem Gebiet abzuziehen und damit Gebiete zu versorgen, in denen Mangel an Nahrungsmitteln herrscht. Volkskommunen und Produktionsbrigaden, die eine Produktionssteigerung von, sagen wir, 10 Prozent erzielen, neigen jetzt zu der Ansicht, daß sie auch um 10 Prozent mehr verbrauchen dürften. Wenn ihnen die gesamte Mehrproduktion weggenommen würde, könnte dies leicht zu einem Rückgang der Erzeugung im nächsten Jahr führen.

Kurz, die ländliche Gesellschaft Chinas tritt in eine komplexe Phase ein; Fragen des Anreizes und Arbeitslohn werden ausgiebiger diskutiert als früher, wo es einfach ums überleben, um die Überwindung nackter Not ging. In den Städten führt die zunehmende Spezialisierung zu wachsender Nachfrage nach Konsumgütern und allgemein zu dem Wunsch nach einem angenehmeren Leben. Die Städter achten zunehmend darauf, welche soziale Stellung und welches Einkommen mit den verschiede-nen Berufen verbunden sind. Mit der Zeit löst sich die chinesische Gesellschaft aus dem Zustand, in den sie von den Kommunisten zum Zweck revolutionärer Umgestaltung gebracht worden ist.

Es mag indessen sein, daß die Chinesen die Mystik der Revolution gar nicht in dem Maße nötig hatten, wie angenommen worden ist, und vielleicht kommen sie in einer Alltags-welt besser zurecht, als man erwartet. In vielen unterentwickelten Ländern ist es ein ernstes Problem, die Energien des Volkes zu mobilisieren und die Menschen aus ihrer tradi-tonellen Lethargie aufzurütteln; bei den fleißigen Chinesen gab es diese Schwierigkeit nicht. Schon seit mehreren Jahrzehnten finden sich in den chinesischen Städten bemerkenswert disziplinierte Arbeitskräfte, die den normalen Anforderungen einer Industriegesellschaft völlig gewachsen sind. Was den chinesischen Bauern betrifft, so ist er nicht weniger energisch und bemüht sich um Steigerung der Produktivität, wenn man ihm Gelegenheit und die nötigen Mittel dazu gibt.

In dieser Hinsicht hat vielleicht die ganze politische Agitation der letzten Jahre die Entwicklung Chinas eher behindert und gehemmt, als daß sie die Kräfte der Gesellschaft wirksam mobilisiert hätte. Was China in der Vergangenheit fehlte, war nicht so sehr die Mobilisierung von Kräften als vielmehr eine phantasievolle und fähige Führung und Leitung. Es erscheint sehr fraglich, ob die endlose Folge von Kampagnen und Aktionen im letzten Jahrzehnt viel dazu beigetragen hat, den Einfallsreichtum der Führungskräfte zu heben. Sicher ist, daß dieses Kampagnewesen die Chinesen nahezu ein Jahrzehnt lang davon abgehalten hat, das auf lange Sicht grundlegende Problem der Löhne und Anreize entschieden anzupacken. So bedeutet denn das Abflauen des revolutionären Geistes vermutlich mehr eine persönliche Krise für die Führer als ein Problem für die Gesellschaft als Ganzes.

Probleme des explosiven Bevölkerungswachstunis

Aus diesen und mehreren anderen Gründen kann also damit gerechnet werden, daß das kommunistische System Chinas im Laufe der Zeit entscheidende Veränderungen durchmachen wird, die sich nicht ohne weiteres an Hand des Vernunft-Modells voraussagen lassen. Wir betonen nochmals, daß diese Vorhersage nicht bedeutet, daß der Kommunismus zusammenbrechen wird. Sie bedeutet auch nicht notwendig, daß sich Peking einer milde-ren Form des Totalitarismus nähert oder daß die Chinesen genau die gleichen historischen Etappen in genau der gleichen Reihenfolge absolvieren werden wie die Sowjets. Vielmehr wird das ungeheure, bedrohliche Wachstum der chinesischen Bevölkerung eine nennenswerte Lockerung der Herrschaft in den nächsten Jahren von selbst ausschließen. Allein die Aufgabe, eine Nation zu regieren, die vielleicht eines Tages die halbe Weltbevölke-B rung ausmacht, aber nur über einen kleinen Bruchteil der Hilfsquellen der Welt verfügt, wird die chinesischen Führer nötigen, ihre Gesellschaft am straffen Zügel zu halten. Dies mag einer der Gründe dafür gewesen sein, daß Peking in den letzten anderthalb Jahren die Mitgliederzahl der Kontrollkommissionen auf Landes-und Provinzebene verdreifacht hat.

Die Schwierigkeiten, die wir voraussehen, liegen hauptsächlich im politischen Bereich; wenn wir aber unsere Analyse auf die Wirtschaft ausdehnten, würden wir weitere Gründe finden, Fragen nach der Zukunft Chinas zu stellen. Wie schon früher angedeutet, ist das Vernunft-Modell in hohem Maße von der relativ ausgeglichenen Wirtschaftspolitik beeinflußt, die die Chinesen betreiben, nachdem sie die Fehler des „Großen Sprungs" korrigiert haben. Sie sind am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs umgekehrt; aber ihre Wirtschaft dürfte ihnen trotzdem noch große Schwierigkeiten bereiten, und auch kluge Entscheidungen können sich als unzureichend für die Lösung der fundamentalen Probleme eines schwachen landwirtschaftlichen Sektors und einer unablässig wachsenden Bevölkerung erweisen. Zum Beispiel zehren augenblicklich die chinesischen Weizenkäufe im Ausland fast die Hälfte der Deviseneinnahmen auf. Die Bedeutung dieser Getreidekäufe erhellt daraus daß die Chinesen in den letzten drei Jahren in denen große Einkäufe getätigt wurden Industrieanlagen im Werte von nur etwa 70 bis 80 Millionen Dollar gekauft haben. Mehr noch: die derzeitigen Ausgaben für ausländischen Weizen, nämlich über 400 Millionen Dollar im Jahr, übersteigen sogar den Betrag, den die Chinesen nach eigenen Angaben in den Jahren des „Großen Sprungs" für die Einfuhr von Industrieanlagen aufgewandt haben. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten in der Wirtschaft zwingen also die Chinesen, für den Import von Grundnahrungsmitteln Summen auszugeben, von denen ihre Propagandisten nicht einmal in jenen Tagen zu träumen wagten, als sie die Aussichten der industriellen Entwicklung und die Möglichkeiten, „Großbritannien zu überholen", überoptimistisch beurteilten.

Chinesen werden mit ihrer Form des Kommunismus leben müssen

Das chinesische System wird daher sicherlich in den kommenden Jahren einer Vielfalt von Spannungen ausgesetzt sein, die für die weitere Entwicklung des Kommunismus in China vielleicht entscheidender sein werden als gegenwärtige Tendenzen.

Schließlich und endlich werden die Chinesen ihre politischen Verhältnisse so ordnen müssen, daß sie miteinander und mit der modernen Welt leben können. In der Geschichte haben sie ihre Begabung bewiesen, sich bemerkenswert dauerhafte Regierungsformen zu schaffen; aber noch ist nicht klar, ob es ihnen gelingt, den Kommunismus ihren Bedürfnissen anzupassen. In den vor uns liegenden Jahren werden sie sicherlich mit ihrer Form des Kommunismus leben müssen, und je besser sie das lernen, um so leichter wird es der übrigen Welt fallen, vorauszusehen, in welchem Grade China eine äußere Gefahr sein wird. Bis dahin wäre es gut, wenn diejenigen, die besorgt sind, daß China zur größten Bedrohung der Weltordnung werden könnte, davon Abstand nähmen, zur Rechtfertigung verfrühter Reaktionen Argumente zu gebrauchen, die auf dem Vernunft-Modell fußen. Ebenso sollten jene, die günstiger oder optimistischer über die Chinesen denken, erkennen, daß sie durch Verbreitung einer Ansicht vom kommunistischen China, die die Starrheit der Ideologie und die Schwierigkeiten der wirklichen Lage unterschätzt, einer phantastischen, ja magischen Auffassung von den chinesischen Fähigkeiten Vorschub leisten, welche, wenn sie ernsthaft geglaubt wird, Anlaß zu schwerer Besorgnis geben muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In der Erzählung The Strange Case of Dr. Jek and Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson gew nen die guten und die bösen Charakterzüge eit Menschen auf magische Weise Gestalt in zwei v schiedenen Personen (Anm. d. übers.).

  2. „Das revolutionäre Wesen des Proletariats für immer bewahren! Beim Wiederlesen von Wie man ein guter Kommunist wird'", Rote Fahne, 4. Februar 1964.

  3. „Das revolutionäre Wesen des Proletariats für immer bewahren! Beim Wiederlesen von Wie man ein guter Kommunist wird'", Rote Fahne, 4. Februar 1964.

Weitere Inhalte

Lucian W. P ye, Ph. D., Professor für Politische Wissenschaften am Massachusetts Institute of Technology, Senior Staff Member des Centre for International Affairs, zur Zeit Leiter des Projektes China-Studien des Council of Foreign Relations, geb. 1921 in China.