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Die Rolle der Interessengruppen im Prozeß der demokratischen Meinungsbildung | APuZ 26/1966 | bpb.de

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APuZ 26/1966 Artikel 1 Die Rolle der Interessengruppen im Prozeß der demokratischen Meinungsbildung

Die Rolle der Interessengruppen im Prozeß der demokratischen Meinungsbildung

Emerich Francis

Wenn wir uns vorstellen, daß Interessenverbände unser politisches Schicksal maßgeblich mitgestalten, so widerstrebt uns das irgendwie. Wenn wir hören, daß Parlamentarier nicht die Allgemeinheit vertreten, sondern die Interessen irgendeines Industriezweiges, einer Landschalt, einer Kirche, so kommt uns das schlechterdings undemokratisch vor. Dabei handelt es sich gar nicht um ein spezifisch demokratisches Problem des rechten Verhältnisses zwischen Gemeinwohl und Sonderinteressen, zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Unserem sittlichen Empfinden entspricht es, und die Philosophen bestätigen uns darin, das Gemeinnutz vor Eigennutz geht, nicht nur vor dem Eigennutz von Individuen, sondern auch vor dem Eigennutz von Kollektiven.

Der Grundsatz, daß diejenigen, die die Macht haben, stets das Wohl des Ganzen vor Augen haben sollen, hat auch in den demokratischen Verfassungen seinen Niederschlag gefunden. So kennt zum Beispiel die amerikanische Verfassung keine Parteien. Der Präsident wird von einem Kollegium von Wahlmännern gewählt, die ohne jede Bindung an einen Auftrag in freier Beratung den für das Amt Geeignetsten bestimmen sollen. Wir wissen natürlich, daß die Verfassungswirklichkeit ganz anders aussieht. Das politische Leben der Vereinigten Staaten wird beherrscht von zwei großen Parteien, die in ihren Entschlüssen weitgehend beeinflußt werden durch mächtige, wohlorganisierte Gruppen: Farmer, Gewerkschaften, Unternehmer, Frauenverbände, Kirchen. Von den Parteien werden die Präsident-

Schaftskandidaten herausgestellt, und die Entscheidung zwischen ihnen ist längst gefallen, bevor die Wahlmänner überhaupt zusammentreten. Noch ein anderes Beispiel: Vielen gilt der Beamte als der unbestechliche Schiedsrichter zwischen auseinanderstrebenden Sonderinteressen. Mag diese Auffassung auch heute weniger berechtigt sein, als sie es vielleicht früher einmal gewesen ist, so bleibt doch entscheidend, daß die Beamten selbst ihre Berufsrolle so verstehen. Wenn sich namentlich die hohe Ministerialbürokratie in Bund und Ländern bisweilen so selbstherrlich gebärdet, als wäre der ganze Parlamentarismus eine Formalität, so geschieht dies aus der ehrlichen Überzeugung, daß der Beamte das Staatsinteresse gegenüber allen Sonderwünschen zu vertreten habe. Die Wirklichkeit bürokratischer Herrschaft sieht freilich anders aus. Auch innerhalb des gewaltigen Behördenapparates sind Sonderinteressen wirksam, die dem Ganzen abträglich sein können und ihm auch tatsächlich oft abträglich sind. Ich brauche nur an Bekanntes zu erinnern: Ressortinteressen, Ämterrivalitäten usw. Wer kennt nicht die Parkinsonschen (Gesetze der Bürokratie? Der ärgerliche Amts-schimmel läßt sich weitgehend darauf zurückführen, daß der Beamte seiner Position und seinen Aufstiegschancen am besten nützt, wenn er keine Entscheidung fällt, die ihn in Konflikt mit mächtigen Interessengruppen oder Honoratioren bringen könnte, sondern solche Entscheidungen nach Möglichkeit auf die lange Bank schiebt bzw. auf andere Ressorts abwälzt. I ;

Herrschaft des Volkes oder Herrschaft der Verbände?

In der Tat ist die Meinung nicht ohne utopischen Beigeschmack, daß der Staat von völlig uninteressierten Männern allein um des allgemeinen Wohles willen regiert werden solle. Wenn die Politik als Kunst des Möglichen bezeichnet worden ist, so gewiß auch aus der Erkenntnis, daß eine vollkommene Ordnung des politischen Geschehens nach abstrakten Regeln undenkbar ist und daß bei der Verwirklichung jeder Verfassung vor allem mit dem zu rechnen ist, was Eschen-burg „institutionswidriges Verhalten“ genannt hat. Immer klaffen Ideal und Wirklichkeit, der Vorentwurf des sozialen Handelns und das soziale Handeln selbst auseinander. Ein Blick auf einen ganz anderen Bereich der Vergesellschaftung ist geeignet, dies eindringlich vor Augen zu führen. Sobald man versucht, das Organisationsschema eines Betriebes in die Wirklichkeit umzusetzen, treten unversehens Verlagerungen und unbeabsichtigte Nebenwirkungen auf, die oft die ursprüngliche Absicht geradezu vereiteln. Genau dasselbe gilt für die Verfassung eines staatlichen Herrschaftssystems. Deshalb scheint die Erforschung der politischen Wirklichkeit die Voraussetzung zu sein für die Meisterung dieser Wirklichkeit, und zwar im zweifachen Sinn der geistigen und der technischen Bewältigung der Realitäten.

Es genügt also nicht, die „Herrschaft der Verbände“ zu beklagen und anzuklagen. Man muß sie zu verstehen versuchen. Obwohl die klassische Doktrin der Demokratie keine Parteien kennt, sind sie längst nicht mehr aus dem politisch-parlamentarischen Leben im großräumigen Staat der Industriegesellschaften wegzudenken. Wenn nun demokratische Verfassungen den außerparlamentarischen Organisationen, also auch den Interessengruppen kein Mitspracherecht einräumen, so bleibt die Frage offen, warum diese Verbände, ebenso wie die Parteien, trotzdem eine so große Bedeutung gewonnen haben. Sollten in beiden Fällen etwa ähnliche strukturelle Voraussetzungen mitspielen, mit denen nun einmal gerechnet werden muß?

Wenn man die Rolle der Verbände bei der demokratischen Meinungsbildung untersuchen will, so muß man sich vor allem einmal darüber einigen, was unter Demokratie verstanden werden soll. Wir gehen dabei von dem Problem aus, wie das, was dem Gemeinwohl am zuträglichsten ist, im Einzelfall verbindlich festgestellt werden kann. Auch der obrigkeitsstaatliche Vorgänger der modernen Demokratie wollte ja dem Gemeinwohl dienen. Nur meinte man, daß die Zielsetzung politischen Handelns durch vernünftige Überlegung, namentlich aus dem Naturrecht erschlossen werden könne. Die Verwaltung galt als erlernbare Kunst. Die in ihr Bewanderten, der Fürst und seine Diener, hielt man eben deshalb für berufen, die politischen Geschicke der willenlosen Massen des „Volkes" zu lenken.

Der aufgeklärte Absolutismus galt den Bahnbrechern der modernen Demokratie nicht so sehr deswegen als Despotie, weil seine Leistungen und Resultate notwendig schlecht gewe-sen wären. Entscheidend war vielmehr der Gedanke, daß, „wo immer fremder Wille herrscht", ein bloß äußerer Zwang vorliege und daß ein solch äußerer Zwang dem natürlichen Recht des Menschen auf Selbstbestimmung widerspreche. Was immer man sonst unter Demokratie verstehen mag, grundlegend bleibt für sie jedenfalls die Idee der Freiheit von jedem äußeren despotischen Zwang. Demokratie stellt immer einen Versuch dar, anstelle des äußeren den inneren Zwang, anstelle der hilflosen Unterwerfung unter die Gewalt des Herrschenden die innere Zustimmung der Beherrschten zu setzeh.

Der Wille des Volkes — Mythos der Wirklichkeit?

Die Quintessenz der Demokratie hat Lincoln in die klassische Formel gefaßt: „Government of the people by the people for the people." Das läßt sich etwa so übersetzen: Herrschaftsausübung über die Beherrschten durch die Beherrschten zugunsten der Beherrschten. Herrschende und Herrschaftsunterworfene sollen identisch sein. Die ganze gedankliche Konstruktion ruht auf dem Begriff der volonte generale, des Gemeinwillens. Regieren bedeutet immer Entscheidungen treffen über etwas, das weder selbstverständlich noch rational logisch eindeutig demonstrierbar ist. Entscheidungen setzen einen Willen voraus und dieser wieder eine Person, die zwischen möglichen Alternativen wählen kann. Solange der absolute Fürst souverän herrschte, bereitete die Identifizierung des politischen Willenträgers keine Schwierigkeit. Wer aber sollte in der Republik an seine Stelle treten? Nach Rousseau behalf man sich mit einer Hyposta-sierung: Man ging dazu über, unter der Bezeichnung „Volk“ oder „Nation" die Staats-bevölkerung zu einer Kollektivpersönlichkeit zu erheben und diese als souverän zu erklären. Nahe verwandt mit der Fiktion des Gemeinwillens und der Volkssouveränität ist die Volksgeistlehre der Romantik. Das Verhängbis aller derartigen Begründungen der Legitimität bestimmter Herrschaftssysteme besteht darin, daß sich weder Gemeinwille noch Volks-geist intersubjektiv und eindeutig feststellen lassen.

Nach all dem, was im Namen des Volkswillens und Volksgeistes inzwischen verbrochen worden ist, beruft man sich heute nicht mehr gern darauf. Man kennt die praktischen Schwierigkeiten, die sich mit dem Begriff verbinden. Ist der Bruchteil der Wahlberechtigten, der einem Adenauer, Kennedy oder de Gaulle zur Macht verhülfen hat, nun Ausdruck des politischen Willens des deutschen, amerikanischen oder französischen Volkes? Wo beginnt heute das deutsche Volk? An welchen Staatsgrenzen endet es? Konnte man je von einem amerikanischen Volk als einer integralen gesellschaftlichen Ganzheit mit einem einheitlichen Willen reden? Angesichts solcher Entwicklungen wie der EWG oder des kommunistischen Blocks beginnt man sich ernsthaft zu fragen, ob die Nationen nicht im Begriffe stehen, in ihrer Rolle als letzte gesamtgesellschaftliche Totalitäten von größeren Einheiten der Solidarität und des Gemeinschaftsgefühls abgelöst zu werden, für die uns vorerst noch adäquate Begriffe fehlen. Man ist unsicher geworden über die Realität dessen, wodurch Herrschaftssystem und Staaten legitimiert werden sollen.

Die Funktion der öffentlichen Meinung

Es nimmt daher nicht wunder, wenn man heute viel lieber von öffentlicher Meinung als Von Volkswillen spricht. Es liegt auf der Hand, daß auch in ihr die Vorstellung von der volonte generale, wenn auch in abgeschwächter Form, wiederkehrt. Staatsmänner und Politiker berufen sich auf die öffentliche Meinung, um politische Entscheidungen zu rechtfertigen oder um den Nachweis zu erbringen, daß gewisse Maßnahmen nicht durch die Zustimmung der Beherrschten sanktioniert und daher unberechtigt seien. Immerhin scheint vom Standpunkt der empirischen Gesellschaftswissenschaften mit dem Begriff der öffentlichen Meinung eher etwas anzufangen zu sein als mit der volonte generale oder dem Volksgeist. Wie jede naive Vorstellung muß allerdings auch diese erst wissenschaftlich umgedeutet werden, um für eine Wirklichkeitsanalyse und realistische Politik brauchbar zu werden. Ein wesentliches Prinzip der demokratischen Regierungsform besagt, daß alle politischen Entscheidungen durch die Herrschenden unter Mitwirkung der Beherrschten zustande kommen sollen. Formell ist hierfür die Wahl der Volksvertreter und die meist indirekte Wahl der Regierung vorgesehen. Die freie Konkurrenz der Bewerber und die persönliche Möglichkeit der Abberufung der einmal Gewählten gilt als entscheidendes Kontrollmittel der Beherrschten über die Herrschenden. Das ist scheinbar nicht sehr viel. Es ist aber auch nicht alles. Ganz abgesehen von dem, was sich im Rahmen der offiziellen Satzungen und Regeln abspielt, reicht der demokratische Prozeß — soll er überhaupt sinngemäß funktionieren — in weit umfassendere und subtilere Bereiche der Gesamtgesellschaft hinein. Vor allem müssen wir uns darüber im klaren sein, daß die Regierenden nicht nur aus Furcht vor Abberufung davon abgehalten werden, eine despotische Alleinherrschaft aufzurichten. Kein Staatsmann ist so kalt berechnend, daß er sich in allen seinen Entscheidungen einzig und allein durch die Rücksicht auf seine Chance der Wiederwahl bzw. Wiederbestellung bestimmen läßt. Auch er ist ein Teil der Gesellschaft und unterliegt spontanen sozialen Kontrollen. Es ist ihm nicht gleichgültig, wie seine Verwandten und Freunde von ihm denken. Er bleibt kaum unberührt davon, ob ihm die Wellen der allgemeinen Zuneigung entgegenschlagen oder ob er verhaßt und verachtet ist. Zwar weiß er, daß er es nicht allen recht machen kann, doch ringt er um die Zustimmung und Anerkennung derjenigen, auf die es ihm ankommt. Diese allgemein menschliche Seite sozialen Handelns muß immer ins Kalkül gezogen werden, wenn die Motive spezifisch politischen Verhaltens zur Diskussion stehen. Der äußerst verwickelte Komplex sozialer Prozesse, in deren Verlauf die Herrschaftsunterworfenen die politischen Entscheidungen der Herrschenden tatsächlich beeinflussen und steuern, wird nun unter der Bezeichnung „öffentliche Meinung" zusammengefaßt. Jede soziale Ordnung setzt den Konsensus der Beteiligten voraus über Deutungen, Wertungen, Verhaltensregeln, insofern sie für das Zusammenhandeln der Beteiligten relevant sind. Die in einer Gesellschaft geltenden Zielvorstellungen, Wertmaßstäbe und Normen — eben das, worüber Konsensus besteht — reichen jedoch nicht aus, um das richtige Verhalten der Beteiligten und das glatte Funktionieren des Gebildes zu gewährleisten. Immer wieder ergibt sich die Notwendigkeit, im konkreten Fall zwischen mehreren Möglichkeiten zu entscheiden, eine von mehreren Alternativen zu wählen, und zwar dergestalt, daß die Entscheidung den davon Betroffenen ebenso als verbindlich gilt wie die prinzipiellen Grundlagen der sozialen Ordnung.

Meinungsbildung — Voraussetzung jeglicher Demokratie

Hier setzt der Prozeß der Meinungsbildung ein. Es ist eine sozialpsychologische Erfahrungstatsache, daß in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, in einer kleinen Gruppe ebenso wie in einem großen Verband, die persönlichen Ansichten der . einzelnen dahin tendieren, nach Kenntnisnahme der Ansichten anderer zu konvergieren. Das Endergebnis dieses Prozesses ist eine Reihe gleichartiger • .. 2* ME individueller Meinungen. Dabei versthhen wir unter „Meinung" die mehr oder weniger gefestigte Ansicht eines Ir lividuums über eine die Gesamtheit betreffende problematische Situation, die durch den sozial-psychologischen Prozeß der Meinungskonvergenz zustande kommt. Meinung hat also immer einen sozialen Aspekt. Sie impliziert die gleichartige Meinung einer Vielzahl anderer. Meinung ist in diesem Sinne immer Kollektivmeinung.

Meinung kann sich nicht bilden, ohne daß eine Kenntnisnahme der Ansichten anderer möglich ist. Ja noch mehr: es muß ein Bewußtsein dasein über die reine Zahl derer, die einer Ansicht sind, aber auch über das moralische Gewicht oder die relative Autorität derer, die die Ansicht hegen. Daraus folgt, daß die Meinungsbildung eine Funktion der Meinungskundgabe ist. Ein wesentlicher Faktor der Propaganda ist gerade die Manipulation von Meinungskundgaben, also das Erwecken falscher Eindrücke über die Meinungen anderer. Meinung ist also immer ein kollektives Phänomen. Da ein Individuum nur insofern eine Meinung in diesem Sinne hat, als es glaubt, daß andere derselben Meinung sind, so ist auch jede individuelle Meinung nur ein Aspekt der kollektiven Meinung. Es gehört immer das Bewußtsein dazu, daß bestimmte Ansichten den Meinungen der meisten bzw.der maßgebenden Mitglieder der Gesellschaft entsprechen. Eine Kollektivmeinung trägt immer den Charakter der Öffentlichkeit, insofern als sie kundgegeben sein muß, bevor sie überhaupt zur Kollektivmeinung werden kann. Der Inhalt einer kollektiven Meinung ist gewissermaßen gemeinsames öffentliches Eigentum, öffentliche Meinung ist aber immer Meinung über eine spezielle Frage, einen besonderen Aspekt der totalen gesellschaftlichen Existenz. Unsere soziale Existenz beruht aber nicht auf Meinung, sondern auf Konsensus. Es muß daher immer eine gemeinsame Basis vorhanden sein, bevor sich eine Kollektivmeinung überhaupt bilden kann. An dieser Stelle liegt das Problem der öffentlichen Meinung in der Massengasellschaft. In ihr ist die Basis des Konsensus fließend und relativ dünn. Daher ist der Bereich dessen relativ groß, was eh und je auf der Grund-läge der öffentlichen Meinung geregelt und entschieden werden muß. Auch in der pluralistischen Gesellschaft gibt es Selbstverständlichkeiten. Gleichzeitig aber steht ein sehr großer Spielraum für Alternativen offen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zu wählen und daher auch die Notwendigkeit, eine Meinung zu bilden. Man könnte sagen, daß die Ordnungen der pluralistischen Gesellschaft weitgehend auf einer Kette von Plebisziten beruht. Dazu kommt noch ein anderes.

Die zu entscheidenden Fragen betreffen vorwiegend jeweils andere Sektoren der Bevölkerung, die sich eine Meinung bilden bzw. eine Meinung als gültig und verbindlich akzeptieren muß. Diesen Sektoren entsprechen vielfach keine Dauergebilde. In diesem Sinn spricht man von Publikum, von Öffentlichkeit. Man könnte ein Publikum als jene logische Klasse oder „Kategorie" von Menschen in einem größeren Sozialunternehmen bezeichnen, die durch die Entscheidung über eine konkrete strittige Angelegenheit so betroffen werden, daß die Durchführung dieser Entscheidung von ihrer Konformität mit der Entscheidung, also von ihrem Gehorsam abhängt. Konformität kann beruhen einerseits auf Unterwerfung unter äußeren Zwang, andererseits auf Anerkennung der Gültigkeit oder Legitimität der Entscheidung, das heißt der Verpflichtung, das eigene Verhalten mit oder ohne Zustimmung nach dieser Entscheidung auszurichten. Wie wir bereits sahen, ist das Ziel der Demokratie, Konformität auf Grund innerer Zustimmung zu erreichen, und zwar soll diese innere Zustimmung vor allem erzielt werden durch Teilnahme am Prozeß der Meinungsbildung über die zu treffende Entscheidung. Da dies nicht immer möglich ist, können ersatzweise an dessen Stelle der Nachvollzug des Prozesses der Meinungsbildung und die nachträgliche Zustimmung treten. Dies ist in der repräsentativen Demokratie der häufigere Fall.'

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Bedürfnis nach Propaganda?

Das kritische Problem ist nun, wie die von einer Entschließung Betroffenen dazu veranlaßt werden können, überhaupt eine Meinung zu bilden, obwohl sie kein spezifisches Kollektivum darstellen. Die Antwort darauf lautet: Die Betroffenen müssen entweder ad hoc ein Kollektivum bilden, oder sie müssen wenigstens den Eindruck gewinnen, einem Kollektivum anzugehören und an dem Prozeß der Meinungsbildung teilzunehmen. Letzteres ist genau die Funktion der Massenkommunikationsmittel, die uns hier jedoch nur am Rande interessieren.

Wir sagten bereits, daß Meinungsbildung ein Wissen um die Meinungen anderer voraussetzt sowie zumindest einen gewissen Meinungsaustausch. Wird einmal die Aufmerksamkeit auf einen Tatbestand, der als strittig definiert wird, gelenkt, so erhebt sich das Bedürfnis nach Stellungnahme, also nach Bildung einer Meinung und daher nach Meinungsaustausch. In der Massengesellschaft kann es jedoch nie zu einem vollen Meinungsaustausch zwischen den Betroffenen kommen. Trotzdem sind Meinungskundgaben und deren Vermittlung eine notwendige Voraussetzung für die Befriedig ig des einmal geweckten Bedürfnisses nach Meinungsaustausch und Meinungsbildung. In diesem Sinne wäre Hofstätters Wort zu verstehen, daß es ein Bedürfnis nach Propaganda gibt. Dieses Bedürfnis wird besonders auffallend in kritischen Lagen, wie sie in der Massengesellschaft dauernd auftreten. Es hat also einen sehr guten Sinn, den Prozeß der Meinungsbildung ohne Rücksicht auf deren Richtung zu stimulieren, indem man einzelne und Teilgruppen innerhalb der Gesellschaft zur Kundgabe von Meinungen veranlaßt und diesen weite Verbreitung verschafft. Man kann sogar die Vermutung aussprechen, daß eine Massengesellschaft desto besser funktionieren wird» je größer die Teilnahme am Meinungsbildungsprozeß ist und je mehr dieser Prozeß durch Erleichterung des Meinungsaustausches mittels der Massen-kommunikationsmittel gefördert wird.

Nach dem bisher Gesagten ist es gar nicht so unrichtig, im konkreten Fall den Ausdruck der legendären volonte generale in der öffentlichen Meinung zu suchen, in der sich ja tatsächlich eine kollektive Wahl zwischen Alternativen vollzieht. Wenn wir den Gesamtwillen im Einzelfall mit dem Ausdruck der öffentlichen Meinung identifizieren, wird zweierlei notwendig: 1. die Meinungsbildung — darüber haben wir bereits gesprochen —, 2. die Meinungsfindung, das heißt die Feststellung, was die öffentliche Meinung im Einzellall ist. Die Frage, welcher Teil der Bevölkerung eine öffentliche Meinung im konkreten Fall repräsentiert, ist im Grund nur zu entscheiden nach zwei Gesichtspunkten: 1. kann man fragen: Welcher Teil der Bevölkerung ist so stark an einer strittigen Frage interessiert oder kann so sehr an ihr interessiert werden, daß er bereit ist, sofern die Gelegenheit dazu geboten wird, am Meinungsbildungsprozeß teilzunehmen? Oder man kann 2.fragen: Die Meinung welches Bevölkerungsteiles wird von denen, die die Entscheidungsgewalt haben, als so relevant empfunden, daß sie sich dadurch in. i! ren Entschlüssen beeinflussen lassen?

b Davon zu unterscheiden ist eine, Frage, die auf einer ganz anderen Ebene liegt, nämlich die: Wessen Meinung soll unter dem Gesichtspunkt der politischen Zweckmäßigkeit oder auch von einem philosophischen Standpunkt bei politischen Entscheidungen mitwirken und berücksichtigt werden? Etwa alle ohne Unterschied, nur die jeweils Betroffenen, nur diejenigen, die entsprechende Fähigkeiten besitzen, um ein vernünftiges Urteil zu bilden, die Experten oder jene, die eine besondere moralische Verantwortung für das Ganze tragen, also angeblich keine Sonderinteressen vertreten usw.? Da dies schwer zu entscheiden ist und die Ansichten hierüber sehr weit auseinandergehen, erscheint es in der Tat sinn-voll und zweckmäßig, jene Meinungsäußerungen zur öffentlichen Meinung zu rechnen, die einen nachweisbaren Einfluß auf diejenigen ausüben, die politische Entscheidungen treffen.

Interessenverbände und politische Parteien

Damit kommen wir zur entscheidenden Frage: Welche Rolle spielen die Verbände bei der Bildung der öffentlichen Meinung? Dieses Problem kann nicht isoliert behandelt werden von der Rolle der Verbände im demokratischen Prozeß überhaupt. Zunächst eine terminologische Klärung: Zu den politisch relevanten Verbänden gehören natürlich auch die Parteien. Von ihnen läßt sich ein anderer Verbandstypus unterscheiden, dessen spezifischer Zweck nicht so unmittelbar und eindeutig ein politischer ist. Die für sie übliche Bezeichnung „Interessenverbände" enthält eine moralische Abwertung. Wir wollen jedoch sine ira et Studio vorgehen. Die hier gemeinten Interessen beziehen sich offenbar auf Sonderinteressen, die irgendwie den Gesamtinteressen des Staates und der Gesellschaft gegenüberstehen. Aber ist es nicht auch Sache der Parteien, bestimmte Interessen gegenüber anderen Interessen zu vertreten, die gleichfalls nicht notwendigerweise im Interesse aller liegen? Man denke an Arbeiterparteien, Bauernparteien, Weltanschauungsparteien. Trotzdem besteht ein wesentlicher Unterschied. Die spezifische Funktion der politischen Parteien ist es, in den großräumigen Staatsgebilden der modernen Industriegesellschaft den ordnungsgemäßen Ablauf des demokratischen Prozesses zu erleichtern, ja überhaupt erst zu ermöglichen. Dazu gehört, wie wir alle wissen, die Vorauswahl und Nominierung von Kandidaten und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Die wichtigste Aufgabe einer Partei besteht jedoch in dem Bestreben, entweder als Mehrheitsbzw. Koalitionspartei die Regierung zu bilden oder als Opposition die Staatsregierung zu kritisieren und zu kontrollieren. In beiden Fällen ist die Partei für das Staatsganze verantwortlich. Sie kann ihr Verhalten nicht ausschließlich an den von ihr vorwiegend vertretenen Sonderinteressen ausrichten.

Neben die Parteien treten nun die Interessenverbände, die sich gleichfalls in den politischen Prozeß der Nominierung, der Wähler-beeinflussung, der Regierungsbildung usw. einschalten, ohne daß dies aber institutionell vorgesehen wäre. Darüber hinaus üben die Interessenverbände ähnlich den Parteien und Parlamentariern einen direkten Einfluß auf Regierungsmaßnahmen, Verwaltungsentscheidungen und vor allem Besetzung von nicht wählbaren Ämtern, obwohl dies dem Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung, den Grundsätzen einer rationalen bürokratischen Verwaltung und sogar positiven Gesetzen des demokratischen Staates zuwiderläuft. In diesem Sinn hat Eschenburg vor dem institutionsfremden Verhalten und der drohenden Hegomonie der Verbände gewarnt.

Die Macht der „lobbies"

Max Lange hat im Anschluß an Stammer die Verbände definiert als Organisationen, die die Interessen ihrer Mitglieder im staatlichen Entscheidungsbereich mit wesentlichen politi-sehen Mitteln durchzusetzen versuchen, ohne jedoch selbst die unmittelbare Regierungsübernahme anzustreben. Das Streben der Parteien nach Herrschaft ist also legitim und liegt im Sinne des demokratischen Prozesses. Dagegen sind die Bemühungen der Interessenverbände, in allen jenen Fragen, die die von ihnen vertretenen Interessen betreffen, politischen Einfluß auszuüben, nicht in den demokratischen Spielregeln und Institutionen begründet. Ihr Eingreifen scheint den ordnungsgemäßen Ablauf des demokratischen Prozesses zu hindern und zu stören. So einleuchtend diese grundsätzliche Unterscheidung ist, so bedarf sie einer kritischen Erörterung. Wir werden darauf zurückkommen. Vorher wollen wir fragen, auf welche Weise denn die Verbände diesen Einfluß ausüben. Zunächst finden wir, daß oft eine sehr enge Beziehung zwischen ihnen und den Parteien besteht. Schon der Abgeordnete der bürgerlichen Honoratiorenpartei ist nicht selten ein Vertreter handfester Sonderinteressen gewesen. Für Massenparteien fällt die Unterstützung durch mitgliederreiche, finanzkräftige und angesehene Verbände vollends entscheidend ins Gewicht. Dabei darf man nicht immer nur an Wirtschaftsverbände denken. Sicher spielen für Weltanschauungsparteien kirchliche Organisationen, Frauenverbände und allerlei kulturelle Vereine eine nicht minder wichtige Rolle bei der Rekrutierung von Parteimitgliedern und vor allem von Wählern. Gelegentlich üben Verbände als Kollektivmitglieder einer Partei auch statutenmäßig einen ent idenden Einfluß aus. Die Partei erscheint dann geradezu als das politische Instrument eines Verbandes. Aber auch sonst sind Parteigremien vielfach bewußt aus Vertretern der sie unterstützenden Verbände und Organisationen zusammengesetzt. Fast immer stellen Parteibeschlüsse einen Kompromiß zwischen den Ansprüchen der verschiedenen organisierten Interessengruppen dar. Im Gegensatz zu der Dauerverbindung, die gelegentlich eine Verbandsgruppe mit einer bestimmten Partei eingeht, wie etwa die christlichen Gewerkschaften mit dem Zentrum, geben andere Interessenverbände, zum Beispiel amerikanische Gewerkschaften oder auch deutsche Unternehmerverbände, jeweils jener Partei bzw. jenen Parteikandidaten ihre Unterstüt-zung, die ihren Intentionen am meisten entgegenkommen. Eine neuere Erscheinung sind die sogenannten lobbies. Hier entfalten die Interessenverbände ihre politische Wirksamkeit nicht mehr in Parteien und Parteiorganisationen, in denen sie immerhin noch der demokratischen Kontrolle unterlägen. Denn die Wähler können ja einer Partei ihre Unterstützung versagen, die dem Einfluß eines von ihnen abgelehnten Verbandes zu stark nachgibt. Beim „lobbying“ suchen vielmehr Interessengruppen durch wohlausgebildete und gutbezahlte Fachleute der psychologischen Beeinflussung bestimmte politische Entscheidungen herbeizuführen bzw. zu verhindern, also zum Beispiel Gesetzesvorlagen, parlamentarische Beschlüsse, Verwaltungsentscheidungen, Ämterbesetzungen. Daß es dabei auch zu Bestechungen, Erpressungen, Geheimabmachungen und allerlei dunklen Geschäften kommen kann, ist nicht zu leugnen. Im allgemeinen jedoch besteht die Tätigkeit in nichts Ärgerem als in der Verbreitung von Informationen oder in gutachtlichen Äußerungen zu Problemen, mit denen die Interessenverbände bzw. ihre Funktionäre weit vertrauter sind als die mit ihrer Lösung unmittelbar beauftragten Parlamentarier und Behörden. Sogar beim „lobbying" können also die Verbände, indem sie ihr, wenn auch nicht unverfärbtes Sachwissen zur Verfügung stellen, nützliche Aufgaben im Interesse des Staatsganzen erfüllen.

Soweit die politischen Aktivitäten der Verbände sich nicht auf direkte Beeinflussung von Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung über Parteien oder „lobbies" erstrecken, bestehen sie vor allem darin, die öffentliche Meinung für ihre Absichten günstig zu stimmen. Dem dient nicht nur der Einsatz von Massenkommunikationsmitteln, sondern auch Paraden, Aufmärsche, Versammlungen, Kundgebungen, Reden, Schulungskurse, Unterschriftensammlungen, Leserbriefe und Meinungsäußerungen aller Art. Immer handelt es sich darum, den Prozeß der Meinungsbildung über bestimmte, die Verbandsinteressen tangierende Angelegenheiten anzuregen und zu steuern. Wir sagten vorhin, daß in der Massengesellschaft die von einer politischen Entscheidung Betroffenen bzw. Bedrohten überhaupt nur dann veranlaßt werden können eine Kollektivmeinung zu bilden, wenn sie sich entweder tatsächlich zu einem Kollektivum, insbesondere zu einem Zweckverband, zusammenschließen oder doch den Eindruck gewinnen, im Wege der Massenkommunikationsmittel an dem Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung teilzunehmen. Sowohl in der einen wie in der anderen Hinsicht fallen den Interessenverbänden entscheidende Aufgaben zu.

Der einzelne und der politische Entscheidungsprozeß

Immer schon sind Männer von Rang und Namen mit Vermögen und Familienbeziehungen, Träger wirtschaftlicher Macht oder gesellschaftlicher Autorität wie Geistliche oder Heerführer in der Lage gewesen, politischen Einfluß auszuüben. Darauf beruht ja auch die Wirksamkeit der Honoratiorenparteien in der Frühzeit der Demokratie. Spätere Stadien der modernen Demokratie sind jedoch durch die Tendenz gekennzeichnet, immer weitere Kreise und schließlich alle sittlich, geistig oder physisch nicht disqualifizierten Staatsbürger in den politischen Prozeß einzubeziehen, sei es durch Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechtes, sei es durch Teilnahme am Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung. Damit erhebt sich nun auch die Frage, wie der normale Staatsbürger, der nicht bereits über persönlichen Einfluß und öffentliche Macht verfügt, seinen Interessen Geltung und Gehör verschaffen kann.

Es kann hier nicht die Absicht sein, die ver'schiedenen Möglichkeiten in ihren oft subtilen Details zu untersuchen. Zwei sind für unser Thema von grundsätzlicher Bedeutung.

Die eine Möglichkeit besteht im Zusammenschluß mit Gleichgesinnten und in der Organisation kollektiver Machtentfaltung. Die andere Möglichkeit besteht in der Schaffung eines öffentlichen Forums für die Diskussion vön Sonderinteressen und eines Sprachrohrs für die auf diese Weise herbeigeführte Kollektivmeinung der betreffenden Kategorie von Interessenten. Genau diesen Bedürfnissen verdanken die Interessenverbänden geradezu ihre Entstehung: nämlich als Instrument für die Teilnahme der vielen einflußlosen einzelnen am politischen Prozeß durch den organisatorischen Zusammenschluß der unmittelbar Betroffenen bzw. Interessierten, dann, indem sie einem viel weiteren Kreis potentieller Interessenten Gelegenheit für die Bildung von Kollektivmeinungen bieten. Dabei soll nicht übersehen werden, daß den Interessenverbänden über die machtpolitische Auseinandersetzung hinaus noch andere weitergehende gesellschaftliche Funktionen zufallen. Für unsere Zwecke ist jedoch entscheidend, daß sie als aktive Teilnehmer am politischen Leben neben die Parteien getreten sind und daß ihre politische Bedeutung ständig zunimmt. Gerade der Erfolg und die wachsende Macht von Verbänden, die sich zunächst der Interessen jener annahmen, die nicht oder ungenügend am demokratischen Prozeß beteiligt waren, hat dann immer weitere Kreise dazu gezwungen, den gleichen Weg der Organisation zu beschreiten, um nicht an die Wand gedrückt zu werden. Je weitere Lebensbereiche von der staatlichen Regelung erfaßt und in die Kompetenzen des modernen Staates einbezogen werden, desto zahlreicher werden die Gruppen jener, die das Bedürfnis fühlen, ihren durch immer neue staatliche Eingriffe aktivierten Interessen öffentliche Geltung zu verschaffen.

Die wachsende Differenzierung und Machtentfaltung der Interessenverbände hängt aber noch mit einem anderen Aspekt der vollent-wickelten Industriegesellschaft aufs engste zusammen, und zwar ebenso als Ursache wie als Wirkung. Hierfür ist das Wort von der pluralistischen Gesellschaft geprägt worden, die die Klassengesellschaft der frühen Epoche der Industrialisierung ablöst. Wir müssen uns bei ihrer Charakterisierung kurz fassen. Für die Zwecke unserer Diskussion ist die Tatsache entscheidend, daß in ein und derselben gesellschaftlichen Totalität nunmehr eine Mehrzahl von Wert-und Normensystemen mit dem gleichen Anspruch auf Gültigkeit nebeneinander-stehen, zwischen denen zu wählen den einzelnen und den Teilgliederungen der Gesellschaft überlassen bleibt. Wo ein Weltbild eindeutig dominiert, ist ein Ausgleich von Sonderinteressen denkbar, der für alle verbindlich erscheint. Dort kann man noch von einer einzigen öffentlichen Meinung im Sinne einer volonte generale sprechen. In der pluralistischen Gesellschaft aber zerfällt die öffentliche Meinung in ebenso viele öffentliche Meinungen wie es Interessengruppen gibt. Dazu kommt noch, daß der Personenkreis mit gleichen Interessen dauernd wechselt, daß jede neue Situation und jedes neue gesellschaftspolitische Problem auch neue Interessengemeinschaften hervorbringt.

Damit hängt noch ein zweites zusammen. Die Lebensgemeinschaften der Familie, der Gemeinde, des Volkes, die jeweils die Totalität der Persönlichkeit in Anspruch nahmen und in sich einschlossen, sind einer sozialen Seg-mentalisierung gewichen. Die heute maßgeblichen Gliederungen der Gesellschaft nehmen jeweils nur einen Teil der menschlichen Person in Anspruch. Sie sprechen jeweils andere Interessen auch der einzelnen an. Die sozialen Verbindungen und Verbindlichkeiten sind an ständig wechselnde Situationen und ständig wechselnde Interessen gebunden, die eine ein für allemal gültige Ordnung nicht mehr zulassen. An die Stelle der gesellschaftlichen Integration und stabilen Ordnung tritt nunmehr ein labiles dynamisches Gleichgewicht, das sich im Kräftespiel der Macht und Interessengruppen ständig neu bilden muß. Dieses sich dauernd verschiebende Kräfteparallelogramm wird nur durch den Konsensus aller Partner aufrechterhalten, im freien Kräftespiel der konkurrierenden gesellschaftlichen Mächte und politischen Gruppierungen gewisse allgemein menschliche Grundwerte und die vereinbarten demokratischen Spielregeln zu achten. In diesem Sinne spricht man auch von der offenen Gesellschaft. In ihr soll ein Maximum an Freiheit und ein Minimum an bloß äußerem Zwang erreicht werden, indem die Vielfalt von Institutionen und Organisationen, von Interessengruppen und Verbänden, von Wert-systemen und Kollektivmeinungen erhalten bleibt und ihr freier Wettbewerb um Teilnahme an der Herrschaft sichergestellt wird.

Verbände in der pluralistischen Gesellschaft

Wenn wir zum zentralen Thema unserer Überlegungen zurückkehren, so drängt sich folgender Schluß auf: In der pluralistischen und offenen Gesellschaft fällt den Verbänden die Aufgabe zu, jeweils eine „Teilöffentlichkeit", also einen Sektor der Gesellschaft zur Geltendmachung gemeinsamer Interessen zu mobilisieren. Daß es sich dabei um Sonderinteress n handelt und notwendig handeln muß, besagt noch nicht, daß diese unter allen Umständen dem Gesamtinteresse widersprechen müßten. Wenn die besonderen Nöte, Bedürfnisse, Hoffnungen und Ziele eines Teiles mit in die Waagschale geworfen werden, so kann das nur dem Ganzen nützen. Denn unter den Bedingungen der Massengesellschaft läßt sich schwer eine wirksamere Methode ausdenken, um die Berücksichtigung der verschiedenartigsten Teilinteressen durchzusetzen. Welcher Politiker, welche Behörde — so muß man sich fragen — wäre wohl so weise, um von sich aus alle die vielfältigen Teilinteressen abzuschätzen und gegeneinander abzuwägen, aus denen sich unsere gesellschaftliche Wirklichkeit zusammensetzt. Wer könnte solchen Interessen deutlicheren Ausdruck verleihen als die Betroffenen? Gibt es einen anderen Gradmesser für ihr relatives Gewicht als die Durchschlagskraft der Meinungen? Diese Fragen zu stellen, heißt noch nicht, sie endgültig zu beantworten. Im Gegensat zu den Zielen der politischen Herrschaft besitzen ihre Methoden keine dogmatische Gültigkeit. Deren Uber-oder Unterlegenheit kann nur aus den Resultaten pragmatisch erkannt werden.

Nach den bisherigen Erfahrungen gäbe es jedenfalls nur eine Alternative: Diese Sorge anderen zu über’ensnn, den Experten des Verwaltungsapparates, einer wohlwollenden Obrigkeit, dem „Vater" Staat. Das aber hieße, die Heteronomie wiederherzustellen, die die Demokratie durch Herrschaft der Beherrschten ersetzen sollte. Gewiß, auch der Demokratie ist das nicht vollkommen gelungen. Aber wer würde leugnen, daß sie uns besser als andere bisher praktizierte Herrschaftssysteme dem Ideal näher gebracht hat. Die Alternative wären jedenfalls Despotismus und totaler Staat.

Halten wir daran fest, daß in der demokratisch regierten Großgesellschaft des Industriezeit-altors, in der sogenannten Missengesellschaft, die Interessenverbände tatsächlich di? Aufgabe erfüllen, für signifikante Teile der Gesellschaft den Prozeß der öffentlichen N i-nungsbildung darüber einzuleiten, welche Inte ressen überhaupt politische Berücksichtigung finden sollen. Ferner ermöglichen sie die Kundgabe solcher partieller Meinungen und bereiten auf diese Weise die Auseinandersetzungen zwischen ihnen auf breiter Ebene vor. Indem sie schließlich die Aufmerksamkeit auf das V rh ndensein einer öffentlichen Meinung über eine bestimmte Angelegenheit, und sei es auch nur einer partiellen Meinung, Ausdruck verleihen, veranlassen sie diejenigen, die letzten Endes die Entscheidungen zu treffen haben, diese öffentliche Meinung mit ins Kalkül zu ziehen. Wo eine solche öffentliche Meinung aber fehlt, wäre die Entscheidung der Willkür der Herrschenden preisgegeben und somit der demokratisene Prozeß verfälscht

Herrschaft der Verbände — Herrschaft der Funktionäre?

Freilich enthält das eben angedeutete Verfahren selbst bedenkliche Quellen der Verfälschung. Wir können nur einige typische Fälle herausgreifen.

Vor allem hängt die Intensität, mit der eine Meinung zum öffentlichen Ausdruck gebracht wird, auch von der Reichweite und Wirksamkeit der Massenkommunikationsmittel ab, mit der sie übertragen wird. Angesichts zunehmender Kosten erwächst den finanzkräftigeren Verbänden ein unleugbarer Vorteil, der dem demokratischen Prinzip der gleichen Chancen widerspricht. Weit bedrohlicher erscheint die strukturbedingt Anfälligkeit aller Massenorganisationen für oligarchische Tendenzen.

In aller Kürze gesagt, handelt es sich dabei um folgendes: Während eine zahlreiche amorphe Mitgliederschaft mit dem Einfluß auf die Verbandsgeschäfte auch das Interesse verliert, gewinnen kleine Führungscliquen, berufsmäßige Sekretäre und sachverständige Funktionäre eine monopolistische Machtstellung im Verband, von der sie gerade wegen der Apathie der übrigen Mitglieder kaum mehr abberufen werden können. Die Macht der Verbandsoligarchien ist in Interessenverbänden womöglich noch uneingeschränkter als in Parteien. Die Parteien unterliegen immerhin insofern einer demokratischen Kontrolle, als die Wähler zwar keinen direkten Einfluß auf den Führungsstab ausüben, ihm aber bei den gesetzlich vorgeschriebenen und staatlich geregelten Wahlen den Erfolg vorenthalten und damit gegebenenfalls seine Veränderung indirekt erzwingen können. Bei den Massen-verbänden kann dieselbe Wirkung fast nur durch Massenaustritt oder Gegengründungen erreicht werden. Die hierfür erforderliche Führung und Organisation setzt aber weit größeren Aufwand voraus als die staatlich geregelte und garantierte Abgabe von Wählerstimmen.

Kontrolle der Verbände

Wir sind weit davon entfernt, solche und ähnliche Gefahren zu bagatellisieren, glauben aber, daß sie nicht unvermeidlich sind. Mitunter ist der Versuch gemacht worden, durch Gesetze die Offenlegung des Finanzgebarens und der Finanzquellen von Verbänden zu erzwingen, um so die öffentliche Kritik herauszu-fordern. Es ist auch denkbar, der Entwicklung von Oligarchien im Wege der Vereinsgesetzgebung und Vereinsaufsicht entgegenzuarbeiten. Doch sind derartige Eingriffe von oben her nicht nur von zweifelhafter Wirksamkeit, sie begegnen auch grundsätzlichen Bedenken. Sicher liegt es im öffentlichen Interesse, ebenso wie auf der offenen Arena des Wahlkampfes und der parlamentarischen Auseinandersetzungen auch hinter den Kulissen der Parteien und Verbände, die den politischen Prozeß in nicht geringem Maß beeinflussen und steuern, für die Einhaltung demokratischer Spielregeln zu sorgen. Aber weder Behörden-eingriff noch Gesetzgebung erscheinen als das wirksamste Mittel gegen die Bildung von Verbandsmonopolen und Verbandsoligarchien, sondern die politische Aktivierung aller Staatsbürger und die Selbsthilfe. Gerade in Deutschland wird diese Möglichkeit viel zu wenig beachtet. Man verläßt sich zu sehr auf den Staat, um Abhilfe zu schaffen. Man begnügt sich mit Pauschalklagen über den gesellschaftlichen Verfall und mit der geistreichen Interpretation der politischen Mißstände, statt selbst die Initiative zu ergreifen. Das Gefühl der Ohnmacht des einfachen Bürgers der Organisation und ihren anonymen Mächten gegenüber dient leicht als Ausrede für die eigene politische Apathie. Gewiß kann sich der einzelne nicht als Winkelried der Übermacht der Verbände und ihrer Funktionärsoligarchien entgegenwerfen. Jeder aber hat es in der Hand, öffentliche Kritik zu üben und am Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung teilzunehmen oder noch besser in zäher Kleinarbeit Gleichgesinnte für die Arbeit in solchen Organisationen oder für die Gründung neuer Verbände zu gewinnen. Nicht die sterile Verneinung der politischen Funktion der Verbände kann die Antwort auf gewiß berechtigte Fragen sein, sondern der zielbewußte Gebrauch der Organisation von Interessengruppen in Verbänden als eines der mächtigsten Instrumente der öffentlichen Meinungsbildung.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Emerich Francis, Dr. phil., Professor für Soziologie in Manitoba/Kanada und an der Notre Dame-University/USA, seit 1958 Ordinarius für Soziologie an der Universität München, geboren 1906. Hauptarbeitsgebiete: Minderheiten-und Nationalismussoziologie, Soziologie der Entwicklungsländer.