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Student im Dritten Reich | APuZ 38/1966 | bpb.de

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APuZ 38/1966 Student im Dritten Reich Der Professor im Dritten Reich Auswanderung und Rückkehr Gedanken zur nationalsozialistischen Universität

Student im Dritten Reich

Otto B. Roegele

Im vergangenen Jahr veranstalteten die deutschen Universitäten Ringvorlesungen zum Thema „Die Universitäten im Dritten Reich”. Aus der Marburger Vorlesungsreihe ist an dieser Stelle der Vortrag von Ernst Nolte „Zur Typologie des Verhaltens der Hochschullehrer im Dritten Reich" abgedruckt worden B 65). In den Ringvorlesungen der Universität München kamen in erster Linie Männer zu Wort, die jene Zeit aus eigenem Erleben kannten und aus dieser Sicht berichteten. Insofern stellen die Vorträge von Otto B. Roegele, der in der NS-Zeit studierte, von Wolfgang Kunkel, der sie als Professor erlebte, und von Friedrich G. Friedmann, der 1933 zur Emigration gezwungen wurde, eine gute Ergänzung zur Untersuchung von Ernst Nolte dar.

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Piper-Verlages, der die Vorlesungsreihe in Kürze unter dem Titel „Die deutsche Universität im Dritten Reich“ in den Piper-Paperbacks veröffentlicht.

Hitler über die Studenten

Wolfgang Kunkel: Der Professor im Dritten Reich . Friedrich G. Friedmann: Auswanderung und Rückkehr . . . . . S. 21 S. 35

Der Nationalsozialismus besaß kein philosophisch begründetes politisches System. Hitlers Reden und Schriften waren weder philosophisch noch systematisch. Nichtsdestoweniger wurden sie von der Partei und ihren Propagandisten als unverrückbare Lehrsätze und in ihrer Gesamtheit als eine Sammlung unfehlbarer Rezepte zur Behandlung aller vorkommenden Fälle politischer Entscheidung ausgegeben. Widersprüche störten dabei nicht, da das Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit als Relikt liberalistischer Verbildung des Denkens verachtet und bekämpft wurde.

Die Kanonisierung von Hitler-Worten erwies sich freilich als zweischneidiges Schwert. Sie bot zuweilen auch dem Gegner des Regimes beträchtliche Vorteile. Wer in der Lage war, seine nonkonformistische Meinung oder Verhaltensweise mit einem Hitler-Zitat zu rechtfertigen, bekam gelegentlich sogar die Chance, sich gegen Parteidienstgrade erfolgreich durchzusetzen, die weder Mein Kampf noch gar etwas anderes von Hitler gelesen hatten, dies aber natürlich nicht zugeben konnten.

über die Studenten hat sich Hitler 1927 wie folgt geäußert:

„Mitten in dem gewaltigen Ringen unseres Volkes sehen wir die Jugend der deutschen Intelligenz vollkommen ziel-und planlos umherirren oder sich im allgemeinen auf einer Plattform sammeln, die schon ihren Vätern zum Verderben wurde. Nicht . bierehrliche'Stichfestigkeit, sondern politische Schlagkraft ist jetzt nötig, und die Vorstellung der heutigen Zeit wird nicht mehr befriedigt durch den . Studiosus'von einst, den mehr oder weniger bemoosten Häuptern (sic), als vielmehr durch den Mann, dessen Beschreibung heißt: schlank wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Ein neuer Typ muß erstehen, der nicht mehr in seinem Wert gewertet wird nach dem Ertragen von Bier, sondern nach dem Grad seiner Nüchternheit und der Widerstandsfähigkeit in den Unbilden des Lebens und dem Angriffsfanatismus gegen die Feinde des Lebens, mögen sie sein wer immer."

Bei der gleichen Gelegenheit ließ Hitler auch schon durchblicken, was er vorhatte, wenn dieser „neue Typ" nicht befehlsgemäß „erstehen" würde; und es ist nicht schwer, den Unterton der Drohung herauszuhören, der hier mitschwingt: „Wenn aber gerade die Schicht des Volks-körpers, die berufen sein soll, einst die geistige Leitung desselben in die Hand zu nehmen, sich selbst von der Lebensgestaltung, im wichtigsten Sinne genommen, ausschließt, darf sie sich nicht wundern, wenn endlich auch das wirkliche Leben über diese Schicht hinweg-gehen wird, ohne Rücksicht auf Vergangenheit, das Zweckmäßige des Augenblicks oder die Notwendigkeit für die Zukunft zu nehmen." *)

Der „Frontabschnitt Hochschule"

Die Studenten, die einer Organisation der NSDAP angehörten, stellten vor dem 30. Januar 1933 eine kleine Minderheit dar. Aber diese Minderheit war äußerst aktiv; sie konnte außerdem damit rechnen, daß die meisten Kommilitonen, soweit sie überhaupt politisch dachten, antirepublikanisch und — wie man damals sagte —-„national" gesinnt waren, somit bereit, der Agitation der Nationalsozialisten zumindest keinen Widerstand entgegen-zusetzen.

Die Gefolgschaft Hitlers unter den Studenten war entweder in der SA oder im „Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund" (NSDStB) organisiert. Beide Gruppen arbeiteten eng zusammen, wenn es um Protest-, Stör-und Wahlaktionen ging. Sie unterschieden sich allerdings darin, daß die „SA-Studenten" meist das Studieren längst aufgegeben hatten, sich hauptberuflich dem Straßenkampf widmeten und sich nur ab und zu damit befaßten, dessen Terror-Methoden in die Universität hineinzutragen. Die Mitglieder des NSDStB dagegen sahen die Hochschule als ihren „Hauptkampfplatz" an. Sie strebten planmäßig und mit Erfolg die Herrschaft in den studentischen Parlamenten an. Vereinfachend kann man sagen, daß in der ersten, etwa bis 1935 dauernden Phase die SA-Gruppen, danach der NSDStB die Vorherrschaft innehatten.

Es ist eine traurige, aber unbestreitbare Tatsache, daß die studentischen Vertretungen weit früher in die Hände der Nationalsozialisten fielen als die Einrichtungen des Staates. Der erste „Allgemeine Studenten-Ausschuß" (AStA), der eine nationalsozialistische Mehrheit bekam, wurde 1929 in Erlangen gewählt. Einige Daten über die Zusammensetzung der Allgemeinen Studentenausschüsse im Wintersemester 1930/31 zeigen die Situation

An der Technischen Hochschule Berlin besaßen die Nationalsozialisten 5 von 10 Mandaten, an der Tierärztlichen Hochschule in Berlin 20 von 30, an der Universität Breslau 22 von 30, in Erlangen 19 von 25, in Gießen 14 von 25, in Greifswald 9 von 15, in Jena 8 von 12, in Leipzig 8 von 15, in Rostock 7 von 11. In München waren sie mit 10 von 30 an der Universität, mit 11 von 30 an der Technischen Hoch-schule noch in der Minderheit. Der Bazillus wirkte auch außerhalb der Reichsgrenzen: An der Tierärztlichen Hochschule in Wien hatten die Nationalsozialisten bereits 7 von 12 Mandaten in Händen, an der Technischen Hochschule in Brünn 8 von 20. Und auf dem „Deutschen Studententag", der 1931 in Graz abgehalten wurde, errangen die Braunhemden die absolute Mehrheit sowie den Platz des Ersten Vorsitzenden in der Gesamtvertretung der Studenten deutscher Zunge Nach dem Grazer Studententag von 1931 soll Hitler gesagt haben: „Wenn eines mich an den Sieg der Bewegung glauben läßt, so ist es der Vormarsch des Nationalsozialismus in der Studentenschaft." Der Studententag von 1932 demonstrierte den Erfolg des Nationalsozialismus: Er fand — und das war nicht nur eine Äußerlichkeit — in einer Königsberger Kaserne statt, bekannte sich zum „soldatischen Stil", übernahm für die studentischen Organisationen das „Führerprinzip" und beschloß, die Zeitschriften der Studentenschaft in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen 4a).

Trotzdem waren die Führer der Partei weit davon entfernt, sich mit diesen Ergebnissen zufriedenzugeben. Sie wußten ganz genau, daß ihre Siege bei den studentischen Wahlen nicht auf ihrer Stärke, sondern auf der Schwäche ihrer Gegner und auf der Passivität der großen Mehrheit der Studenten beruhten. In seiner Dissertation mit dem Titel Der SA-Student im Kampl um die Hochschule, die 1936 im Druck erschien, beschreibt Hans Joachim Düning die damalige Lage recht nüchtern: „Aber wenn auch der Nationalsozialismus in den meisten studentischen Parlamenten über eine zahlenmäßige Mehrheit verfügte, so änderte das nichts an der statistisch feststellbaren Tatsache, daß einem verschwindend kleinen Häuflein von getreuen Verschworenen eine ungeheure Masse von Gegnern, Lauen und Mitläufern gegenüberstand. Der . Nationalsozialistische Studentenbund', der NSDStB, die Form der nationalsozialistischen Weltanschauung an der Hochschule, umfaßte nur einen ganz gerin-gen Prozentsatz der Gesamtstudentenschaft. Die große Masse bestand entweder aus Frei-studenten oder war unter irgendwelchen Losungen in einer Unzahl von Korporationen, Parteien und Vereinigungen verstreut und zersplittert."

Die Erkenntnis, daß die große Mehrheit sowohl der Professoren wie der Studenten vom organisierten Nationalsozialismus nichts wissen wollte, ließ den „Frontabschnitt Hochschule" der siegreichen NSDAP als ein Gebiet erscheinen, „dem in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Revolution die größte Bedeutung innerhalb des Gesamtangriffs beizumessen ist" zugleich aber auch als ein besonders schwieriges Gebiet. Zwar forderten radikale SA-Studenten nach der Machtergreifung im Reich die schlichte Gleichschaltung, wie sie in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens praktiziert worden war; aber Funktionäre, die der Universität näher-standen, wußten gut genug, daß dieses Verfahren sich hier nicht anwenden ließ. So bemerkt Düning: „Die Umwandlung dieser Hochschule aus einer bürgerlich-liberalistischen in eine soldatisch-nationalsozialistische kann man nicht befehlen oder anordnen, wenn sie Bestand haben soll, sondern sie muß werden und wachsen aus der Kraft und dem Gedankengut der lebenden Generationen heraus." „Die lebende Generation" — das waren die Studenten. Nur in der Studentenschaft verfügte der Nationalsozialismus über Sturmtruppen, die sich am „umkämpften Frontabschnitt Hochschule" gebrauchen ließen. Mißbilligend stellt Düning fest: „Eine . nationalsozialistische Dozentenschaft'hat es bis zur Machtergreifung nicht gegeben. Schon der Versuch einer solchen Organisation wäre wahrscheinlich von vorneherein aus Mangel an Mitgliedern gescheitert." 7a) Aus dieser Lagebeurteilung — um in der militärischen Terminologie des zitierten Autors zu bleiben — ergab sich auch der Einsatzplan: „Träger der Hochschulreform konnte also zunächst nicht die eigentlich dazu berufene Professorenschaft, sondern allein die Studentenschaft oder besser der NSDStB werden. Die Jugend mußte zu Tat und Werk mobilisiert und freigemacht werden . . ." Das bedeutete natürlich nicht, daß die Partei auf die Gleichschaltung der Hochschulen durch administrative Maßnahmen verzichtete. Aber sie ging dabei langsamer vor, sie begegnete institutionellen und personellen Widerständen mit größerer Vorsicht und war auch weniger erfolgreich als auf anderen Gebieten, wie etwa in der Verwaltung, der Schule, der Justiz. Aber es bedeutete, daß die Partei in der Studentenschaft den Hebel suchte, mit dem sich die „liberalistische Universität" aus ihren Angeln reißen ließ.

Die Umerziehung des Studenten

Wie aber sollte die Partei den Studenten dort „erfassen" (das war ein Lieblingswort der Epoche), wo ihn die Universität selbst nicht zu erfassen vermochte, wo bis dahin die studentische Selbstverwaltung, die Verbindungen und Korporationen ihr Eigenleben entfalteten und die private Sphäre ihr Recht behauptete? Die Antwort der „SA-Studenten" lautete sehr präzis: Die Selbstverwaltung war gleichzuschalten, die Verbindungen waren aufzulösen, an die Stelle der individualistisch-liberalistischen Studentenbude hatte das Kameradschaftshaus zu treten. In allen drei Institutionen sollte die Macht allein dem National-Sozialismus und seinen Organisationen gehören. Die Gleichschaltung der studentischen Selbstverwaltung machte nicht viel Mühe. In den meisten Studentenparlamenten besaßen die Nationalsozialisten ja schon vor dem 30. Januar 1933 die Mehrheit. Allerdings entbehrten die Studentenvertretungen damals der staatlichen Anerkennung. Die Regierungen der deutschen Länder hatten zwar — Preußen 1920 — die studentischen Zusammenschlüsse nach dem Ersten Weltkrieg zunächst als willkommenen Beitrag zur Neuordnung der Universität begrüßt und ihnen bestimmte Rechte und Pflichten zuerkannt; aber Mitte der zwanziger Jahre kam es zum Konflikt. Die Regierungen weigerten sich nämlich, eine von der „Deutschen Studentenschaft" angenommene Verfassung zu sanktionieren, die einerseits über die Reichsgrenzen hinausgriff, indem sie auch Studentenschaften an den österreichischen und an einigen Hochschulen der Tschechoslowakei einbezog, die aber andererseits einen „ArierParagraphen" enthielt, also die Mitgliedschaft deutscher Staatsbürger jüdischer Religion ausschloß. Die beiden Bedingungen hingen miteinander zusammen, denn die österreichischen Studentenschaften bestanden am heftigsten auf dem fatalen „Arier-Paragraphen". Eine großzügige Satzung, die der preußische Kultusminister Becker zu Weihnachten 1926 anbot und die von den Regierungen akzeptiert worden wäre, war durch 25 von 26 studentischen Hochschulvertretungen Preußens im Novemver 1927 abgelehnt worden.

So war die „Deutsche Studentenschaft" nicht staatlich anerkannt und besaß keine korporativen Rechte im Hochschulwesen, als Hitler an die Macht kam Der Nationalsozialismus hatte es unter diesen Umständen leicht, sich den Anschein der Großzügigkeit gegenüber den Studenten und ihrem Wunsch nach staatlicher Anerkennung ihrer Selbstverwaltung zu geben. Schon am 22. April 1933 wurde ein „Reichsgesetz über die Bildung von Studentenschaften an den wissenschaftlichen Hochschulen" erlassen, und am 7. Februar 1934 folgte eine „Verfassung der deutschen Studentenschaft". Die so lang ersehnte staatliche Anerkennung war damit erfolgt, aber auch der Einbau der Studentenschaft in das nationalsozialistische Herrschaftssystem.

Es war eine ganz ähnliche Situation wie bei dem Schriftleitergesetz, in dem die rechtliche Stellung des Zeitungsredakteurs einer staatlichen Regelung unterworfen wurde; auch hier ging scheinbar ein alter Wunsch der Journalisten und ihrer Verbände in Erfüllung, indem der Status des Redakteurs umschrieben, seine Position gegenüber dem Verleger gefestigt wurde. Aber wie hier in Wirklichkeit an die Stelle der Abhängigkeit vom Verleger die viel ärgere Abhängigkeit vom Reichspropagandaminister trat, so mußte dort die Studentenschaft ihre endlich erlangte staatliche Anerkennung bezahlen mit der Aufgabe ihrer Autonomie und der völligen Unterwerfung unter die Formationen der Partei.

Die erste öffentliche Bewährungsprobe dafür, daß sich die Formationen der nationalsozialistischen Studentengruppen samt vielen Mitläufern auf Befehl mobilisieren ließen, lieferten die Bücherverbrennungen am Mai 1933. Auf den Appell der Studenten-Funktionäre hin fanden sich in den deutschen Hochschulstädten nur allzuviele, die sich an der „Gesamtaktion wider den undeutschen Geist" beteiligten, öffentliche und private Bibliotheken von Büchern jüdischer, liberalistischer, republikanischer Autoren „reinigten", an den öffentlichen Verbrennungen mitwirkten, den „Feuerreden“ gegen „undeutsche", „zersetzende" und „dekadente" Literatur von Heinrich Heine, Karl Marx, Thomas Mann, Sigmund Freud applaudierten und die Büchervernichtung mit frenetischem Jubel begleiteten 10).

Staatliche Reglementierungen

In der „Verfassung der Deutschen Studentenschaft" vom 7. Februar 1934 heißt es: „Die Deutsche Studentenschaft ist die Vertretung der Gesamtheit der Studenten. Sie steht dafür ein, daß die Studenten ihre Pflicht in Hochschule, Volk und Staat erfüllen. Vor allem hat sie die Studenten durch die Verpflichtung zum SA-Dienst und Arbeitsdienst und durch politische Schulung zu ehrbewußten und wahrhaften deutschen Männern und zum verantwortungsbereiten selbstlosen Dienst in Volk und Staat zu erziehen. Durch lebendige Mitarbeit an den Aufgaben der Hochschule sichert sie die unlösliche Verbundenheit von Volk und Hochschule und einen im Volke wurzelnden, an Leib und Seele starken und geistig tüchtigen akademischen Nachwuchs. . . Die Erziehung zur Wehr-haftigkeit liegt bei dem SA-Hochschulamt. Die politische Erziehung innerhalb der Deutschen Studentenschaft ist dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund anvertraut."

Der Deutschen Studentenschaft gehörten laut Gesetz vom 22. April 1933 alle „bei einer wissenschaftlichen Hochschule voll eingeschriebenen Studenten deutscher Abstammung und Muttersprache . . . unbeschadet ihrer Staatsangehörigkeit" an. Somit war jeder reichs-und volksdeutsche Student kraft Reichs-gesetzes verpflichtet, am SA-Dienst und an der politischen Schulung durch den NSDStB teilzunehmen. Das klingt heute unglaublich, ist aber geschichtliche Tatsache. Das stand nicht bloß auf dem Papier, sondern wurde, wenn auch nicht überall in den gleichen Formen, tatsächlich praktiziert.

Die Deutsche Studentenschaft beanspruchte auf Grund des April-Gesetzes auch Zuständigkeit für die Studentenschaften in Österreich und über die deutschen Studenten an anderen ausländischen Hochschulen. Da die österreichischen Studentenschaften während der Zeit der Weimarer Republik zur Deutschen Studentenschaft zählten und auf dem Deutschen Studententag Sitz und Stimme hatten, schien dies nur die Weiterführung eines bestehenden Zustandes zu sein. Aber was unter demokratischen Verhältnissen möglich gewesen war, mußte unter totalitären Vorzeichen unweigerlich zur Spaltung führen. Die Regierenden in Wien und Prag wehrten sich gegen die Einmischung nationalsozialistischer Institutionen, und da man 1934 in Berlin noch den außenpolitischen Eklat fürchtete, formulierte das Gesetz vom 7. Februar 1934 erheblich vorsichtiger: „Die Deutsche Studentenschaft ist der Zusammenschluß der deutschen Studentenschaften an den Hochschulen des geschlossenen deutschen Sprachgebietes. Zusammenschlüsse deutscher Studenten an Hochschulen außerhalb dieses Gebietes werden durch besondere Abkommen Glieder der Deutschen Studentenschaft."

Freilich bezog sich schon der nächste Paragraph wieder ausdrücklich auf das Gesetz von 1933 und die Kriterien „Abstammung und Muttersprache"; es ließ dann die verräterische Zusicherung folgen: „Deutsche Studenten, die nicht Reichsdeutsche sind, übernehmen wäh-rend ihres Aufenthaltes an einer reichsdeutschen Hochschule durch die Zugehörigkeit zur Deutschen Studentenschaft keine Pflichten, die den Gesetzen ihres Staates widersprechen."

Der NSDStB, dem das Gesetz vom 7. Februar 1934 die „politische Erziehung" aller deutschen Studenten anvertraute, war ein Nachkömmling unter den Organisationen der Hitler-Partei. Der Gründungsaufruf stammt vom 8. Dezember 1925 und ist unterzeichnet von Wilhelm Tempel und Helmut Podlich, die in München Jura studierten Sehr spontan scheint die Gründung nicht erfolgt zu sein. Aus einem von Rudolf Heß unterzeichneten Billet mit dem Aufdruck „Kanzlei von Adolf Hitler, München 2, Schellingstr. 50" geht hervor, daß Hitler selbst die Bildung einer Studentengliedejung seiner Partei veranlaßt hat. Wilhelm Tempel wurde erster „Reichsführer des NSDStB", 1928 folgte Baldur von Schirach, gleichfalls aus der Münchener Hochschulgruppe, 1934 Albert Derichsweiler, 1936 Dr. Gustav Adolf Scheel, der sich in Heidelberg im „Fall Gumbel" besonders hervorgetan hatte und der auf dem Reichsparteitag 1937 den erhellenden Satz prägte: „Wir wollen keinen wissenschaftlichen Nationalsozialismus, sondern eine nationalsozialistische Wissenschaft."

Wer an einer deutschen Universität studierte, sah sich somit Organisationen mit verschiedenem Monopol-Anspruch gegenüber: Der Studentenschaft, in die er mit der Immatrikulation automatisch ausgenommen wurde, dem NSDStB, dem kraft Gesetzes sein Geist zur „politischen Erziehung", und der SA, der, ebenfalls kraft Gesetzes, sein Körper zur „wehrsportlichen Ertüchtigung" ausgeliefert war. Hier gab es für den, der studieren wollte, kein Entrinnen, allenfalls ein taktisches Hin-zögern oder Umgehen. Wie alle verstaatlichten Apparate, so entwickelte sich nämlich auch die Studentenschaft sehr schnell zu einer schwerfälligen Bürokratie. Ich kannte manche, die von Semester zu Semester die Universität wechselten und sich dadurch dem Zugriff der Partei entzogen. Bis die Meldeformulare ausgewertet und die Einberufungen zum Dienst in SA und Studentenbund geschrieben und versandt waren, hatten sie sich bereits wieder exmatrikuliert. Aber an einigen Universitäten mahlten die Mühlen rascher. Als ich im Herbst 1938 nach München kam, dauerte es nur wenige Wochen, bis mich die entsprechenden Stellungsbefehle erreichten. Da ich als völlig „ungeschult" angesehen werden mußte, wurde ich in ein „Kurzlager" einberufen. Auf dem umfangreichen Verzeichnis der Gegenstände, die mitzubringen waren, stand auch das Wort Schaftstiefel. Die SA konnte sich eben weder Wehrsport noch Indoktrination ohne Stiefel vorstellen, noch weniger, daß jemand es wagte, studieren zu wollen, der keine Stiefel besaß. Ich war gerade dabei, zu überlegen, woher ich mir die offenbar heilsnotwendigen Stiefel borgen könnte, als mir ein älterer Kommilitone einen wertvollen Rat gab. So schrieb ich zurück, ich könne der Einberufung nicht folgen, da es mir an Stiefeln fehle. Stiefel waren auch in der Lagerkammer knapp (was jener Kommilitone wußte), und so ließ man fürs erste von mir ab, und das nächste Semester sah mich in Heidelberg.

In einer internen Dienstanweisung der Reichsstudentenführung wird ganz unverdeckt das Verfahren beschrieben, mit dessen Hilfe widerstrebende Studenten in den NSDStB gezogen werden sollten. Jedem Erstsemester wurde zusammen mit den Immatrikulationspapieren das Anmeldeformular zum NSDStB ausgehändigt. Wer sich nicht „automatisch" anmeldete, hatte seine Weigerung schriftlich zu begründen. Der örtliche Studentenführer ließ dann eine „dienstliche" Vorladung ergehen, bei der die Motive noch genauer erforscht werden sollten. Dabei sollte stets der Grundsatz der Freiwilligkeit gewahrt bleiben. Man kann sich denken, wie es damit in der Praxis aussah, zumal die leitenden Posten in Studentenschaft und Parteiorganisationen oft in Personalunion von den gleichen Funktionären eingenommen wurden.

Das Ausbildungsziel, das in beiden Organisationen verfolgt wurde, geht am klarsten hervor aus den „Zehn Gesetzen des deutschen Studententums" „I. Deutscher Student, es ist nicht nötig, daß Du lebst, wohl aber, daß Du Deine Pflicht gegenüber Deinem Volke erfüllst! Was Du wirst, werde als Deutscher!

II. Oberstes Gesetz und höchste Würde ist dem deutschen Mann die Ehre. Verletzte Ehre kann nur mit Blut gesühnt werden. Deine Ehre ist die Treue zu Deinem Volk und zu Dir selbst.

III. Deutsch sein heißt Charakter haben. Du bist mitberufen, die Freiheit des deutschen Geistes zu erkämpfen. Suche die Wahrheiten, die in Deinem Volke beschlossen liegen!

IV. Zügellosigkeit und Ungebundenheit sind keine Freiheit. Es liegt im Dienen mehr Freiheit als im eigenen Befehl. Von Deinem Glauben, Deiner Begeisterung und Deinem kämpferischen Willen hängt die Zukunft Deutschlands ab.

V. Wer nicht die Phantasie besitzt, sich etwas vorzustellen, wird nichts erreichen. Du kannst nicht anzünden, wenn es in Dir nicht brennt. Habe den Mut, zu bewundern und ehrfürchtig zu sein!

VI. Zum Nationalsozialisten wird man geboren, noch mehr wird man dazu erzogen, am meisten erzieht man sich selbst dazu.

VII. Wenn etwas ist, gewaltiger als das Schicksal, dann ist es Dein Mut, der es unerschüttert trägt. Was Dich nicht umbringt, macht Dich nur stärker. Gelobt sei, was hart macht!

VIII. Lerne in einer Ordnung zu leben! Zucht und Disziplin sind die unerläßlichen Grundlagen jeder Gemeinschaft und der Anfang jeder Erziehung.

IX. Als Führer sei hart in Deiner eigenen Pflichterfüllung, entschlossen in der Vertre-tung des Notwendigen, hilfreich und gut, nie kleinlich in der Beurteilung menschlicher Schwächen, groß im Erkennen der Lebensbedürfnisse anderer und bescheiden in Deinen eigenen!

X. Sei Kamerad! Sei ritterlich und bescheiden! In Deinem persönlichen Leben sei Vorbild! An Deinem Umgang mit Menschen erkennt man das Maß Deiner sittlichen Reife. Sei eins im Denken und Handeln! Lebe dem Führer nach!"

Auf der Suche nach Leitbildern

Aber die nationalsozialistischen Führer wußten natürlich genau, daß weder das kanonisierte Wort des obersten Parteichefs noch die Theorien der Bildungsrevolutionäre, weder die „Zehn Gesetze des deutschen Studententums" noch mehr oder weniger linientreue Rektorats-reden genügten, um junge Menschen für die Partei und ihre Organisationen zu erwärmen. Sie wußten, daß Vorbilder allemal stärker wirken als Argumente, wo es um Lebensgestaltung und Willensentscheidung geht. Aber sie sahen sich dabei einer zweifachen Schwierigkeit gegenüber: Ihre Partei hatte keine Studenten, keine Akademiker hervorgebracht, die der Öffentlichkeit als Prototypen hätten vorgestellt werden können. Der einzige bedeutende Parteiführer, der ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorzuweisen hatte, war Dr. Josef Goebbels Allein, gerade dieses Studium bildete einen wunden Punkt in der Biographie des „Eroberers von Berlin". Deshalb pflegte er, der sonst mit Erzählungen nicht gerade sparsam war, Studium und Promotion im Halbdunkel zu lassen. Der Doktortitel des Reichspropagandaministers und Gauleiters von Berlin beruhte nämlich auf einer Dissertation bei Friedrich Gundolf, einem der Hauptopfer der antijüdischen Hetze der zwanziger Jahre. Einen Teil seines Studiums hatte Goebbels mit einem Stipendien-Darlehen des „AlbertusMagnus-Vereins" finanziert, das dieser übrigens mit Hilfe des Gerichtsvollziehers wieder eintreiben mußte. Er war jedenfalls klug genug, den Scheinwerfer hochschulpolitischen Interesses nicht auf seine Person zu lenken; im Gegenteil: Während sonst keine Zeile aus seiner Feder ungedruckt blieb, ließ er seine einzige wissenschaftliche Leistung, seine Dissertation über den Romantiker Wilhelm von Schütz, bewußt im bergenden Schatten der Bibliotheks-Magazine für Hochschulschriften und unter dem Schutz erschwerter Ausleihe-bestimmungen. Im übrigen lag dem Dr. phil. Josef Goebbels viel zu viel an seinem Ruf als „Eroberer des Wedding", als daß er diese persönliche Legende hätte gefährden wollen durch eine Stilisierung im Sinne nationalsozialistischer Studentenpolitik.

Goebbels leistete zu dieser Stilisierung dennoch einen persönlichen Beitrag, aber auf andere Weise, nämlich durch den Mythos vom Studenten Horst Wessel. Die Produktion dieser Legende gehört zu den erstaunlichsten Leistungen des Propagandisten Goebbels. Horst Wessel war tatsächlich Student gewesen, aber als er in den Gesichtskreis des Gau-leiters Goebbels trat, studierte er schon lange nicht mehr. Er war vom „Arbeiter der Stirn" zum „Arbeiter der Faust" geworden, ein stadtbekannter Draufgänger, Spezialist für Saal-schlachten, ein SA-Sturmführer, der immer Zeit und Lust hatte, mitzumachen, wenn irgendwo Prügel auszuteilen waren. Da zur stilgerechten Inszenierung einer Massenversammlung mit Goebbels und Hitler — neben dem pseudomilitärischen Aufmarsch durch den Mittelgang und dem braun-roten Horizont aus Uniformen und Fahnen hinter dem Rednerpult — auch die Saalschlacht gehörte, war Horst Wessel einer der wichtigsten Mitarbeiter des Gauleiters von Berlin. Es kam hinzu, daß Wessel drei Strophen für ein Marschlied gedichtet hatte, die in Goebbels'Zeitung „Der Angriff" gedruckt worden waren, und „daß die Worte gut zu einer Marschmelodie paßten, die seit vielen Jahren in den Jugendgruppen der KPD gesungen und gepfiffen wurde. Die Nationalsozialisten sangen sie nun mit Wessels Text" So entstand das „Horst-WesselLied". Im Februar 1930 wurde Horst Wessel von einem gewerbsmäßigen Zuhälter namens Ali Höhler in der Wohnung einer Dame, auf die beide Anspruch erhoben, erstochen. Es war ein Betriebsunfall im Berliner Prostituiertenmilieu. Aber Goebbels witterte eine ungeheure Chance: Ein kommunistischer Unter-mensch hatte den SA-Sturmführer, den Dichter, den Helden Horst Wessel, der seine akademische Laufbahn der Arbeit für die Partei geopfert hatte, in typisch kommunistischer Bestialität ermordet. Die Beisetzung Wessels wurde zu einer Demonstration nationalsozialistischer Aufmarsch-Strategie. Die holprigen Verse wurden zur Parteihymne erklärt, der frühvollendete Dichter zum Blutzeugen der Bewegung erhoben, zum Leitbild des nationalsozialistischen Studenten.

Das zweite dieser Leitbilder war Albert Leo Schlageter, kein Nationalsozialist, sondern ein einzelgängerischer Freikorpskämpfer. Schlageter wurde während des Ruhrkampfs auf der Golzheimer Heide erschossen, nachdem er Sabotageaktionen gegen die französischen Besatzungstruppen unternommen hatte. Er wurde von der Partei usurpiert, obwohl vieles in seinem Leben dafür spricht, daß er sich jede Ehrung durch den Nationalsozialismus verbeten hätte.

Die beiden Vorbilder, die den deutschen Studenten zwölf Jahre lang in tausend Reden und Schriften in wechselnder bengalischer Beleuchtung vorgehalten wurden, hätten sich bei näherem Zusehen als Mißverständnisse erweisen müssen. Deshalb wurde näheres Zusehen durch Verheimlichung oder Fälschung der Quellen verhindert. Mit der Macht der Wiederholung wurden Legenden aufaebaut. an die niemand rühren durfte.

Die „Lebensform des Lagers"

Der Auseinandersetzung um den Wissenschaftsbegriff, der in der Professorenschaft ausgetragen wurde, entsprach bei den Studenten die Auseinandersetzung um den Begriff der akademischen Freiheit. Die Parteilinie wurde von Gustav Adolf Scheel, dem Reichsstudentenführer und Ehrensenator der Universität Würzburg, wie folgt formuliert: „Der nationalsozialistische Student lebt nicht nach der soge-nannten akademischen Freiheit, das heißt, alles zu tun, was er will, sondern er steht unter der Zucht der Gesetze, nach denen zu allen Zeiten große deutsche Männer gelebt haben. Er soll zu dem werden, wozu er bestimmt ist. Alle wahre Erziehung fängt mit dem genauen Gegenteil der akademischen Freiheit an, nämlich mit Gehorsam und Unterordnung, mit Zucht und Dienst. Nicht Zügellosigkeit, sondern allein der höhere Gehorsam macht frei, das heißt zum immerwährenden Einsatz für das Volk." Schon die sprachliche Form mit ihrem zweimaligen „das heißt" verrät die Doppelbödigkeit, die banale Inhaltsverschiebung der verwendeten Begriffe. Von Freiheit, gar von akademischer, bestand in diesen Köpfen nur ein Zerrbild.

Aber wie sollte ein Gustav Adolf Scheel die akademische Freiheit verstehen oder gar ret-ten wollen, wenn der große Martin Heidegger in seiner Freiburger Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 die Ausstoßung der akademischen Freiheit aus der deutschen Universität begrüßte mit den Worten: „Der Begriff der Freiheit des deutsche Studenten wird jetzt zu seiner Wahrheit zurückgebracht. Aus ihr entfalten sich künftig Bindung und Dienst der deutschen Studentenschaft."

Wie sah die „Selbsterziehung in der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft", wie sie die Ideologen der nationalsozialistischen Pädagogik forderten, in der Praxis aus? Die Antwort ist enthalten in den Stichworten Arbeitsdienst, Erntehilfe, Kameradschaftshaus. 1. Arbeitsdienst. Der Gedanke, junge Menschen vor Beginn ihres Studiums in einem Lager zusammenzufassen und neben Gleichaltrigen, die weder eine höhere Schule durchgemacht hatten noch ein Studium anstrebten, schwere körperliche Arbeit verrichten zu lassen, war keine Erfindung des Dritten Reiches. Die Idee des Arbeitsdienstes hat ältere Wurzeln. Eine dieser Wurzeln reicht zurück in die romantisch-jugendbewegte Vorstellung einer Kampfgemeinschaft von Arbeitern und Akademikern. Schon in den zwanziger Jahren hatte es Arbeitsdienst auf freiwilliger Grundlage gegeben. Brüning hatte den „Freiwilligen Arbeitsdienst“ durch Reichsgesetz vom 6. Juni 1931 in staatliche Obhut und Förderung genommen. Die andere Wurzel kam aus der Not der Zeit, aus der Millionen-Arbeitslosigkeit, aus dem „akademischen Proletariat“, das scheinbar auf einem Akademiker-Überschuß beruhte, aus dem uns heute kaum mehr vorstellbaren Zustand, daß Tausende von Menschen mit abgeschlossenem Hochschulstudium und guten Examensnoten keine Arbeit finden konnten. Dieser Zustand führte zu verzweifelten Maßnahmen, so etwa zur Empfehlung an die Beamten, sich vorzeitig pensionieren zu lassen, wodurch die Staatskasse zwar doppelt belastet, aber jedenfalls ein hungriger und unruhiger Stellenanwärter von der Straße weggeholt wurde. Auch die Hinausschiebung des Studienbeginns und die Verlängerung der Studiendauer erschienen damals durchaus wünschenswert. In den ersten Jahren ihrer Herrschaft waren auch die Nationalsozialisten keineswegs daran interessiert, möglichst bald möglichst viele Akademiker zu bekommen.

Von den Abiturienten des Jahres 1933 meldeten sich 10 500 zum „freiwilligen Werkhalbjahr", das aus vier Monaten Arbeitslager und zwei Monaten Wehrsportlager — sprich: vor-militärische Ausbildung — bestand. Im Herbst 1933 wurde der Arbeitsdienst für alle Studenten — aber zunächst nur für Studenten — zur Pflicht gemacht. Die ersten bis vierten Semester mußten für zehn Wochen zum Arbeitsdienst, der Abitur-Jahrgang 1934 wurde als erster vollzählig für ein halbes Jahr eingezogen, so daß es im Sommer-Semester 1934 so gut wie keine Studienanfänger gab. Als Hitler 1935 unter Bruch des Friedensvertrags die allgemeine Wehrpflicht einführte, war das Problem des „akademischen Proletariats" endgültig „gelöst". Der Termin des Berufseintritts war durch Arbeits-und Wehrdienst um mindestens anderthalb Jahre hinausgeschoben. Die Wehrmacht schluckte immer mehr Offiziere, Ärzte, Tierärzte, Pharmazeuten, Juristen, Techniker und Beamte. Allmählich begann dann aus dem lästigen Überfluß ein Mangel zu werden, der sogar zu Maßnahmen der aktiven Studienförderung durch den Staat zwang.

Indes, es wäre irrig, wollte man hinter diesen Maßnahmen nur rationale Motive suchen. Ihr letzter Grund war ein irrationales Element, eine Ideologie des Lagers, die Überhöhung einer behelfsmäßigen Wohn-und Lebensweise zur allein soldatischen, allein nationalsozialistischen, somit auch allein deutschen Existenz-form. Einer der Wortführer dieser Lager-Ideologie, Düning, rühmt von ihr: „Der Nationalsozialismus nahm den deutschen Studenten aus seiner Vereinzelung heraus, gab ihm den Spaten in die Hand und stellte ihn hinein in die politische Front des Arbeitslagers, in die verkleinerte, aber harte Wirklichkeit seines Volkes. . . Ein Arbeitslager ist weder eine gute Stube noch ein gesellschaftlicher Salon, sondern hier regiert das Leben mit all seinen Härten und Spannungen, mit seinen Schwächen und Größen, Höhen und Tiefen, Widerwärtigkeiten und Schönheiten. Der ganze Mensch steht im Angesicht einer ganzen Wirklichkeit."

Und ein anderer Enthusiast der „Lebensform des Lagers", Andreas Feickert, begründet die Arbeitsdienstpflicht für Studenten, die ja dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Stände stracks widersprach, wie folgt: „ 15 000 Abiturienten, zukünftige Studenten, rücken am 1. Mai in die Arbeitslager hinein, sind ein halbes Jahr Arbeiter, nichts als Arbeiter, und kommen erst dann zum Studium auf die Hochschule. Diese nüchternen Tatsachen bedeuten die Revolutionierung der Hochschule von unten her, bedeuten, daß der liberalistischen Dozentenschicht bald eine Studentenschicht gegenüber gestellt sein wird, die den Rhythmus des deutschen Arbeiters im Lager erlebt hat und in sich trägt, der im Lager ein freier, herber Wind um die Ohren gefahren ist, und sie einfach und klar gemacht hat."

Ich habe den Arbeitsdienst im Sommer 1939 absolviert, als es bereits eine Arbeitsdienst-pflicht für alle gab; sie diente ebenso der politischen Schulung wie der Gewinnung billiger Arbeitskräfte für Rüstung und Autobahnbau. Der „Rhythmus des deutschen Arbeiters", von dem Feickert schwärmte, wurde damals vom Bau des Westwalls bestimmt, und dies war auch der Rhythmus unseres Lagers.

Abgesehen von wenigen Idealisten, die aus der alten Arbeitsdienstbewegung übriggeblieben waren, bestand das Führerkorps des Reichsarbeitsdienstes überwiegend aus Männern, die im Leben gescheitert und von der Wehrmacht sogar in der Aufbauphase zurückgewiesen worden waren. Weder vorher noch nachher in meinem Leben habe ich jemals eine so negative Auslese von Menschen erlebt wie hier, im Führerkorps des RAD, auch beim Militär nie eine so niederträchtige, korrupte, unmenschliche Gesamtatmosphäre, verbunden mit einer so gehässigen Terrorisierung der „Aburenten". Wir verwandten viel Zeit und Schweiß auf eine strenge, aber für den Ernstfall so gut wie unbrauchbare militärische Grundausbildung, die hauptsächlich aus Formalexerzieren in friderizianischem Stil bestand; außerdem vervollständigten wir die Bunkerlinie am Oberrhein. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde das Arbeitslager aus der Nähe der Grenze wegverlegt. Es war ein wirklich kritischer Moment für uns, denn unsere Führer verloren völlig den Kopf, gaben widerspruchsvolle und unausführbare Befehle, drohten jedem „Saboteur" -— und das konnte jeder werden, der unangenehm auffiel — das Standgericht an (ich habe eine solche nächtliche Gerichts-Farce mitgemacht), und beim Marsch ins Hinterland erwies es sich, daß kein Zugführer in der Lage war, die Generalstabs-karte zu lesen. Der Lagerkommandant selbst hatte sich als erster „abgesetzt", um die neue Unterkunft „vorzubereiten".

Wenn ich sagen sollte, daß die Zeit im Arbeitsdienst mich gelehrt habe, Solidarität mit dem deutschen Arbeiter zu fühlen, müßte ich lügen. Einige wenige waren Kameraden, es waren Ausnahmen. Ansonsten bewunderte und beneidete ich die gelernten Handarbeiter wegen ihrer erworbenen Fähigkeit, Vorteile für sich zu erspähen und auszunützen, wegen ihres flinken Blicks für die jeweils leichteste Arbeit, den schönsten Druckposten, die handlichsten Gerätschaften. Ich habe von ihnen positiv vor allem gelernt, wie man sich Befehlen entziehen kann, ohne aufzufallen; negativ habe ich dabei erfahren, wie wenig Wirklichkeitswert den hohen Worten vom Arbeitsethos zukommt und wie selten die gewissenhaften Arbeiter sind. Seither zweifle ich nicht daran, daß Qualitätsproduktion, Arbeitsdisziplin und soziale Rücksichtsnahme von vielen, vielleicht von den meisten nur zu erwarten sind, wenn sie sich kontrolliert wissen.

Die großen Tugenden, deren Entfaltung die Arbeitslager angeblich dienen sollten, habe ich erst später kennengelernt: beim Militär, in der weniger unmenschlichen, da gerechteren Ordnung seines Dienstes, im infanteristischen Einsatz und im Sanitätsdienst, auch in der Gefangenschaft: Kameradschaftlichkeit, Hilfsbereitschaft bis zum wohlerkannten, wohlüberlegten Wagnis des eigenen Lebens für Leben und Gesundheit eines anderen, eine in ihrer wortlosen Selbstverständlichkeit bewundernswerte, bedingungslose Sorge für Verwundete. Der Krieg ist nach meiner Erfahrung in moralischer Hinsicht ambivalent; er macht die Guten besser und die Bösen schlimmer. Auch wer ihn als Verbrechen und als nächste Gelegenheit zum Verbrechen ansieht, kann nicht leugnen, daß er den einzelnen zuweilen über sich selbst hinauswachsen läßt. Das Arbeitsdienst-lager dagegen, diese Lieblingsidee der Studentenfunktionäre, hat die Menschen nur unter ihr eigenes Niveau hinunterwachsen lassen.

2. Landdienst. Das zweite, gleichfalls von der Lager-Ideologie beherrschte, gleichfalls auch praktischen Zielen folgende Erziehungsmittel für Studenten war der Landdienst. Die vorlesungsfreien Zeiten der Universität waren den Machthabern des Dritten Reiches stets ein Dorn im Auge. Sie konnten nie begreifen, wozu sie gebraucht wurden. Dozenten wie Studenten wurden daher, wo immer „Kapazität frei" war, in irgendein Lager zu politischer Schulung, zu Sporttraining, Wehrsport oder „Fachschaftsarbeit" gesteckt. In den großen Ferien, manchmal auch schon vor Schluß des Sommersemesters, gab es Verschickung in Trupps aufs Land, unter Führung von Studentenfunktionären.

Auch der Landdienst hatte bereits seine Geschichte, als er zum Bestandteil des nationalsozialistischen Umerziehungsprogramms gemacht wurde. Während des Ersten Weltkriegs waren Gymnasiasten und Studenten während der Erntezeit aufs Land gefahren, um den Bäuerinnen zu helfen, deren Männer und Söhne im Feld standen, und um gleichzeitig die Ernährung zu Hause ein wenig aufzubessern. Nach den Abstimmungskämpfen im Osten zogen Bündische Jugend und Studentengruppen verschiedener Richtung während der Sommerferien nach Ostpreußen, nach Oberschlesien, ins Erzgebirge, um „Grenzdienst" zu leisten, um „den ... in der Erntezeit einsetzenden Zustrom polnischer Arbeiter zu dämmen und den deutschen Osten vor weiterer Verpolnisierung zu schützen"

Studentenschaft und NSDStB benutzten diese Anfänge, um den Landdienst in ihr politisches Schulungsprogramm einzubauen und ins Große zu strecken. Im Sommer 1937 wurden 9000 Studenten zum Landdienst geschickt. Es gab ein Vorbereitungslager, 50 Prozent Fahrpreisermäßigung auf der Eisenbahn, freie Unterkunft beim Bauern, ein Taschengeld von 30 Pfennig täglich, Unfall-und Krankenversicherung sowie, als wichtigstes, eine Bescheinigung mit Stempel und Unterschrift. Sie erhielt laut Vorschrift nur, wer neben der Hilfe bei der Ernte auch „Dorfarbeit" nachweisen konnte: sie sollte theoretisch von politischen Kundgebungen im Wirtshaus bis zu Volkstanzabenden und ähnlicher „Feierabend-Gestaltung" reichen. Aber die Verhältnisse waren mächtiger als die Funktionäre, die diese Richtlinien erdacht hatten. Da in jenen Jahren die deutsche Uhr im Sommer um zwei Stunden der mitteleuropäischen Zeit vorauslief, war es um 10 Uhr noch hell und alle Bauern auf dem Feld, nicht in der Kundgebung und nicht beim Volkstanz.

Ich habe im Sommer 1940 eine Landdienst-Aktion im gerade eroberten Elsaß mitgemacht, der ich überwiegend freundliche Erinnerungen verdanke: landschaftliche, kulturelle, folkloristische. Die Bauern waren zunächst sehr mißtrauisch gegen die deutschen Studenten, die da gekommen waren und ihnen angeblich helfen wollten; sie benutzten uns dann aber bald als Informationsquelle über die Zustände in dem Reich, in das sie gerade einverleibt worden waren. Ihre Söhne standen noch in der französischen Armee. Das einzige, was das Einvernehmen zwischen Bauern und Studenten störte, waren die Kontrolleure aus Heidelberg, die mitgekommen waren, nicht um aufzupassen, ob wir auch für unser Essen arbeiteten, sondern um unsere Gesinnung zu überwachen. Ich habe später Ernte-Einsatz auch bei der Wehrmacht erlebt. Aber der studentische Einsatz war besser organisiert und leistete mehr. Die Wehrmacht ließ sich für den entliehenen Soldaten vom Bauern bezahlen, ein typisches Geschäft aus preußischer Zahlmeister-Mentalität; es nahm beiden Seiten die rechte Lust und vergiftete die Situation. 3. Kameradschaftshaus. Das dritte Erziehungsund Umerziehungsmittel, das der Nationalsozialismus für Studenten bereit hielt, waren die „Kameradschaftshäuser". Audi sie waren gedacht zur Revolutionierung der Universität und als Fortsetzung der Lager-Schulung. Hans Joachim Düning erklärte unumwunden: „Als zu Beginn des Wintersemesters 1933/34 die Abiturienten des Freiwilligen Werkhalbjahres auf die Hochschulen zogen, da wäre es unverantwortlich gewesen, hätte man den im Arbeitsdienst gewonnenen politischen Mannschaftsgeist erneut im überlieferten Hochschulbetrieb zersplittern und zerfallen lassen. Als einzelne waren die Arbeitsdienststudenten dem liberalistischen System der Hochschulen von vornherein unterlegen. Sollte die Univer-B sität von diesem Einsatz her irgendwie in . Gefahr'gebracht werden, dann mußten die Männer als Mannschaft, als geschlossene Gruppe eingesetzt werden. So entstand der Gedanke des Kameradschaftshauses."

Zunächst wurde befohlen, daß alle Studenten der drei ersten Semester in Kameradschaftshäusern wohnen sollten. Damit sollten drei Zwecke zugleich erreicht werden: Die Verbindungshäuser sollten unter Partei-Regie gestellt, alle jüngeren Studenten in Kollektiv-Erziehung gebracht und der ärgste Feind des NSDStB, der „Freistudent", sollte völlig ausgerottet werden. Das Unternehmen konnte jedoch nicht gelingen. Es fehlte an allem: an Häusern, an Führern, an gutem Willen. Die Verbindungen fügten sich zwar äußerlich dem Zwang, ihre Häuser in „Wohnkameradschaften" zu verwandeln, suchten aber unter der neuen Firma ihren alten Betrieb möglichst aufrechtzuerhalten. Die Alten Herren, zum Teil in hohen Positionen von Staat und Wirtschaft, taten das ihre, um die Entfremdung ihrer Traditionshäuser zu verhindern. Unter Vorsitz von Staatssekretär Lammers machte das Korporationsstudententum 1935 einen letzten Versuch, einen Rest organisierten Eigenlebens vor der Partei zu retten. So kam es an der Universität Jena zum offenen Konflikt. Hitler griff ein, verwarf die Korporationen radikal und verfügte ihre Ächtung. Lediglich die Deutsche Burschenschaft wurde in Gnaden ausgenommen und in den NSDStB überführt.

Die Kameradschaftshäuser standen fortan formell unter der ausschließlichen Leitung der Studentenbund-Funktionäre. Aber irgendwie gelang es einigen Alt-Herren-Verbänden trotzdem, ihren Einfluß geltend zu machen. Das Mittel finanzieller Beihilfe war auch im Dritten Reich nicht ganz wirkungslos. Außerdem fanden sich, wie durch Zufall, die Söhne der Alten Herren einer Verbindung in deren Haus ein und wirkten dort als Studentenbund-Funktionäre, wo ihre Väter als Chargierte tätig gewesen waren.

Ich habe nie in einem Kameradschaftshaus gewohnt und weiß von seinem Innenleben vornehmlich aus sporadischen Berichten Dritter. In Erlangen z. B. ging es in einigen Häusern recht zivil zu, so daß man dort tatsächlich studieren konnte. Es gab am gleichen Ort aber auch Häuser, in denen sich der alte, stumpfsinnige Bier-Betrieb mit dem neuen SA-Proletentum verband, so daß die Semester, die dort verbracht wurden, für das Studium wie für das Menschsein verloren waren. Schließlich gab es auch Häuser, in denen eifrige oder ängstliche Funktionäre mit dem vorgeschriebenen Dienstplan in deutscher Gründlichkeit ernst machten: vom Wecken um 6. 30 über Bettenbau und Stubendienst, Flaggenhissung und Schulungsstunde bis zum Zapfenstreich, so daß die Vision des SA-Studenten Andreas Feickert vom Kameradschaftshaus schreckliche Wirklichkeit wurde: „Das Kameradschaftshaus ist ein Kampfinstrument. . . Es ist die Übertragung der Form des Arbeitslagers auf die Hochschule, ist aus dem Arbeitsdienst geboren. . . Im Kameradschaftshaus lebt der junge Student .. . in klarer, einfacher Zucht. Er schläft gemeinsam mit den Kameraden, steht gemeinsam mit ihnen auf, treibt Frühsport, ißt gemeinsam Mittag-und Abendbrot. Sein Arbeitsdienst ist der Dienst in der Wissenschaft. . . Dazu ist einige Male während der Woche politische Erziehung im Haus angesetzt, Kameradschaftsabende werden veranstaltet, SA-Dienst wird geleistet. . . Ausländsdeutsche Arbeit, Lagerarbeit, Schulungsaufgaben in PO und NSBO, Veranstaltung von Freizeiten in Gemeinschaft mit der Arbeiterschaft sind konkrete Dinge, die von so einer Kameradschaft gestaltet werden müssen."

Schließlich wurde der Pflichtsport — drei Wochenstunden — an der Universität großgeschrieben. Es fing ganz manierlich an — ich habe noch das Bild des Englischen Gartens in München in Erinnerung, den die Waldläufer in Gruppen zu fünfzehn kreuz und quer durcheilten, wo auf den Rasenflächen Atemgymnastik mit Andacht zelebriert und zur Erheiterung der Münchner Spaziergänger die merkwürdigsten Lockerungsübungen gemacht wurden. Aber dann übernahm das „SA-Hochschulamt" die Regie und brachte auch den Sport-betrieb „auf Vordermann". Das Konzept der vormilitärischen Ausbildung durch die SA wurde nach 1935 ersetzt durch Ausbildungsversuche der Wehrmacht, die sich erfreulicherweise mehr an den Kopf als an die Beine wandten, die aber mit viel Leerlauf verbunden waren — wie überhaupt (und offenbar bei allen Armeen der Welt) die souveräne Verachtung des Faktors Zeit ein hauptsächliches Charakteristikum der Ausbildung zu sein scheint. Schließlich wurde das Fechten eine höchst wichtige Sache. Denn Hitler, dieser unermüdliche Posaunist der großen Volksgemeinschaft aller Deutschen, verordnete 1936 beim zehnjährigen Gründungsfest des NSDStB den deutschen Studenten eine komplizierte „Ehrenordnung mit „unbedingter Genugtuung" und einer ausführlichen „Waffen-und Zweikampfordnung", wonach „Beleidigungen nur mit Blut gesühnt werden" konnten. Das gesetzliche Zweikampfverbot wurde in aller Form aufgehoben. Um dies alles praktizieren zu können, brauchte man nun leichte Säbel und die Kunst des Umgangs mit ihnen. Ich selbst habe nie erlebt, daß sich damals wirklich jemand beleidigt fühlte und es ein Duell gab. Aber es kam, wie es kommen mußte: in einigen Kameradschaftshäusern wurde man rückfällig — nun mit Gutheißung des „Führers" —, der alte Mensurbetrieb wurde wieder ausgenommen und bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein fortgetührt. Ich bekenne, daß ich dergleichen nie verstanden, geschweige denn für akademisch angesehen habe, weshalb mir das Ganze unter braunem Vorzeichen nur unbeschreiblich komisch vorkam.

Die Lage der Studentinnen

Ein eigenes Kapitel muß der „Studentin im Dritten Reich" gewidmet werden. Der Nationalsozialismus stand — das läßt sich ohne unzulässige Vereinfachung so schlicht sagen — dem intellektuellen Manne mißtrauisch, der studierenden Frau negativ gegenüber. Wenn auch nicht alle Parteiführer so töricht dachten und nur ein einziger es öffentlich aussprach, so herrschte doch im allgemeinen die Einstel-lung vor, die Gauleiter Gießler auf einer Kundgebung im Kongreßsaal des Deutschen Museums zu München kurz nach Stalingrad formulierte, als er den Studentinnen riet, sie sollten sich nicht an den Universitäten herum-* drücken, sondern lieber „dem Führer ein Kind schenken" Sehr viel vornehmer polemisierte gegen das Frauenstudium Prof. Alfred Baeumler, der Inhaber eines Lehrstuhls für „politische Pädagogik" an der Berliner Universität, in seinem damals vielzitierten, für die Hochschulpolitik des Nationalsozialismus folgenreichen Buche „Männerbund und Wissenschaft" (Berlin 1934).

Die negative Einstellung des Regimes gegenüber der studierenden Frau spiegelt sich in verschiedenen Maßnahmen, die das Frauen-studium einschränkten. Am 25. April 1933 wurde durch ein „Reichsgesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen" ein numerus clausus eingeführt, der, aufgeschlüsselt auf alle Hochschulen des Reiches, ausdrücklich festlegte, daß in keinem Land die Zahl der weiblichen Studierenden, die neu zugelassen wurden, mehr als zehn Prozent der Zahl der männlichen Studierenden betragen durfte. Das gleiche Gesetz begrenzte die Zahl der „nichtarischen" Studierenden auf 1, 5 Prozent der Gesamtzahl. Ferner verfügte Reichserziehungsminister Rust eine Zweiteilung von Abitur und Hochschulreife. Dadurch sollte schon der Zustrom zur Hochschule eingeschränkt, vor allem aber eine Kontrollinstanz der Partei in das Zulassungsverfahren eingeführt werden. Bei der Zuerkennung der Hochschulreife wirkten nämlich die Gauleitungen der NSDAP mit, die „etwa bestehende Bedenken gegen die politische Zuverlässigkeit des Antragstellers" vorzubringen hatte. Auch jedes Mädchen, das studieren wollte, mußte ein halbes Jahr Arbeitsdienstlager hinter sich bringen.

Im NSDStB waren die Studentinnen in einem eigenen Verband „erfaßt", der „Arbeitsgemeinschaft der nationalsozialistischen Studentinnen" (ANSt). über deren Aufgaben äußerte sich Reichsstudentenführer Scheel in einer offiziellen Schrift wie folgt: „Die ANSt ist in erster Linie eine Erziehungsgemeinschaft. . . Das Ziel der Studentinnenarbeit ist, die Studentin so in die Arbeit der Hochschule einzugliedern, wie es ihrer Art als Frau entspricht. Sie umfaßt die Durchführung des Sportes, den Einsatz in der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) und im WHW (Winterhilfswerk), in Land-und Fabrikdienst." In der gleichen Schrift werden dann wenig später die wichtigeren Ziele der Ausbildung in der ANSt genannt: „Luftschutz, Erste Hilfe und Nachrichtenwesen", also die Vorbereitung auf den militärischen Einsatz der Frauen.

Wie wichtig war das Studieren?

In den Senatsakten der Münchener Universität wird ein für die damalige Situation bezeichnender Vorgang dokumentiert. Offenbar veranlaßt durch die Beschwerden von Professoren, veranstaltete das Bayerische Kultusministerium im Sommersemester 1934 eine Umfrage bei den Fakultäten, wie sich die Inanspruchnahme der Studenten durch allerlei studienfremde Dienste auf den Betrieb der Universität auswirkte. Der Münchner Rektor leitete die Frage an die Fakultäten weiter. Deren Antworten, die das Ministerium mehrere Male anmahnen mußte, ergeben ein aufschlußreiches Bild. Am deutlichsten äußerte sich der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät (damals „Philosophie II"), Prof, von Wettstein. Er berichtete von „durchweg gro-* ßer Ermüdung" der Studenten, die namentlich in den Vorlesungen des späten Vormittags zu bemerken sei, und bezeichnete es ziemlich unverhohlen als groben Unfug, daß man die Studenten während des Semesters in ein Wehrsportlager der SA bei Memmingen abkommandiert habe. Dadurch sei eine schwere Schädigung des Studienbetriebs entstanden, denn wer vierzehn Tage fehle, könne auch dem Rest der Vorlesung nicht mit Gewinn folgen. Prof, von Wettstein machte in erster Linie das „Durcheinander dreier Tätigkeiten" und Instanzen (SA, NSDStB und Sport) für die Mißstände verantwortlich und erklärte schließlich, wenn diese Mißstände nicht aufhörten, müsse der Staat mit einem „durchweg mangelhaft ausgebildeten Akademiker-Material" rechnen. Die Mediziner dagegen hatten keine Ermüdungserscheinungen konstatiert. Eine andere Fakultät fügte ihrem Bericht den Text eines Liedes bei, das in jenem ominösen Memminger Studentenlager gesungen worden sei, mit dem Bemerken, man müsse sich doch „fragen, ob die zu derartigen Übungen verwandten, dem Hochschulbetrieb vorenthaltenen Stunden nutzbringend im Sinne der völkischen und charakterlichen Erziehung angebracht" seien.

Was der Rektor aus alledem in seinen Bericht übernahm, ist den Senatsakten nicht zu entnehmen. Wohl aber die Antwort des Ministeriums vom 10. Juli 1937, die ein niederschmetterndes Eingeständnis der Ohnmacht all derer darstellt, die an der Universität um den Geist bemüht bleiben: Wer durch Lager oder andere Dienste, so heißt es da, von den Lehrveranstaltungen etwas versäumt habe, dürfe bei Prüfungen deshalb nicht schlechter abschneiden. . . Auch sonst ließe sich, und zwar an zahllosen Beispielen, zeigen, wie auf Befehl von oben wissenschaftliche Mindestleistung durch Gesinnungstüchtigkeit und Parteiaktivität kompensiert werden sollte. In einem Erlaß des „ Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung" vom 27. Februar 1934 wurde angeordnet, die Begabtenförderung sei „als Mittel umzugestalten, hervorragenden nationalsozialistischen Kämpfern, denen die aktive Mitarbeit im Kampf für das Dritte Reich die Möglichkeit eines ordentlichen Bildungsweges verschlossen hat, bei denen aber nachweislich die besten biologischen, wissenschaftlichen und charakterlichen Voraussetzungen gegeben sind, den Weg zur Hochschule zu eröffnen". Die Erfahrungen mit diesem System scheinen nicht sonderlich gut gewesen zu sein. Durch Runderlaß des Reichserziehungsministers vom 8. August 1938 wurden alle derartigen Um-und Nebenwege zum Studium abgeschafft und nur die frühere Begabten-und Sonderreifeprüfung beibehalten

Große Hoffnungen setzten die Partei-und Staatsstellen auf das „Langemarck-Studium". Es sollte die Ausbildung an den „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten" in den Bereich der Hochschulen hinein verlängern. Etwa 3000 Studenten, in 70 Lagern zusammengefaßt, sollten dort Gelegenheit erhalten, „Besitz von den höchsten Bildungsstätten der Nation zu ergreifen", aber nicht auf dem Wege normalen Studiums, sondern mittels einer Schnellpresse und unter Beschränkung auf jene Fächer, „die schnell reifen". Hier mischte sich mystischer Nationalismus mit abstruser Sozialdemagogie. Der „Tag von Langemarck", der 10. November 1914, wurde zum studentischen Mythos hoch-gesteigert. Damals hatten mangelhaft ausgebildete Kriegsfreiwillige, die mit dem Schrekken des Krieges gerade erst Bekanntschaft machten, in mehreren Angriffswellen den Friedhof des flandrischen Dorfes Langemarck erstürmt, schlecht geführt, unter sinnlosen Verlusten, aber, wie es hieß, das Deutschland-Lied auf den Lippen. Nach dem Westfeldzug wurden die Gräber der Gefallenen von Langemarck zum Ehrenmal umgestaltet. Hitler erschien am 10. November 1940 selbst-an Ort und Stelle und verlieh der militärisch bedeutungslosen, führungsmäßig nicht zu verantwortenden Episode aus dem Ersten Weltkrieg den falschen Rang eines „Wendepunktes studentischer Geschichte" dem Namen Langemarck mythologischen Talmi-Glanz, der alljährlich in akademischen Feiern erneuert wurde.

Student und Soldat

Nach dieser allgemeinen Schilderung der Bedingungen des studentischen Lebens unter der Herrschaft des Nationalsozialismus möchte ich einige spezielle Punkte herausgreifen, die das Dargestellte ergänzen und abrunden, vielleicht auch vertiefen können.

Einen Teil meines Studiums habe ich nach dem Physikum in der Uniform der Wehrmacht, als Angehöriger einer Studentenkompanie, absolviert. Die Armee war daran interessiert, daß wir ein möglichst effektives Studium betreiben konnten, und beschränkte daher den militärischen Dienst auf ein erträgliches Maß. Noch mehr hielt sie aber parteipolitische Inanspruchnahme von uns fern und ermöglichte manchem, der nicht systemkonform war und sein wollte, auf diese Weise ein Durchkommen. Die militärische Uniform deckte manchen politischen Webfehler zu und schützte bis zu einem gewissen Grad vor Nachstellungen der Partei. Unter meinen Jugendfreunden gab es mehr als einen, der sich aus diesem Grunde der Wehrmacht anvertraut hat, nicht aus Begeisterung für den Soldatenberuf.

Ich selbst habe zweimal am eigenen Leib erlebt, daß ein militärischer Vorgesetzter die Durchführung eines Verfahrens wegen „Vergehen gegen die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat", das berüchtigte „Heimtückegesetz", verhinderte, in einem Falle, weil er selbst ein Gegner des Regimes war, im andern Falle, weil es gegen seine Pflichtauffassung verstieß, daß einer seiner Soldaten buchstäblich aus dem Schützengraben, vierzig Kilometer vor Moskau, geholt und ohne Rechtsbeistand von der Geheimpolizei verhört werden sollte. Das Verfahren lief, weil ich eine Gruppe der katholischen Jugendbewegung „Neudeutschland" über das Verbot hinaus weitergeführt hatte. Es wäre damals wohl sehr übel für mich ausgegangen, denn es gab Beweismittel, die bei einer Haussuchung bei meinem zweiten Nachfolger gefunden worden waren. Einige meiner „Mittäter" wurden zu längeren Haftstrafen verurteilt, einer von ihnen ist umgekommen. Ich blieb verschont, weil zwei Offiziere, die ich vorher nicht gekannt hatte, mich in eigener Verantwortung deckten. Ähnlichen Schutz habe ich im Raum der Universität nicht erlebt, freilich auch nicht erwartet, da die Hochschule dem Zugriff der Partei unmittelbarer ausgesetzt war als die Armee, zumal deren Fronttruppen. Insofern war ich in der zweiten Hälfte meines Studiums, als Student in Militäruniform, in einer eher günstigen Ausnahmesituation, die sich mit der Lage anderer Studenten nicht ohne weiteres gleichsetzen läßt.

Die „Unterscheidung der Geister"

Eine Frage, die gerade dem Kommunikationswissenschaftler manche Rätsel aufgibt, steckt in der Beobachtung, daß man als Student im Dritten Reich ein untrügliches, absolut sicher funktionierendes Gespür zur „Unterscheidung der Geister" zur Verfügung hatte. Auch wenn man neu an eine Universität oder zu einem Truppenteil kam, wußte man in kurzer Zeit, wer „ein Nazi" war und wer nicht, vor wem man sich in acht nehmen mußte, mit wem man offen sprechen konnte, wer undurchsichtig blieb. Es gab geheime, nie ausgesprochene, aber allen — übrigens auch den intelligenteren Nazis — wohlvertraute Erkennungsmerkmale, und ein glaubenstreuer Gefolgsmann Hitlers nahm einem Professor nichts mehr übel, als wenn dieser zwar allen als Gegner des Regimes erschien, aber keinen einzigen denunziablen Anhaltspunkt bot.

Die Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen und in den Atempausen zu hören, unausgesprochene Anführungszeichen und subtilere Ironie wahrzunehmen, war in jener Zeit höher entwickelt als heute. Ich beobachte an mir selbst, daß ich diese Fähigkeiten inzwischen weit-gehend verloren habe. Wenn ich damals einen bestimmten Text las, etwa in der Sonntags-beilage der „Frankfurter Zeitung", die als eine Art Naturschutzpark freier Pressearbeit vielen besonders teuer erschien, so wußte ich ganz genau, wes Geistes Kind der Verfasser war, in welche Kategorie man ihn einzustufen hatte, in welchem Verhältnis zum Regime er stand. Heute muß ich mir, wenn ich den gleichen Text wieder lese, große Mühe geben, um eine ähnlich sichere Feststellung zu treffen, und oft ist diese Mühe sogar vergeblich. Um ganz zu verstehen, was ein Autor in einer bestimmten Weltsekunde sagen will, muß offenbar auch der Leser in dieser Weltsekunde stehen. Es ist für die Erhellung der inneren Geschichte dieser bösen zwölf Jahre ein wahrscheinlich unwiederbringlicher Verlust, daß die „Zwischenden-Zeilen-Literatur" nur so unvollständig erforscht wurde; denn mit unserer Generation vergeht die Chance, zu reproduzieren, was damals wirklich gelesen, gehört und verstanden wurde, und übrig bleibt nur das Schwarze der Buchstaben auf dem langsam ergrauenden Weiß holzhaltigen Papiers.

Kontroll-Defekte

Das nationalsozialistische Herrschaftssystem wies aber zuweilen sogar gerade an den Stellen, an denen man es am wenigsten vermutete, Kontroll-Defekte auf, die es ermöglichten, ganz offen zu sprechen. Paradoxerweise gab es solche Lücken gerade dort, wo hohe Funktionäre im Spiel waren. In einem solchen Vakuum der Orthodoxie habe ich einige der aufregendsten Stunden meines Lebens verbracht, im sogenannten „Germanischen Großseminar der Philosophischen Fakultät" in Straßburg. Zweimal im Monat kamen die Professoren, Dozenten und Assistenten zu Vortrag und Diskussion zusammen, etwa gleichviel Studenten durften daran teilnehmen. Nie werde ich vergessen, wie der Historiker Hermann Heimpel, gerade aus Rußland zurückgekehrt, seinen Schüler Hermann Mau nach einem großartigen Referat über Odilo von Cluny gegen Angriffe eines Ordinarius verteidigte, der dem germanischen Artglauben Alfred Rosenbergs eine akademische Legitimation zu verschaffen suchte. Der Streit geriet schon im zweiten Schlag-Abtausch ins Politische, im dritten ins Weltanschauliche. Hermann Heimpel, weiß vor Wut über Inhalt und Niveau der gegnerischen Vorwürfe, offenbarte rückhaltlos seine Meinung. Sein Ausbruch schloß mit der Empfehlung, der Herr Religionswissenschaftler möge endlich selber an die Front gehen und nachprüfen, an welchen Gott die Soldaten dieses Volkes glaubten. Es gab kurzen, heftigen Beifall, dann erschrecktes Schweigen, niemand widersprach. Alle gingen nach Hause in der Erwartung, daß noch in der gleichen Nacht die Gestapo erscheinen und jeden Teilnehmer zum Verhör holen werde. Aber es geschah nichts dergleichen. Das halbe Hundert akademischer Bürger, darunter einige, die gründlich miteinander zerstritten waren und sich von Herzen haßten, darunter auch ein höherer SD-Führer, wahrte das Schweigen. Von diesem Abend an wurde im „Germanischen Großseminar" im Klartext gesprochen. Einige kamen zwar nicht mehr, aber die übrigen waren darüber nicht böse. Hätte ein einziger das Schweigen gebrochen, wären nicht nur Heimpel und Mau in die Mühlen eines Verfahrens geraten, die ganze Fakultät wäre wahrscheinlich in die Luft geflogen.

Student und Widerstand

Natürlich war dies nicht Widerstand, sondern nur ein vereinzelter Versuch, Universität unter dem Gesetz der Wahrheit aufrechtzuerhalten, ein vereinzelter, fast verzweifelter Ausbruch aus einem Gefängnis, das seine besondere Prägung dadurch erfuhr, daß die Grenze zwischen Gefangenen und Wärtern sich nicht genau ziehen ließ. Aktiver Widerstand, wie ihn die Blutzeugen der „Weißen Rose" geleistet haben, ist mir, auch im Stadium der gedanklichen Vorbereitung, nie begegnet. Wie Kurt Huber unter den Professoren, waren Willi Graf, Sophie und Hans Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst unter den Studenten Ausnahmen. Die große Mehrheit war mit dem Nationalsozialismus weltanschaulich damals einverstanden, geblendet von den politischen und militärischen Erfolgen der ersten Jahre, fasziniert von der Aussicht, später einmal Rang und Stellung in einem glänzenden, reichen, mächtigen Deutschland erringen zu können. Bis zu dem schrecklichen Erwachen, das für weite Kreise mit der Niederlage von Stalingrad begann, waren es nur wenige, die dem Dritten Reich ablehnend gegenüberstanden. Auch diese hatten ganz verschiedene Motive: da gab es grundsätzliche, religiös, moralisch, politisch bestimmte Gegnerschaft; die Ahnung, daß dies alles einmal schlimm enden würde; bürgerliche, aristokratische, intellektuelle Abscheu gegenüber dem proletenhaften Stil des Regimes; ästhetischer Widerwille gegen das blecherne Pathos seiner Selbstdarstellung. Aber sie alle, die dagegen waren, dachten nicht an die Möglichkeit einer korporativen Auflehnung der Universitäten oder auch nur einer Universität, einer Fakultät gegen das Hitler-Regime. Nach meiner Erinnerung hätten die Professoren bei einem solchen Schritt, falls er überhaupt bekannt geworden wäre, nicht damit rechnen können, daß die Studenten ihn mit einer solidarischen Aktion beantwortet hätten. Ich sage: Wenn er bekannt geworden wäre — die Vertuschungsapparatur funktionierte nämlich vorzüglich. Ich studierte in München, als im Wintersemester 1938/39 die Theologische Fakultät durch das Regime aufgelöst wurde, und obwohl ich mich auf verschiedenen Wegen zu informieren suchte, konnte ich doch damals nirgends herausbekommen, weshalb es zu diesem Gewaltakt gekommen war. Der Vorgang spielte sich völlig geräuschlos ab — so geräuschlos, daß einige Professoren noch Tage nach der Schließung ihrer Fakultät weiterlasen, als ob nichts geschehen wäre, und dies nicht etwa aus Protest, sondern einfach deshalb, weil sie nichts von alledem erfahren hatten.

Was die Studenten, die das Regime ablehnten, damals von ihren Professoren erwarteten, war nicht eine heroische Geste des Widerstands; eine solche hätte das System auch weder gefährden noch auch nur mäßigen, sondern allenfalls zu Racheakten gegen die ohnehin verhaßten Intellektuellen herausfordern können; was sie erwarteten, war die Ermöglichung eines Studiums ohne Verrat an der erkannten Wahrheit, eines Studienabschlusses ohne Diskriminierung — also die Rettung und Verteidigung jener „Inseln freier Geistigkeit" (Hans Maier), die zu bewohnen und zu schützen keineswegs ohne Risiko war. Das nationalsozialistische Regime gab sich ja nicht damit zufrieden, daß seine Untertanen gegen die Obrigkeit nichts unternahmen; es verlangte, daß alle mitmachen müßten, und dies sogar freiwillig, begeistert, aus innerem, stets öffentlich zu bekennendem und zu beweisendem Antrieb. Es erwies sich eben dadurch als ein vollendet totalitäres Regime.

Ich kann zwar, wie erwähnt, nur Zeugnis ablegen von der Situation, die ich selbst an der Universität erlebt habe, also nicht von den ersten Jahren um und nach 1933. Aber wenn ich während meines eigenen Studiums vor die Frage gestellt worden wäre, ob ich bereit sei, einem akademischen Lehrer auf dem Weg zur offenen, aktiven Auflehnung zu folgen, so hätte ich sicherlich Nein gesagt, und ich kann dies auch für diejenigen meiner Mitstudenten bezeugen, in deren Herzen ich zu schauen vermochte. Wer einmal selber in die Mühle der Gestapo geraten war oder mindestens den kleinen Finger hineingebracht hatte, wer im Kriege die unheimliche militärische Macht dieses Reiches erlebt hatte, der wußte ganz genau, daß eine Änderung der Dinge nur möglich war durch Gewalt: durch die Übermacht der Alliierten, also die Niederlage des Reiches im Kriege, oder durch einen Staatsstreich der bewaffneten Macht, eine Aktion der Armeeführung. Alles andere war zu offensichtlich zum Scheitern verurteilt, als daß es vernünftiger Überlegung zugänglich gewesen wäre. Das sagt — ich betone es mit Nachdruck — nichts gegen das innere Recht, gegen die moralische Größe derer, die den offenen Widerstand gewählt haben. Aber es kann auch nicht gebraucht werden gegen diejenigen, die diesen Weg als aussichtslos verwarfen, nachdem sie sich darüber Rechenschaft abgelegt hatten.

Wie schmal der Grat dieser Entscheidung war, verdeutlicht ein Satz, den Hans Scholl nach dem Bericht seiner Schwester Inge wenige Wochen vor dem 18. Februar 1943 sprach, also kurz vor der entscheidenden Tat, der öffentlichen Austeilung von Flugblättern im Lichthof der Münchner Universität. Er hörte damals von den vielen Todesurteilen, die gefällt wurden, und meinte zu seinen Freunden: „Dies muß unter allen Umständen vermieden werden. Wir müssen leben, um da zu sein, weil man uns braucht. Gefängnis und KZ — meinetwegen. Das kann man überstehen. Aber nicht das Leben riskieren..

Das Verhalten der Angeklagten im ersten Volksgerichtsprozeß gegen die „Weiße Rose" beweist, daß sie diesen Satz auch nach der Tat und ihrer Entdeckung zur Richtschnur nahmen. „Zunächst, bis alle ihre Verschleierungsversuche unter der Last des Beweismaterials sinnlos geworden waren", wollten sie, wie Inge Scholl berichtet, diesen Weg gehen, um „zu leben und nach dem Ende der Gewaltherrschaft an einem neuen Leben mitzuwirken." Als sie dann sahen, daß dieser Weg versperrt war, nahmen sie alle Last auf sich, um die anderen Beteiligten vor gleichem Schicksal zu retten. Das wichtigste katholische Mitglied des Kreisauer Kreises, Pater Alfred Delp, den ich 1938 als Münchner Studentenseelsorger kennenlernte, dachte ebenso; auch er lehnte aktiven Widerstand ohne die Chance eines anderen Ergebnisses als den eigenen Untergangs und der Verfolgung Gleichgesinnter ab. Wer das Seelendrama des Thomas Morus kennt, dieses durchsichtigste Modell christlicher Gewissensentscheidungen im Angesicht totalitär gewordener Staatswillkür, der bemerkt unschwer hier eine Replik des zentralen Problems aller Widerstandsethik.

Wir, die wir damals studierten, dachten nicht an ein zweckenthobenes Selbstopfer, nicht an die Aufrichtung eines Zeichens, das kommenden Geschlechtern leuchten sollte. Wir dachten an ein überleben, ohne in die Verbrechen der Mächtigen verstrickt zu werden, an ein Uber-stehen schlimmer, aber begrenzter Zeit. Wir wollten ohne Schuld hindurchgelangen durch den dunklen Tunnel voller Fallgruben, weil wir wußten, daß am anderen Ende eine Aufgabe wartete, auf uns wartete, auf die Studenten, die an der Universität im Dritten Reich studierten, ohne an dieses Dritte Reich zu glauben.

Vor den Toten, die ihrem reinen Gewissen gefolgt sind, bleiben die überlebenden stets ohne Rechtfertigung, denn sie haben noch vor sich, was jene bereits vollendet haben. So werden wir, gerade wir, die wir in München akademische Bürger waren und sind, den Rest unserer Zeit damit zu tun haben, uns dem hohen Anspruch des Zeichens zu stellen, in das unsere Universität an jenem 18. Februar 1943 eingetreten ist, als Sophie Scholl das Flugblatt in den Lichthof herabflattern ließ, das zur „Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus 3er Macht des Geistes" aufrief.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zitiert nach: Die Studentische Kameradschaft, Sonderausgabe vom April 1938, S. 14 f., Institut für Zeitgeschichte, München.

  2. ebenda, S. 107

  3. Dieter Sauberzweig, Auch Widerstand gab es an den Universitäten, in: „Die Zeit" 1961, Nr. 14

  4. Herbert Schumann, Vom AStA zum SA-Hoch-schulamt, in: „Colloquium. Zeitschrift der freien Studenten Berlins", 8. Jg., 1954, Heft 5, S. 14

  5. Hans Joachim Düning, Der SA-Student im Kampf um die Hochschule, Bd. 13 der „Pädagogischen Studien und Kritiken" (hrsg. von Peter Petersen), Weimar 1936, S. 47

  6. ebenda, S. 11

  7. ebenda, passim

  8. ebenda, S. 48

  9. Schumann, a. a. O , Heft 5— 8; Dieter Sauber-zweig, Der Führerstaat und seine Studenten, in: „Die Zeit" 1961, Nr. 13

  10. Einzelheiten über den Aufruf zur „Gesamtaktion" vom 19. April 1933 sowie über die bei den Bücherverbrennungen benutzten vorgeschriebenen Parolen bei Dieter Sauberzweig, Die Hochschulen im Dritten Reich, in: „Die Zeit" 1961, Nr. 11

  11. abgedruckt bei Gustav Adolf Scheel, Die Reichsstudentenführung, in: „Schriften der Hochschule für Politik in Berlin", Heft 18, 1938

  12. ebenda, im Anhang

  13. Angaben über den Gründungsaufruf des NSDStB vom 8. Dezember 1925 und die Vorgeschichte mit Faksimile-Wiedergabe des Aufforderungsschreibens von Heß in: Die Studentische Kameradschaft, a. a. O. (mit dem Untertitel: Student im Kampf — Beiträge zur Geschichte des NSDStB)

  14. Der Heidelberger Privatdozent Erich Gumbel hatte sich durch pazifistische Äußerungen den Zorn der nationalsozialistischen und nationalistischen Studenten zugezogen. Es kam 1932 zu Demonstrationen und Tätlichkeiten, bei denen der AStA-Vorsitzende Scheel die führende Rolle spielte. Schließlich wurde Gumbel die Venia legendi entzogen.

  15. Die Studentische Kameradschaft, a. a. O., S. 149

  16. „Gesetze des Deutschen Studententums — Richtlinien für die Kameradschaftserziehung des NSDStB" (hrsg. von der Reichsstudentenführung — Amt für Politische Erziehung), Bayreuth o. J., Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv 2626/60 Db 48. 10 — In dieser Schrift werden als die „drei großen Aufgaben" des NSDStB formuliert: Kampf gegen weltanschauliche Gegner des Nationalsozialismus, Kampf gegen die Gegner des deutschen Volkstums und seiner Existenz an den deutschen Grenzen, insbesondere im Osten und im Ausland, Verwirklichung des Sozialismus in der Volksgemeinschaft.

  17. Scheel, a. a. O., S. 12 f.

  18. Nach Roger Manveil und Heinrich Fraenkel, Doctor Goebbels — His Life and Death, London 1960; deutsch 1960 in Köln; ferner vgl. Helmut Heiber, Das Tagebuch von Joseph Goebbels 1925/26, Bd. I der „Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte", Stuttgart 1960

  19. ebenda, deutsche Ausgabe, S. 135

  20. Scheel, a. a. O.

  21. Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Breslau 1933, S. 15

  22. Düning, a. a. O., S. 75

  23. vgl. Andreas Feickert, Studenten greifen an — Nationalsozialistische Hochschulrevolution, Hamburg 1934, S. 28

  24. Düning, a. a. O., S. 82

  25. ebenda, S. 101 f.

  26. Feickert, a. a. O.

  27. Scheel, a. a. O.

  28. Es kam damals zu Protestkundgebungen im Saal, zu Verhaftungen und nach Schluß der Kundgebung zu Demonstrationen vor dem Eingang, die hauptsächlich von Angehörigen der „Stadentenkoinnanten", also von Medizinstudenten, ausgingen. Mündliche Mitteilungen von Teilnehmern.

  29. Scheel, a. a. O., S. 29

  30. Archiv der Universität München, Senatsakten 365/8 „Betr. Studentenschaft — Vaterländische Ausbildung"

  31. Hierzu und zum folgenden vor allem: Hans Huber, Nachwuchs und Auslese, in: „Der Altherrenbund“, April 1940

  32. Vom Langemarck-Studium, in: „Der Altherren-bund", 1940, S. 58 ff.

  33. Inge Scholl, Die Weiße Rose, Fischer-Bücherei Nr. 88, Frankfurt 1955, S. 96

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Otto B. Roegele, Dr. phil., Dr. med., geboren 1920 in Heidelberg, studierte Geschichte und Medizin an den Universitäten München, Erlangen, Heidelberg und Straßburg. Unter Richard Siebeck und Victor von Weizsäcker war er in der Heidelberger Medizinischen Universitätsklinik tätig. 1948 berief ihn Franz Albert Kramer in die Redaktion des „Rheinischen Merkur" und übertrug ihm 1949 die Chefredaktion des Blattes. Seit 1963 ist er ordentlicher Professor der Zeitungswissenschaft an der Universität München und Herausgeber des „Rheinischen Merkur". Veröffentlichungen u, a.: Erbe und Verantwortung, 1948; Europäische Voraussetzungen, 1948; Kirche und öffentliche Meinung, 1953; Bruchsal, wie es war, 1955; Kirche und Politik, 1956; Was erwarten wir vom Konzil?, 1961; Was geht uns Christen Europa an?, 1964; Presse-Reform und Fernseh-Streit (Hrsg.), 1965.