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Die nationale Idee in den USA | APuZ 36-37/1966 | bpb.de

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APuZ 36-37/1966 Der Nationalismus in der Dritten Welt Die nationale Idee in den USA

Die nationale Idee in den USA

Helmut Schoeck

Unersetzliche Rolle für Integration einer heterogenen Bevölkerung

Man hat sich daran gewöhnt, auf Grund der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution unter „Nationalismus“ eine gefährliche Übersteigerung, eine pathologische Überhitzung des an sich für die Existenz eines Staates notwendigen Nationalbewußtseins zu verstehen. Es fragt sich nun, ob wir mit einem bloßen Unterschied des Grades bei der Analyse aller heutigen Gesellschaften auf der Welt auskommen werden? Sollen wir den Begriff Nationalismus stets nur in einem abwertenden, kritischen Sinn gebrauchen? Das wird nicht immer leicht sein. Beispielsweise ist es seit etwa 1950 allgemein üblich geworden, den oft extremen Nationalismus der Entwicklungsländer, wenn nicht als eine Voraussetzung, so zumindest als eine notwendige Begleiterscheinung ihrer Aufwärtsbewegung zu begrüßen. Es gibt aber einige Ländertypen, bei denen die nationale Idee, das Nationalgefühl manchmal die Intensität des Nationalismus aufweist, bei denen aber doch wieder manche Züge des mitteleuropäischen Nationalismus der modernen Geschichte zu fehlen scheinen. Wir meinen die sogenannten Einwanderungsländer, also Staaten wie die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und neuerdings Israel.

Entscheidend für das Verständnis der Einwandererländer ist nun, daß hier nicht nur die Idee der Nation, sondern auch ein offensichtlicher Nationalismus für die fortwährende In-tregation der heterogenen Bevölkerungsteile eine unersetzliche Rolle spielt. Wenn man sich fragt, welche Vorstellung es bewirkt hat, daß Millionen von Menschen, die buchstäblich aus aller Herren Länder nach Amerika eingewandert sind, sich als eine Nation empfinden, so bleibt als Antwort nur so etwas wie eine Ideologie der Nation.

So merkwürdig es auch klingen mag: Amerika, die Großgesellsch. ft mit rund 200 Millionen Einwohnern, verdankt heute, wie vor 175 Jahren, als es nur knapp vier Millionen waren, ihre innere Geschlossenheit, ihren bewußten Zusammenhalt, das umfassende Wir-Gefühl vorwiegend der Mikrostruktur dieser Gesellschaft. Es ist der auch heute noch ungebrochene, sich immer wieder neu erweisende spontane, intime Zusammenhalt unzähliger Kleinstgruppen in den Siedlungen und Gemeinden, aus dem sich für den einzelnen das Erlebnis des Eingeschlossenseins in die zunächst schier unüberschaubare große Nation ergibt. Das amerikanische Nationalgefühl ist also zu einem großen Teil Heimatgefühl, aber weniger ein geographisch lokalisierbares, als vielmehr ein sozialpsychologisches und offenes. Man steckt zwar immer in einigen kleinen Gruppen, weiß aber, daß an fast jedem anderen Ort des Landes die fast gleichen freundlichen, aufnahmebereiten nachbarlichen Gruppen auf einen warten.

Keine lokale Volkskultur

Von Anfang an, und erstaunlicherweise bis heute, ist das Nationalgefühl in Amerika an die Scholle gebunden. Ausdrücke der politi-schen Rhetorik wie „our soil“, „our native land", „this land of ours", grass-roots-Ameri-canism, also Graswurzel-Amerikanertum, sind keineswegs bedeutungs-oder gefühlsleer geworden. Auch heute noch zittert der Politiker auf Bundesebene, in Washington, vor dem, was man eine grass-roots-Reaktion nennt: ein Aufbäumen des Volkszorns in entfernten Wahlbezirken, das sich wie ein Präriefeuer, zunächst aus der Ferne kaum sichtbar, von Gemeinde zu Gemeinde fortpflanzt. Obwohl heute weniger als acht Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind — vor 50 Jahren waren es noch über 25 0/0 —, ist die Mentalität des amerikanischen Volkes konkret dem Boden verhaftet geblieben. Allerdings fehlt in Amerika, verglichen mit älteren Ländern und Kulturlandschaften, die eigentliche echte Lokalkultur im volkskundlichen Sinne. Es gibt fast nirgends eine ländliche Bevölkerung, die zu besonderen Anlässen in für ihre Gegend typischen Gewändern zur Kirche käme.

Es fehlt — von einigen wenigen Ausnahmen, meist religiöser Art, abgesehen — die landsmannschaftlich verankerte Volkskultur, die unter der Tünche der Standardkultur läge. Soziologisch hat das aber zur Folge, daß sich jeder Amerikaner, wo er sich auch befinden mag, bei einem Rückgriff aufs urtümlich Amerikanische auf Spiele, Tänze, Redensarten, Speisen, Stilformen usw. stößt, die überall in den USA möglich und verständlich sind. Wichtiger noch: selbst wenn seine Eltern erst vor fünfzig Jahren nach Kalifornien oder Oregon gekommen sind, so empfindet er das, was man 1776 oder 1812 an der Ostküste der USA, viele tausend Kilometer entfernt, getan hat, als seine Geschichte — Geschichte, die gemacht wurde zu einer Zeit, da der Boden, auf dem er heute lebt, überhaupt noch nicht zur Geschichte der USA gehörte. Besonders integrierende Einrichtungen sind auch bestimmte saisonmäßig ausgeübte Sportarten (Baseball oder Fußball), zu deren alljährlichem Beginn man sich fast wie an einem Nationalfeiertag an die Einheit der Nation erinnert. Beobachtet man die Unbequemlichkeiten, die auch sehr gebildete Amerikaner beiderlei Geschlechts auf sich nehmen, um diesen Veranstaltungen beizuwohnen, so vermutet man oft weniger eine Begeisterung für einen spezifischen Sport oder . eine bestimmte Mannschaft, als 'vielmehr ein Bedürfnis des Eintauchens in ein Kollektiverlebnis nationaler Prägung. Von Katastrophen abgesehen, sind es bezeichnenderweise nicht so sehr ausgesprochen politische Ereignisse, die im Ablauf des Jahres den einzelnen mit der Nation verbinden, als gesellschaftliche und gesellige Anlässe. Es handelt sich also um ein Binnenerlebnis gesellschaftlicher Solidarität, das zu seiner Realisierung keines sich Absetzens von anderen Nationen bedarf — ein Grund, weshalb man in Amerika national engagiert sein kann, ohne nationalistisch zu sein.

Die Amerikaner fanden sich nie in einer Wettbewerbssituation, wie sie andere Völker schon seit Jahrhunderten intensiv erlebt haben. Weder die Kanadier noch die Mexikaner, seine unmittelbaren Nachbarn, boten Anlaß zu Minderwertigkeitsgefühlen oder Ängsten. Beide fühlen sich eher vom riesigen Bruder in der Mitte überschattet.

Nationale Symbole

Die Amerikaner konnten sich höchstens mit der ganzen Welt vergleichen, sich in Konkurrenz betrachten, und dies fing erst sehr spät in ihrer Geschichte an. Abgesehen von einzelnen Spezialvergleichen auf Einzelgebieten wie der Kunst lag es den Amerikanern immer fern, sich mit den Franzosen, Deutschen, Engländern oder Russen irgendwie zu vergleichen. Selbst der Wettlauf mit den Russen datiert erst vom Jahre 1957, dem Jahr des Sputniks. Das Typische und Gefährliche, das Unerfreuliche am Nationalismus europäischen Stils ist doch vornehmlich die Folge eines zu engen räumlichen Beisammenseins verschiedener Völker, die sich immer irgendwie von anderen bedroht oder majorisiert sahen.

Der Rechtsschutz, die Ehrfurcht, ja die tägliche Ehrerbietung, die der Amerikaner seinem Land, symbolisiert in der Fahne, angedeihen läßt, ist vielleicht die augenscheinlichste Verhaltensform, die man als nationalistisch bezeichnen könnte. Nicht nur wird jegliche Mißhandlung eines Flaggentuches bestraft, sondern die Schulkinder aller öffentlichen und privaten Schulen beginnen jeden Schultag mit einer feierlichen Flaggenhissung und laut deklamierten Loyalitätsbezeugungen an die Fahne im Schulhof oder Klassenzimmer. Wer sich die Mühe macht, so lange aufzubleiben, bis die amerikanischen Fernsehsender ihr Programm beenden, wird jedesmal eine flatternde Fahne der USA in seine Träume mitnehmen, vor der, als Hintergrund, Formationen der amerikanischen Streitkräfte über den Bildschirm ziehen, zum Klang der Nationalhymne. Selbstverstän-lieh sind alle diese Bezeugungen freiwillig. Die Bundesregierung könnte und würde diese Verhaltensformen nicht verlangen. Man tut es vielmehr, weil es sich so gehört. „National", national, war für die Amerikaner zur Zeit ihrer verfassunggebenden Versamlung ein technischer, ein staatsrechtlicher Begriff. Für sein Gegenteil sagte man „federal“, föderalistisch. Es wäre aber wenigen eingefallen, die Vertreter des einen oder des anderen Prinzips für mehr oder weniger „amerikanisch" bzw. patriotisch zu halten. Tatsäch-lieh hat das Wort „national“ bis heute in Amerika eher einen soziologisch beschreibenden als einen emotionalen Charakter. Man nennt einen Vorgang, eine Person, eine Firma als „auf nationaler Ebene" bekannt oder funktionierend; am ehesten wäre das mit dem Aus-druck „auf Bundesebene" zu vergleichen. Das Eigenschaftswort „national" ist in Amerika praktisch ein neutraler, ein sachlicher Begriff geblieben. Man könnte beispielsweise die Wendung „nationale Begeisterung" niemals durch eine wörtliche Übersetzung, etwa „national enthusiasm", verständlich machen. Man würde eher „patriotisch" sagen.

Stolz auf die Gesellschaftsform

Spricht oder singt der Amerikaner allerdings von „seiner Nation", dann kann der Begriff einen hohen Klang haben, bedeutet aber doch nicht mehr, als wenn er sagen würde „mein Land"; überhaupt ist der Ausdruck „my coun-try" oder „this country" beim Amerikaner, wie bei den meisten Angelsachsen, fast wert-erfüllter als der Begriff „meine Nation".

Vermutungen über das Nationalbewußtsein, über nationalistische Gesinnungen und Gemütsverfassungen bei einem bestimmten Volk sind unbefriedigend, so lange nicht gesagt wird, welche Schichten, Bildungsgruppen, welche Autoren oder Komponisten sie aufweisen. Man müßte eher so fragen: Gibt es einen gemeinsamen Nationalismus, nicht nur ein verbindendes Nationalgefühl, der praktisch alle Amerikaner, vom Farmergehilfen bis zum Professor der amerikanischen Geschichte gelegentlich erfüllt? Es gibt solche Gemeinsamkeiten. Sie zeigen sich zum Beispiel, wenn Äußerungen fallen oder Ereignisse berichtet werden, die dem Amerikaner gegen den Strich gehen, die sein Gruppenzugehörigkeitsgefühl auslösen. Leitartikler der Provinzblätter und der Großstadtpresse können dann am gleichen Tag von einer verletzten Ehre der Nation schreiben. Es geschieht aber doch recht selten, und fast immer bemüht man sich, in einigen Blättern wenigstens, auch den Standpunkt des Kritikers zu würdigen.

Der Amerikaner hat vielleicht weniger einen Nationalstolz, sondern ist stolz auf seine Gesellschaftsform. Immerhin: Ehe man sich über einen manchmal beobachtbaren überempfindlichen, defensiven Nationalstolz, ein betontes Amerikanertum mokiert, sollte man sich fragen, ob nicht das unentwegte Gerede von einem Amerikanismus, dem sich Amerikaner in der Welt ausgesetzt sehen, einiges dazu beigetragen hat. Selbstverständlich können es die Amerikaner, so wenig wie irgendeine an-dere Gruppe, vertragen, wenn das Ausland irgend etwas an Amerika zu einmütig verketzert. James Reston, der bekannte Publizist der New Yorker Times, meinte scherzhaft, aber doch besorgt, während des Präsidentschaftswahlkampfes von 1964 einmal, die Europäer würden es durch ihre einmütige Kritik an Senator Goldwater noch so weit bringen, daß ihn die Amerikaner Johnson vorziehen, gerade weil er von London bis Rom, von Zürich bis Moskau gleich laut abgelehnt wurde.

Es ist vielleicht überhaupt notwendig, einmal festzuhalten, daß viele sozialpsychologische und gesellschaftliche Erscheinungen, für die man Begriffe wie Nationalismus, Nationalgefühl, Nationalstolz und Patriotismus hat, bei allen Völkern und geschichtlichen Epochen und Konstellationen auftreten können. Es sind allgemeinmenschliche Reaktionsweisen, die man sogar experimentell in Gruppen aus beliebig zusammengewürfelten Personen hervorrufen kann. Wir können das in einem Gedanken-experiment prüfen: Passagiere aus sieben verschiedenen Ländern reisen auf einem Schiff, dessen Mannschaft aus einem achten Land kommt. Sie befinden sich auf einer Kreuzfahrt. In einem exotischen Hafen kommt dieses Schiff, nach einer Fahrt von einigen Tagen, mit den Schiffen dreier anderer Nationen ins Gehege; vielleicht ist es eine Frage, wer zuerst anlegen darf. Die Fahrgäste unseres Schiffes werden sich bereits so sehr als Wir-Gruppe, als auf ihr Recht pochende, eitle, stolze Gesamtgruppe betrachten, daß die ihnen an sich fremde Mannschaft des eigenen Schiffs auf jeden Fall im Recht erscheint.

Genau besehen gibt es keinen Nationalismus, sondern nur eine größere oder geringere Häufigkeit von ähnlichen Verhaltensweisen bei einzelnen Menschen, die man als eine Folge des Nationalismus auffaßt.

Keine nationale Engstirnigkeit

Zahlreiche Deuter der amerikanischen Szene haben einen gewissen Minderwertigkeitskomplex erwähnt. Die Amerikaner sind viel mehr als Einwohner europäischer Länder geneigt, von vornherein anzunehmen — und offen zu vermuten —, daß man dies oder jenes in anderen Ländern sehr viel besser mache als bei ihnen zu Hause. Das mag sich auf Kunst, Kochen, Schulen oder Verbrechensbekämpfung beziehen, aber das Erstaunliche dabei ist die Unbekümmertheit, mit der sie solche Vermutungen auch gerade Fremden gegenüber äußern. Diese Eigenart ist jedoch selten mit dem, auch nur hypothetischen Wunsch verknüpft, selbst in das andere Land auszuwandern. Man könnte ja doch nie, so glaubt er, die andere Sprache lernen. Man scheint auch nicht sehr tief erschüttert. Die Amerikaner können vielleicht deshalb ohne weiteres von sich aus zugeben, daß ein Dutzend sehr wichtige Einrichtungen oder Verfahrensweisen in einem halben Dutzend Länder, wie sie vom Hörensagen wissen, besser getan werden als bei ihnen, aber sie sind nichtsdestoweniger froh, Amerikaner zu sein und möchten mit niemandem tauschen.

Man könnte daraus nun auf eine ungewöhnliche Ehrlichkeit der Amerikaner schließen, eine Fähigkeit, eigene Mängel und fremde Vorzüge anzuerkennen, ohne die Optik durch nationale Überheblichkeit, durch nationale Engstirnigkeit trüben zu lassen. Das dürfte weithin richtig sein. Es trägt viel zur Liebenswürdigkeit des Amerikaners bei und ist zweifellos auch ein Ergebnis seiner vielfältigen ethnischen, seiner pluralistischen Vergangenheit und Gegenwartsstruktur.

Angelsächsisches Gepräge

Die amtliche Statistik der USA über die Einwanderer, ihre Ursprungsländer usw. ist bis ins 20. Jahrhundert hinein, also gerade auch für die Periode der Masseneinwanderung, äußerst ungenau und lückenhaft. Immerhin geben einige Zahlen gewisse Anhaltspunkte für unsere Vorstellung: Im Jahre 1790, kurz nachdem die Republik gegründet worden war, erreichte die Bevölkerung knapp vier Millionen. Die meisten Siedler waren britischer Herkunft. Es gab eine Anzahl Deutsche, Iren, Holländer und noch kleinere Gruppen von Franzosen, Kanadiern, Belgiern, Schweizern, Mexikanern und Schweden.

Abgesehen von den Negern, die im Jahr 1790 nicht ganz 20 °/o der Bevölkerung der USA ausmachten, gab es keine anderen Volks-gruppen. Die folgenden Zahlen für das Jahr 1790 sind nur Schätzungen: Danach gab es unter der weißen Bevölkerung 77 % Amerikaner britischer und nordirischer Abkunft, etwas über 7 % deutscher Herkunft, rund 4 % aus dem Gebiet des heutigen Irland. Holländischer Herkunft waren rund 3 °/o. Frankreich, Kanada und Belgien waren je mit 1 bis 2 % vertreten.

Wie bedeutend auch die späteren Nationalitätengruppen noch geworden sind, so waren doch alle Kenner der amerikanischen Kultur immer wieder beeindruckt, in welchem Grad diese drei Millionen Angelsachsen, die bei der Gründung der Nation gelebt haben, dem amerikanischen Volk und seinen Lebens-und Gesellschaftsformen das Gepräge verliehen haben, das bis heute nicht verwaschen werden konnte. Als Ursache darf man zunächst einfach die Tatsache betrachten, daß die zuerst Gekommenen begreiflicherweise die Verhaltensmuster schufen, die alle späteren als die praktischsten, die naturgegebenen anzusehen geneigt waren. Nicht zuletzt war die englische Sprache schon hundert Jahre vor der Verfassung, im Gemeindeleben der Puritaner in Neu-england, ein bewunderswert elastisches, vernünftiges, praktisches Instrument für die weitgehend friedliche Regelung des Zusammenlebens gewesen. Gerade am Beispiel Kanadas, das in den letzten fünf Jahren einen immer weitergehenden Separatismus der französisch sprechenden und fühlenden Kanadier erlebt, erweist sich, wie entscheidend es für die nationale Einheit der USA gewesen ist, daß Zweisprachigkeit verpönt war, ja geradezu verhindert worden ist. Zum Teil war der niedrige Bildungsstand der Einwanderer ein Grund für den raschen Verlust der Muttersprache. Mir sind verschiedentlich Amerikaner, nur 50 bis 70 Jahre alt, begegnet, die mit etwa 18 Jahren Deutschland oder Österreich verlassen hatten, jetzt aber kaum mehr Deutsch sprechen konnten. In einer Gesellschaft wie der amerikanischen, in der es so sehr auf den guten Willen, die gute Meinung der Nachbarn ankommt, wo „Anderssein" so gefährlich ist (oder zumindest gewesen ist), wäre es selbst für Eltern, die bei ihren Kindern eine zweite Sprache hätten erhalten wollen, kaum möglich gewesen, dies durchzusetzen. Es gehört auch im heutigen Amerika, das sehr viel weltoffener geworden ist, noch viel Mut dazu, wenn Eltern, deren Muttersprache nicht das Englische ist, die eigene Sprache im Familienkreis pflegen wollen. In einer bestimmten Entwicklungsphase werden die eigenen Kinder das unweigerlich als einen Verrat an der amerikanischen Umwelt betrachten und gegen die Eltern rebellieren.

Die Schmelztiegeltheorie

Für die Intensität, mit der eine Anzahl von Menschen sich als geschlossene Einheit und anderen Gruppen überlegen fühlt, spielt die Theorie, die diese Menschen über die Natur ihrer Einheit besitzen, keine Rolle. Es wäre falsch zu glauben, nur eine Gruppe, die sich für reinrassig, für homogen, für gleichartig hält, sei nationalistischer Affekte fähig. Erstaunlicherweise können Menschen genau die entgegengesetzte Theorie ebenso übertreiben und zur Bekräftigung starker nationaler Gefühle verwenden. Dies ist ein Beleg von vielen für die Begabung des Menschen, sich die soziale Wirklichkeit über eine Theorie so zurechtzubiegen, daß sie es ihm gestattet, seine kollektiven Gefühle als legitim zu erleben.

Zu einer Zeit, da die amerikanische Bevölkerung in Wirklichkeit noch zu 80 °/o aus Angelsachsen bestand, tauchte bereits die Vorstellung auf, dieser neue Mensch, der Amerikaner, sei ein neuartiges, einmaliges Produkt der Geschichte; er sei aus einem Schmelztiegel (melt-ing pot) der Einwanderungen entsprungen. Lange bevor diese Schmelztiegeltheorie in Amerika zum Schlagwort der Historiker und Soziologen wurde, trifft man die Vorstellung bereits in leidenschaftlicher Formulierung bei einem romantischen Autor und Agrarkundler in New York an, der aus Frankreich eingewandert war. J. Hector St. John Crevecoeur publizierte 1782 in London einen schmalen Band unter dem Titel „Briefe eines amerikanischen Farmers", worin er schreibt: „Wer ist dieser Amerikaner, dieser neue Mensch? ... Er ist entweder ein Europäer oder Abkömmling eines Europäers. Daher seine seltsame Blutmischung, die man in keinem anderen Land finden wird. Ich könnte eine Familie zeigen, deren Großvater Engländer, dessen Frau Holländerin war, dessen Sohn eine Französin heiratete, und dessen vier Söhne wiederum vier Frauen aus vier verschiedenen Nationen geehelicht haben. Derjenige ist ein Amerikaner, der alle seine früheren Vorurteile und Manieren zurückläßt und neue empfängt von dem neuen Lebensstil, den er angenommen hat, von der neuen Regierung, der er gehorcht, und vom neuen Rang, den er nun einnimmt. Er wird zum Amerikaner, indem er in den Schoß unserer großen Alma Mater ausgenommen wird. Hier werden Individuen aller Nationen in eine neue Rasse von Menschen zusammengeschmolzen, deren Wirkungen und Nachwirkungen einmal zu großen Veränderungen in der Welt führen werden."

Und an anderer Stelle bezeichnet Crevecoeur die Amerikaner als eine Mischung von Engländern, Schotten, Iren, Franzosen, Holländern, Deutschen und Schweden, eine mischfreudige Brut, wie er schrieb, aus der jene neue Rasse, nunmehr Amerikaner genannt, entstanden sei.

Für den größten Teil des letzten Jahrhunderts praktizierte man in den USA eine nahezu schrankenlose Einwanderungspolitik, im festen Glauben, der Schmelztiegel werde auch aus heterogensten Elementen etwas für die Nation Wertvolles zu machen wissen. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wurden aber auch Stimmen laut, die in der fortwährenden Einwanderung bereits eine Gefährdung des eigentlichen Amerikanischen erblickten: Es handelt sich um die nativistische Agitation. So entgegengesetzt beide Einstellungen gegenüber den aus anderen Ländern kommenden Menschen auch sind, für den Soziologen erweisen sie sich als sehr ähnlich.

Von der Überlegenheit des eigenen Landes sind beide überzeugt, sowohl der Optimist, der meint, der amerikanische Schmelztiegel werde unentwegt, aus welchen Elementen auch immer, die idealen Amerikaner produ-. zieren, als auch der Pessimist, der meint, das einmal in Amerika Erreichte dürfe nicht durch weitere Einwanderungen gestört werden. An die unverwechselbare Eigenart des Amerikanischen glauben beide. Immerhin nahm die nativistische Einwanderer-feindschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts so häßliche Formen an, daß Ralph Waldo Emerson 1845 in sein Tagebuch schrieb: „Ich hasse die Engstirnigkeit der Native American Party . . . Gleich wie beim Brand des Tempels von Korinth aus dem Schmelzen Und Vermischen von Silber, Gold und anderen Metallen eine neue Verbindung, wertvoller als jede zuvor, entstand .... so ist es auch auf diesem Kontinent, dem Asyl aller Nationen: die Energie der Iren, Deutschen, Schweden, Polen und Kosaken und all der anderen europäischen Stämme, der Afrikaner und Polynesier wird eine neue Rasse, eine neue Religion, einen neuen Staat, eine neue Literatur schaffen — die so lebenstüchtig und kraftvoll sein wird wie die des neuen Europa, das aus dem Schmelztiegel des Mittelalters hervorging."

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts legte der junge amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner seine These von der westlichen Grenze vor, deren Erlebnis den Nationalcharakter, den amerikanischen Menschen, geprägt habe. Das einfache Leben, der Egalitarismus der Siedlungen im Westen habe als eine Art Schmelztiegel gewirkt. Von dem, was sich in den melting pots der östlichen Großstädte abspielte, hielt Turner wenig. Um 1900 aber errang das Theaterstück „Der Schmelztiegel" großen Erfolg. Die Präsidenten Theodor Roosevelt und Wilson neigten beide der melting pot-Idee zu, obschon sie eine Vorliebe für die ersten Einwandererwellen nicht ganz verbergen konnten.

Seit 1930 etwa kam zunächst die. Grenz-Theorie Turners zunehmend unter Kritik, je mehr man nämlich über das tatsächliche Leben im Westen feststellen konnte. Aber auch die fast 150 Jahre alte Schmelztiegel-Theorie hielt der empirischen soziologischen Forschung nicht stand. So ergaben Untersuchungen über die Endogamie, die tatsächliche Heiratsziffer innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe, daß sie sich seit 1870 fast ungebrochen behauptet hätte: Bei der Gattenwahl, und vor allein bei ihrer Billigung durch die Verwandtschaft, gilt näch wie vor als normal, jemanden derselben Religion, derselben ethnischen Abkunft zu heiraten. Es gäbe'also, wie es heißt, mindestens drei große Schmelztiegel, nicht einen. Darüber hinaus aber ist es auch kaum zu der erhofften und besungenen Durchdringung und Ergänzung der verschiedenen Gruppen gekommen. Vielmehr hat sich das Muster für die Nation, das bei ihrer Gründung am Ende des 18. Jahrhunderts vorlag, erhalten. Die verschiedenen Einwanderergruppen sind nicht mit den bereits Ansässigen in einem egalitären Schmelztiegel auf gleicher Ebene zusammengetroffen. Dem Blick der Spziologen bot sich eher — wie es einer formulierte — das Bild eines Eintauchens in ein unübersehbares Netz von Gruppen und Institutionen, das bereits endgültig geprägt war mit einem angelsächsischen und protestantischen Stempel.

Heutige amerikanische Kultursoziologen sind sich ziemlich einig in der Auffassung, daß das amerikanische Selbstbildnis nach wie vor bestimmt wird durch die „Mayflower", John Smith, Davy Crockett, George Washington und Abraham Lincoln, also eine angelsächsische, protestantische Tradition, gleichgültig, ob es sich beim heutigen Amerikaner um einen Nachfolger der ersten Pilger oder der späteren Einwanderer aus Südosteuropa handelt.

Anschauliches Geschichtsbild

Dies ist nicht allein die Folge der Vorherrschaft der englischen Sprache, sondern auch, ganz allgemein, des menschlichen Bedürfnisses, geschichtliche und gesellschaftliche Abläufe stark zu vereinfachen. Man kann den amerikanischen Schulkindern am Anfang in ihren Büchern nur ein äußerst gerafftes Bild der eigenen Geschichte vermitteln.

Die ein Volk verbindende nationale Idee muß aus seiner Geschichte kommen. Wer nun etwa glaubt, Amerikaner hätten wenig Geschichte, erlebten sich ungeschichtlich, ginge an einem Kernstück ihres Bewußtseins vorbei. Von Schuljahr zu Schuljahr und gerade schon in den ersten lernt er seine eigene Geschichte mit großem Ernst. Und diese läßt sich sehr viel besser für Kinder darstellen als die Geschichte der meisten anderen Völker.

Sie braucht nur wenig vereinfacht oder schematisiert zu werden, weil sie in Wirklichkeit eben schon sehr schematisch, zweidimensional abgelaufen ist: Man denke an die allmähliche Ausdehnung der USA nach Westen, bis der pazifische Ozean erreicht und seine Küste besiedelt war. Die amerikanische Geschichte beispielsweise der Jahre 1776 bis 1861 ist un-20 gleich verständlicher, anschaulicher, innerlich logischer, wirklichkeitsgesättigter für jugendliche Köpfe darstellbar als die Geschichte Deutschlands oder Italiens in demselben Zeitabschnitt. Und wenn ein Amerikaner heute, gleich welchen Bildungsgrades und gleichgültig vor wie vielen oder wenigen Jahren seine Vorfahren ins Land gekommen sind, eine Feststellung mit dem Satz beginnt: „In unserer Geschichte ist es stets so gewesen ., so klingt das viel natürlicher, anspruchsloser und doch überzeugender als aus dem Munde eines Angehörigen der meisten anderen Völker der Erde.

In amerikanischen Schulbüchern für Geschichte und Geographie steht nicht im Vordergrund, welche Präsidenten und Könige lebten, als die oder jene Schlacht geschlagen wurde, sondern der Grundton, das Geschichtsbild, das dem Kind und Jugendlichen vermittelt wird, ist zunächst eine großflächige Siedlungsgeschichte. Der zentralste Begriff, die primäre Idee für den Amerikaner ist, wie Charles Beard einmal gesagt hat, nicht etwa die Demokratie, die Freiheit oder der „American way of life", sondern schlicht die Idee der Zivilisation. Von Anfang an und bis zur Stunde versteht er sich als Zivilisator in Hemdsärmeln. Und an irgendeiner Ecke dieses zivilisatorischen, weit offenen Gebildes kann jeder, woher er auch kommen mag, mitwirken.

Für den jungen Amerikaner bietet sich die Vergangenheit als ständige Bewegung, als zahlreiche Wanderungen, auch als Revierverteidigung dar. Die in seinen Geschichtsbüchern als die ersten Amerikaner geschilderten Menschen befinden sich immer auf einem zerbrechlichen Schiff auf hoher See, auf Booten auf einem Fluß, dessen Lauf noch unerforscht ist, in Karren in einer Wüste. Sie suchen, nehmen Land, sie wandern erneut. Der Amerikaner jeder Generation lernt also, sich mit Gruppen zu identifizieren, die sich ihr Los selber zogen, die ihre Ziele selber bestimmten. Ihre Führer stehen, mit drei oder vier Ausnahmen, selten im Vordergrund.

Amerikaner haben sich in ihrer Geschichte nie als Gegenstand irgendwelcher dynastischer Interessen, nie als Bauern auf einem Schachbrett erlebt, an dem nur Fürsten spielen durften. Die Darstellung der eigenen Geschichte ist somit vorzüglich geeignet, den Amerikaner von früh auf mit einem starken, aber pragmatischen Nationalbewußtsein, zugleich aber auch mit einer intuitiv erfaßten optimistischen Anthropologie aufwachsen zu lassen. „Wir haben es einst geschafft. Wir werden es auch in Zukunft schaffen." Die Tatsache, daß sich seine Nation aus den Abkömmlingen zahlreicher Völker aufbaut, beeinträchtigt sein Zusammengehörigkeitsgefühl nicht im geringsten. Im Gegenteil:

Gerade weil es ein Konglomerat von Menschen gewesen ist, das zur einheitlichen Nation Werder sollte, mußten im Personwerdungsprozeß des jungen Amerikaners nationalistische Leitbilder überbetont werden. Erst seit etwa dreißig Jahren arbeiten Pädagogen daran, die Jugend Amerikas teilweise zu entnationalisie-ren. So fällt zum Beispiel in vielen Geographiebüchern die wiederkehrende Wendung „unsere Nachbarn" auf. Jedes Kapitel, ob es nun über Europäer, Japaner, Afrikaner oder Argentinier handelt, ist überschrieben: „Unsere Nachbarn in . ..".

Der Begriff „Nachbar" wird bedeutungsleer zugunsten eines Weltbildes, worin alle Menschen nicht nur einander gleich, sondern theoretisch sich auch gleich nahe sind.

Unvermindert gültige Verfassung

Je länger man sich mit dem politischen Leben in den USA befaßt, desto mehr erscheint es wie eine vielschichtige Bühne mit vielen Etagen übereinander und vielen Nebenräumen, wo gleichzeitig, aber nicht in derselben erlebten Zeit, die verschiedensten Handlungen stattfinden. Manchmal sind sogar solche aus verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Traditionen miteinander verknüpft. Irgendwann und irgendwo ist in den USA alles möglich; und doch weiß jeder, daß er in einer Nation lebt. Das verdankt man nicht zuletzt der Verfassung, die unvermindert, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als täglich erfahrbare und anrufbare Wirklichkeit, aber auch als Ideal ins Leben aller ragt.

Man hat Amerika einmal die unfertige Gesellschaft genannt. Von einer unfertigen Gesellschaft kann aber nur der sprechen, der weiß, wie die fertige aussehen soll. Tatsächlich bilden sich wohl einige Sozialwissenschaftler und Publizisten ein, sie wüßten es. Heute ist Amerika aber gerade auf derjenigen Ebene am „fertigsten", am sichersten strukturiert, wo sich seit der Nationswerdung sehr wenig geB ändert hat: Das Land ruht letzten Endes auf einer Verfassung, die am Ende des 18. Jahrhunderts für eine Bevölkerung von vier Millionen, angesiedelt auf einem Achtel der heute fast von 200 Millionen bewohnten Landfläche, geschrieben worden ist. Keiner ihrer Verfasser konnte sich damals wohl die heutige Gesellschaft vorstellen. Es gehört zu den eindrucksvollsten politischen Tatsachen in den USA, wenn man sieht, wie Jahr für Jahr die soziologisch oder wirtschaftlich einschneidensten Fragen von den Verfassungshütern auf Grund eines wörtlich genommenen Textes entschieden werden. Selbstverständlich lesen die Verfassungsrichter in den Urtext hinein, was ihnen heute soziologisch am Herzen liegt, wie oft kritisch bemerkt wird, aber diese Männer können die amerikanische Gesellschaft so einschneidend beeinflussen, gerade weil die Bevölkerung überzeugt ist, daß es laut dem Buchstaben der Verfassung so sein muß und daß die Richter selber sich an diese Buchstaben halten.

Im Gegensatz zu manchen anderen Nationen verdanken die Amerikaner ihre Nation nicht einer Dynastie oder einem ehrgeizigen Diktator und auch nicht einer kleinen Elite, die weit über der Masse des in heterogene Gruppen gespaltenen Volkes steht, ja vielleicht nicht einmal dessen Sprache spricht. Kein Amerikaner, abgesehen von der Phase des Bürgerkrieges, hat je das Gefühl haben müssen, irgendwer „da oben" habe seinen Zusammenschluß mit anderen Landesteilen und Menschengruppen verfügt. Gerade die neuere Geschichtsforschung hat gezeigt, wie sehr alle Schichten und Berufe des Siedlervolks seinerzeit an der Ratifizierung der Verfassung, die die Republik schuf, teilgenommen hatten.

Mit welcher Distanz gegenüber einem Nationsbegriff europäischen Stils gerade auch die Urheber der Verfassung der USA auf das zu schaffende Gebilde blickten, geht besonders deutlich aus einer Feststellung von James Madison im „Federalist“ hervor, also in jener Aufsatzsammlung, worin die konzipierte Verfassung kommentiert wurde. Er sagte: „Die Verfassung soll auf der Zustimmung und Ratifizierung durch die Menschen von Amerika ruhen. . . . Diese Zustimmung und Ratifizierung soll durch die Bürger nicht als Individuen, die eine ganze Nation verkörpern, gegeben werden, sondern durch Menschen, die die einzeln unterscheidbaren und unabhängigen Staaten bevölkern, zu denen sie jeweils gehören." Für Madison, der später der vierte Präsident der USA wurde, ist die Verfassungsgebung somit kein nationaler, sondern ein föderalistischer Akt. Das Ergebnis ist ein gliedstaatliches, nicht ein nationales. Die Verfassung würde eine föderative, nicht eine nationale sein. Die Spuren dieser Auffassung kann man heute noch finden.

Zentralismus und Föderalismus

Man kann von einem Sieg des Nationalismus im amerikanischen Sinne zunächst auf staatsrechtlicher Ebene sprechen. Die Konzeption jener Männer, die während der verfassungsgebenden Versammlung ihren mißtrauischen Landsleuten als Nationalisten galten, wünschten eine möglichst starke Zentralregierung auf Kosten der Gliedstaaten. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts lebten die Amerikaner aber in Gliedstaaten, die in wesentlichen Bereichen autonom waren. Nur stufenweise, zuerst nach dem Bürgerkrieg, dann wieder durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg, durch die Zwangslage der großen Wirtschaftskrise, durch die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg und zuletzt durch die Rassenfrage seit 1953 ist der Zentralismus, also der Nationalismus eines Teils der Gründer, verwirklicht worden. Eine lange Reihe von Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes der USA, die seit 1941 sich ausdehnende Rolle des Militärs, der Wehrdienst, aber auch seit etwa 1950 die drei Fernsehprogramme auf Bundesebene, die in die letzten Winkel des Landes identische Impulse schik-ken: diese Kräfte und Verschiebungen haben die politische und wirtschaftlich-gesellschaftliche Landschaft Amerikas homogener gemacht und somit nationalisiert. Heute ist das Volk eine emotional erregbare Schicksalsgemeinschaft, wie sie sich wenige Amerikaner des 19. Jahrhunderts hätten vorstellen können.

Man muß aber an die frühe Geschichte des Gemeinwesens denken, um zu begreifen, weshalb gerade heute noch die Gegner des Zentralismus sich als die eigentlichen, die echten Amerikaner bezeichnen können. Die heutigen Gegner des Zentralismus in Kanada zum Beispiel, die Französisch-Kanadier, halten sich ja nicht für die eigentlichen Kanadier, sondern eher für Geistesverwandte Frankreichs, die sich unter Umständen auch an die USA anschließen würden. Aber es gibt heute, wie vor Jahren, Amerikaner, übrigens gerade auch junge Leute, die sich einerseits leidenschaftlich als Vollamerikaner, nicht etwa als Kalifornier oder Georgier gebärden und doch das meiste ablehnen, das in Washington im Namen der Nation von beiden Parteien getan wird. Parteipolitische Differenzen sind in dieser Hinsicht nämlich kaum von Belang, weil die USA de facto von einer großen Koalition regiert und mit Gesetzen versorgt werden. Diese unausgesprochene Koalition funktioniert einfach deshalb, weil sich die ausschlaggebenden Männer beider Parteien in der Regel lange genug und gut genug kennen, um einen Kompromiß auszuhandeln, den jeder seinen Wählern gegenüber mit einer glaubwürdigen nationalistischen Rhetorik altväterischer Prägung vertreten kann.

Fast 200 Millionen Amerikaner verschiedener Religionen, Hautfarben und nationaler Herkunft erleben sich heute, gelegentlich sentimental-patriotisch, als eine Nation dank einiger Dutzend Leitbilder, Symbole, historischer Figuren und einer einmaligen politisch konstruktiven Begabung, die hervorgegangen sind aus der Geschichte eines kleinen Siedler-volks, dessen Größe, als es die entscheidenden Schritte zur Nationgründung machte, nicht einmal zwei Prozent der heutigen Bevölkerung erreichte. Ohne diesen unabnützbaren Kern ließen sich die heutigen USA mit 50 Gliedstaaten von Hawaii bis Maine ähnlich schwer zu einer Nation integrieren wie Europa, Afrika oder Südamerika.

Fussnoten

Weitere Inhalte

'• i .. 5 .: G. i . 3: i i'Helmut Schoeck, Dr. phil., o. Professor und Direktor des Instituts für Soziologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, geb. 3. Juli 1922 in Graz. Veröffentlichungen u. a.: Nietzsches Philosophie des Menschlich-Allzumenschlichen, Tübingen 1948; Soziologie. Geschichte ihrer Probleme, Freiburg/Br. 1952; USA: Motive und Strukturen, Stuttgart 1958; Was heißt politisch unmöglich?, Zürich 1959; Umgang mit Völkern: Amerikaner, Nürnberg 1961; Die Soziologie und die Gesellschaften, Freiburg/Br. 1964; Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, Freiburg/Br. 1966.