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Die Nation in der Politischen Bildung | APuZ 46/1966 | bpb.de

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APuZ 46/1966 Die Nation in der Politischen Bildung

Die Nation in der Politischen Bildung

Felix Messerschmid

In der Vorbemerkung zum Abdruck der Aufsätze zum Thema „Nation und Nationalismus" (B 35 und B 36/66) kündigten wir eine Fortsetzung der Diskussion dieses Fragenbereichs an. Mit dem folgenden Beitrag von Felix Messerschmid legen wir weiteres Material zur Urteilsbildung vor. Es handelt sich um das Manuskript eines Vortrages, der auf der Studientagung „Nation auf dem Weg zur einen Welt“ der Akademie für Politische Bildung, Tutzing/Obb., gehalten worden ist.

Die Frage nach der Nation ist nach den einen neu aufgebrochen, nach den anderen wieder hochgespielt worden; die einen sehen darin einen notwendigen Vorgang, der früher oder später habe eintreten müssen; die anderen die Rückkehr eines Gespenstes, das sie ein für allemal gebannt glaubten. Vertretung wie Abwehr beider Meinungen deuten in ihrer Heftigkeit darauf hin, daß es sich um mehr handelt als um beliebige Meinungen, die man offenlassen, über die man zu wichtigeren Dingen übergehen kann. Es muß also versucht werden, das eigentlich Gemeinte beider Positionen herauszuarbeiten, die Fragen richtig zu stellen und auf diese Weise zu Klärungen zu kommen.

Unterbleiben diese Klärungen, so entwickelt sich die politische Bildung Erwachsener und Heranwachsender in verschiedenen, und zwar gegensätzlichen Richtungen und verfestigt sich in vordergründigen, undifferenzierten „Leitbildern". Dadurch geraten auch die — mühsam genug erzielten — Ergebnisse der Theorie und der Praxis der Politischen Bildung wieder in Gefahr. Diese Entwicklung und die Folgen werden schon jetzt sichtbar.

Für die pädagogisch und andragogisch bestimmte Aufgabe dieser Studientagung ist es nicht zweckmäßig, die Vertreter der gegnerischen Positionen, Politiker, Pädagogen, Professoren, Dichter, Verbandsführer — zum wievielten Male? — selbst als Vortragende aufzubieten; sie haben sich deutlich und mehrfach, in Rede und Publizistik, geäußert. Es genügt, die verschiedenen Positionen mit den wichtigsten Argumenten darzustellen und die wesentlichen Fragen herauszuarbeiten. Das soll in wenigen Referaten geschehen. Den Stil der Arbeitstagung sollen aber nicht Referate, sondern die Notwendigkeit bestimmen, im Gespräch die Meinungen zu klären und einige gültige Erkenntnise zu gewinnen und festzulegen.

Es ist schwerlich zu erwarten, daß das Ergebnis der Studientagung volle Übereinstimmung erbringen wird. Was aber nötig und möglich sein wird, ist die Einengung des Bereichs der Nichtübereinstimmung und deren genaue Formulierung; die Ausscheidung von Kontrovers-punkten, die auf unpräzisen, stark emotional bestimmten Stellungnahmen beruhen: die Bezeichnung jener — verschiedenen — Positionen, die auf keinen Fall verantwortet werden können; die Einigung auf einige sachliche und pädagogische Gesichtspunkte, die auf jeden Fall zu beachten sind.

Dafür soll dieses Referat einige Hilfen geben.

I.

Beginnen wir mit einigen fundamentalen anthropologischen und pädagogischen Überlegungen. Es wird sich zeigen, daß diese Überlegungen rasch zu historischen und gegenwartsanalytischen Feststellungen führen, ohne welche die pädagogische Aufgabe verfehlt werden muß.

Für das Verständnis der Problematik unseres Themas wie für die pädagogischen Folgerungen grundlegend ist die einfache Erkenntnis, daß das Einzelwesen Mensch auf das Gemeinwesen in seinen mannigfaltigen Formen hin-bezogen ist; in jedem Betracht, dem biologischen, dem sozialen, dem wirtschaftlichen, dem politischen, dem der intellektuellen und emotionalen Entfaltung, dem theologischen. Das heißt: das Einzelwesen kann heute, in einer Epoche der ständig wachsenden Zahl von Menschen und der ständig sich vergrößernden Abhängigkeit aller von allen und von allem, ein menschenwürdiges Dasein in zumutbaren Forderungen an es selbst nur in einem Gemeinwesen führen, das menschenwürdig geordnet ist, das uns trägt und das wir mittragen. Ich habe mit Absicht den Begriff Gemeinwesen gewählt. Ob das Gemeinwesen den Namen Nation oder gar Nationalstaat tragen muß; wenn ja, wie ein national geordnetes Gemeinwesen heute aussehen muß, um menschenwürdige Existenz zu ermöglichen und zu sichern, davon ist in diesem Zusammenhang noch nicht zu sprechen.

Doch sei schon jetzt darauf hingewiesen, daß die Politische Bildung in der Bundesrepublik, im Gegensatz z. B. sogar zur „DDR", alle Bemühungen, die Verantwortung der Bürger für Gesellschaft und Staat wachzurufen, nicht von der Nation ausgegangen sind. Daß sie sie schlechterdings abgelehnt haben, darf aber, jedenfalls generell, ebensowenig gesagt werden.

Unumgänglich aber ist es in diesem Zusammenhang zu sagen, daß in der politischen Pädagogik aus dem anthropologischen Urphänomen des Hingeordnetseins des Einzelwesens auf das Gemeinwesen nicht durchweg die Folgerungen gezogen worden sind. Es ist von vielen Betrachtern aller philosophischen, politischen und pädagogischen Richtungen darauf hingewiesen worden, daß unsere Politische Bildung noch immer viel tiefer von unserer totalitären Vergangenheit fixiert ist, als uns bewußt ist. Zum Beispiel darin, daß dem kollektivistischen Irrweg der Vergangenheit, mehr untergründig als bewußt, der anthropologische Grundirrtum eines extremen Individualismus entgegengesetzt worden ist und wird; Individualismus aber ist der Gegensatz zur Verantwortung für Gesellschaft und Staat schlechthin. Daß vergessen worden ist, daß Person sich in dem Prozeß bildet, in dem der einzelne sich mit seiner Umwelt auseinander-setzt, sie so umfassend wie möglich zu verstehen sucht, sich mit ihr teils identifiziert, teils sich kritisch von ihr absetzt, um sie nach anderen Entwürfen umzuformen. Person jedenfalls bildet sich in dem Prozeß der Identifikation mit dem Gemeinwesen wie in der Kritik an ihm, einem dialektischen Prozeß, der pädagogisch anzulegen ist und in dem keine der beiden Grundfiguren dieses Verhältnisses ausgeschaltet werden darf. Nationalismus z. B. entsteht, wenn das Element der Kritik auch nur verdächtigt wird. Der des Nationalismus unverdächtige Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Dietrich Ortlieb hat vor kurzem für sein Gebiet formuliert, wir hätten vergessen, „daß in der großorganisierten Welt unserer Wirtschaftsgesellschaft auch die libertine Freiheit des Tun-und-Lassen-Könnens sehr bald wieder verlorengehen muß, wenn wir Menschen nur ihr (dieser Freiheit) zugewandt sind, weil wir dann ohne Verständnis für das, was um uns herum vor sich geht, unter die Herrschaft sozialer Massengesetze, wirtschaftlicher Mechanismen oder sogar eines Tages wieder unter die Gewalt totalitärer Systeme geraten". Mir scheint, diese Dialektik des Umschlags ist zwingend, und nicht nur für den ökonomischen Bereich.

Eine zweite anthropologische wie pädagogische Einsicht gehört zu den Fundamentalien der sozialen und politischen Erziehung. Die Fähigkeit des Sichidentifizierens mit überindividuellen Wirklichkeiten und Ordnungen, die so wichtig für die Bildung zur Person wie für das Gedeihen der überindividuellen Ordnungen selber ist, also der Geist der Verantwortlichkeit für die öffentlichen Dinge, sollte nicht zu früh auf die im strengen Sinn politische Ordnung bezogen werden. Diese Fähigkeit muß erweckt und gebildet werden auf dem un-und vorpolitischen, dem unbestrittenen Grund für die staatlichen Ordnungen, der das politische Handeln trägt, der nach allen Richtungen als „Heimat" in Besitz genommen werden muß, für den später im Werk des Berufes Leistungen übernommen werden und in dem der gesellschaftliche Standort gewonnen wird. Hier ist Identifikation fast selbstverständlich, fast natürlich, sind die spezifischen Gefahren der Ausschließlichkeit geringer, die in der nationalen Identifikation ständig drohen, wenn nicht die Fähigkeit zur Kritik zugleich geweckt und ausgebildet wird. Daß ich einer bestimmten Familie zugehöre, schließt ein, daß ich über sie hinausschaue. Daß ich die Region, die ich als Kind und Junge geographisch und geistig umgreifen und erwandern konnte, einen sprachlichen Dialekt, die Besonderheit des Menschenschlags, Landschaft, Dörfer, Städte und Bauwerke als meine Heimat empfinde, mich in besonderer Weise mit ihr identifiziere, bedeutet nicht die Minderung der Heimaten anderer, schließt sogar ein ironisches Verhältnis zur eigenen ein, nachdem der Horizont sich über die heimatlichen Grenzen hinweg auf das ganze Deutschland, auf ganz Europa und andere Erdteile erweitert hat, von der Erweiterung über historisches und anderes Wissen ganz abgesehen.

Allerdings wird schon heute diese pädagogische Aufgabe durch den Prozeß erschwert, der in Industriegesellschaften das Bewußtsein bei vielen nicht mehr enstehen läßt, einem „heimatlichen" Raum in besonderer Weise zuzu4 gehören, ganz abgesehen von der Wirkung von Umsiedlung und Vertreibung ganzer Populationen oder des Zwanges, unter einem auferlegten Regime zu leben, das sogar den Rekurs auf die Heimat verhindert. Ob dieser Prozeß eine Grenze hat, darauf kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.

In diesem Bereich jedenfalls wird die Identifikation noch immer auch den Namen Liebe tragen können. Zur Vaterlandsliebe jedoch erziehen, das sollte jedenfalls nicht im Katalog der direkten Aufgaben der sozialen und politischen Bildung stehen, also nicht in die Liste der bestimmenden Absichten, nicht in die intentionale Bildung ausgenommen werden, sondern als Ergebnis der gesellschaft-liehen Eingliederung und gelungener politischer Bildung abgewartet, also dem funktionalen Bereich der Erziehung und Bildung überlassen werden, in dem das unmittelbare, methodisch zweckgerichtete Vorgehen leicht Überdruß und Widerstand bewirkt.

Der erhobene erzieherische Zeigefinger ist hier vom Übel. Zur Vaterlandsliebe erzieht man nicht, indem man erklärt, es sei die sittliche Pflicht des Staatsbürgers, von Vaterlandsliebe erfüllt zu sein. Die ihrer selbst sichere, nicht von Ideologie gesteuerte Liebe entsteht wie das Vertrauen; man kann sie vielleicht wecken, aber nicht fordern. Die Vaterlandsliebe, der Patriotismus — vor dem nationalen Sündenfall der Deutschen, der nicht erst im 20. Jahrhundert geschehen ist, eine liebenswürdige, fast selbstverständliche Antwort auf die Erfahrung dessen, was dem Vaterland an Geborgenheit, Schutz, Friede, Entfaltung, Daseinsermöglichung, Kultur verdankt wird — wird dadurch pervertiert, daß sie zum Ziel Politischer Bildung gemacht wird. Wenn Vaterlandsliebe politisiert wird, entsteht fast mit Notwendigkeit Nationalismus.

Die beiden anthropologisch-pädagogischen Einsichten, von denen bisher gesprochen worden ist, gelten immer und überall. Die Frage nach der Identifikation mit der Nation muß zurückgestellt werden. Sie kann erst behandelt werden, wenn wir Klarheit darüber haben, was Nation heute nicht mehr ist und was sie in Zukunft — vielleicht — sein kann. 2.

Wenden wir uns zu diesem Zweck zunächst der Frage nach den Motivationen zu, welche die Politische Bildung heute ins Spiel bringen kann — und muß. Die ganze Diskussion wenigstens der letzten anderthalb Jahre um die Politische Bildung läßt sich in ihr zusammenfassen. Ihre Vernachlässigung wird der Politischen Bildung von sehr verschiedenen Ausgangspunkten vorgeworfen. Soziologisch angelegte Untersuchungen haben festgestellt, daß die sich rein rational verstehende Politische Bildung zwar ein ständig steigendes politisches Wissen erbringe, aber sozusagen nicht unter die Haut gehe, also z. B. kein politisches Engagement, keine Übernahme bewußter gesellschaftlicher und politischer Verantwortung bewirke. Daraus wurde flugs geschlossen, die nationale Motivation habe die Lücke zu schließen. Sehen wir genauer zu.

Fraglos ist, daß die dynastische wie die bürgerlich-nationale Politische Bildung, wenn wir diesen Begriff in der Rückprojektion auf frühere Zeiten anwenden dürfen, eben mit nationalen Motivierungen ganz außerordentlich erfolgreich gewesen ist. Volk, Vaterland, Nation waren Begriffe und ergaben Antriebe, die jenseits aller anstrengenden Rationalität ziemlich zuverlässig und für alle Schichten funktionierten. Das war eine wirkliche Leistung. Es ist nicht erlaubt, ungeschichtlich Kleist für seinen politischen Katechismus zu schelten. Sein geschichtlicher Hintergrund war die Situation, aus der die Befreiungskriege möglich geworden sind. Es wäre eher Goethe zu schelten für seine unpolitische Bewunderung Napoleons. Schwieriger wird der Fall Kleist schon, wenn man sich klarmacht, daß dieses nationalkatechetische Pathos die außen-politische Befreiung der innenpolitischen Freiheit in einer solchen Weise übergeordnet hat, daß die Freiheitskriege zu bloßen Befreiungskriegen geworden sind. In solcher Haltung wurde manifest, wie Begriff und Einheitsbedürfnis der Nation ideologisch mißbraucht werden können, z. B. um im Dienst partieller Interessen notwendige Entwicklungen und Reformen zu hintertreiben. Die Nation wurde im französisch-revolutionären Gefolge eine mythische Größe. Im Rücklicht der Niederlage und später des Selbstverrats der liberalen Bewegung erscheinen die vom Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Gneisenau, Wilhelm v. Humboldt fast als tragische Gestalten der deutschen Geschichte.

Die Nation eine mythische, d. h. also der Kritik entzogene Größe... Einige rational fast unbegreifliche Phänomene mögen das zeigen. Im Zeitalter des sich herausbildenden und schließlich bismarckisch gebildeten deutschen Nationalstaats gab es unter anderen zwei große Gruppen der deutschen Gesellschaft, die eindeutig in die nationale Integration nicht voll einbezogen wurden, die unterprivilegiert blieben: die Proletarier und die Katholiken. Trotzdem fanden sie sich mit dem kriegerischen Hinausdrängen des unter nationalstaatlichen Gesichtspunkten nicht integrierbaren habsburgischen Österreichs, das Teil des Alten Reichs war, ab, stimmten — lassen wir einzelne kritische Geister außer Betracht — 1871 der nationalstaatlichen Lösung unter dem historisch unvertretbaren Titel „Reich“ zu, bewilligten 1914 die Kriegskredite mit, und das katholische Zentrum stimmte 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu — im Gegensatz diesmal zur SPD. Das alles unter dem Gesichtspunkt nationaler Notwendigkeit. Ich bin historisch genügend informiert, um die Bedingungen, unter denen dies alles geschehen ist, durchaus zu verstehen, und wer aus dem Rathaus kommt, ist immer — nachher — auf billige Weise gescheiter. Hier geht es nur darum zu sehen, daß nationale Begründungen, manchmal auf eine böse Weise, selbst die eigene Tradition außer Kraft setzen und die vielleicht bessere Einsicht zum Schweigen bringen können.

Für die ideologische Überhöhung des Begriffs Volk, des Substrats des Nationbegriffs, gilt dasselbe. Herderische und romantische Definitionen des Volksbegriffs übersehen — oder idealisieren sogar — das archaisch Explosive, das in jedem Volk und zu jederzeit unter einer dünnen Decke wirksam ist und in verantwortlicher Politik unter Kontrolle gehalten werden muß, wie es in einem langen Rationalisierungsprozeß mit Hilfe der gesellschaftlichen Organisationsformen der Parteien und des demokratischen Repräsentationsbegriffs geschehen ist. Wer „das Volk" gegen Parteienwesen und parlamentarischen Parteien-staat ausspielt, operiert mit einem undifferenzierten Begriff Volk und einem ungreifbaren Begriff Volkswille, macht sich blind gegenüber allem, was die Geschichte, gar die jüngste, über solchen Mißbrauch reichlich zu berichten hat, nimmt den notwendigen Rationalisierungsprozeß nicht zur Kenntnis und setzt sich dem Verdacht aus, Volk zu sagen und eigene Ideologien und Interessen zu meinen. Kontrolle und Verantwortung hören dann gleicherweise auf.

Aus den angedeuteten Sachverhalten und Erfahrungen — von dem ungeheuerlichen Mißbrauch und Verbrauch haus-und parteigemachter Figurationen von Volk, Vaterland und Nation habe ich gar nicht gesprochen — entstand eines der schwersten Probleme der Politischen Bildung: die früher vorhandenen, auch legitimen, stark wirksamen emotionalen Bindungen und Identifikationen sind verblaßt und üben jedenfalls kaum noch eine integrierende, sicher keine unmittelbar aktivierbare Wirkung aus. Einen Ersatz für diese Motivationen zu finden, ist schwer. So besteht die Gefahr, daß die Demokratie nur noch als eine technische Apparatur, als ein formales Organisationsprinzip zur Lösung politischer Probleme angesehen wird, das über den Inhalt des Staatswesens nichts aussagt und dessen Qualität allein nach der Perfektion des Apparates bemessen wird. Es ist schon eine beunruhigende Frage, ob eine derart formalisierte Demokratie noch genügend Integrationskraft und Verantwortungsbereitschaft entwickeln kann, um Belastungen und Krisen zu bestehen. Angesichts der nationalen Teilung und der sich andeutenden Entlassung aus dem politischen Windschatten Amerikas potenziert sich diese Unruhe.

Für die Frage, ob und wie die nationalen Motivationen für die Politische Bildung zurückgewonnen werden sollen, genügen jedoch diese Überlegungen noch keineswegs. Man versperrt sich die volle Erkenntnis des Problems, solange man ihr Verblassen nur auf bestimmte geschichtliche Erfahrungen und auf den nationalsozialistischen Mißbrauch zurückführt, der die aus den nationalen Werten zu aktivierenden Gefühle und Bereitschaften pervertiert hat. Es wäre ja doch denkbar, daß mit der Entfernung vom Jahr 1945 sich eine neue volkspsychologische Situation entwickelt. Das kollektive Gedächtnis überspannt als aktive Kraft kaum mehr als 25 Jahre. Mehrere Äußerungen des letzten Jahres haben auf solche Wandlungen bereits aufmerksam gemacht, und es ist darauf hingewiesen worden, daß zwar in der gegenwärtigen Vätergeneration die Erfahrungen der zwölf Jahre äußerst kräftig wirken, daß aber über die Väter hinweg die Enkel sich zu den Großvätern neigen, was eine recht interessante generative, psychoanalytische und intellektuelle Konstellation ergeben könnte. Die parallele vorgängige Konstellation der heutigen Väter zu den bundesdeutschen Urgroßvätern hat übrigens noch niemand untersucht. . .

Diese Konstellation Enkel—Großväter ist psychologisch durchaus verständlich: Großväter wie Väter haben zwar die zwölf Jahre im äußeren Verlauf gleichermaßen erlebt, die heutigen Großväter jedoch bereits geprägt von Vorerfahrungen, die den Nationalsozialismus überdauern konnten und — im Negativen leider wie im Positiven — oft überdauert haben. Zu den primären Erfahrungen der Großvätergeneration gehört die von der Nation als einem der wichtigsten Aspekte über-individueller, übergesellschaftlicher welthafter Existenz. Die heutigen Väter kennen diese Erfahrung nur in der radikal pervertierten nationalsozialistischen Interpretation; 1945 bedeutete daher den meisten von ihnen sehr anderes als jenen, die Nation war ihnen in der totalen Kapitulation mit untergegangen. Zwar war von 1945 bis 1949 und eine Zeitlang danach, also in der Zeit des werdenden und des noch jungen Grundgesetzes, noch ein viel höheres Maß an Einigkeit im Grundsätzlichen wirksam als heute. Das Grundgesetz war der Grundpakt derer, die überlebt hatten. Sie haben sich darauf geeinigt, das, was in diesem Grundgesetz formuliert ist, vor allem in den ersten 20 Artikeln, unbedingt anzuerkennen. Das war damals gerade in der Kargheit des Vorgangs fast selbstverständlich. Man war „noch einmal davongekommen". Die gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse — ganz gleich, ob bei Christen oder Nichtchristen, Sozialisten oder Konservativen, Humanisten oder Technikern — brannten in der Seele. Dieser Grundpakt aber bröckelt im Bewußtsein der jetzt Heranwachsenden ab. Sie haben diese Erlebnisse nicht gehabt. Sie können die damalige Situation nicht nachempfinden und suchen nun nach ihnen unmittelbar zugänglichen Verhaltensweisen und Verstehensmodellen. Die Sicht der Großväter scheint ihnen dabei einen weiteren Horizont der Wirklichkeit zu eröffnen als die der Väter. Dieser Sachverhalt enthält Gefahren wie Chancen. Es kommt darauf an, wie man diese wahrnimmt und jenen begegnet.

In dieser Lage sind wir verpflichtet, uns über einige durchaus nicht aus der Psychologie zu gewinnende Gründe für die Unanwendbarkeit eines vergangenen Nationbegriffs und einer daraus zu aktivierenden Verantwortungsbereitschaft klarzuwerden.

Die Diskussion über diesen Fragenbereich hat noch immer einen bestürzend provinziellen Zuschnitt. Sie nimmt nicht wirklich Kenntnis von der Grundtatsache unserer Epoche: nämlich davon, daß durch alle, auch die gefährlichsten Differenzen dieser unserer Zeit, durch die sozialen, wirtschaftlichen, ethnischen, kulturellen, religiösen, politischen Pluralismen hin-durchdringt die elementare Einheit der Erde und der Menschen auf ihr. Das ist keine neue Erkenntnis. Neu aber ist, daß diese elementare Einsicht nun langsam die Befindlichkeit und das Bewußtsein eines jeden einzelnen erreicht. Kein Mensch kann sich dem globalen Randdruck auf diese Erde entziehen, der von ihrer dauernden Umkreisung durch künstliche und nun auch von Menschen besetzte Planetoiden ausgeübt wird, sehen wir von der Möglichkeit der Inbesitznahme anderer Sterne ab. Solche Realitäten haben zugleich die Kraft bewußtseinsbestimmender Symbole. Dieser Randdruck preßt die Erde selbst, und zwar höchst real, zu einer Einheit zusammen. Man hat diese Erfahrung als die Planetisierung der menschlichen Existenz bezeichnet. Sie ist un-umkehrbar. Diese durch die Entwicklung der Technik bewirkte Planetisierung der Erde ist mit einer Plötzlichkeit ohnegleichen in unser Bewußtsein eingebrochen; weniger eine analoge politische Entwicklung. Sie wird sichtbar in der Krise des Souveränitätsbegriffs in allen kleinen und mittleren Staaten. Das Vaterland, das sich seine Form in einem Nationalstaat gegeben hatte, war souveräner Staat Durch den zweiten Weltkrieg ist die fundamentale Einheit der Welt manifest geworden. Im Grunde gibt es nur noch zwei oder drei große Blöcke, die souverän sind, vor allem den amerikanischen und den russischen, und auch die sind es nicht mehr ganz, auch sie müssen Rücksichten nehmen, auch sie verfügen nicht je allein über den möglichen planetarischen Ausnahmezustand, was die heutige Definition der Souveränität ist. Die mittleren und kleinen Staaten aber, wenn sie ihre Freiheit oder ihre Zugehörigkeit zu einem dieser Blöcke in welchem Maße immer wahren wollen, sind schlechterdings gezwungen, einen Teil ihrer Souveränität abzugeben.

Die Folge ist das Zusammenrücken der vielen Staaten zu größeren Einheiten, ob in neuen Formen der politischen Integration, ob in der sicher ungenügenden alten Form von Allianzen unter Aufrechterhaltung ihrer doch schon recht brüchigen Souveränitäten.

Teilhard de Chardin hat diesen Vorgang aus seiner Perspektive in den Sätzen formuliert: „Heute verlangt jeder Mensch täglich nicht nur sein Brot, das in seiner Einfachheit die Nahrung des Steinzeitmenschen symbolisiert, sondern auch seine Ration Eisen, Kupfer und Baumwolle — seine Ration Elektrizität, Erdöl und Radium —, seine Ration Entdeckungen, Film und internationale Nachrichten. Ein ein-B faches Feld — und sei es noch so groß — genügt nicht mehr. Der ganzen Erde bedarf es, um unsereinen zu ernähren. Wenn diese Worte einen Sinn haben, bedeutet es nicht, daß sich sozusagen die Geburt eines großen Körpers vollzieht mit seinen Gliedern, seinem Nervensystem, seinen Wahrnehmungszentren, seinem Gedächtnis?"

Solche Worte bezeichnen heute keine Vision mehr, sondern die irdische, die planetare Realität. Wir sind technisch wie moralisch völlig voneinander abhängig geworden. Nur — manche Völker, Gebietiger und Regenten haben es mehr, manche weniger bemerkt; manche verstehen die gegenwärtige Zeitspanne als die Möglichkeit, sich im Kampf um die globale Hegemonie oder partielle Hegemonien die günstigsten Positionen zu verschaffen; dafür scheinen ihnen die Nationen, besser: ihre Nation die erweiterungsfähige Plattform. Sie haben natürlich angesichts der mit der Planetisierung verbundenen Unterdrückungsgefahr für die kleinen Nationen wie angesichts der mit der Hersteilbarkeit und Effektivität der politischen Einheit parallelgehenden und ebenso wachsenden Gefahr des Untergangs recht; vordergründig recht. Fragt sich nur, ob es auf weitere Sicht nicht besser ist, diese auf partielle Ziele angelegten Energien darauf zu verwenden, funktionable, größere Einheiten zu schaffen, und anzuerkennen, daß, ob man will oder nicht, die klassische Außenpolitik obsolet geworden und von Weltinnenpolitik abgelöst worden ist.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Nationen und im besonderen für die deutsche? Zunächst die Bestätigung eines Wissens in eigener epochaler, schmerzlicher Erfahrung, das wir eigentlich aus der Geschichte langer Zeiträume längst haben, das aber kein Nationalismus wahrhaben will: daß Völker und Nationen keine dauernde eigenständige Existenz haben; sie sind vergänglich. Das Volk als unvergänglicher „Gedanke Gottes" und mit einem ihm zugewiesenen Engel als Repräsentanten an Gottes Thron, das deutsche Volk sehr hoch von Erzengel Michael repräsentiert und behütet — das ist ein frommes Theologoumenon, mit dem mindestens sehr vorsichtig umgegangen werden muß, soll daraus kein theologisch untermauerter Nationalismus in Form einer Reichstheologie werden. Während der nationalsozialistischen Zeit ist dieser Versuch von Papen und Gefolge unter dem Motto „Kreuz und Adler" ja unternommen worden. Und daß solche Theologoumena auch nach dem Nationalsozialismus nicht überwunden sind, zeigte H. Berendt, der es wagte zu sagen, „in dem Reigen der abendländischen Volksgeister, die um Gottes Thron stehen", sei auch jetzt wieder von unserem Volk eine „von Gott gewollte Sendung" zu erfüllen, nämlich „nicht nur geographisch", sondern auch geistig „die Mitte des Abendlandes zu sein". Etwas mehr Bescheidenheit würde wirksamere Politik ermöglichen. Wenn von der Vergänglichkeit der Völker und Nationen gesprochen wird, braucht man nicht gleich an katastrophische Untergänge zu denken. Es gibt die vielen Formen der Über-lagerung, es gibt den politischen Gestalt-wandel in mannigfachen Ausformungen.

Einen nichtkatastrophischen Sachverhalt, der den nie verzweifelnden Pädagogen wie den Politiker angeht, beschreibt Eugen Lemberg folgendermaßen: „Das zeigt, daß unser Volks-begriff relativ ist und nur in bestimmten Epochen und gesellschaftlichen Situationen gilt. Die Merkmale oder Kriterien also, die ein Volk zum Volk machen und es gegen andere abgrenzen, sind austauschbar. Sie können mit der Zeit und mit der Gesellschaft wechseln, so daß man verschiedene Epochen und Kulturkreise nach dem Volksbegriff unterscheiden kann, der sie beherrscht. . . Mit dem Fortschritt der Technik, die zu gemeinsamer Produktion, Verwaltung und Verteidigung immer größere Räume und Organisationen erfordert, werden sich im Bewußtsein der Menschen immer größere Nationen durchsetzen, als deren Träger Sprachvölker nicht mehr ausreichen, weshalb es statt der Sprache eine großräumige Ideologie sein wird, die eine solche moderne Großnation konstitutiert und abgrenzt, integriert und rechtfertigt. Zwar wird die Sprachgemeinschaft immer etwas im tiefsten Sinn Kulturschöpferisches bleiben, aber ihre Rolle wird sich notwendig wandeln und einschränken." Dieser Prozeß ist sicher richtig beschrieben; doch wird man Bedenken anmelden müssen, ob der Begriff der Nation für das Ergebnis dieses Prozesses brauchbar ist. Aber lassen wir diese Frage beiseite.

Das alles heißt zunächst einmal: man kann politisch nicht mehr schlechthin in Nationen denken, auch wenn bestehen bleibt, daß mindestens die westliche Welt nur als Gemeinschaft von Nationen denkbar und funktionabel ist und auch die notwendigen Zusammenschlüsse die Nationen nicht auflösen können — und wollen. Schon der Versuch dazu bedeutet, die Augen vor der Wirklichkeit schließen und situationsgerechtes politisches Handeln unmöglich machen. Die Nationalstaaten sind nicht mehr die allein bestimmenden Modi des Zusammenlebens der Menschen, jedenfalls nicht mehr oder nur in sehr relativer Weise der instrumentale Raum für das politische Schicksal. Das weltweite Phänomen der Emigration gerade auch im höchsten Maß national denkender Menschen und die Landschaft des Verrats, die Margret Boveri beschrieben hat, sind eindeutige Zeichen dafür

Die Daseinsführung und das Daseinsverständnis des durchschnittlichen Bürgers in der Bundesrepublik, in der Schweiz, in England, in Nordamerika, in Kanada unterscheiden sich nicht mehr fundamental, obschon es durchaus nichtgleichgültige Unterschiede gibt. Wohl aber ist schicksalbestimmend — unsere deutsche Erfahrung seit 1933 und für die getrennten Volksteile in verschiedener Weise seit 1945 oder 1948 —, unter welcher Art von Herrschaft zu leben man gezwungen ist.

Das heißt aber: die Politische Bildung in der Bundesrepublik stimmt auch mit den fundamentalen politischen Gegegebenheit überein, wenn sie nicht unmittelbar von der Nation in ihrem traditionellen Verstände ausgeht, wenn sie ihre Motivationen nicht in erster Linie in nationalen Traditionen aufsucht, sondern wenn ihre Grundbegriffe einerseits anthropologischer Art, andererseits solche wie politische Ordnung, Herrschaft, politischer Prozeß sind. Politische Bildung ist, um eigene Formulierungen zu vermeiden, nach Wilhelm Hennis „weniger ein Problem der Willens-als der Erlebnis-und Urteilsbildung... Bürgersinn erweist sich in der Art, über Politik zu denken und zu sprechen, in der Gesinnung, dem Maß des Urteils genauso wie im aktiven politischen Handeln.“

Diese Politische Bildung ist aber auch als Lehre keineswegs ein rein rationales Werk, obwohl das rationale Element in ihr bei der Kompliziertheit dieser modernen Welt notwendigerweise stark ausgeprägt ist. Dieser Kompliziertheit vermögen Instinkt oder Fühlen aus traditionsbestimmtem Bewußtsein nicht adäquat zu antworten. Der „Appell an die alten Gefühle“, wie das in der Polemik des letzten Jahres genannt worden ist, ist Zeichen der Verlorenheit in einer unbegriffenen Welt, der Hoffnungslosigkeit und geistigen wie seelischen Armut. Ich vermag nicht einzusehen, wieso Ratio und Fühlen, Verstand und Herz absolut getrennte Wirklichkeit sein sollen und eine Politische Bildung, die die rationalen Kräfte aktiviert und auf die Erkenntnis dieser unserer Welt richtet, keine Verbindlichkeit bewirken soll. Sind etwa Begriffe wie Recht und Freiheit dünne Abstrakta — nach allem, was wir Deutsche in diesem Jahrhundert erfahren haben und in einem Teil unseres Vater-landes weiter erfahren? Abstrakter als der Begriff Nation, dem seine Fülle doch aus dem ganz konkreten Selbstbewußtsein, dem Rechts-und Freiheitsgefühl der Bürger zufließt? Die Fülle kann für uns weder aus der Sprachgemeinschaft kommen — die umschließt auch Österreich, die Schweiz, Holland — noch aus einem historischen Territorium, das wir als Nation, seit Bismarck sogar in dezidierter Weise, nie besessen haben. Nein, die wirklichste Wirklichkeit der Nation sind schon die besonderen Ausprägungen und Sicherungen von Recht und Freiheit, die wir uns geschaffen haben und in den ständigen Entwicklungen dieser Welt neu schaffen und sichern müssen. Daraus könnte ein deutsches Nationalgefühl wieder entstehen. Dazu aber müßte die Nation sich bereitfinden, ihren Ausgangspunkt nicht von einem „Zusammenbruch", nämlich von 1945, zu erkennen, sondern in einer Befreiung von Unterdrückern aus dem eigenen Volk, nämlich von 1945. Billiger ist für uns Nation nicht zu haben. Dazu müßte auch die Bereitschaft entwickelt werden, insoweit übernationalen Ordnungssystemen zuzustimmen, als klar ist, daß nur mit solchen größeren staatlichen Ordnungen die realen Nöte realer Menschen behoben werden können. Wo das nicht nachweisbar ist, bleibt die Aufgabe bei der Nation.

Um solches Denken und solche Bereitschaft zu erreichen, genügt allerdings auch die posthume Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht; auch nicht die nur reaktive Konfrontation mit dem Kommunismus oder gar der Versuch, eine Gegenideologie zu entwickeln. Uber die bloß konstatierende Kunde hinaus muß Politische Bildung auf die Einstellung des jungen Bürgers zur Gesellschaft, zur Politik und zu den politischen Einrichtungen einwirken, auf sein Verhalten in dieser unserer politischen Ordnung, die er kennt und versteht und die er auch unter Kritik zu nehmen vermag, wo immer die Wirklichkeit von den die Gesamtordnung tragenden und verB pflichtenden Vorstellungen von menschlicher und demokratischer Ordnung abweicht.

Solche Politische Bildung ist ein vielschichtiges Werk. Wissen, aus dem Wissen Einsichten, daraus entspringendes Tun in Gesellschaft und Politik, auch Einübung gehören zusammen, und all das muß unter dem Gesichtspunkt der politischen Aufgabe stehen.

Versteht man Politische Bildung so und kennt man die politische Bildungsarbeit wirklich, so fällt es schwer, dem ständigen Zurückblicken auf einen gewesenen und zudem unsauber idealisierten Zustand ein gewisses Recht zuzugestehen. Freilich ist es absurd, den Nationbegriff generell zu tabuisieren oder gar zu verteufeln, und das in einem Augenblick der Geschichte, da wir die Wiedervereinigung mit dem getrennten Teil unseres Vaterlandes unbestritten als eine unserer wichtigsten politischen Aufgaben wohl Doch im Namen der Nation. . .

Aber das zwingt uns, uns nun auch direkt der Frage zu stellen, ob die Nation umgangen werden kann, und ihren neuen Stellenwert innerhalb des sich planetisierenden Koordinatensystems zu bestimmen.

Dazu ist zuallererst zu sagen, daß jeder solcher Versuch, der gezeichneten Perspektiven nicht voll realisiert und ernst nimmt, reaktionären Charakter bekommen muß. „Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre" — dieses Wort kann heute einen fatalen Sinn haben: wenn daraus abgeleitet wird, die Nation sei das Maß aller Dinge und habe das Kriterium für ein Welt-und Geschichtsverständnis zu liefern, das primär auf nationale Bewußtheit und Geschlossenheit gerichtet ist und alles andere dem unterordnet — Perversion aller menschlichen Ordnung.

Aber wer über dieses Schillerwort hinweg hochmütig oder snobistisch zur Tagesordnung übergehen zu können glaubt — ich meine, dem fehlt die Erfahrung davon, daß meine Verantwortung und meine Ehre zwar nicht einfach identisch sind mit denen der Nation, von ihr aber auch ebensowenig abgelöst werden können. Es wird darum gehen, jeweils zu konkretisieren, was „Ehre" im Zusammenhang mit „Nation" heißen kann und soll.

Die Nation ist nach wie vor, vor allem anderen, Träger unserer geistigen Überlieferung; aus ihr aber habe ich, selbst wo ich mich gegen sie stellen muß, einen harten Kern meiner geistigen Existenz. Das ist nichts Geringes und bleibt auch dann bestehen, wenn einem bewußt geworden ist, daß die europäischen Nationen, mit ihr die Magna Graecia Europas: Nordamerika, Kinder, nicht Väter des ursprünglichen Europas sind. Die Ehre, die Schiller meint, ist nicht die des integralen Nationalismus, der absolut gesetzten Nation, die sich ihre autonome Wertordnung schafft, sondern — und das ließe sich aus dem Kontext des Schillerschen Oeuvres leicht nachweisen — jene Ehre, mit der die Nationen in der Wahrung einer menschwürdigen, für alle zumutbaren Ordnung miteinander wetteifern. Diese Ehre wird nicht verletzt durch eine Kritik an der Nation, die ihrerseits aus der Verletzung solcher Ordnung kommt. Noch das belfernde Wort Enzensbergers vom „unheilig Herz der Völker" ist eine Bekundung verletzter Liebe; er verrät jedenfalls mehr Betroffenheit über den geschehenen schrecklichen Abfall von der (überhöhten) Sicht Hölderlins auf die Nation als die rasch entschuldigende und allzuleicht vergessende Haltung derer, die trotz des Geschehenen eine Reaktion wie die Enzensbergers nur empört.

Wir haben einen Test dafür, daß Rudolf Alexander Schröders nationale Lyrik von 1958 das deutsche Fühlen und Bewußtsein nicht mehr ausspricht: „Land der Liebe, Vaterland, Heilger Grund, auf den sich gründet, Was in Lieb und Leid verbündet Herz mit Herzen, Hand mit Hand: Frei wie wir dir angehören Und uns dir zu eigen schwören, Schling um uns dein Friedenshand, Land der Liebe, Vaterland."

Dieser Test ist die Reaktion, die Theodor Heuss'Versuch gefunden hat, mit solcher Lyrik den Deutschen eine Nationalhymne zu geben. Daß dieser sein Versuch wie seine Bedrückung nach dem Scheitern Heuss ehrt, steht auf einem anderen Blatt. Wir müssen uns mindestens damit abfinden, daß ein neues deutsches Nationalbewußtsein jedenfalls aus der Erbschaft der historischen deutschen idealistischen Bewegung nicht mehr gewonnen werden kann, und dürfen uns nicht dazu drängen lassen, die Politische Bildung in ihren Dienst zu stellen — allerdings ohne nun unsererseits diese Haltung zu denunzieren, ihr den Respekt zu versagen und auf diese Weise die Spannung im Verhältnis zur Nation innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft, zu brechen, die auszuhalten uns aufgegeben ist — um der Nation willen.

„Spannung im Verhältnis zur Nation" — Spannungen sind immer Zustände des Unbehagens; sie enthalten aber die Chance, ein neues, angemessenes, höheres Bewußtsein zu erreichen. Allerdings unter einer Voraussetzung: daß die Spannung nicht gebrochen wird, indem man z. B. in Indifferenz und Gleichgültigkeit oder in die Denunzierung der je anderen Haltung flieht und ihr also ausweicht. Das gilt für jeden Bürger, erst recht für den politischen Pädagogen. Das Vorhandensein solcher Spannung enthält aber bereits eine Aussage: nämlich daß von einer nationalen Gemeinschaft — ich wähle absichtlich diesen nicht definierenden, offenen Ausdruck — überhaupt nicht gesprochen werden kann, ohne daß 'ein kollektives Selbstbewußtsein, ein gespanntes, vielleicht gemindertes, vieler Fragen würdiges — ja, aber ein Selbstbewußtsein vorhanden ist. Ein Nihilismus, der behauptet, es gäbe keine nationale Gemeinschaft mehr, wäre absurd, leicht zu widerlegen und ist jedenfalls noch in den wütendsten Reaktionen auf Zeichen von wirklichem oder vermeintlichem Nationalismus nicht gemeint. Wo Zorn ist, ist Sorge um dieses Selbstbewußtsein, nämlich um seine Reinheit, Angemessenheit, Zukunftsoffenheit.

Die Antwort auf unsere pädagogische Frage lautet also: Auf die bindende Kraft eines nationalen Selbstbewußtseins kann nicht verzichtet werden. Dieses Bewußtsein ist aber kein einfaches, sondern zusammengesetzt aus vielen Elementen, aus Erfahrungen, Erlebnissen, Einsichten, den Geboten und Verboten der sittlichen Ordnung, aus dem Wissen von unentrinnbarer gegenseitiger Abhängigkeit, also von der Erfahrung der Gesamthaftung und der möglichen Solidarität. Von der richtigen Einstufung dieser und anderer Elemente auf der Skala der die gemeinsame Ordnung bestimmenden Werte hängt es ab, wie dieses Bewußtsein strukturiert sein wird; ob es Belastungen ausgesetzt werden kann, ob Leistungen gefordert, gegeben, gerechtfertigt werden können; ob ein Bewußtsein der Mitverantwortung für die in der Nation aktualisierte Gesellschaft entsteht.

Das ist sehr formal formuliert. Einige inhaltliche Aussagen sind nötig und möglich.

Vor allem: ein solches nationales Selbstbewußtsein wird mit größter Sicherheit verfehlt werden, wenn es direkt angezielt, zum Gegenstand unmittelbarer Bemühungen gemacht wird. Nicht nationale Nabelbeschau, nicht nationale Optik ist gefordert, sondern die Beschäftigung mit den Aufgaben, die uns heute gestellt sind, in unserer Gesellschaft wie in der Welt. Das ist sozusagen ein politisch-pädagogisches Grundaxiom. 3.

Erschwerungen dafür gibt es viele. Die großen, politischen sind dargestellt worden. Einige andere müssen wenigstens noch angedeutet werden:

Frühere deutsche Gesellschaften hatten entschieden staatsbejahende Gruppen und Eliten; in Preußen und von dort aus im kaiserlichen Reich z. B. das Offizierskorps und das Beamtenkorps. Ähnliches gilt für den Adel und das gehobene Bürgertum. Die Jugend, um nur von ihr zu reden, verhält sich in großer Mehrheit zum Grundgesetz heute positiv und zur staatlichen Ordnung loyal; zu stärkerem Engagement sind nur sehr kleine Minderheiten bereit, und der Vorstellung einer staats-bejahenden Elite würde sie ein — vermeintlich demokratisches — Mißtrauen entgegenbringen. Einige Gründe dafür liegen auf der Hand. Der Elitebegriff wird ständisch verstanden oder auf bestimmte Gruppen beschränkt, und wie sehr gar ideologisch-„elitäre" Gruppen zum Absolutismus neigen und also dazu, sich des Staates zu bemächtigen, ist schließlich historisch erhärtet. Dieses Mißtrauen ist also verständlich; es verhindert aber die Erkenntnis, daß Demokratien aktive Minderheiten aus allen Schichten brauchen, die untereinander in Kommunikation stehen können und müssen. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich übrigens eine Aufgabe auch für eine weit-schauende Bildungspolitik. Bisher ist aber noch nicht einmal das Problem in das Bewußtsein der verantwortlichen Kreise getreten; man begnügt sich dort mit der Halbrichtigkeit, wer zur Elite gehöre, das könne in einer demokratischen Ordnung erst im Nachhinein festgestellt werden.

Der Wohlfahrtsstaat kann Schwächung der Bereitschaft sehr vieler zu Verzicht und Opfer bedeuten. Patriotismus ist, vom puren Wohlfahrtsdenken aus, dumm. Damit ist kein Wort gegen den Wohlfahrtsstaat gesagt. Wir wollen vielmehr sehr zufrieden sein, daß diesem zweiten Versuch einer deutschen Demokratie vermöge des wirtschaftlichen Wohlergehens schon jetzt eine längere Zeit gegeben ist als der Weimarer Republik. Demokratien bewähren sich, je länger sie dauern dürfen; denn es muß ja eine Tradition entstehen. Dafür ist auf der wirtschaftlichen Ebene ein Grund gelegt worden. Aber das allein langt nicht zu. In kritischen Situationen — wer kann sie ausschließen? — wird sich erweisen, wo der Bürger auf der Skala der ausschlaggebenden Motive die Wohlfahrt, die Freiheit, die Wiedervereinigung ansetzt und ob ihm der Politiker einschneidende Verzichte zuzumuten wagen kann. Wir haben einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel durchgemacht, der vieles, was früher galt, völlig verändert hat. Das Merkwürdige ist, daß sich das vor den Augen einer Generation abgespielt hat, und man hat es dennoch nicht voll zur Kenntnis genommen. Was sich vor den eigenen Augen vollzieht, merkt man ja oft am allerwenigsten. Dieser Strukturwandel hat zur Bildung großer Interessengruppen geführt. („Was nicht organisiert ist, existiert nicht", heißt es in einem bösen Wort.) Diese Interessengruppen haben berechtigte Aufgaben; sie können aber Instrumente bloßer Gruppenegoismen sein. Das wird dann sogar ideologisch gerechtfertigt. Ich halte dennoch dafür, daß hier große Gefahren liegen. Ohne eine umgreifende und wechselseitige Solidarität wird das, was man „Gemeinwohl" nennt, zerstört. — Das Wort „Solidarität" könnte man übrigens durchaus als ein modernes, weniger anstößiges Wort für Vaterlandsliebe verstehen.

Die Analyse ist leider noch nicht zu Ende. Wenn wir fragen, wodurch eine Nation eigentlich entsteht, dann müssen wir Deutsche zunächst und vor allem anderen antworten: durch eine gemeinsame Geschichte. Für eine Nation bedeutet die Tatsache, daß man eine gemeinsame Geschichte hat, ein ständig wirksames Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Aber haben wir ein Bewußtsein unserer gemeinsam erlebten Geschichte? Gibt es so etwas wie eine innere geistige Kontinuität zwischen den Generationen?

Es wäre nun von dem zu reden, worin geschichtliches Selbstverständnis im einzelnen gründet. Von Persönlichkeiten, von Menschen, die Geschichte machten; von den historisch entscheidenden Ereignissen und Entwicklungen, die uns bis heute bestimmen. Haben wir ein Bewußtsein davon? Von einigem ja. Zum Beispiel von dem, was — unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit — die Reformation für unser heutiges Bewußtsein tagtäglich immer noch bedeutet. Das gleiche ist aber z. B. nicht vom Investiturstreit zu sagen, obwohl durch ihn und seine Folgen die europäische Freiheit begründet wurde (im Gegensatz etwa zu Byzanz und Rußland). Kirche und Staat gewannen im europäischen Westen ein Verhältnis der gegenseitigen Freiheitsgewährung: eine Grundentscheidung unserer Geschichte. Zu den Faktoren der geschichtlichen Kontinuität gehört übrigens auch das Heer. Die Bundeswehr von heute ist dieser Faktor nicht mehr oder noch nicht.

Dann wäre zu reden von dem, was ich mit Ignaz Zangerle „die versammelnden Symbole“ nennen möchte. Man stelle sich einmal vor, was Deutschland wäre, wenn es folgende Bauwerke nicht gäbe: den Kölner Dom, die Münchner Frauenkirche, St. Lorenz in Nürnberg, das Ulmer Münster, den Bamberger Dom, die Wittenberger Schloßkirche und — nun nenne ich einen Namen, den wahrscheinlich nur wenige kennen werden — Doberan (Mecklenburg), eine der wunderbarsten Kirchen unseres Vaterlandes. Naumburg, Halber-stadt, Weimar — viele weitere Namen wären aufzuzählen: das ist gebaute Geschichte, Geschichte, der wir begegnen können, begegnen könnten. Es ist unsere Geschichte, weswegen der Einwand, vergleichbare Bauten, großartigere, stünden auch in Athen, Rom, Paris, Chartres, nicht trifft. Er weist nur darauf hin, daß deutsche Geschichte von der europäischen nicht getrennt werden kann und darf.

Fragen wir, warum der Berliner Reichstag wiederaufgebaut wurde, wenigstens in einem Teilstück jetzt? Damit ein solches Symbol da sei, ein Symbol der Einheit. Und warum das Berliner Schloß abgerissen wurde? Um Kontinuität zu zerstören. In Berlin gibt es im Grunde nur ein eindrückliches neues Symbol: die Gedenkstätte in Plötzensee.

Zu den versammelnden Symbolen gehören die Werke unserer Dichtung, das Lied, der ganze Bereich der Musik, die großen Bildwerke, der riesige Schatz von Bildern, in denen wir unsere Geschichte widergespiegelt finden — nicht so sehr in Ereignissen, sondern im Ausdruck des Denkens und Fühlens der jeweiligen Zeit. Schließlich wäre vom Reich zu sprechen. Daß wir einmal die Träger des Reiches waren, daß wir dann am größten gewesen sind, wenn wir nicht für uns, sondern für den Entwurf einer Ordnung Europas eingetreten sind, das gehört zur Ehre unseres Volkes. Wird im Geschichtsunterricht von dieser großen Zeit des mittelalterlichen und späteren Reiches heute ein richtiges Bild vermittelt? Als von einer Zeit, derer wir uns nicht zu schämen brauchen und in der wir deutsches Volk geworden sind? Wir haben uns durch Hitler aus unserer Geschichte vertreiben lassen. Und nach 1945 ist diese Vertreibung politisch fortgesetzt worden mit der Spaltung, aber auch mit mancher unerleuchteter Radikalität in der Verneinung einer tausendjährigen Geschichte. Natürlich bedarf es einer Neuperspektivierung dieser Geschichte, die sich auch mit der falschen Verklärung zu befassen hat. Aber bisher gibt es nur Ansätze dazu.

Ich habe Nachdruck darauf gelegt, daß unser Verhältnis zur Nation auch ohne den besonderen deutschen Mißbrauch dieses Begriffes epochalen Veränderungen ausgesetzt gewesen wäre. Wir wären auch ohne Hitler nicht im gleichen Verhältnis zu unserem Vaterland geblieben. Das ist eindeutig abzulesen aus der Entwicklung der Weltwirtschaft im technischen Zeitalter mit ihren notwendigerweise übernationalen Strukturen und aus dem immer engeren Zusammenwachsen der verschiedenen Kulturen in den politischen und militärischen Gruppierungen dieser Erde. In dem Augenblick, wo die Nation in größere Einheiten integriert wird, hört der Begriff von einem Vaterland, über dessen Grenzen man nicht hinauszuschauen braucht, auf. Die Weltwirtschaft verträgt sich nicht mehr mit dem engen, durch den Souveränitätsbegriff gekennzeichneten Nationbegriff. Und diese Entwicklung war im Gange, lange bevor Hitler kam. Sie hat sich nach Hitler fortgesetzt und geht weiter. Daraus aber ergibt sich etwas für unser Problem sehr Wichtiges, nämlich daß es für eine Nation nicht genügt, eine gemeinsame Geschichte gehabt zu haben (die haben wir eine Zeitlang auch mit der Schweiz, mit Holland, mit Österreich und anderen ethnischen Gruppen gehabt, also mit Völkern, die heute eigene Nationen darstellen oder dazu auf dem Wege sind). Nicht nur eine gemeinsame Geschichte gehabt haben, sondern auch eine gemeinsame Zukunft begreifen in bedeutsamen Aufgaben — das ist es, was heute Nation eigentlich begründet.

Solches Zukunftsbewußtsein — der Kommunismus lebt davon — wir noch nicht, haben jedenfalls noch nicht artikuliert, nicht im genügenden Maße und als ein gemeinsames Bewußtsein. Für viele von uns bedeutet Zukunft im Grunde nur perennierende Gegenwart: es geht eben selbstverständlich so weiter. Keine gemeinsame Zukunft begreifen und dafür eintreten wollen, keine Maßnahmen für die Ermöglichung einer besseren, gerechteren Ordnung nach innen wie außen suchen — das ist schlimmer als das Bewußtsein, die gemeinsame Geschichte verloren zu haben. Im übrigen hängt beides aufs allerengste zusammen.

Aber damit ist nun auch die Antwort gegeben. Die Antwort auf unsere Frage kann in dieser Weltlage kein neuer Nationalismus sein, sondern nur eine sehr schlichte, aber wahrlich fundamentale Einsicht. Die Einsicht nämlich, daß jeder Mann und jede Frau geboren ist als Bürger einer gewordenen, einer geschichtlich und räumlich überschaubaren Gesellschaft, die als Staat politische Form hat, und damit als Träger einer bestimmten, unverwechselbaren und nicht abzuschüttelnden Kultur. Das beginnt mit dem ersten Mutterwort. Jeder Mensch wird geboren als Bürger eines Vater-landes, eines Vaterlandes im Kreis anderer, näherer und fernerer Vaterländer. Aus diesem Hineingeborensein in die einem jeden — jedenfalls zunächst — zubestimmte Gesellschaft ergeben sich Bindungen und Verbindlichkeiten vielfältiger Art. Wie ich gegenüber der Familie, in die ich hineingeboren bin, Pflichten habe, so auch gegenüber der Gesellschaft, in die ich gehöre. Das ist das Selbstverständlichste von der Welt. Das begründet zwar noch nicht die Nation; wie wir gesehen haben, reicht die bloße Gegenwärtigkeit dazu nicht aus. Es begründet aber die Tugenden der täglichen Arbeit für das Gemeinwohl — bis zur Mitverantwortung für die politischen Entscheidungen. Es begründet, daß man sich Sorge macht. Es begründet, daß man sich das nötige Wissen erwirbt, mit dem man diesen Verpflichtungen nachkommen kann, daß man die öffentlichen Tugenden nicht unter die privaten stellt, daß man nicht primär nach den Grenzen der Nation fragt, sondern nach ihrem Inhalt. Walter Dirks: „Man kann an der Dringlichkeit, mit der einer die Frage nach dem Inhalt stellt, den Grad seiner wirklichen Vaterlandsliebe ablesen. Nationalisten genügt die Größe, die Macht und der Glanz des nationalen Kollektivs; sie pflegen nicht nach dem Status der deutschen Bevölkerung zu fragen, nach dem Status aller ihrer Gruppen, Klassen und Schichten, nicht nur der privilegierten, welche den Patriotismus gepachtet haben, sie fragen selten nach einer allen zumutbaren gerechten Ordnung, sie stellen nie die Frage nach Recht und Unrecht, die Frage nach Lüge und Wahrheit, nach Schuld und Unschuld im Bewußtsein der Nation." Solche Einsicht bewirkt und begründet die Erkenntnis, daß es zur Ehre des Erwachsen-seins gehört, die die Nation begründenden Aufgaben, soviel an jedem liegt, mitzubedenken und mitzutragen und sich ihrem Geschick nicht zu entziehen, solange von ihm nicht das dem wohlinformierten Gewissen Unzumutbare gefordert wird.

Bewirkt, begründet, fordert gar solche Einsicht Liebe zur Nation als zum Vaterland? Ich weiß nicht, ob dieser Frage so viel Bedeutung zukommt, wie manche zu meinen scheinen. Die Pflicht, der Nation zu geben, was ihr gebührt, ist schlechthin unabweisbar. Aber wer erfahren hat, daß der Zorn geboten sein kann gegen solche, die — gar im Namen der Nation— ihre Ehre zerstören; wer erfahren hat, daß der Haß gegen solche, die, was sie „nationale Ehre" genannt haben, radikal sowohl von der großen nationalen Überlieferung wie von den schlechthin gültigen Geboten der Sittlichkeit gelöst haben, noch eher eine Tugend ist als die Liebe, ja daß solcher Haß die letzte noch mögliche Form der Liebe sein kann — wer solches erfahren hat, der wird sich scheuen, von der Pflicht zur Liebe zu sprechen. Er wird Liebe jedenfalls nicht erkennen in nationaler Mystik, in den großen Worten, in nationalen Kulten mit Fahnen, Musik, Uniformen, Lautsprechern und Transparenten. Er wird die Erzeugung von nationalen Rauschzuständen ablehnen, weil er sie als Mittel zur Verführung und der Verblendung erfahren hat. Er wird nur von jener nüchternen Liebe sprechen können, welche die kreatürliche und geschichtliche Begrenztheit jeder Nation nie aus dem Auge verliert und sie entschieden an der Gültigkeit und Verwirklichung von universalen Maßstäben wie Gerechtigkeit, Zumutbarkeit, Friede mißt. Von einer Liebe also, die sich im tagtäglichen Dasein bewährt. Die Nation, die uns Deutschen noch einmal angeboten worden ist und die in der Bundesrepublik —• wie wir hoffen — ihren Kem hat, will, darf, muß aber dankbar und mit der Bereitschaft, sich für sie, als solchen Kern, einzusetzen, jedenfalls geachtet werden. Das schließt Sorge, Kritik und den Willen zu ändern nicht aus, sondern ein. 4.

Wir mußten wohl die Nation beinahe verloren haben, um sie — vielleicht — wieder zu gewinnen. Das heißt aber mit den Worten des einen der beiden letzten Preußen in der Bundesrepublik, Hans-Joachim Schoeps: „Man sollte die Frage nach dem Nationalgefühl als heißes Eisen liegen lassen, nicht weil man sich dabei die Finger verbrennen könnte — das wäre kein Motiv -—, sondern weil unter den heutigen Verhältnissen diese Materie unhantierbar geworden ist. Man wird die Frage nach dem deutschen Nationalgefühl, wenn sich die Verhältnisse geändert haben — nie bleibt, was ist —, übermorgen aufs neue stellen müssen." übermorgen ... Wie die politische Ordnung Europas, der atlantischen Anrainer und der Welt dann aussehen wird, wissen wir im einzelnen nicht, heute weniger als noch vor einigen Jahren, den Jahren der optimistischen europäischen (und weltkommunistischen) Naivität. Aber es gibt Hinweise darauf. Völkerbund und Organisation der Vereinten Nationen entstanden aus der Einsicht, daß Welt-innenpolitik unentbehrlich sei, daß sie sich aber nicht in der Form einer zentralistischen Weltregierung vollziehen könne (nach der kommunistischen Vorstellung: noch nicht) und dürfe (nach der der freien Welt). Sie implizieren eine föderale Ordnung unter der Leitidee der weltweiten Subsidiarität (z. B. UNESCO, FAO) einerseits, der globalen Feuerwehr andererseits. Beide Weltorganisationen waren und sind Zusammenschlüsse von Völkern und Nationen oder intentionierten Nationen, setzen diese also voraus. Sie sind nur selten mehr als Plattformen, Foren, verfügen insbesondere über keine Zwangsgewalt gegenüber den Großen. Handlungsfähig in bedeutsamen Entscheidungen sind sie nur insoweit, als sich die Großen oder die ad-hoc-Einheiten der Kleineren mit einem Großen einig sind; dennoch lebensnotwendig und möglicherweise entwickelbar, wenn zur jetzt zwingenden und tragenden Erkenntnis der ungeheuerlichen Gefahr die andere träte, daß diese Ungeheuerlichkeit die Kehrseite größter Chancen ist; auf alle Fälle besser als die eine Weltregierung, von deren Schrecken uns die literarischen Gegenutopien einen kleinen Begriff zu geben vermögen. Solche Weltorganisationen haben funktionable große und mittlere Ordnungsgefüge zur Bedingung, in denen die Nationen ihr Besonderes sichern können und in die sie es als den eigentlichen, multiformen Reichtum der Welt einbringen müssen. Unter diesem Aspekt enthüllt sich eine grundsätzliche deutsche Weigerung, sich selbst als Nation anzunehmen, als sublime politische Flucht nicht nur vor sich selbst (mit allen bereits sichtbar werdenden nationalistischen Folgen im Rückschlag), sondern auch vor der unabweisbaren Weltaufgabe jeder Nation; als eine pikante, gefährliche Form des deutschen Provinzialismus — auch sie ...

Vorgebildet wird diese globale politische Entwicklung in den Wandlungen fortgeschrittener Gesellschaften. Dort bedeutet Einheit der Welt, daß die Zeit des personalen Individualismus und der traditionell privilegierten Gruppen zu Ende geht, daß der Mensch in das Zeitalter der Sozialität eintritt. Das braucht nicht gleichbedeutend mit ameisenhaftem Kollektivismus zu sein; und was sich von oben her, von der konservativen Sehweise her als allgemeine Nivellierung darbietet, als Minderung seelischer und kultureller Werte, könnte in anderer Perspektive als unaufschiebbare, schlechterdings geschuldete „Nivellierung" nach oben betrachtet werden. Es bedeutet — dies aber sicher —, daß in allen Bereichen des öffentlichen Daseins ein weit höheres Maß koordinierten, gemeinschaftlichen Handelns nötig ist als bisher, und zwar gerade um der personhaften Existenz der Menschen willen, nämlich der vielen, aller Menschen, auch jener meisten, die ohne ein die ganze Gesellschaft durchwirkendes, verpflichtendes und steuerndes Bewußtsein der Solidarität in der Tat in eine total kollektivierte Existenz absinken müßten. Diese gesellschaftliche Solidarität, die auch eine Aufgabe der Erziehung und Bildung epochalen Charakters darstellt, überschreitet die Grenzen der nationalen Gesellschaften. Die verschiedenen Aktionen der Kirchen für die Entwicklungsländer, die im zweiten Vatikanum geschehene Öffnung zur christlichen Oikumene, ja zu den anderen genuinen Welt-religionen sind wirkende Zeichen für diese gesellschaftliche Entwicklung zur einen Welt. Daß so viele Bürger, daß sogar Christen vor solcher Zukunft erschrecken und sich dem Konservativismus verschreiben, ist ein gegenläufiges Zeichen von Pusillanimitas, von Klein-mut und Kleingläubigkeit. Der Europäer, geprägt von einer finalen Auffassung der Geschichte, erst recht der Christ müßte wissen, daß dieser Entwicklung eine eschatologische Notwendigkeit innewohnt. Sein Ja zu ihr muß allerdings auch die Bereitschaft enthalten, sich in vielen möglichen Formen zu widersetzen, wo immer die werdenden nationalen und globalen Ordnungen dem Menschen widersprechen, der personales Wesen ist. Anzeichen für die Notwendigkeit äußerster Wachheit und des Widerspruchs gibt es allzu viele.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Thomas Mann an Karl Kerenyi während des Krieges: „Das Exil ist anders geworden, als es früher war; es ist kein Wartezustand mehr, auf Heimkehr abgestellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nationen an und auf eine Vereinheitlichung der Welt.“

Weitere Inhalte

Felix Messerschmid, Dr. phil., Ober-studiendirektor, Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing, geb. 14. 11. 1904 in Untertalheim/Schwarzwald. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der allgemeinen, der politischen und politisch-historischen Pädagogik, der Kulturpolitik und der Erwachsenenbildung.