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Schicksalsstunden in der politischen Geistesgeschichte des chinesischen Kommunismus 1919-1966 | APuZ 49/1966 | bpb.de

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APuZ 49/1966 Schicksalsstunden in der politischen Geistesgeschichte des chinesischen Kommunismus 1919-1966

Schicksalsstunden in der politischen Geistesgeschichte des chinesischen Kommunismus 1919-1966

Gottfried-Karl Kindermann

Einleitung

INHALT dieser Ausgabe Einleitung I. Die „Neue Kulturbewegung“ von 1919 als Wegbereiterin des Marxismus und Liberalismus in China II. Zum Ursprung des ideologischen Konflikts zwischen Sunyatsenismus und chinesischem Kommunismus 1923— 1927 1. Sun Yat-sen und der Beginn der chinesisch-sowjetischen Zusammenarbeit 2. Die Kontroverse um den Klassenkampf in China 3. Der Kampf um die Führung der nationalen Revolution 4. Das Bündnis mit Moskau: Mittel oder Dogma?

Inhalt der nächsten Ausgabe III. Vom Experiment m?

Der Versuch einer Aussage zur politischen Geistesgeschichte des chinesischen Kommunismus auf relativ knappem Raum wirft für den Autor die Frage nach der Auswahl der zu behandelnden Probleme auf. In der hier vorliegenden Abhandlung wurde versucht, drei entscheidende Phasen der politischen Geistesgegeschichte des chinesischen Kommunismus zu skizzieren: die „Kulturelle Erneuerungsbewegung von 1919", die die Entstehung des chinesischen Kommunismus maßgeblich, wenn auch nur indirekt beeinflußt hat; den Beginn und die Kernpunkte der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Sunyatsenismus, die auf weltanschaulicher Ebene den Prolog zu dem bald vierzigjährigen Bürgerkrieg zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang (Nationale Volkspartei, seit 1949 auf Formosa beschränkt) gebildet hat; die „Hundert Blumen-Affäre" und ihre Rückwirkungen auf die gegenwärtig im kommunistischen China propagierte „proletarische Kultur-revolution" zur Verteidigung der Lehren Mao Tse-tungs.

Für die Auswahl gerade dieser Phasen und ihrer Problematik waren drei Gesichtspunkte maßgeblich.

Erstens sollte an Stelle der häufig gewordenen Darstellungen von Konflikten des chinesischen Kommunismus mit auswärtigen Gegnern (USA, Indien, UdSSR) auf wichtige Phasen seiner Kontakte und Auseinandersetzungen mit innerchinesischen Bewegungen und Gruppen hingewiesen werden.

Zweitens bot die hundertste Wiederkehr des Geburtstages von Sun Yat-sen am 12. November 1966 einen gebührenden Anlaß dazu, sich auf die ideologischen Auseinandersetzungen des chinesischen Kommunismus mit seinem wichtigsten innerpolitischen Rivalen, das heißt mit der Kuomintang und insbesondere ihrer Ideologie, dem Sunyatsenismus, zu besinnen. Dieser Konflikt zwischen chinesischem Kommunismus und Sunyatsenismus bildet die weltanschauliche Komponente des im April 1927 ausgebrochenen und seither in den verschiedensten Phasen und Formen durchgeführten Bürgerkrieges zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten, der in der Gegenwart (seit 1949/50) die Form der Auseinandersetzung zwischen dem kommunistischen Regime in Kontinentalchina und dem nationalchinesischen auf der chinesischen Insel Taiwan (Formosa) angenommen hat. In dieser neuen Konstellation ist der Sunyatsenismus zu einer der Ideologien des chinesischen Widerstandes gegen den maoistischen Kommunismus geworden. Paradox an dieser Situation ist die Tatsache, daß Sun-Yat-sen als profiliertester Führer der republikanischen Revolutionsbewegung, die 1911 die mandschurische Ch'ing-Dynastie stürzte, und als „Vater der Republik China" zu einer charismatisch so bedeutsamen Schlüsselfigur für die Geschichte des modernen China geworden ist, daß sich sowohl das kommunistische Regime Mao Tse-tungs wie auch das nationalchinesische Regime Chiang Kai-sheks auf Sun Yat-sen als ihren geistigen Vorläufer berufen und Millionen national gesinnter, aber parteilich ungebundener Auslandschinesen in Südostasien diese scheinbar über den Parteien stehende Persönlichkeit Sun Yat-sens zum Symbol ihrer Identifizierung mit der chinesischen Heimat und ihrer nationalen Erneuerung im 20. Jahrhundert gewählt haben.

Drittens jährt sich 1966/67 zum zehnten Mal die Erinnerung an jenes maoistisch-kommunistische Experiment mit der absolut freien Kritik des kommunistischen Regimes durch die chinesischen Intellektuellen, das unter dem Namen der „Hundert Blumen-Affäre" international bekannt geworden ist. Der gleichsam traumatische Schock, den die Art und Intensität der damals geäußerten Kritik auf die kommunistische Parteiführung in China ausübten, findet in der 1966 mit größter Radikalität durchgeführten und kulturpolitisch motivierten „Säuberungsbewegung" innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei Chinas sein unüberhörbares Echo. Was aber die Ziele der Bewegung von 1966 mit der Hundert-Blumen-Bewegung von 1956/57 und diese wiederum mit der Kulturellen Erneuerungsbewegung von 1919 — ungeachtet ihrer inhaltlichen Verschiedenheit — verbindet, ist der in den Reihen chinesischer Intellektueller immer wieder zu findende Geist der Rebellion gegen alles, was — zu Recht oder zu Unrecht — als bedrückende Orthodoxie empfunden wird. Daß diese Mentalität in der chinesischen Geistesgeschichte nichts Neues ist, hat einer der führenden Denker der Kulturellen Erneuerungsbewegung von 1919 mit den Worten bestätigt:

„Sich jedem Problem mit dem Geist des Zwei-fels zuzuwenden, die Wahrheit und keine Kompromisse zu suchen, das ist der Geist jener chinesischen Denker gewesen, die die Fackel der geistigen Freiheit Jahrhunderte hindurch getragen haben. Dieser Geist hat es den chinesischen Denkern der Gegenwart ermöglicht, sich in dieser neuen Welt der Wissenschaft, Technik und Demokratie zu Hause zu fühlen."

I. Die „Neue Kulturbewegung" von 1919 als Wegbereiterin des Marxismus und Liberalismus in China

Wie Karl Marx vor etwa hundert Jahren vorausschauend bemerkte, sind die das altchinesische Reichs-und Kulturgefüge sprengenden Kräfte und Bewegungen innerchinesische Reaktionen auf die gewaltsame kommerzielle Öffnung sowie die politische und kulturelle Durchdringung Chinas durch die westlichen Kolonialmächte gewesen.

Die machtpolitische Überwältigung Chinas durch den Westen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sein jäher Anschluß an die Realitäten des Industriezeitalters und seine Konfrontation mit der technisch-zivilisatorischen Überlegenheit des Westens zerstörten das jahrtausendealte Selbstverständnis und Weltbild des konfuzianischen China. Dieses hatte das „Reich der Mitte" als Achse und Gipfelpunkt der Weltkultur und Weltgeschichte und seinen Kaiser als den vom Himmel berufenen „Zentralherrscher" betrachtet, dem die Regenten aller anderen Reiche — einschließlich der Staaten Europas — untertan sein sollten.

Seit dem Zerbrechen dieses sowohl universalistisch wie auch zugleich sinozentrischen Weltbildes des konfuzianischen Imperiums taucht in allen chinesischen Bewegungen zur Modernisierung Chinas ein Fragenkomplex auf, der, gleich einem Leitmotiv, in all den Phasen und Metamorphosen der seitherigen Geistesgeschichte Chinas immer wieder anklingt. Es sind dies die miteinander verbundenen Fragen nach den Ursachen der chinesischen Niederlagen, nach dem Weg zu einer Erneuerung und Wiedererstarkung Chinas sowie nach einem neuen, wirklichkeitsentsprechenden Weltbild und Selbstverständnis des chinesischen Volkes und seiner geistigen Eliten. Vor der republikanischen Revolution von 1911, die — sieben Jahre vor Beginn der russischen Oktoberrevolution — die Herrschaftsordnung des kaiserlichen China stürtzte, gab es vier innerchinesische Bewegungen, die in sehr verschiedener Weise eine Erneuerung Chinas anstrebten. Es waren dies: Der Taiping-Aufstand, eine sozialrevolutionäre und pseudo-christliche Sektenbewegung — deren Gründer und Führer Hung Hsiu-ch’üan sich zum jüngeren Bruder Christi erklärte—, die zwischen 1850 und 1864 im Verlauf eines furchtbaren Bürgerkrieges einen großen Teil Chinas erobern konnte. 2. Die traditional-konfuzianische Bewegung zur „Selbststärkung" Chinas in der sogenannten T'ung-chih-Ära in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, deren Führer die Kriegs-und Verkehrstechnik des Westens übernehmen wollten, um die konfuzianische Kultur gegen den Ansturm der „westlichen Barbaren" zu verteidigen. Die konfuzianischen Staatsmänner an der Spitze dieser regional nur unterschiedlich wirksamen Bewegung wurden die Gründer der modernen chinesischen Industrie. Ihrer Absicht zufolge sollten diese materiellen Defensivmaßnahmen mit intensiven Bemühungen um eine Revitalisierung der konfuzianischen Staats-und Sozial-ethik im Bereich der politischen Praxis ergänzend verbunden werden.

3. Die sogenannte „Reformbewegung der Hundert Tage" von 1898, deren Träger, dem Beispiel Japans folgend, durch die Autorität des Kaiserhauses „Reformen von oben" erlassen und eine weitgehende Modernisierung Chinas evolutionär, ohne Anwendung massiver Gewalt, jedoch begleitet von einer modernisierenden Neuinterpretation des chinesischen Kulturerbes erwirken wollten. Doch scheiterte der idealistische Übereifer der Reformpolitiker am taktisch überlegenen Widerstand der konservativen Kräfte. 4. Die sektiererische Boxer-Bewegung, die 1900 mit untauglichen Mitteln blinder Gewalt und irrationaler Magie die „fremden Barbaren" mit Feuer und Schwert zu vertreiben suchte, jedoch statt dessen — nach der berühmten Belagerung des europäischen Botschaftsviertels in Peking — eine vereinte militärische Strafexpedition der Kolonialmächte gegen China bewirkte.

Das Scheitern der evolutionären Reformprogramme hatte 1905 die Gründung des „Chinesischen Revolutionsbundes' unter Führung Dr. Sun Yat-sens begünstigt. Sein Ziel bestand darin, die in China seit 1644 regierende mandschurische Ch'ing-Dynastie zu stürzen und an ihre Stelle eine demokratische Republik zu setzen, deren Regierung umfassende politische, soziale und kulturelle Reformen in die Wege leiten sollte.

Zwar gelang es 1911, das chinesische Kaisertum zu stürzen und die neue „Republik China" zu proklamieren. Doch wurden die revolutionären Idealisten wenige Monate nach diesem Sieg von der Macht in der neuen Republik verdrängt. Nach dem Tode des Diktators Yüan Shih-k’ai (1916) kam es zu nahezu pausenlosen Bürgerkriegen zwischen selbstherrlichen Militärgouverneuren der einzelnen Regionen und Provinzen Chinas. Im Bereiche der chinesischen Politik schien somit lediglich ein neues Übel an die Stelle eines alten getreten zu sein.

In dieser entscheidenden Situation des Versagens derer, die im neuen China zunächst über die politische Macht verfügten, ging die Initiative zur Erneuerung Chinas in die Hände der chinesischen Intellektuellen über, die sich seit Jahrtausenden als geistige Führungsschicht des chinesischen Volkes verstanden und als solche fungiert hatten. Sie waren die Initiatoren und Träger jener „Kulturellen Erneuerungsbewegung vom 4. Mai 1919", deren Bedeutung für die Geistesgeschichte Chinas im 20. Jahrhundert kaum überschätzt werden kann 1).

Die innere Kraft dieser Bewegung bildete das spontane Verlangen weiter Kreise der chinesischen Intelligenz, sich vorbehaltlos dem geistigen Leben und insbesondere den neuesten geistigen Strömungen Europas und Amerikas anschließen zu können. Von diesem Anschluß erhoffte man die Möglichkeit einer neuen, durch keinerlei Rücksicht auf Traditionen gehemmte Teilhabe am geistigen Fortschritt der Gegenwart. Im Gefühl der Unzulänglichkeit der eigenen Kulturtradition als Instrument zur geistigen Daseinsbewältigung strebten die Verfechter der Neuen Kulturbewegung danach, sich mit neuen, von der Philosophie und Wissenschaft des Westens geborgten geistigen Werkzeugen eine neue Welt und vor allem ein neues kulturelles Selbstverständnis zu zimmern. Zu den geistigen Führern und Initiatoren dieser Bewegung zählten viele der bedeutendsten Gelehrten und Schriftsteller des modernen China. Ihre Gefolgschaft waren die chinesischen Studenten, ihr Hochburgen die chinesischen Universitäten und insbesondere die Nationale Universität in Peking.

Zwei Hauptströmungen innerhalb dieser Bewegung verdienen im Hinblick auf ihre Haltung gegenüber der chinesischen Kulturtradition besondere Beachtung. In der radikaleren dieser beiden Bewegungen, deren treibende Kraft Ch’en Tu-hsiu der spätere Mitbegründer und erste Generalsekretär der Kommunistischen Chinas war, erreichte der Partei gegen die eigene Kulturtradition gerichtete Ikonoklasmus, das heißt die Bilderstürmerei der Neuen Kulturbewegung, seinen Höhepunkt; denn Ch'en Tu-hsiu und seine Anhänger verwarfen nicht nur die konfuzianische Überlieferung in ihrer Gesamtheit, sondern verneinten gleichzeitig die Möglichkeit einer Verbindung tradierter chinesischer und rezipierter europäischer Kulturelemente. So schrieb Ch’en Tu-hsiu beispielsweise: „Westliche und chinesische Methoden sind absolut verschieden und keineswegs miteinander vereinbar, gleichgültig ob es sich um Politik, Wissenschaft, Moral oder Literatur handelt.... Wenn wir uns zur Beibehaltung des Alten entschließen, müssen wir überall alte chinesische Methoden anwenden, und es ist dann nicht nötig, unnütz Geld auszugeben, um Studenten ins Ausland zu schicken und Schulen zum Studium westlicher Wissenschaften zu unterhalten. Wenn wir uns aber zu Neuerungen entschließen, müssen wir überall neue westliche Methoden anwenden, und es ist dann nicht nötig, mit solchen falschen Ausdrücken wie . nationales Erbgut'oder . nationaler Charakter'Verwirrung zu stiften."

Ch'en Tu-hsius Aufforderung zum kompromißlosen Bruch mit der Vergangenheit und zu vollständiger „Verwestlichung" unter den fand Anhängern der Neuen Kulturbewegung ein weites Echo. Welche Motive aber veranlaßten den späteren Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas zur Annahme dieser Haltung? Er selbst beantwortet diese Frage im Zuge seiner vergleichenden Betrachtungen über die Kulturen des Orients und des Okzidents. Er kontrastiert darin die vermeintliche Passivität und den Pazifismus der traditionellen chinesischen Lebenshaltung mit dem von ihm bewunderten Aktivismus, der Aggressivität und dem Unternehmungsgeist des Okzidents. Ch’en verurteilt die antiutilitaristischen Tendenzen des Konfuzianismus im Gegensatz zu dem fortschrittsfördernden -Utili tarismus, den er als positiven Grundzug der okzidentalen Lebenshaltung betrachtet. Er verwirft die konfuzianische Hochwertung der Familie, da das chinesische Familiensystem einerseits die Bewegungsfreiheit und Entfaltung der Einzelpersönlichkeit hemme und andererseits die Ausübung wirksamer Regierung (= Herrschaft) erschwere. Ch’en vermerkt zwar, daß der politische und wirtschaftliche Aktivismus der Europäer und Amerikaner den Orientalen oft „als Wahnsinn" erscheine, fügt jedoch ironisch hinzu: „. . . aber in welcher Lage befinden sich die Völker des Orients in der Gegenwart mit all ihrer Vorliebe für Frieden, Ruhe und Harmonie?" Seine Bewunderung für den okzidentalen Aktivismus, verbunden mit seinem Willen zum totalen Bruch mit der Vergangenheit mögen Faktoren gewesen sein, die Ch’en Tu-hsius Hinwendung zum Marxismus-Leninismus maßgeblich beeinflußt haben.

Auf Ch’en wie auch auf Li Ta-chao, den zweiten bedeutenden Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas, hatte vor ihrer Bekehrung zum Kommunismus der zwischen 1919 und 1921 in China lehrende amerikanische Philosoph John Dewey mit seiner Materialismus und Behaviorismus verbindenden Philosophie des Pragmatismus einen tiefen Eindruck ausgeübt Deweys Einfluß -er streckte sich jedoch nicht nur auf den später zum Marxismus umschwenkenden Flügel der Neuen Kulturbewegung, sondern auch auf zahlreiche Vertreter ihrer anderen Strömungen. Der von ihm gelehrte Wertrelativismus erwies sich als wirksame Waffe in den Händen der chinesischen Antitraditionalisten. Mao Tse-tung, der in diesen Jahren als Bibliotheksassistent Li Ta-chaos tätig war, hat später in einer seiner bekanntesten Schriften die geistig bahnbrechende Rolle anerkannt, die der Neuen Kulturbewegung als Wegbereiterin des chinesischen Kommunismus zukam. So sagt er in seiner Schrift „über die Neue Demokratie" u. a.: „Die Kulturrevolution der . Bewegung des 4. Mai'führte einen konsequenten Kampf gegen die feudale Kultur. In seiner ganzen Geschichte hatte China noch keine so große und konsequente Kulturrevolution gekannt. Unter den zwei großen Bannern der Kulturrevolution, dem Kampf gegen die alte Moral und für die neue Moral, dem Kampf gegen die alte Literatur und für die neue Literatur, hat sie sich gewaltige Verdienste erworben. .. . Die . Bewegung des 4. Mai'hat ideologisch und kadermäßig die Gründung der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 1921 vorbereitet ..."

In der gleichen Schrift erklärt Mao Tse-tung, daß in China eine neue marxistisch geprägte Kultur einer alten konfuzianisch orientierten Kultur gegenüberstehe, wobei die letztere gelegentlich Verbindungen mit nichtmarxistischen Kulturelementen des Okzidents eingehe. Von dieser letztgenannten synkretistischen Kulturform sagt er: „Sie muß zerschlagen werden. Ohne sie zerschlagen zu haben, kann man keine Kultur aufbauen. . . . Der Kampf zwischen der neuen und der alten Kultur ist ein Kampf auf Leben und Tod."

Doch entwickelten sich innerhalb der Neuen Kulturbewegung und im Hinblick auf deren Bewertung der chinesischen Kulturtradition andere einflußreiche Strömungen, deren Kulturkritik nicht in den ikonoklastischen Extremismus eines Ch'en Tu-hsiu einmündete. Als bei weitem wirkungsmächtigster und einfallsreichster Denker der zweiten Hauptströmung der Neuen Kulturbewegung kann der chinesische Literaturhistoriker Hu Shih gelten. Seine Persönlichkeit symbolisiert jene Richtung innerhalb der Bewegung, die ohne vorgefaßte Zielsetzungen ein neues chinesisches Selbst-und Weltverständnis auf der Grundlage streng wissenschaftlicher Untersuchungen des chinesi-sehen Kulturerbes erarbeiten wollte. Das bedeutete im Hinblick auf die chinesische Kultur-geschichte beispielswiese eine quellenkritisch zu erringende Trennung zwischen Mythos und beweisbarer Faktizität. Im Bereich der Literatur waren es Hu Shih und seine Anhänger, hier auch unterstützt von Ch'en Tu-hsiu, die im Zuge einer „literarischen Revolution" die stilistisch überfeinerte und hochkomplizierte chinesische Literatursprache zugunsten der lebensnahen chinesischen Umgangssprache beiseite schieben wollten. Hu Shih sagte darüber: „Wenn wir aufrichtig China eine Literatur zu geben wünschen, die nicht nur ein Ausdruck des wirklichen Lebens und Denkens unserer eigenen Zeit ist, sondern auch eine wirksame Kraft bei intellektuellen und sozialen Reformen, dann müssen wir uns zunächst von den Fesseln einer toten Sprache befreien, die früher einmal das passende literarische Mittel für unsere Vorväter gewesen sein mag, die aber gewiß nicht angebracht ist für die Schaffung einer lebenden Literatur unserer eigenen Zeit."

Uber Ziel und Methodik eines auf wissenschaftlicher Basis neu zu erarbeitenden kulturellen Selbstverständnisses heißt es bei Hu Shih: „Wir haben hinsichtlich des altüberkommenen wissenschaftlichen Denkens nur eine positive Absicht — sie ist: Ordnet unser nationales Erbe neu! Warum soll man neu ordnen? Weil das wissenschaftliche Denken der alten Zeit bisher nicht folgerichtig, inkonsequent und unsystematisch war. Daher ist der erste Schritt die folgerichtige und systematische Neuordnung." Der nächste Schritt sollte nach Hu Shih darin bestehen, „... bei jedem wissenschaftlichen Gedanken herauszufinden, wie er entstanden ist und was für eine Wirkung er nach seinem Entstehen hatte." Ein dritter Schritt müsse darauf abzielen, „... mit wissenschaftlicher Methodik und auf Grund genauer Untersuchungen die Ansichten der Alten klarzustellen", während eine letzte zusammenfassende Untersuchung das Ziel haben sollte: den verschiedenen geistigen Richtungen (der chinesischen Kulturgeschichte) wieder ihre ursprüngliche wahre Form und ihren wahren Wert zu geben"

Ungehindert vom Frageverbot der gestürzten staatlichen Orthodoxie sollte so die Gesamtheit des chinesischen Kulturerbes in Frage ge-stellt werden, um im Schmelzofen moderner Kulturkritik historische Legenden von historischen Tatsachen und nur zeitbedingte Werte von bleibenden Werten zu trennen. Daneben sollten weite, von der konfuzianischen Orthodoxie bisher nur ungenügend beachtete Bereiche und Leistungen der chinesischen Volks-kultur neu erschlossen und dem ganzen Volk als Teil seines Kulturerbes bewußt und damit zu eigen werden.

In der Geschichte des vorkommunistischen China stellt die Neue Kulturbewegung unzweifelhaft einen Höhepunkt an bewußt geförderter geistiger Akkulturation dar. In ihr manifestiert sich das endgültige Zerbrechen des traditionalen Kulturgefüges in seiner bisherigen inneren Geschlossenheit. Der Charakter der Bewegung erscheint ambivalent in seinem Nebeneinander von Ikonoklasmus auf der einen Seite und der Neuerschließung vorhandener kultureller Potenzen und Leistungen auf der anderen. Das Streben nach maximaler unbeschönigender Wahrheit und Klarheit dem eigenen Kulturerbe gegenüber beeindruckt ebenso, wie Ausbrüche der totalen Verachtung der eigenen Kultur und unkritische Übernahme oft nur oberflächlich verstandenen fremden Kulturgutes abstoßen. Denn die Kulturkritik der Neuen Kulturbewegung war überwiegend einseitig gegen die chinesische Kulturtradition gerichtet, ohne sich gleichzeitig ebenso kritisch mit den vom Westen einströmenden Ideen auseinanderzusetzen. Im Zuge ihrer Verwerfung oder Distanzierung von der eigenen philosophischen Tradition hatten viele Anhänger dieser Bewegung zunächst jene kulturell bodenständigen Wertmaßstäbe, Perspektiven und Bezugspunkte aufgegeben, von denen her eine kritische Auseinandersetzung mit den Ideen des Okzidents möglich gewesen wäre. In solchen Fällen aber, wo kulturelle Selbstentfremdung und Entlassung aus der Geborgenheit eines in sich geschlossenen Kultur-systems von intellektuell weniger autonomen Persönlichkeiten erfahren wurde, entstand leicht die Versuchung zum unkritischen Anschluß an fremde ideologische und philosophische Systeme. Je mehr dieselben beanspruchen konnten, als „neuestes und folglich fortschrittlichstes" Ideengut der Gegenwart zu gelten, desto größer war ihr Attraktion für kulturell entwurzelte und fortschrittshungrige, jedoch in ihrer geistigen Daseinsbewältigung relativ unselbständige Intellektuelle.

Ein weiterer bedeutsamer Zug der „Bewegung vom 4. Mai 1919“ manifestiert sich in dem Aufflammen eines neuen Nationalgefühls bei den chinesischen Akademikern und anderen Bevölkerungskreisen. Zum Anlaß dazu wurden jene Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles, auf Grund deren, ungeachtet der Kriegsteilnahme Chinas auf Seiten der Alliierten, zahlreiche vormals deutsche Rechte auf chinesischem Boden nicht an China zurückfallen, sondern von Japan übernommen werden sollten Ein Sturm nationaler Entrüstung richtete sich gegen Japan und die anderen Siegermächte, aber auch gegen solche Politiker innerhalb der damaligen chinesischen Regierung, von denen angenommen wurde, sie hätten die Übernahme der vormals deutschen Rechte in der Provinz Schantung durch Japan und die Annahme der „Einundzwanzig Forderungen" Japans an China durch die chinesische Regierung befürwortet. Diese Entrüstung wirkte sich in machtvollen Studenten-versammlungen sowie in der Durchführung eines wirksamen einjährigen Boykotts gegen japanische Waren aus. Ein neuer Geist offent-licher Verantwortung für die Belange der Nation war entstanden.

Charakteristisch für viele der traditionsgebundeneren Kritiker der Kulturellen Erneuerungsbewegung sind die nachstehend wiedergegebenen, teilweise ironischen Bemerkungen Chiang Kai-sheks: „Nach der kulturellen Erneuerungsbewegung vom 4. Mai 1919 verbreiteten sich in China unter den gebildeten Schichten die Lehren eines individualistischen Liberalismus und eines klassenkämpferisdien Kommunismus. Jene Chinesen, die diese Ideologien verbreiteten, verstanden jedoch nichts von dem zeitlos Wesenhaften der chinesischen Kultur, sondern suchten einfach nach irgend etwas Neuem. Dabei vermochten sie doch nur die oberflächlichen Erscheinungen der westlichen Zivilisation zu imitieren, ohne — zum Nutzen für das chinesische Volk — zur eigentlichen Substanz der westlichen Lehren vorzudringen. Die Folge war, daß die gebildeten Schichten und die Gelehrten ihre Selbst-achtung und damit auch ihr Selbstvertrauen verloren. Wo ihre Ansichten vorherrschten, wurde alles Ausländische für gut und alles Chinesische für schlecht hingenommen. Es wurde zur Gewohnheit, das eine oder andere Volk zu vergöttern. Dabei bildeten sich verschiedene Cliquen, weil es ja mehr als nur einen fremden Staat und mehr als nur eine fremde Theorie gibt. Jede dieser Cliquen versuchte, die Lebensformen einer bestimmten Nation zu kopieren, vergötzte eine bestimmte Theorie, bildete um diese ihre besondere Gruppe und erklärte, alle, die zu dieser Gruppe gehörten, seien auf dem rechten Wege, und alle, die ihr nicht angehören, gingen in die Irre.

Wie sich aber die aus den verschiedenen Völkern zu uns kommenden Lehren fortwährend wandelten, so mußten dementsprechend auch unsere Cliquen forgesetzt ihre Theorien ändern. Von einer objektiven Warte aus gesehen muß gesagt werden, daß ihre Ideen und Vorschläge dem Wesen und der Psyche unseres Volkes nicht entsprachen, und von subjektiven Standpunkt her entbehrten diese Ideen jeder festen Grundlage, da sie auf fremdländischen Theorien beruhten und somit einem unausgesetzten Wandel unterworfen waren. So haben denn alle diese geistigen Bewegungen bei uns nur eine kurze Dauer gefristet.“

10a)

In der weiteren Geschichte der Neuen Kultur-bewegung und ihrer Träger vertiefte und erweiterte sich jene Dichotomie des Ansatzes, welche die stärker politisch engagierten radikalen Ikonoklasten von den Anhängern einer primär wissenschaftlich orientierten Kulturkritik trennte. Aus den Reihen der Radikalen sind die späteren Begründer und andere prominente Führer der Kommunistischen Partei Chinas hervorgegangen Von den liberaleren und politisch weniger aktiven Persönlichkeiten der Neuen Kulturbewegung bevorzugten viele das ideologisch weniger engmaschige Lager der nationalchinesischen Kuomintang Diese Bevorzugung bedeutete in vielen Fällen jedoch keine Identifizierung mit dem von Chiang Kai-shek geförderten, betont traditionalistischen Flügel innerhalb der Kuomintang. Hu Shih und seine Gesinnungsfreunde haben im Gegenteil in späteren Jahrzehnten im nationalchinesischen Lager zahlreiche Kontroversen mit dortigen orthodoxeren Vertretern des Traditionalismus geführt, wobei es keineswegs immer die letzteren waren, welche die Ober-hand behielten Der an die Adresse man eher liberaler Denker der Neuen Kulturbewegung gerichtete Vorwurf, sie seien auf Grund ihrer später zutage getretenen Wertschätzung mancher Züge der konfuzianischen Kulturtradition „reaktionär" geworden, sollte allein schon aus drei Gründen im Einzelfall jeweils mit Sorgfalt überprüft werden:

Wenn man mit Chow Tse-tung die Ansicht vertritt, daß im Anfangsstadium der Bewegung gewisse intellektuelle Exzesse erforderlich gewesen seien, um ihr zum Durchbruch zu verhelfen so erscheint doch eine spätere Rückbesinnung und Mäßigung nach erlangtem Durchbruch durchaus naheliegend. Diese Tendenz zur Rückbesinnung auf manche Elemente des eigenen Kulturerbes erfolgte fernerhin nach Jahren und Jahrzehnten eines erweiterten Kontaktes mit der Kulturwelt des Okzidents, der für die überoptimistischen Hoffnungen mancher chinesischer Intellektueller manche Enttäuschungen sowie die anfangs oft übersehene Erkenntnis mit sich bringen mußte, daß auch die okzidentale Kulturgeschichte über vitale Traditionen verfügte, die zeitlich weit jenseits des Zeitalters der Aufklärung lagen Letztlich hatte der liberalere Flügel der Neuen Kulturbewegung seine wissenschaftlich-kulturkritische „Neubewertung des nationalen Kulturerbes" nicht als Selbstzweck und weniger noch als Rechtfertigung eines vorgefaßten Ikonoklasmus betrachtet, sondern er wollte, wie Hu Shih bereits 1919 betonte, seine Kulturkritik als Katalysator verstanden wissen, an Hand dessen man aus dem Durcheinander von Mythen und Wahrheiten „einen folgerichtigen Zusammenhang" und „aus Willkür und Aberglauben einen wahren Wert“ herauskristallisieren könne „Hinsichtlich der aus alter Zeit überlieferten Lehren von Weisen und Philosophen", so hatte Hu Shih damals geschrieben, „müssen wir fragen: stimmen diese Worte auch heute noch?" Im Sinne dieser ursprünglichen Ausgangsposition und Fragestellung scheint es verständlich, daß eine neuerliche Hinwendung auch zu den Hauptströmungen der chinesischen Kulturtradition dort erfolgte und konsequenten-weise erfolgen mußte, wo aus dem Schmelz-ofen solcher Kulturkritik die Erkenntnis bleibender Werte hervorgegangen war

Ebenso unrichtig erscheint aber auch die von extremistischen Nationalisten erhobene Behauptung, die Neue Kulturbewegung sei von Anfang an nichts anderes gewesen als eine Wegbereiterin des chinesischen Kommunismus. Der Irrtum dieser Ansicht ergibt sich nicht allein aus der späteren Spaltung unter den Anhängern der Bewegung sondern auch aus der Episode der „Hundert Blumen Kampagne" von 1957, in deren Verlauf chinesische Akademiker und Studenten den tragisch endenden Versuch unternahmen, den alle Orthodoxie in Frage stellenden Geist der Neuen Kulturbewegung nun auch im Hinblick auf den chinesischen Kommunismus in Anwendung zu bringen

So ist, wie Wolfgang Franke hervorhob, die Neue Kulturbewegung von epochaler Bedeutung, nicht nur auf Grund ihres Bruches mit der in sich geschlossenen Form der bisherigen chinesischen Kulturtradition denn darüber hinausgehend kommt ihr vielmehr welt-politische Bedeutung durch die bereits früh vollzogene weltanschauliche Frontenbildung innerhalb der Bewegung selbst zu. Bahnt sich doch in ihrem Vollzug auf geistiger Ebene jene schicksalsvolle Entwicklung an, in deren Verlauf Chinas Bürgerkrieg in wachsendem Maße in das Spannungsfeld des bipolaren Konfliktes der Weltmächte einbezogen wird.

II. Zum Ursprung des ideologischen Konflikts zwischen Sunyatsenismus und chinesischem Kommunismus

1. Sun Yat-sen und der Beginn der chinesisch-

sowjetischen Zusammenarbeit Am 12. November 1966 jährte sich zum hundertsten Male der Geburtstag Sun Yat-sens, der in die Geschichte als „Vater der chinesischen Revolution" und Gründer der Republik China eingegangen ist. Die Erinnerung an sein Leben und Werk ist sowohl von der Kommunistischen Partei Chinas in Kontinentalchina wie auch von der nationalchinesischen Regierung in Taiwan (Formosa) betont gepflegt worden. Mao Tse-tung wie auch Chiang Kai-shek betrachten sich — wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise — beide als politische Erben dieses großen Staatsmannes und Staatsdenkers des modernen Asien, der in vielen Aspekten seines Wirkens das Vorbild für zahlreiche nachfolgende Staatsmänner und Ideologen in den Entwicklungsländern Asiens und Afrikas geworden ist.

Betrachtet man die Haltung der chinesischen Kommunisten und der chinesischen Nationalen Volkspartei (Kuomintang) in ihrer Selbstdarstellung, so könnte man meinen, daß zumindest in der gemeinsamen Erinnerung und nach außen zur Schau getragenen Verehrung des Andenkens an Sun Yat-sen die tiefe Kluft überwölbt werde, die die beiden Parteien des nunmehr bald vierzigjährigen chinesischen Bürgerkrieges voneinander trennt. Symbolisch für die äußerliche Spaltung des politischen Erbes Sun Yat-sens ist die Tatsache, daß seine Witwe (Madame Soong Ching-ling) in Peking und sein Sohn (Dr. Sun Fo) in Formosa leben. Geht man jedoch einen Schritt weiter und analysiert die Selbstdarstellung, um nach dem wirklichen Selbstverständnis der chinesischen Parteien in ihrem Verhältnis zur Person und Ideologie Sun Yat-sens zu fragen, so ergibt sich ein stärker differenziertes Bild.

Für die Geschichte Chinas und insbesondere für den chinesischen Kommunismus hat der Sunyatsenismus eine zweifache Bedeutung: Er war erstens die einzige von realer politischer und militärischer Macht getragene chinesische Ideologie, die in Kontinentalchina ein Viertel-jahrhundert lang mit dem chinesischen Kom-minismus konkurrierte und diesen so lange von der Machtergreifung femhielt, bis der China von Japan aufgezwungene und acht Jahre lang auf chinesischem Boden geführte Krieg die Widerstandskraft des nationalchinesischen Regimes zermürbt hatte. Zweitens ist der Sunyatsenismus in der Gegenwart die Ideologie der nationalchinesischen Widerstandsregierung in Taiwan (Formosa), die sich sowohl vermöge ihrer eigenen inneren Umgestaltung wie auch wegen der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten als sichtbare Form des „anderen China" auf der chinesischen Insel Taiwan erhalten und entwickeln konnte.

Auf den nachstehenden Seiten wird der Versuch unternommen, die Gegensätze zwischen dem Sunyatsenismus und dem chinesischen Kommunismus an Hand jener weltgeschichtlich bedeutsamen Kontroverse zu skizzieren, die auf ideologischer Ebene (neben zahlreichen anderen machtpolitischen Faktoren) den bis in die Gegenwart in veränderter Form anhaltenden Bürgerkrieg zwischen der National-chinesischen Volkspartei (Kuomintang) und der Kommunistischen Partei Chinas ausgelöst hat. Die Bedeutung dieser Kontroverse reicht bei weitem über den Rahmen der chinesischen Geschichte hinaus; denn seither hat sich in Entwicklungsländern immer wieder die damals in China gegebene politische Konstellation wiederholt, in der die Kräfte des ausländischen und inländischen Kommunismus, der nationalrevolutionären Bewegung im eigenen Land und der nichtkommunistischen, teilweise kolonialistischen Großmächte des Auslandes miteinander in Kontakt und Konflikt geraten.

Der 1866 als Sohn armer chinesischer Bauern geborene Sun Yat-sen, der als einer der ersten politisch führenden Chinesen westliche Naturwissenschaften (Medizin) studierte, war nach dem Scheitern der evolutionär orientierten monarchistischen Reformbewegung mit voller Entschiedenheit zum Verfechter und Führer einer Revolutionsbewegung geworden, die Chinas Demütigungen als Folge seiner Rückschrittlichkeit und Chinas Rückschrittlichkeit als Folge seines dynastischen Herrschaftssystems betrachtete. Für ihn führte der Weg zu Chinas Modernisierung, die es zum gleichberechtigten Mitglied der Völkerfamilie machen würde, über den gewaltsamen Sturz jener konservativen Kräfte in China, die sich geweigert hatten, selbst in entscheidender Weise zu Trägern der Reform zu werden.

Wie oben bereits erwähnt, siegte die Revolution 1911. Doch fiel die Macht im Staat nicht Sun Yat-sen und den idealistisch gesinnten Revolutionären zu, sondern den Militärgouverneuren verschiedener Provinzen, deren Rivalitäten China in eine mehr als zehnjährige Periode chaotischer Bürgerkriege (1916— 1928) stürzten.

Sun Yat-sen und seine Bewegung konnten sich nur in einer der Provinzen Chinas, in Kwangtung, in stets nur gefährdeter Weise halten und von dort aus ihre Pläne zur Erneuerung und Wiedervereinigung des von Bürgerkriegen und Generalsfehden zerrissenen China schmieden, überzeugt von der Notwendigkeit ausländischer Hilfe, hatte sich Sun Yat-sen an die Vereinigten Staaten, an Japan, Großbritannien, an Deutschland und an den Völkerbund gewandt. Als erster Staatsmann eines Entwicklungslandes entwarf er einen gewaltigen Plan zur industriellen Entwicklung Chinas durch die gemeinsame Entwicklungshilfe der Industriestaaten, die zur Verhinderung politischen Mißbrauchs von Instanzen des Völkerbundes neutral verwaltet werden sollte.

Jedoch nur ein Land zeigte sich bereit, Sun-Yat-sen zu unterstützen. Es war das bolschewistische Rußland, dessen Führer sich in der Hoffnung getäuscht sahen, daß sich die russische Oktoberrevolution als zündender Funke für revolutionäre Erhebungen des Proletariats in allen Industrieländern der Erde und somit als Initialzündung der Weltrevolution erweisen würde. Das Ausbleiben dieser vorausgesagten und erhofften Entwicklung erforderte ein Erklärung für die Anhänger der kommunistischen Weltbewegung. Und noch zu Lenins Lebzeiten formulierte der Zweite Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Sommer 1920 Antworten, die für die gesamte weitere Geschichte des Verhältnisses des Weltkommunismus zur Problematik der Entwicklungsländer bis zur Gegenwart in richtunggebender Weise bedeutsam werden sollten. Es hieß damals, das Proletariat der kapitalistischen Industriestaaten habe sich nicht erhoben, weil es diesen Staatem möglich sei, durch die Ausbeutung kolonialer und halb-kolonialer Gebiete den Lebensstandard ihrer Bevölkerung künstlich hoch zu halten. Daher werde die Weltrevolution nur dann eintreten, wenn die kommunistische Bewegung des Industrieproletariats in den entwickelten Ländern ergänzt würde durch antikoloniale nationalrevolutionäre Bewegungen in Entwicklungsländern. Von dieser Sicht des Problems der Weltrevolution her beschloß die Kommunistische Internationale, nichtmarxistische, jedoch nationalrevolutionäre Bewegungen in Entwicklungsländern zu unterstützen, sofern dieselben bereit seien, an ihrer Seite audi kommunistische Parteien zu dulden oder doch zumindest mit Moskau im Kampf gegen den gemeinsamen Feind des kolonialen Imperialismus gemeinsame Sache zu machen.

Das in China besondere Beachtung findende Verhältnis Sowjetrußlands zur türkischen nationalrevolutionären Bewegung Kemal Atatürks, das nicht einmal durch dessen Unterdrückung der türkischen Kommunisten wesentlich getrübt wurde, da sich die gemeinsamen außenpolitischen Interessen als wichtiger erwiesen, wurde zum Modell (dem soge-nannten „kemalistischen Modell"), das Sun Yat-sen und anderen nationalchinesischen Revolutionären bei der Gestaltung ihres Bündnisverhältnisses mit Sowjetrußland vor Augen schwebte.

Mit Hilfe sowjetrussischer Berater und russischen Geldes wollte Sun Yat-sen seine nur einen Teil Südchinas kontrollierende Partei, die Kuomintang, politisch und militärisch so reorganisieren, daß sie in der Lage sein würde, die militaristischen Provinzregimes in allen Teilen Chinas zu vernichten und die Wiedervereinigung Chinas unter dem Banner der Kuomintang zu vollziehen.

Nach Zusicherungen der Vertreter Moskaus, man hege dort keine Absicht, den Kommunismus nach China zu exportieren, wo er objektiv fehl am Platze wäre, und nachdem Moskau — sich dem ausdrücklichen Wunsch Sun Yat-sens beugend — die damals noch sehr kleine Kommunistische Partei Chinas gezwungen hatte, sich als Mitläuferorganisation der Kuomintang Sun Yat-sens anzuschließen und — formal zumindest — sich ihr zu unterstellen, wurde im Januar 1924 das Bündnis zwischen Sowjetrußland und der nationalchinesischen Revolutionsbewegung unter Sun Yat-sen formalisiert.

Nachdem Sun Yat-sen im März 1925 gestorben war und die Kuomintang damit die bisherige Eindeutigkeit ihrer Führungsstruktur verloren hatte, gelang es den chinesischen Kommunisten auf Grund ihrer wesentlich wirksameren Organisationsund Propaganda-technik, immer größeren Einfluß im Lager der vereinigten revolutionären Kräfte in Südchina zu gewinnen. Es bestand der Plan, die revolutionäre Basis im Süden unter kommunistische Kontrolle zu bringen, bevor der von Sun Yat-sen erhoffte „große Nordfeldzug" von Kanton nach Peking beginnen sollte. Ein erster Staatsstreich Chiang Kai-sheks am 20. März 1926 stellte temporär die Führungsposition der Kuomintang wieder her, und im Sommer des gleichen Jahres begann unter seiner Führung der Feldzug der Revolutionsarmee mit dem Ziel Peking. Innerhalb eines halben Jahres befanden sich die wichtigsten Provinzen Süd-, Südost-und Mittelchinas in dem Besitz der Revolutionsarmeen. Diese rasche räumliche Ausbreitung der Revolutionsgewalt über weite Gebiete brachte für die Kommunisten die Chance zu einer präzedenzlosen Machtentfaltung, so daß in Moskau die 1927 in Schanghai bestehende sogenannte „Schanghaier Kommune" als realer Ausgangspunkt einer Bewegung zur kommunistischen Machtergreifung in China betrachtet wurde.

Auch auf die Kolonialmächte hatte das Anwachsen des Kommunismus in China entscheidende Wirkungen. Führende auswärtige Mächte erklärten sich nun plötzlich bereit, China jene Stellung der Gleichberechtigung zu gewähren, deren Erkämpfung für Sun Yat-sen der Hauptzweck des Bündnisses mit Sowjetrußland gewesen war. Diese beiden Entwicklungstendenzen, das Ansteigen der damals noch von Stalin gelenkten kommunistischen Bewegung in China und die plötzliche Kompromißbereitschaft führender Kolonialmächte, veranlaßten Chiang Kai-shek am 12. April 1927 zur Durchführung seines zweiten Staatsstreiches. Durch ihn wurde die Schanghaier Kommune zerschlagen und in Nanking eine neue nationalrevolutionäre Regierung ohne Beteiligung der chinesischen Kommunisten gegründet.

Von diesem Tage an datiert der seither ununterbrochen, zumeist offen und während des Zweiten Weltkrieges primär latent geführte Bürgerkrieg zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang. In der Gegenwart nimmt dieser Konflikt die Form des Gegensatzes zwischen dem kommunistischen Regime in Kontinentalchina und dem nationalchinesischen Regime in Taiwan (Formosa) an. Dieser Konflikt ist vielschichtig. Was aber die Problemschicht des Weltanschaulichen betrifft, handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen dem Sunyatsenismus und dem chinesischen Kommunismus. Der Ursprung dieser ideologischen Kontroverse soll auf den folgenden Seiten dargestellt werden.

Im Sinne der Beschlüsse des zweiten und vierten Weltkongresses der Kommunistischen Internationale hatte die Kommunistische Partei Chinas den Auftrag erhalten, sich zum Zweck des Kampfes gegen die Kolonialmächte zwar mit der Kuomintang zusammenzuschließen, jedoch gleichzeitig für die Erweiterung der damals noch embryonisch kleinen Kommunistischen Partei und für die Verbreitung der kommunistischen Weltanschauung in China Sorge zu tragen. Sie sollte ihre zeitweilige Zusammenarbeit mit der Kuomintang stets eingedenk ihrer geschichtsnotwendigen Sendung vollziehen, die chinesische Revolution zum frühestmöglichen Zeitpunkt unter die Hegemonie der Kommunistischen Partei Chinas zu bringen. Im Rahmen dieser Zielsetzung war ihr die taktisch schwierige Aufgabe zugewiesen worden, die Kuomintang als objektiven Verbündeten von heute und zugleich als objektiven Gegner von morgen zu behandeln

Diese Ausgangsposition der chinesischen Kommunisten macht es erforderlich, die Frage nach dem geistigen und geschichtlichen Selbstverständnis der mit ihnen verbündeten Kuomintang zu stellen; denn die Konfrontation des Selbstverständnisses beider zunächst miteinander verbündeter Parteien bildet eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnis des sich zwischen ihnen entwickelnden und letzten Endes zum Bürgerkrieg führenden Spannungsverhältnisses.

Den Kerngehalt der sunyatsenistischen Weltanschauung der Kuomintang bilden Sun Yat-sens „Drei Grundlehren vom Volk" (San-min chu-i). Sie wurden 1905 erstmalig in Form eines revolutionären Parteiprogramms niedergelegt und erhielten zwischen Januar und August des Jahres 1924 — also nach dem Abschluß des nationalchinesisch-sowjetrussischen Bündnisses — ihre letzte Formulierung An erster Stelle steht „Die Grund-lehre vom Volkstum" (Min-tsu-chu-i). Sie fordert den Zusammenschluß der verschiedenen ethnischen Bestandteile des chinesischen Volkes zu einer Nation, die Entwicklung eines neuen Nationalgefühls zum Zweck der nationalen Selbstbehauptung nach außen und die Befreiung Chinas von den halbkolonialen Vorrechten fremder Mächte auf chinesischem Boden und somit die internationale Gleichberechtigung Chinas. Darüber hinausgehend wird es der Kuomintang und dem chinesischen Volk zur Aufgabe gemacht, nach der Selbstbefreiung Chinas auch für die Befreiung der anderen von Kolonialherrschaft unterdrückten Völker einzutreten und die zeitlos gültigen Normen des klassischen Konfuzianismus in Verbindung mit rezipierten Kulturinhalten des okzidentalen Kulturkreises einer geistigen Erneuerung des chinesischen Volkes zugrunde zu legen. Die „Grundlehre von den Volksrechten" (Min-ch'üan chu-i) setzt sich die Errichtung einer rechtsstaatlich-demokratischen Herrschaftsordnung zum Ziel, die auf dem System einer westliche und altchinesische Staatsinstitutionen verbindenden Fünf-Gewalten-Teilung beruhen soll. Der Weg zu diesem Endziel muß drei Entwicklungsstadien durchlaufen: Erstens, das der absoluten Machtergreifung durch die Kuomintang; zweitens, das der „Vormundschaftsregierung" durch die Partei, die das Volk zum Verständnis und zur Wahrnehmung seiner staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zu erziehen hat; drittens, das Endstadium der verfassungsmäßigen Regierung. Die „Grundlehre vom Volkswohl" (Min-sheng chu-i) fordert die Verstaatlichung der wichtigsten Industrien und Verkehrsbetriebe wie auch eine umfassende, mit gewaltlosen, legalen Mitteln durchzuführende Bodenreform deren Ziel es ist, das Land Eigentum derjenigen Bauern werden zu lassen, die es bebauen. Die „Grundlehre vom Volkswohl" beruht auf der konfuzianisch inspirierten Vorstellung, daß nicht die Klassengegensätze innerhalb der Gesellschaft, sondern die zu ihrer Existenz unerläßliche Interdependenz der verschiedenen wirtschaftlich tätigen Gruppen der Gesellschaft der entscheidende Faktor und die Triebkraft der Wirtschafts-und Sozialgeschichte sei. Der Klassenkampf sei nicht als Instrument des sozialen Fortschritts, sondern als „soziale Seuche" zu verstehen, weshalb Marx es eher verdiene, als Pathologe denn als Physiologe der Gesellschaft bezeichnet zu werden. Neue Produktionsformen erforderten neue Formen der Interdependenz der verschiedenen wirtschaftlichen Interessen. Sollten im Vollzug dieser Neuanpassung gegebener Interessenkonstellationen an neue Produktionsformen einzelne Interessen benachteiligt werden, so könne sich daraus Klassenkampf als Symptom sozialer Anpassungsschwierigkeiten ergeben. Der Fehler des Marxismus liege darin, diese Krisen der Gesellschaft für die Triebkraft des sozialen Fortschritts zu halten Die Sozial-und Wirtschaftsgeschichte der Industrieländer seit dem Tode von Marx habe dessen Prognose in nahezu jedem Punkt widerlegt. Von dem geschichtlichen Geschehen seiner letzten Lebensjahre her urteilend, wies Sun Yat-sen auf das Fehlschlagen der anfänglichen Sozialisierungspolitik in Sowjetrußland hin, das nun gezwungen sei, den liberaleren Weg der Neuen ökonomischen Politik (NEP) zu beschreiten Um dem industriell unterentwickelten China die in Europa in Erscheinung getretenen sozialen Leiden und Krisen des Frühkapitalismus zu ersparen, sollte in China gleichzeitig mit der Industrialisierung eine umfassende Sozialreform durchgeführt werden, deren vorbeugende Gesetzgebung den Problemstrom der industriellen und kapitalistischen Entwicklung von Anfang an auffangen, eindämmen und in die wünschenswerten Bahnen lenken sollte

Wie aus dieser Skizze hervorgeht, verbinden sich so im geistigen Profil Sun Yat-sens die Wesenszüge des politischen nationalen Revolutionärs mit denen eines sozialen Reformators, und es ist gerade diese Dichotomie, die der sunyatsenistischen Ideologie der Kuomintang ihre besondere, bis in die Gegenwart erhaltene Prägung verleiht. In seiner Stellungnahme zur sozialpolitischen Zielsetzung Sun Yat-sens hatte Lenin bereits ein Jahrzehnt vor Sun Yat-sens ersten Kontakten mit sowjetrussischen Politikern geschrieben: „Diese Theorie ist, vom Standpunkt der (marxistischen) Doktrin betrachtet, die Theorie eines kleinbürgerlichen . Sozialisten'und Reaktionärs. Denn es ist vollkommen reaktionär, davon zu träumen, dem Kapitalismus , zuvorzukommen‘, daß in China infolge seiner Rückständigkeit die , soziale Revolution'leichter sei usw." Sinowjew brachte die kommunistische Grundhaltung gegenüber Sun Yat-sen in seinen „Thesen über die Chinesische Revolution" zum Ausdruck, indem er hier schrieb: „Das Andenken Sun Yat-sens, eines aufrichtigen Revolutionärs, welcher der nationalen Befreiungsbewegung in China unschätzbare Dienste geleistet hat, kann und soll geehrt werden. Sun Yat-sen kann und sollte in einem bestimmten Stadium der Bewegung in China als Verbündeter der Revolution betrachtet werden. Aber es muß klar erkannt werden, daß nicht der Sunyatsenismus, sondern nur der Marxismus-Leninismus zur Ideologie des chinesischen Proletariats werden kann und soll. Marxismus oder Sunyatsenismus? Das ist die Frage.“

Bei ihrer ideologisch-progagandistischen Aktivität im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit der Kuomintang war es der Kommunistischen Partei Chinas aus zwei Gründen nicht möglich, zu einem unverhüllten ideologischen Frontalangriff auf den Sunyatsenismus anzusetzen. Einmal hinderte sie daran die Weisung, die Einheitsfront mit der Kuomintang bis auf weiteres forzusetzen, und zum andern war es das große und nach seinem Tode bis zu seiner Apotheose führende Prestige, das Sun Yat-sen in fortschrittszugewandten Kreisen der chinesischen Bevölkerung genoß. In dem Nach-ruf eines vormaligen Gegners und Zeitgenossen heißt es: „Dr. Sun Yat-sen wird das Verdienst zugesprochen werden, die Revolution zu einer wirksamen Kraft geformt und die öffentliche Meinung auf Seiten der demokratischen Bewegung gesammelt zu haben. Dieser Faktor hat alle Fehler und Reaktionen der vergangenen dreizehn Jahre überlebt. ... Als große Tatsache seines Lebens wird sein Kampf gegen die Despotie, gegen die Korruption und für das Recht der Regierten verbleiben, bei der Regierung mitzubestimmen. Indem seine Ideen den Geist der Bevölkerung in ganz China erfassen, werden sie zum Ausdruck und Aufschrei leidender Millionen. ... ein Geist, der sich im In-und Ausland fühlbar machen und letzthin Peking bis in seine Grundfesten erschüttern wird."

Auf Grund der vorgenannten taktischen Hindernisse suchten und fanden die chinesischen Kommunisten eine Methode, die es ihnen erlaubte, den ideologischen Führungsanspruch sowie die kemalistischen und reformistischen Tendenzen des Sunyatsenismus anzugreifen oder zu entkräften, ohne den „Vater der chinesischen Revolution" dabei direkt kritisieren zu müssen. Diese bis zur Gegenwart verwendete Methode der chinesischen Kommunisten bestand in einer Neuauslegung des Sunyatsenismus — in einem Sinne, der zu einer weitgehenden Kongruenz desselben mit den Zielsetzungen des chinesischen Kommunismus führte. Diese auch von Mao Tse-tung übernommene und erweiterte Neuauslegung beruht vornehmlich auf zwei Thesen: Erstens wird erklärt, Sun Yat-sen selbst habe zu Anfang seines Bündnisses mit den russischen und chinesischen Kommunisten — und zwar von diesen beeinflußt —• seine „Drei Grundlehren vom Volk" in einer solchen Weise neugestaltet, daß sie seither mit dem Minimalprogramm der chinesischen Kommunisten in der geschichtlichen Periode der chinesischen Revolution bis zur Begründung eines sozialistischen Gesellschaftssystems vollauf übereinstimmten

In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die „Grundsatzerklärung des Ersten Nationalkongresses der Kuomintang" vom Januar 1924 hingewiesen, weil Sun Yat-sens Neuorientierung in diesem Dokument am deutlichsten in Erscheinung trete Zweitens wird den sogenannten „Drei Großen Maßnahmen" Sun-Yat-sens (dem Bündnis mit Sowjetrußland, der Zusammenarbeit mit den chinesischen Kommunisten und der Forderung, die chinesischen Bauern und Arbeiter zu unterstützen und in entscheidender Weise am revolutionären Befreiungskampf zu beteiligen) die gleiche und oft auch eine größere ideologisch-dogmatische Verbindlichkeit zugeschrieben wie den „Drei Grundlehren vom Volk", die den Kerngehalt der politischen Philosophie Sun Yat-sens umfassen

Diese Deutung des ideologischen Vermächtnisses Sun Yat-sens deckt sich weitgehend mit jenen bereits erwähnten Direktiven der Kommunistischen Internationale, die sich auf die Beziehungen zwischen kommunistischen Parteien und nationalrevolutionären Bewegungen in kolonialen und halbkolonialen Ländern beziehen. So hieß es dort beispielsweise in den „Leitsätzen zur Orientfrage": „Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben (der Kommunisten innerhalb) der anti-imperialistischen Einheitsfront, den breiten werktätigen Massen die Notwendigkeit eines Bündnisses mit dem internationalen Proletariat und mit den Sowjetrepubliken klarzumachen. . .. Die Forderung eines engen Bündnisses mit der proletarischen Sowjetrepublik ist das Wahrzeichen der antiimperialistischen Einheitsfront." Dieser Forderung der Kommunistischen Internationale konnte seitens der chinesischen Kommunisten ein kaum zu überschätzender Dienst geleistet werden, wenn es ihnen gelang, plausibel darzutun, daß Sun Yat-sen selbst die Forderung eines nationalchinesischen Bündnisses mit Sowjetrußland zum unabdingbaren Dogma und integralen Bestandteil der Kuomintang-Ideologie erhoben habe.

Die von der Kuomintang an dieser kommunistischen Neuauslegung der Weltanschauung Sun Yat-sens geübte Kritik konzentrierte sich vornehmlich auf folgende Punkte: In quellenkri-tischer Hinsicht wird zunächst festgestellt, daß sich der von den Kommunisten gebrauchte (und angeblich auch erfundene) Sammelbegriff der „Drei Großen Maßnahmen" (San-ta cheng-ts’e) in keiner der Schriften Sun Yat-sens finde und von diesem selbst nie verwendet worden sei. Der kommunistischen These, daß die „Grundsatzerklärung des Ersten Nationalkongresses der Kuomintang" Sun Yat-sens eigene, dem Kommunismus entgezenkommende ideologische Neuorientierung zum Ausdruck bringe, wird die Tatsache entgegengehalten, daß die Abfassung dieses Dokuments vom Januar 1924 zeitlich vor Sun Yat-sens zwischen Januar und August 1924 gehaltenen Grundsatzreden über die „Drei Grundlehren vom Volk" liege und daß Sun Yat-sens hier im August 1924 niedergelegte Letztformulierung der „Grundlehre vom Volkswohl" zugleich auch seine schärfste Kritik am Marxismus enthält. Somit könne die Kuomintang-Erklärung vom Januar 1924 kaum als „Weiterentwicklung" der zwischen Januar und August des gleichen Jahres in letzter Form niedergelegten „Drei Grundlehren vom Volk" betrachtet werden.

Korrekt sei hingegen, daß in der Grundsatzerklärung der Kuomintang vom Januar 1924 zwei neue Aspekte im Parteiprogramm der Kuomintang zu erkennen seien. Sun Yat-sen habe hier erstmalig nicht nur — wie bisher — von einer Politik für die werktätigen Massen des chinesischen Volkes in Stadt und Land gesprochen, sondern nunmehr auch zum national-revolutionären Freiheitskampf, vereint mit ihnen, aufgerufen. Doch habe diese Heranziehung und neue Beachtung der Bauern und Arbeiter nichts an Sun Yat-sens Entschlossenheit geändert, den innerchinesischen Klassenkampf zu verhindern und Chinas soziale Probleme auf dem Wege gewaltloser sozialer Reformen zu lösen. Einige der konkreten Maßnahmen dazu seien in der Grundsatzerklärung der Kuomintang ausdrücklich erwähnt. Die Grundsatzerklärung enthalte zwar die auch von den Kommunisten erhobene Forderung nach Zusammenarbeit der verschiedenen Klassen der Bevölkerung. Im Unterschied zum kommunistischen Programm kenne die Kuomintang-Ideologie jedoch keinen Führungsanspruch einer bestimmten Klasse und keine kastenmäßige Verbindung zwischen dem „Klassen-Status“ von Personen und Gruppen mit ihrer sozialen Wertung, sondern in der Sicht des Sunyatsenismus sei es allein die Gesinnung der Einzelpersönlichkeit, die darüber entscheide, ob jemand als Anhänger oder Gegner der nationalen Revolution zu betrachten sei Neu sei an dieser Erklärung weiterhin ihr betont anti-imperialistischer Grundzug. Die Behauptung hingegen, erst der Kommunismus habe Sun Yat-sen zu seiner anti-imperialistischen Haltung veranlaßt, sei nachweisbar unrichtig. Zur Unterstützung dieser Behauptung wird auf Sun Yat-sens bereits aus dem Jahre 1917 stammende Schriften über den Imperialismus hingewiesen, in denen die imperialistische China-Politik der Großmächte mit schonungslosem Realismus analysiert und verurteilt worden war Die seitens der anderen Großmächte Sun Yat-sen abgeschlagenen Ansuchen um Entwicklungshilfe und die gemeinsame Flottendemonstration mehrerer Kolonialmächte gegen seine Regierung in Kanton hätten jeden theoretischen Kommentar der Kommunisten zum Problem des Imperialismus überflüssig gemacht.

Ferner sei es richtig, daß die Grundsatzerklärung Sun Yat-sens die von den chinesischen Kommunisten gern zitierte Kritik der Mißbräuche der parlamentarischen Demokratie beinhalte Diese Kritik beziehe sich jedoch erstens auf die katastrophal gescheiterten Versuche zur voraussetzungslosen und rein formalen Einführung eines parlamentarisch-demokratischen Herrschaftssystems in China und zweitens auf manche von Sun Yat-sen in demokratisch regierten Ländern beobachteten Mängel der Demokratie. Das ändere aber nichts daran, daß die Grundsatzerklärung ausdrücklich und ausführlich Sun Yat-sens Ziel zur Errichtung eines rechtsstaatlich-demokratischen Herrschaftssystems in China auf dem Umweg über eine mehrjährige Periode der Parteivormundschaft und der Volkserziehung zur Selbstregierung beinhalte. Im ersten Absatz des in der Grundsatzerklärung enthaltenen Parteiprogramms der Kou-mintang heißt es wörtlich: „Die Volksregierung wird die Republik China im Einklang mit den Drei Grundlehren vom Volk'und der . Fünf-Gewalten-Verfassung'neu gestalten.“

Die wichtigsten und folgenschwersten ideologischen und praktisch-politischen Kontroversen, die sidi im Verlaufe des nationalchine-sisch-sowjetrussischen Bündnisses ergaben und dessen Zerfall wie auch den Ausbruch des Bürgerkrieges herbeiführten, bezogen sich auf drei grundsätzliche Problembereiche: Erstens auf die von den Kommunisten in Wort und Tat befürwortete und von den Sunyatsenisten abgelehnte Politik des Klassenkampfes; zweitens auf die Frage, welcher Partei die Hegemonie innerhalb der revolutionären Bewegung zufallen solle; drittens auf die Frage, ob das Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland als zweckbedingtes Mittel oder unabdingbares Dogma der sunyatsenistischen Politik zu verstehen sei. 2. Die Kontroverse um den Klassenkampf in China Zur Frage des Klassenkampfes heißt es bereits 1925 in einem Beschluß des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas: „. . . Bei der Frage der Theorie und Praxis des Klassenkampfes dürfen wir der Koumintang nicht einen Zoll breit nachgeben." In seiner fünf Monate später verfaßten Schrift „Uber die Klassen der chinesischen Gesellschaft" stellte Mao Tse-tung in kritischer Weise fest: „Diese Klasse (der nationalen Bourgeoisie — gemeint ist der mittlere und rechte Flügel der Kuomintang) ist dagegen, daß der Kuomintang-Grundsatz der Volkswohlfahrt vom Standpunkt der Lehre vom Klassenkampf aus erklärt wird, daß die Kuomintang eine Politik des Bündnisses mit Rußland betreibt und daß Kommunisten sowie linke Elemente zur Kuomintang zugelassen werden." In einem anderen Dokument der Kommunistischen Partei Chinas vom November 1925 wird unter anderem gesagt, die kommunistische Propaganda müsse betonen, daß der innerchinesische Klassenkampf der Befreiung Chinas nicht hinderlich, sondern ein Erfordernis der nationalen Revolution sei Die von Sun Yat-sen in der Letztfassung seiner „Drei Grundlehren vom Volk" betonte Ablehnung des innerchinesischen Klassenkampfes ist bereits erwähnt worden. In einer Rede zum 1. Mai 1924, die in einem Organ der Kommunistischen Internationale abgedruckt wurde, sagte Sun Yat-sen unter anderem: „In China ist die Industrie nicht sehr entwickelt. In China gibt es keine großen einheimischen Kapitalisten wie in anderen Ländern. Die maschinelle Produktion ist die Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeitermassen. Die chinesischen Arbeiter sind nicht der Ausbeutung chinesischer Kapitalisten unterworfen, da es in China keine Großkapitalisten gibt. Von wem wird also der chinesische Arbeiter ausgebeutet? Unter wessen Joch schmachtet er? In den übrigen Ländern befinden sich die Arbeiter unter dem Joche ihrer eigenen Kapitalisten; die chinesischen Arbeiter hingegen befinden sich unter dem Joche nicht der eigenen, sondern der ausländischen Kapitalisten. Das ist der Unterschied zwischen dem chinesischen und dem ausländischen Arbeiter."

Der Divergenz sunyatsenistischer und kommunistischer Stellungnahmen zum Problem des Klassenkampfes lag jedoch mehr zugrunde als nur der Widerspruch zweier Ideologien, von denen sich die eine den friedlichen Interessenausgleich der verschiedenen Klassen der chinesischen Gesellschaft und die andere die Errichtung einer kommunistisch geführten Diktatur mehrerer revolutionärer Klassen zum Ziel gesetzt hatte; denn gleichzeitig waren bei beiden Parteien im Hinblick auf das Klassen-problem auch durchaus unterschiedliche taktische Erwägungen gegeben. Sie entsprachen der jeweiligen ideologischen Grundhaltung insofern, als die Sunyatsenisten nach größt-möglicher Einheit des revolutionären Lagers und der Vermeidung jedes unnötigen innerchinesischen Konfliktes strebten, während die chinesischen Kommunisten hingegen den Klassenkampf als Primärfaktor kommunistischer Machtbildung betrachteten. Nach Meinung der Kommunisten konnte die revolutionäre Stoßkraft vorhandener oder zu bildender Massen-bewegungen maßgeblich erhöht werden, wenn der Appell an nationale Gefühle zugleich mit dem Appell an soziale Interessen verbunden wurde Dabei mußte es der Macht und dem Prestige der Partei förderlich sein, wenn ausschließlich die Kommunisten -— in betontem Gegensatz zu den zurückhaltenderen, normativ an legale Methoden gebundenen Sunyatsenisten — als Vorkämpfer radikaler Direktmaßnahmen zur Förderung der sozialen Interessen von Bauern und Arbeitern auftraten.

Der historische Zufall einer gigantischen sechzehnmonatigen Streik-und Boykottbewegung, die durch britische Massaker unter chinesischen Demonstranten im Mai und Juni 1925 in ganz China ausgelöst wurde, bot den chinesischen Kommunisten eine Chance, die sie in meisterhafter Weise zur Expansion kommunistischer Machtpositionen auszunützen verstanden. Von 100 000 zum Teil bewaffneten Streikposten, die sich in Kanton versammelten, wurde die Hälfte zur Verbreitung revolutionärer Propaganda in ländliche Bezirke entsandt, während die verbleibenden 50 000 für die Aufrechterhaltung des Streiks sorgten und daneben von kommunistischen Kadern in „Politgramota", das heißt in politischer Theorie und revolutionärer Taktik geschult wurden Diese kommunistisch geführte Organisation von Streikposten begann bereits staatliche Funktionen in den Bereichen der Rechtsprechung, der Polizei, des Schulwesens etc. zu übernehmen In der Provinz Kwangtung, der wichtigsten territorialen Bais der Nationalrevolutionäre, gelang es den chinesischen Kommunisten, nahezu die gesamte politische Arbeit in den dort gegründeten Bauern-bünden zu monopolisieren Bereits im Juni 1926 verfügten die unter kommunistischer Führung stehenden Bauernbünde über 647 000 Mitglieder Kommunisten, unter ihnen an führender Stelle Mao Tse-tung, trugen zur organisatorischen Konsolidierung und taktischen Lenkung umfassender Bauernunruhen in der Provinz Hunan wie auch in anderen mittelchinesischen Provinzen bei. In Mao Tsetungs Bericht über die Bauernbewegung in Hunan (1926/27) wird die Methode des Klassenkampfes als Voraussetzung zur Erkämpfung sozialer Forderungen eindeutig befürwortet. So schreibt Mao beispielsweise: „Es gab Akte der Willkür; alles ging drunter und drüber, und in manchen Dörfern herrschte Terror. . . . Revolution ist Aufstand, ist die gewalttätige Handlung einer Klasse, die die Herrschaft einer anderen stürzt. ... Wenn die Bauern nicht Gewalt anwenden, kann die durch Jahrtausende gefestigte Macht der Grundbesitzer nie mit der Wurzel ausgerissen werden. Kurzum, jedes Dorf sollte eine kurze Zeitlang einen Zustand des Terrors durchmachen .. Nach der Eroberung Wuhans durch die Nationalrevolutionäre Armee wurde auch in der Provinz Hupeh unter kommunistischen Auspizien eine Bauernorganisation gegründet, die im März 1927 Klassenkampf-aktionen größeren Umfangs durchführte und zu diesem Zweck eigene Milizverbände aufstellte

Ebenso eindeutig erwies sich die kommunistische Führungsposition innerhalb der chinesischen Arbeiterbewegung dieser Jahre. Auf dem Zweiten Kongreß des Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbundes, der in Kanton tagte und bei dem 281 Abgeordnete 166 Gewerkschaften mit insgesamt 540 000 Mitglieder vertraten, wurden prominente Kommunisten, unter ihnen Liu Shao-ch’i, in Schlüsselstellungen gewählt. Die Anfang 1927 entstandene Schanghaier Kommune, die über eine Gefolgschaft von 500 000— 800 000 Mitglieder und starke, gut bewaffnete Streikpostenverbände ver-verfügte von der es in Moskau hieß, sie werde das chinesische Äquivalent zum Petrograder Sowjet sein, stellte einen bedeutsamen Machtfaktor dar. Im Sommer 1926 hatte die Partei insgesamt 1, 2 Millionen Arbeiter und 800 000 Bauern und im Augenblick ihrer Niederlage im Frühjahr 1927 2, 8 Millionen Arbeiter und 9 Millionen Bauern unter kommunistischer Führung organisiert Wie erfolgreich die chinesischen Kommunisten bei der Durchführung ihres Plans waren, ihr Bündnis mit der Kuomintang zum Zweck der politischen Selbstentwicklung zu benützen, geht letztlich auch aus dem Anwachsen der Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei Chinas hervor: Im Juni 1923, als die Partei beschloß, mit der Kuomintang eine „Einheitsfront" zu bilden, verfügte sie über 432 Mitglieder. Im Januar 1925 waren es 900 Mitglieder, zu denen das 2300 Mitglieder starke kommunistische „Sozialistische Jugend-Korps" zu rechnen ist. Bei Ausbruch des chinesischen Bürgerkrieges im April 1927 hatte die Kommunistische Partei Chinas eine Mitgliederzahl von 58 000 und das Sozialistische Jugend-Korps eine Zahl von 35 000 Mitgliedern erreicht

Somit hatte es die Kommunistische Partei Chinas in der Zeit ihres Bündnisses mit der Kuomintang und vor Chiang Kai-sheks zweitem Staatsstreich, von russischen Beratern unterstützt, in meisterhafter Weise verstanden, die Theorie und Praxis des Klassenkampfes als ideologisches und praktisch-politisches Mittel der kommunistischen Machtbildung zu handhaben. Doch geriet die Partei hierbei in einen zweifachen Gegensatz zur Kuomintang; denn ihre Klassenkampfpolitik widersprach einerseits ganz grundsätzlich den politischen Leitideen des Sunyatsenismus, andererseits war es einer Reihe von Kuomintangführern, insbesondere aber Chiang Kai-shek, bewußt geworden, daß die von den Kommunisten geführten und beeinflußten Massenbewegungen früher oder später zu einem Machtinstrument der Kommunistischen Partei Chinas im Kampf mit der Kuomintang um die Vormachtstellung innerhalb der revolutionären Bewegung werden konnte.

In seinen Erklärungen zur Ausstoßung der chinesischen Kommunisten aus der Kuomintang faßte Chiang Kai-shek deren Stellungnahme mit den Worten zusammen: „Während wir für den großen Zusammenschluß der Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Studenten und Soldaten oder — mit anderen Worten gesagt — für die Zusammenarbeit aller Klassen der Bevölkerung eintreten, agitieren die Kommunisten für die Diktatur des Proletariats. ... Wir müssen diesen Unterschied sehr klar erkennen. Wir wissen um die Not der arbeitenden Bevölkerung und unser Ziel, ihre Lebensbedingungen zu erleichtern. Dr. Sun Yat-sen hat uns gelehrt, daß revolutionäre Methoden in China nur zur Lösung der politischen, nicht aber zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme angewendet werden können. Nachdem in Sowjetrußland Hunderttausende von Menschen getötet worden waren (gemeint ist die sogenannte Periode des „Kriegskommunismus"), mußte man dort dennoch zu der Neuen Ökonomischen Politik übergehen. Chinas Bevölkerung übersteigt die Rußlands zahlenmäßig um ein Mehrfaches, und wir können es nicht dulden, daß die Kommunisten China zu einem Experimentierfeld des Kommunismus machen und dabei Millionen unserer Brüder sinnlos sterben lassen." 3. Der Kampf um die Führung der nationalen Revolution Auch der Konflikt darüber, welcher Partei letztlich die Führungsstellung innerhalb der nationalrevolutionären Bewegung zufallen solle, gehört zu den schwerwiegenden Kontroversen, die zum Scheitern der sogenannten Einheitsfront zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas und zum Ausbruch des Bürgerkrieges zwischen ihnen führten. In dieser Frage gingen beide Konfliktpartner von grundverschiedenen und unvereinbaren Voraussetzungen aus. Die Kuomintang berief sich auf die ursprünglichen Absprachen Sun Yat-sens mit den sowjetrussischen Vertretern und den chinesischen Kommunisten sowie auf die von Sun Yat-sen durchgesetzte und von seinen kommunistischen Bündnispartnern akzeptierte Form der Zusammenarbeit, in deren Rahmen die Kommunistische Partei Chinas nicht als gleichberechtigter Koalitionspartner der Kuomintang galt, sondern als Mitläuferorganisa-tion, deren Führer durch den Erwerb individueller Mitgliedschaft zur Kuomintang zugelassen werden konnten. Auf dem über die Zulassung entscheidenden Ersten Nationalkongreß der Kuomintang (Januar 1924) erläuterte Sun Yat-sen angesichts nicht unbeträchtlicher Bedenken mancher seiner Parteimitglieder: „Die Kommunisten treten unserer Partei bei, um für die nationale Revolution zu wirken. Wir sind daher verpflichtet, sie zuzulassen. Solange unsere eigenen Mitglieder aktiv für die Prinzipien unserer Partei eintreten, eine starke Organisation aufbauen und sich fraglos der Parteidisziplin unterwerfen, haben wir von der Tätigkeit der Kommunisten nichts zu fürchten. Ich jedenfalls werde der erste sein, der den Ausschluß der Kommunisten beantragen würde, sollten die Kommunisten die Kuomintang betrügen." Als hierauf einige Kuomintang-Mitglieder forderten, daß die der Kuomintang beitretenden Kommunisten gleichzeitig ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei aufgeben sollten, erhob sich Li Ta-chao, einer der Begründer der Kommunistischen Partei Chinas, um im Namen seiner Partei folgende Erklärung abzugeben: „Wir treten der Kuomintang auf Grund eines Beschlusses der Kommunistischen Partei Chinas bei. Wir können unsere Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei nicht lediglich auf Grund unseres Beitritts zur Kuomintang aufgeben. Aber wir treten der Kuomintang nicht kollektiv als Partei, sondern einzeln als Individuen bei. Indem wir der Kuomintang beitreten, beschließen wir jedoch, den Statuten der Kuomintang zu entsprechen und uns ihrer Disziplin zu unterwerfen. Sollten wir jemals versuchen, innerhalb der Kuomintang kommunistische Propaganda zu betreiben, so steht es der Kuomintang frei, uns entsprechend den Statuten der Partei zu bestrafen." In der Sicht der Kuomintang schien die Frage der Vorrangstellung im La-* ger der Revolution normativ eindeutig zugunsten der Kuomintang geregelt zu sein. Als sich das reale Machtverhältnis innerhalb der revolutionären Bewegung bereits ein Jahr nach Sun Yat-sens Tod auf Grund des fluthaft anwachsenden Einflusses der chinesischen Kommunisten immer eindeutiger zuungunsten der Kuomintang verschob, erfolgte Chiang Kai-sheks Staatsstreich vom 20. März 1926, der die kommunistischen Machtpositionen in der eben bereits erwähnten Weise drastisch reduzierte und die Führungsstellung der Kuomintang eindeutig und stärker als zuvor wiederherstellte Die Kommunistische Partei Chinas hingegen betrachtete ihr Verhältnis zur Kuomintang nicht unter dem Aspekt formaler Absprachen oder der ursprünglichen Form der Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien. Der kommunistischen Sicht dieses Problems lagen vielmehr interdependente Erwägungen taktischer und geschichtsphilosophischer Art zugrunde. Ihnen zufolge konnte das Rad der chinesischen Revolutionsgeschichte durch keinerlei formale Abkommen daran gehindert werden, neuen Entwicklungsphasen zuzustreben, aus denen sich die Möglichkeit zu einer kommunistischen Machtergreifung ergeben mußte Chancen dieser Art ungenutzt zu lassen, hätte in dieser Sicht nicht weniger als Verrat an der geschichtlichen Sendung des Kommunismus bedeutet. Die taktisch hierbei richtungweisenden Erwägungen galten dem Zeitpunkt und den geeigneten Mitteln des Entscheidungskampfes um die Führung der Revolution. Dieser Fragenkomplex war Gegenstand intensiver Diskussionen und daraus hervorgehender „Thesen" des VII. Erweiterten Plenums des Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationale, das zwischen November und Dezember 1926 in Moskau tagte. In den Thesen über die chinesische Revolution werden drei aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen der Revolution konstatiert. Die führende Kraft der ersten Phase sei die „nationale Bourgeoisie" und die „bürgerliche Intelligenz" — mit beidem gemeint ist die Kuomintang —, die die Unterstützung des Kleinbürgertums und des Proletariats gesucht habe. In der zweiten Phase habe sich das Profil der chinesischen Revolution dadurch geändert, daß sich die „Klassenkombination" durch das Auftreten und die Erstarkung der Arbeiterklasse, das heißt insbesondere der von der Kommunistischen Partei Chinas geführten Gewerkschaftsbewegungen, verändert habe. Gegenwärtig aber befinde sich die revolutionäre Bewe-gung „auf der Schwelle zur dritten Phase" und „am Vorabend einer neuen Klassenkombination". Diese werde vom Proletariat, dem Bauerntum und dem städtischen Kleinbürgertum, geführt werden. Ein allmähliches Abfallen der „kapitalistischen Bourgeoisie" von der Revolution sei zu erwarten und sei „historisch unvermeidbar". „In dieser (dritten) Phase gleitet die Führung der Bewegung immer mehr in die Hände des Proletariats" (und in diesem Sinne in die Hände seiner „Avantgarde", das heißt der Kommunistischen Partei Chinas). Der Kampf gegen die Vorherrschaft des ausländischen Kapitals könne erfolgreich nur geführt werden, wenn die chinesische Revolution die Grenzen der „bürgerlichen Demokratie" überschreite und unter der „Hegemonie des Proletariats" geführt werde

Wie aus den Verhandlungsprotokollen hervorgeht, berichtete T’an P'ing-shan, als der Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas auf dieser Konferenz, über die ungeheuren Fortschritte seiner Partei bei der organisatorischen und propagandistischen Erfassung der Gewerkschaftsund Bauernbewegung in den unter Kuomintang-Kontrolle befindlichen Gebieten. „Diese Tatsachen", so sagte er, „beweisen, daß das chinesische Proletariat (das heißt die K. P. Chinas) wirklich eine Chance besitzt, die Hegemonie innerhalb der revolutionären Bewegung an sich zu reißen" Die Kommunisten befänden sich aber noch in einer Phase, in der sie mit der „nationalen Bourgeoisie", das heißt den „kemalistischen" Elementen innerhalb der Kuomintang, um die Macht kämpfen müßten. Es gebe hier zwei Alternativen: Entweder werde die chinesische Revolution von den chinesischen Kommunisten mit Untersützung des Weltkommunismus zu ihrem konsequenten Ende, das heißt der kommunistischen Hegemonie im Lager der nationalen Revolution geführt, oder die Kuomintang werde die Führung der Revolution in ihre Hände nehmen, was aber Kompromisse mit den Imperialisten, die Entwicklung eines chinesischen Kapitalismus und letztlich die Liquidation der Revolution bedeuten werde Eine der folgenschwersten Direktiven in den China betreffenden Komintern-Thesen vom Dezember 1926 beauftragte die chinesischen Kommunisten, den Regierungsapparat der Kuomintang noch weitgehender als bisher zu durchdringen, um ihre Ziele verwirklichen zu können. Dabei sollten sie einerseits das Kuomintang-Zentrum bekämpfen und mit dem linken Flügel der Kuomintang zusammenarbeiten, „außer dort, wo es gilt, seine Führer durch Mitglieder der Kommunistischen Partei zu ersetzen" Dieses den chinesischen Kommunisten in Moskau gesetzte Ziel konnte bereits drei Monate später auf der Dritten Plenarsitzung des Exekutiv-Komitees der Kuomintang (10. — 17. März 1927) erreicht werden; denn die Beschlüsse dieser Sitzung entkleideten Chiang Kai-shek aller seiner bedeutsamen Positionen inneshalb der Partei, mit der einzigen Ausnahme seiner Stellung als Oberbefehlshaber der nationalrevolutionären Streitkräfte. Weitaus entscheidender waren jedoch jene Beschlüsse der Konferenz, die der Kommunistischen Partei Chinas anstelle des ihr von Sun Yat-sen zugewiesenen Status einer Mitläuferorganisation der Kuomintang nunmehr die Position eines vollwertigen Koalitionspartners der Kuomintang einräumten. Als höchster Machtträger der Kuomintang wurde ein siebenköpfiges Präsidium gebildet, zu dessen Mitgliedern der Komintern-Delegierte der K. P. Chinas, T an P'ing-shan, gehörte. Der Beschluß, daß Kommunisten und Kuomintang-Mitglieder auf allen Ebenen der nationalrevolutionären Regierung „gemeinsam" operieren sollten, daß eine „gemeinsame Konferenz"

engeren beider Parteien Maßnahmen zur Zusammenarbeit der chinesischen Revolution mit der Kommunistischen Internationale beraten sollte, und die Ernennung des chinesischen Komintern-Delegierten Agrarminister zum sowie des kommunistischen Vorsitzenden des Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbundes zum Arbeitsminister der nationalrevolutionären Regierung waren Maßnahmen, die vollinhaltlich detaillierten Weisungen der Komintern-Thesen entsprachen

Auf seifen der Kuomintang richtete Chiang Kai-shek im Rahmen einer Rede vom 21. Februar 1927 eine unverhüllte Warnung an die chinesischen Kommunisten. Er sagte darin, er habe die Kommunistische Partei als solche nie unterstützt, sondern lediglich zu Anfang des Bündnisses mit Rußland ihre Mitarbeit als die einer „kleineren revolutionären Organisation" befürwortet. Man habe sie zulassen müssen, solange ihre Ziele mit denen der Kuomintang vereinbar gewesen seien. Doch habe er im März 1926 als Bedingung weiterer Zusammenarbeit mit den Kommunisten der Kuomintang das Recht vorbehalten, die kommunistische Bewegung zu unterdrücken, falls sie die Grenzen ihrer Stellung als Mitläufer-organisation der Kuomintang überschreiten und die Sache der chinesischen Nationalrevolution oder die Interessen der Kuomintang gefährden sollte. Jetzt, wo diese Kommunisten der Kuomintang gegenüber eine aggressive Haltung an den Tag legten, falle ihm in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Nationalrevolutionären Armee die Aufgabe zu, die kommunistische Bewegung einzudämmen. Diese Haltung betreffe nicht nur die chinesischen Kommunisten, sondern auch den linken Flügel der Kuomintang, gegen den er sich ebenfalls wenden werde, falls er die Sache des Sunyatsenismus verraten sollte

Die bereits genannte Antwort der Kommunisten und des von ihnen beeinflußten linken Flügels der Kuomintang bestand in jenen Beschlüssen des Zentralen Exekutivkomitees der Kuomintang vom 10. bis 17. März 1927, die Chiang Kai-shek aller politisch einflußreichen Posten — des Oberbefehlshabers der Streitkräfte ausgenommen — enthoben. Zwei Wochen nach Erlaß dieser Beschlüsse kehrte Wang der Ching-wei, prominenteste Führer des linken Flügels der Kuomintag, nach China zurück, wo sowohl Chiang Kai-shek wie auch der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Ch’en Tu-hsiu, sich bemühten, ihn auf die Seite ihrer jeweils vertretenen Gruppe zu bringen. Chiang Kai-shek schlug Wang Ching-wei vor, die chinesischen Kommunisten auf Grund eines Beschlusses des Zentralen Kontrollkomitees der Kuomintang aus der Partei auszuschließen und den sowjetrussischen Chefberater Borodin aus China auszuweisen, jedoch gleichzeitig (bewußt oder unbewußt dem kemalistischen Präzedenzfall folgend) das Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland auch weiterhin aufrechtzuerhalten*). Wang Ching-wei aber befürchtete, das im Zentralen Kontrollkomitee der Kuomintang stark vertretene und Chiang Kai-shek unterstützende Kuomintang-Zentrum könne im Zuge dieser Aktion die Macht des Zentralen Exekutivkomitees usurpieren, das zahlreiche seiner Anhänger vom linken Flügel der Kuomintang umfaßte.

Somit lehnte Wang die Vorschläge Chiang Kai-sheks und seiner Anhänger ab und erließ vier Tage darauf mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas eine gemeinsame Erklärung, in der die Notwendigkeit weiterer Zusammenarbeit zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten stark betont, jedoch gleichzeitig auch gesagt wurde, daß die Kommunistische Partei Chinas „dem Willen Sun Yat-sens entsprechend die , Drei Grundlehren vom Volk'und die Kuomintang offen und ehrlich als die führenden Kräfte der nationalen Bewegung in China anerkennt" Damit hatte Chiang Kai-shek seine letzte Chance verloren, den Ausschluß der chinesischen Kommunisten von der Kuomintang auf friedlichem Wege und in Zusammenarbeit mit dem prominentesten Führer der Kuomintang-Linken zu vollziehen. Er befand sich somit räumlich (in Nanchang) wie auch politisch-taktisch zwischen der Koalitionsregierung der Kommunisten und der Kuomintang-Linken in Wuhan und der bewaffneten Kommune in Schanghai. Der Staatsstreich, den er sieben Tage darauf riskierte, vernichtete die Schanghaier Kommune und führte zur Gründung der zunächst nur vom Kuomintang-Zentrum beherrschten zweiten nationalchinesischen Regierung in Nanking, die der Regierung in Wuhan als Rivalin gegenüberstand.

In seiner grundsätzlichen Erklärung über dieses Ereignis sagte er zu der Frage der Hegemonie im Lager der chinesischen Revolution, daß man habe handeln müssen, weil es den chinesischen Kommunisten im Zentralen Exe-kutiv-Komitee der Kuomintang, von Sowjetrußland finanziell wie auch taktisch durch dessen Berater unterstützt, gelungen sei, die Kuomintang überall zurückzudrängen und zu entmachten. Die Kommunisten versuchten nun, vormalige reaktionäre Provinzgenerale gegen ihn auszuspielen, weil sie, wie in Deutschland und Frankreich, die reaktionären Rechtsextremisten viel weniger fürchteten als das reformistische Zentrum. „Es ist richtig", so sagte er, „daß Dr. Sun Yat-sen Kommunisten in die Kuomintang ausgenommen hat, jedoch nur als Einzelmitglieder und nicht als geschlossene Partei. Daher bedeutet es eine falsche Auslegung der Tatsachen, wenn die Kommunisten nun von einer . Koalition der beiden Parteien'sprechen. Dr. Sun Yat-sen verfolgte mit seiner Maßnahme zwei Ziele: Erstens die Kommunisten (durch Unterwerfung unter die ideologische und disziplinäre Hegemonie der Kuomintang) an der Verwirklichung kommunistischer Ideen in China zu hindern, sie zum Glauben an die , Drei Grundlehren vom Volk'zu bekehren und zweitens ihnen eine Gelegenheit zur Teilnahme an der nationalen Revolution zu gewähren. Jedoch hat er all das nicht getan, damit die Kommunisten die Macht in der Partei an sich reißen, die Politik der Partei diktieren und seine . Drei Grundlehren vom Volk'mißachten." Damit war seitens der Kuomintang der Epilog zu der von Chiang Kai-shek für weitere 21 Jahre zu ihren Gunsten entschiedenen Frage der Hegemonie innerhalb der chinesischen Revolution gesprochen. Dem von Chiang Kai-shek gesetzten Präzedenzfall folgend, verfügte auch die in Wuhan befindliche Kuomintang-Linke nur wenige Monate später den Ausschluß der chinesischen Kommunisten aus der Kuomintang, als Wang Ching-wei Weisungen Stalins bekanntgeworden waren, denen zufolge die Kommunisten in Wuhan mit radikalen Maßnahmen die faktische Führungsstellung an sich reißen sollten 4. Das Bündnis mit Moskau:

Mittel oder Dogma?

Neben dem Problem der ideologischen und taktischen Zulässigkeit des Klassenkampfes und der Frage, welcher Partei die Führungsstellung im Lager der Revolutionäre zukommen solle, verbleibt als dritte der darzustellenden grundsätzlichen Kontroversen zwischen der Kuomintang und ihren kommunistischen Bündnispartnern die nationalchinesisch-kommunistische Auseinandersetzung über das Prinzip der gleichberechtigten Bündnispartnerschaft zwischen der Kuomintang und Sowjet-rußland. Diese Kontroverse kreiste um die zentrale Frage, ob Sun Yat-sens Politik eines Bündnisses der Kuomintang mit Sowjetrußland — so wie zahlreiche Kuomintang-Führer behaupteten — als zweckbedingtes Mittel zu sunyatsenistischen Endzielen der nationalchinesischen Revolution zu betrachten sei oder ob — so wie die Kommunisten entgegneten — Sun Yat-sens Taktik eines Bündnisses mit Sowjetrußland und der Zulassung einzelner Kommunisten zu seiner Partei das Gewicht eines permanenten und somit unabänderlichen sunyatsenistischen Parteidogmas der Kuomintang beigemessen werden müßte.

Die Ausgangslage der kommunistischen Haltung zu dieser Frage war eindeutig in den von der Kommunistischen Internationale erlassenen „Leitsätzen über die Nationalitäten-und Kolonialfrage''niedergelegt. So heißt es in Punkt 5 der Leitsätze: „. alle Ereignisse der Weltpolitik konzentrieren sich unvermeidlich um einen einzigen Mittelpunkt, und zwar um den Kampf der Weltbourgeoisie gegen die russische Sowjetrepublik, die einerseits die Sowjetbewegungen ... aller Länder und andererseits alle nationalen Freiheitsbewegungen der Kolonien und unterdrückten Völkerschaften um sich schart, die sich durch bittere Erfahrung überzeugt haben, daß es für sie keine Rettung gibt außer ihrer Verbindung mit dem revolutionären Proletariat und dem Sieg der Sowjetmacht über den Weltimperialismus."

Im folgenden Punkt werden die kommunistischen Parteien dazu aufgefordert, „eine Politik der Verwirklichung des engsten Bündnisses aller nationalen und kolonialen Freiheitsbewegungen mit Sowjetrußland" zu betreiben In zwei hieraus abgeleiteten Komintern-Direktiven vom Januar und Mai 1923 wurde die Kommunistische Partei Chinas beauftragt, dafür zu sorgen, daß die Kuomintang an der Seite Sowjetrußlands verbleibe und keinerlei Annäherungsversuche an die Kolonialimperien unternehme oder mit ihnen Kompromisse schließe Wie ernst die chinesischen Kommunisten diese Aufgabe nahmen, geht unter anderem daraus hervor, daß für sie die Frage, wie sich ein Kuomintang-

Mitglied Sowjetrußland gegenüber verhielt, zum entscheidenden Kriterium dafür wurde, ob dieses Mitglied zum rechten Flügel, zum Zentrum oder zum linken Flügel der Kuomintang zu rechnen und dementsprechend zu behandeln sei

Das von Sun Yat-sen angebahnte Bündnis mit Moskau galt den chinesischen Kommunisten nicht als Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland, sondern als Bündnis der chinesischen Revolution mit der von Sowjetrußland gelenkten und primär von seiner Existenz und Macht abhängigen Weltrevolution. In diesem Zusammenhang wurde die chinesische Revolution als ein dynamischer Entwicklungsprozeß verstanden, der nach mehrfachen Metarmorphosen zunächst zur Hegemonie der Kommunistischen Partei Chinas und weiterhin zur Errichtung eines sozialistischen Gesellschaftssystems in China führen werde. Die Kuomintang und ihre leitende Stellung innerhalb der nationalrevolutionären Bewegung wurden als Ausdruck einer bestimmten vorübergehenden Phase dieses geschichtsnotwendigen Entwicklungsprozesses betrachtet, der durch die Unterstützung Sowjetrußlands und eine taktisch richtige Politik der chinesischen Kommunisten in seinem Ablauf entweder beschleunigt oder aber durch Einschlagung einer falschen Politik gehemmt werden konnte. Somit wurde auch hier, in kommunistischer Sicht, die formale Absprache zwischen der Kuomintang und Sowjetrußland überwölbt von geschichtsmächtigen Entwicklungstendenzen, die, ungeachtet der subjektiven Haltung der Kuomintang, als die objektiven Träger dieses sowjetrussisch-nationalchinesischen Bündnisses galten. Um aber die „subjektive" Haltung ihrer nationalchinesischen Bundesgenossen mit diesen „objektiven" Erfordernissen der geschichtlichen Situation besser in Einklang bringen zu können, versuchten die chinesischen Kommunisten, die Kuomintang davon zu überzeugen, daß Sun Yat-sens russische Bündnispolitik nicht als zweckbedingtes Mittel der nationalchinesischen Politik, sondern als unabänderliches Dogma des Sunyatsenismus zu verstehen sei

Völlig anders erschien das Bild dieses Bündnisses in der Perspektive der Kuomintang. In seinen Vorverhandlungen zum Bündnis mit Moskau mit dem Komintern-Delegierten G. Maring hatte Sun Yat-sen bezüglich der ihm vor Augen schwebenden inneren Bündnisstruktur geäußert: „Wenn die Kommunistische Partei Chinas der Kuomintang beitritt, muß sie sich ihrer Disziplin unterwerfen und öffentliche Kritik der Kuomintang unterlassen. Falls die Kommunisten nicht gehorchen, werde ich sie (aus der Partei) ausschließen; und falls Sowjetrußland sie dann insgeheim unterstützen sollte, würde ich mich gegen Sowjetrußland wenden.“

In seinen handschriftlichen Randglossen zu der Erhebung einer zweifachen Anklage gegen die Kommunistische Partei Chinas seitens des Zentralen Kontrollkomitees der Kuomintang sagte Sun Yat-sen über die chinesischen Kommunisten: „Der Grund, warum sie unsere Partei angriffen und kritisierten, lag in ihrem Wunsch, die russische Freundschaft allein mit Beschlag zu belegen und Rußland davon abzuhalten, mit unserer Partei (Kuomintang) zu verhandeln. So hofften sie, Rußlands Hilfe zu monopolisieren und sich als selbständige Einheit mit unserer Partei messen zu können." Sun Yat-sen fügte dann hinzu, daß die erfahrenen russischen Revolutionäre sich durch „solch junge Leute" (gemeint sind die chinesischen Kommunisten) nicht hätten täuschen lassen, sondern ihnen unter der Androhung des Ausschlusses (von der Komintern?) befohlen hätten, der Kuomintang beizutreten und gemeinsam mit ihr vorzugehen. Die russischen Kommunisten hätten ihren chinesischen Genossen erklärt, Sun Yat-sens „Drei Grundlehren vom Volk" seien „ein zeitgemäßes Heilmittel" für Chinas politische Problematik „und nicht ein überlebtes Erbstück der Vergangenheit." Die Behauptung gewisser chinesischer Kommunisten, daß der Sunyatsenismus überlebt sei, entstamme „dem blinden Glauben und der übertriebenen Verehrung der jungen chinesischen Studenten für die russische Revolution". Der in dem hier besprochenen Zusammenhang bedeutsamste Satz der Randglossen Sun Yat-sens lautet: „Wenn Rußland mit China zusammengehen will, muß es das mit unserer Partei (Kuomintang) tun und nicht mit Ch'en Tu-hsiu (dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas). Wenn Ch'en unserer Partei nicht gehorcht, wird er von ihr ausgeschlossen.“

Anschließend wiederholte Sun Yat-sen die Tatsache, daß Rußland als einziger Staat des Auslandes bereit sei, die nationalchinesische Revolutionsbewegung zu unterstützen, und daß man in die Falle der chinesischen Kommunisten gehe, wenn man diesen erlaube, das chinesische Bündnis mit Rußland zu monopolisieren se). Ferner wies Sun Yat-sen während des Ersten Nationalkongresses der Kuomintang, der ihr Bündnis mit Sowjetrußland fina-lisierte, in einer erläuternden Rede auf die von ihm und dem sowjetrussischen Sonderbotschafter A. Joffe am 26. Januar 1923 gemeinsam unterzeichnete Erklärung hin, in der sich der sowjetrussische Gesandte der Meinung Sun Yat-sens anschloß, daß in China weder der Kommunismus noch auch ein nach sowjetischem Beispiel geformtes Herrschaftssystem eingeführt werden könne „Das bedeutet", so fuhr Sun Yat-sen fort, „daß Ruß-land keine Absicht hat, China russische Institutionen aufzuzwingen oder in China kommunistische Propaganda zu betreiben." In einem entsprechenden Sinne hatte sich der sowjetrussische Chefberater der Kuomintang, M. Borodin, nach seiner Ankunft in Kanton im Spätherbst 1923 geäußert. Borodin hatte damals unter anderem gesagt: „Alle Revolutionäre in China, einschließlich der Mitglieder der Kommunistischen Partei, sollten danach streben, diese Prinzipien (Sun Yat-sens Drei Grundlehren vom Volk unter dem Banner der Kuomintang und unter ihrer Führung zu verwirklichen."

Auch Sun Yat-sens kaum drei Monate vor seinem Tod in Japan gemachte Äußerungen galten der Kuomintang als Hinweis darauf, daß sich Sun Yat-sen nicht „bedingungslos" und ausschließlich an Rußland gebunden fühlte. So wiederholte er in einem Presseinterview an Bord der „Schanghai Maru" in Kobe am 24. November 1924, daß Japan die Freundschaft des chinesischen Volkes gewinnen könne, wenn es in Verfolg einer weitblickenden Politik China bei der Abschaffung der „ungleichen Verträge" unterstütze. Auf der Basis souveräner Gleichberechtigung könnten China und Japan dann „gegenseitige Unterstützungsverträge zur Herstellung eines gemeinsamen Wirtschaftsblocks und eines gemeinsamen Verteidigungspaktes abschließen." In seinem politischen Vermächtnis hinterließ Sun Yat-sen seiner Partei als formales Kriterium für den Abschluß künftiger außenpolitischer Bündnisse der Koumintang die Weisung, sich mit jenen Ländern zusammenzuschließen, „die bereit sind, uns in unserem Kampf für das gemeinsame Ziel einer Befreiung der Menschheit als gleichberechtigt zu behandeln"

Der einflußreiche indische Komintern-Delegierte M. N. Roy kommentierte hierzu nicht ohne Ironie: „Er (Sun Yat-sen) hatte mit dem Gedanken eines Bündnisses mit Sowjetrußland geliebäugelt, aber niemals die Hoffnung aufgegeben, einen angenehmeren Verbündeten zu finden. Selbst auf dem Totenbette hatte er seinen Anhängern noch , die Zusammenarbeit mit jenen Nationen, die uns auf der Grundlage der Gleichberechtigung behandeln', empfohlen. Offenbar war er nicht überzeugt, daß unter den gegebenen Bedingungen nur von der Sowjetrepublik eine solche Haltung erwartet werden konnte." Auch in Sun Yat-sens Abschiedsbotschaft an die Kommunistische Partei der Sowjetunion betonte dieser, daß er sein unvollendet gebliebenes Werk in den Händen derer hinterlasse, die den Prinzipien und Lehren der Kuomintang die Treue halten und sich hierdurch als seine wahren Anhänger erweisen würden Karl Radek, einer der bedeutendsten sowjetischen Komintern-Funktionäre und erster Direktor der Sun Yat-sen-Universität in Moskau, kommentiert in einem Artikel zum zweiten Todestage Sun Yat-sens über dessen Verhältnis zur russischen Revolution: „Ursprünglich ist sie für ihn nur ein äußerer Verbündeter. Sun begreift noch nicht, wo die wahre Kraft der russischen Revolution liegt."

Wie sehr sich Sun Yat-sen als gleichberechtigter Partner seiner russischen Bundesgenossen empfand, geht auch aus seinem Schreiben an den sowjetrussischen Außenminister Tschitscherin hervor, in dem er seine Rolle in China mit derjenigen Lenins in Rußland verglich Chiang Kai-shek griff diesen Vergleich Jahre später auf, um den Mitgliedern der Kuomintang wie auch der Kommunisti-B sehen Partei Chinas den Standpunkt zu verdeutlichen, daß Sun Yat-sen und der Sunyat-senismus für die chinesische Revolution die gleiche grundlegende und richtungweisende Bedeutung habe, die Lenin und dem Leninismus für die russische Revolution zukomme

Sun Yat-sen habe die Kuomintang beauftragt, von den taktischen und organisatorischen Erfahrungen der russischen Revolution zu lernen, um das Gelernte zum Nutzen der Kuomintang in Anwendung zu bringen. Die russische Revolution lehre, daß eine Revolution nur einen geistigen Führer, eine Weltanschauung und eine führende Partei haben könne. Im Falle Chinas sei Sun Yat-sen dieser Führer, der Sunyatsenismus diese Weltanschauung und die Kuomintang diese Partei Nach seinem ersten, die Machtpositionen der chinesischen Kommunisten eindämmenden Staatsstreich vom 20. März 1926 verglich Chiang Kai-shek sein Vorgehen mit der Haltung Stalins, der den Trotzkismus, ungeachtet der Verdienste Trotzkis, niederhalte, weil sonst das revolutionäre Regime in Rußland vor der Gefahr einer Spaltung stehe

Um die Jahreswende 1926/27 war es jedoch den chinesischen Kommunisten, gestützt von der Kuomintang-Linken, gelungen, wieder beträchtlich an Boden zu gewinnen. Der während des Umzugs der Regierung von Kanton nach Wuhan provisorisch als oberstes Vollzugs-organ der Partei und Regierung gebildete so-genannte „Gemeinsame Rat" stand unter dem Einfluß einer Gruppe, die sich aus zwei chinesischen Kommunisten, dem sowjetrussischen Chefberater der Kuomintang, Borodin, und vier Vertretern der Kuomintang-Linken zusammensetzte und Hsü Ch'ien, einen bekannten Gegner Chiang Kai-sheks, zu seinem Vorsitzenden wählte So gestärkt, vermochten die vereinigten Kräfte der Linken Chiang Kai-sheks Vorschlag einer Übersiedlung der nationalchinesischen Regierung nach Nanchang (wo sich sein Hauptquartier befand) zu überstimmen und ihren Plan einer Übersiedlung nach Wuhan durchzusetzen. Gleichzeitig begannen Borodin und die sowjetrussischen Militärberater, Chiang Kai-sheks Plan einer Offensive in Richtung auf Nanking und Schanghai direkt und indirekt zu opponieren bzw. durch Unterbindung des Nachschubs zu erschweren In dieser Situation erneuter politischer Spannung zwischen den Bündnispartnern kam es Mitte Januar 1927 in Wuhan zu einem persönlichen Zusammenstoß zwischen dem sowjetischen Chefberater Borodin und Chiang Kai-shek. Der Anlaß hierzu ergab sich aus einer Rede, die Borodin während eines Banketts der National-regierung hielt, an dem auch Chiang Kai-shek teilnahm. Borodin hatte hierbei gedroht, wenn die Kommunistische Partei Chinas weiterhin von gewissen Kuomintang-Elementen unterdrückt werde, entstehe die Notwendigkeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Chiang Kaishek, der ihn am folgenden Tag deswegen zur Rede stellte, erklärte Borodin, er sei nicht von Moskau nach China gesandt worden, um die Politik der Kuomintang zu obstruieren. Rußlands Großmachtstellung werde ohnedies man-cherseits als „roter Imperialismus" kritisiert. Er wünsche nicht, Sun Yat-sens Bündnis mit Rußland aufzugeben, Borodin hingegen unterminiere die Grundlagen dieses Bündnisses, weil er als offizieller Vertreter Moskaus dessen chinesischen Bündnispartner, die Kuomin-tang, nicht auf der Basis der Gleichberechtigung behandle. Ein von Chiang Kai-shek anschließend an Moskau mit dem Ersuchen um die Rückberufung Borodins gerichtetes Telegramm wurde von dort nicht beantwortet

Im März 1927, wenige Wochen nur vor Ausbruch des Bürgerkrieges zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas, erließen Chiang Kai-shek auf der einen Seite und Ch'en Tu-hsiu, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas auf der anderen, Erklärungen, die den Widerspruch zwischen der „kemalistischen" und der kommunistischen Deutung der russischen Bündnispolitik Sun Yat-sens klar erkennen lassen. Ch'en Tu-hsius Äußerungen knüpften dabei an eine Rede Chiang Kai-sheks vom 7. März 1927 an, in der dieser seine Haltung zum Bündnis der Kuomintang mit Sowjetrußland mit den folgenden Worten gekennzeichnet hatte: „Unser Präsident (Sun Yat-sen) erstrebte (Chinas) Freiheit und Gleichberechtigung. Da Sowjetrußland bereit war, uns als gleichberechtigt zu behandeln, versteht es sich von selbst, daß wir uns mit ihm verbündeten. Solange Ruß-land diese Haltung einnimmt, werden wir unsere prosowjetische Politik nicht aufgeben." Von den Kolonialmächten sprechend, fuhr Chiang Kai-shek fort: ..... sollten diese Staaten uns gleichberechtigt behandeln, so würden wir uns ihnen gegenüber ebenso (freundschaftlich) verhalten, wie wir es jetzt Sowjetrußland gegenüber tun. Umgekehrt würden wir das letztere als imperialistische Macht behandeln, falls es seine Politik uns gegenüber ändern sollte." Ch'en Tu-hsiu entgegnete hierauf, daß diese Haltung, die Chinas außenpolitische Orientierung von der Frage abhängig mache, welche Mächte China auf der Basis der Gleichberechtigung behandelten, nicht dem Geist der Bündnispolitik Sun Yat-sens entspreche. Sun Yat-sen habe Rußland als eine Macht bezeichnet, die schwache Staaten vor der Macht der Imperialisten schütze. Hierbei zitierte Ch'en Tu-hsiu in wenig glücklicher Weise Sun Yat-sens Bezugnahme auf Sowjetrußlands Unterstützung für das kemalistische Regime in der Türkei. Sowjetrußlands Hilfe für China sei nicht auf gleiche Ebene zu stellen mit den unter souveränen Staaten üblichen Formen gegenseitiger Unterstützung. „Wir verbünden uns mit Rußland", so heißt es bei Ch'en Tu-hsiu weiter, „weil wir uns Rußland durch die Revolution verbunden fühlen und nicht, weil es uns gleichberechtigt behandelt". In der Sicht Chiang Kai-sheks sei Sowjetrußland nicht mehr als eine Großmacht, der man positiv gegenüberstehen solle, solange sie dem chinesischen Streben nach internationaler Gleichberechtigung entgegenkomme, gegen die man sich aber wenden müsse, sollte sie diesen Standpunkt künftig verlassen. Heute noch sage Chiang Kai-shek, Sowjetrußland behandle China als gleichberechtigt, morgen aber könne er einen Vorwand finden, um zu behaupten, daß es diese Haltung aufgegeben habe, womit dann das nationalchinesisch-sowjetrussische Bündnis gefährdet sei

Das Gegenargument Chiang Kai-sheks und anderer „kemalistisch" denkender Kuomintang-Führer kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß sich die Kuomintang mit Sowjetrußland verbündet habe, weil dieses China als gleichberechtigt behandle und folglich das Bündnis mit Moskau nur aufrechterhalten könne, solange dieses fortfahre, seinen chinesischen Bündnispartner in Wort und Tat als gleichberechtigt anzuerkennen. Was aber galt der „kemalistisch" orientierten Kuomintang als Kriterium dafür, daß Sowjetrußland die Kuomintang als „gleichberechtigten" Bündnis-partner anerkenne? Die Schlüsselfrage war hier, ob Moskau die ideologische und politische Selbstbestimmung der chinesischen Nationalrevolution und die Führungsstellung der Kuomintang innerhalb derselben respektiere oder nicht. Nicht das Bündnis mit Sowjetrußland, sondern die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der vom Geist des Sun-

yatsenismus gelenkten chinesischen National-revolution sei der von Sun Yat-sen geforderte Grundwert. Er sei der letztlich geltende Maßstab, an dem alle konkreten politischen Maßnahmen, darunter auch das Bündnis mit Sowjetrußland, zu messen seien. Moskau aber habe das so verstandene Prinzip der gleichberechtigten Bündnispartnerschaft in mehrfacher Weise verletzt: es habe versucht, der von ihm gelenkten Kommunistischen Partei Chinas die Führungsstellung innerhalb der chinesischen Revolution zuzuspielen; es habe die chinesischen Kommunisten und die sowjetischen Militärberater dazu benützt, um die militärische und auswärtige Politik der Kuomintang im Sinne sowjetrussischer und chinesisch-kommunistischer Zielsetzungen zu steuern; es habe den ideologischen Führungsanspruch des Sun-yatsenismus durch Ermutigung chinesisch-kommunistischer Kritik an demselben wie auch durch die bewußte Entfachung des von Sun Yat-sen kategorisch abgelehnten innerchinesischen Klassenkampfes untergraben.

Im Sinne dieser Kritik heißt es in Chiang Kai-sheks Grundsatzerklärung zum Abbruch der Zusammenarbeit mit den russischen und chinesischen Kommunisten: „Dr. Sun Yat-sens Politik einer Zusammenarbeit mit Sowjetrußland war nur denkbar, weil uns Sowjetrußland , die Behandlung unseres Volkes auf der Basis der Gleichberechtigung'versprach. Wir haben den Genossen Borodin nicht dazu eingeladen, um den revolutionären Fortschritt unserer Partei zu behindern. Das entscheidende Kriterium dafür, ob unsere Politik einer Zusammenarbeit mit Sowjetrußland fortgesetzt werden kann oder nicht, ist die Frage, ob Sowjetrußland die Kuomintang als gleichberechtigten (das heißt politisch und ideologisch autonomen) Bündnis-partner betrachten kann. Die Entscheidung hierüber liegt nicht bei China. Hätte Sowjetrußland seine Haltung nicht geändert, so hätten wir auch weiterhin mit ihm zusammenarbeiten können"

Wenige Tatsachen sprechen so deutlich für Chiang-Kai-sheks „kemalistische" Auffassung des nationalchinesisch-sowjetrussischen Bündnisverhältnisses wie seine in den ersten Monaten nach Ausbruch des Bürgerkrieges mit den chinesischen Kommunisten immer wiederkehrende Forderung, das Bündnis mit Sowjetrußland unter Ausschaltung der chinesischen Kommunisten und der Einschränkung der Funktion der sowjetischen Berater wiederherzustellen Der Präzedenzfall seines ersten Staatsstreiches vom 20. März 1926, bei dem Moskau die von ihm den sowjetischen Beratern und chinesischen Kommunisten auferlegten Einschränkungen akzeptiert hatte, mochten ihn zu der Annahme veranlaßt haben, Moskau werde wiederum vor seinen diesmal allerdings drastisch erweiterten Forderungen kapitulieren. Doch hatte Moskaus ideologisches und prestigemäßiges Engagement in China zu tiefe Wurzeln geschlagen und war Stalins außenpolitische Bewegungsfreiheit zu stark durch seinen Konflikt mit Trotzki gehemmt, als daß die sowjetische Regierung Chiang Kai-sheks Frontalangriff auf die chinesischen Kommunisten hätte ohne weiteres hinnehmen können. Statt eine Wiederannäherung an Chiang Kai-shek zu versuchen, setzte Stalin vielmehr seine Hoffnungen auf die mit Moskau noch sympathisierenden Kräfte der Kuomintang-Linken in Wuhan und den von Rußland unterstützten Provinzgeneral Feng Yü-hsiang, die sich jedoch innerhalb weniger Monate ihrerseits aus den gleichen Gründen wie Chiang Kai-shek gegen die chinesischen Kommunisten und die bestehende Form des Bündnisses mit Sowjetrußland wandten.

Verzweifelte Versuche der Kommunisten, durch hastig improvisierte Aufstände das Blatt noch in letzter Minute zu wenden, schlugen fehl und erhöhten die Aggressivität ihrer Gegner. Aufstand um Aufstand wurde in Blut erstickt. Nach Ansicht Mao Tse-tungs brachte das Jahr 1927 die schwerste Niederlage in der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas. Am 15. Dezember 1927, unmittelbar nach der Niederschlagung des von Moskau inspirierten Kommune-Aufstandes in Kanton, veranlaßte die chinesische Nationalregierung den Abbruch der diplomatischen Beziehungen Chinas zu Rußland. Trotzkis Frage: „Sunyatse-nismus oder Marxismus" war somit von Chiang Kai-shek für die chinesische Geschichte der folgenden 22 Jahre zugunsten des Syn-yatsenismus entschieden worden. wird fortgesetzt!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu den bedeutsamsten Darstellungen, die zur Geschichte und Problematik der „Bewegung vom Vierten Mai 1919" in westlichen Sprachen erschienen sind, gehören: Wolfgang Franke, Chinas Kulturelle Revolution — Die Bewegung vom 4. Mai 1919, München 1957; Chow Tse-tung, The May Fourth Movement — Intellectual Revolution in Modern China, Cambridge/Mass. 1960; Kiang Wen-han, The Chinese Student Movement, New York 1948.

  2. Ch’en Tu-hsiu (1880— 1939) wurde 1916 zum Leiter des Literarischen Instituts an der Nationalen Universität in Peking (Peita) ernannt. Er war der Herausgeber der kulturpolitisch bedeutsamen Zeitschrift Hsin Ch’ing-nien („Neue Jugend", die mit dem französischen Untertitel „La Jeunesse“ erschien). Ch’en fungierte von 1921— 1927 als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Nach deren schwerer Niederlage im Frühjahr und Sommer 1927 wurde er von diesem Posten abgesetzt und im November 1929 aus der Partei ausgestoßen.

  3. Zit. bei Wolfgang Franke, Chinas Kulturelle Revolution, München 1958, S. 39.

  4. Zit. bei Benjamin Schwartz, Ch’en Tu-hsiu and the Acceptance of the Modern West, in: Journal of the History of Ideas, Bd. 12, 1951, S. 65.

  5. Chow Tse-tung, a. a. O., S. 176 und 230. Seine eigenen Impressionen im Hinblick auf diese Bewegung gibt John Dewey in zwei Aufsätzen wieder: New Culture in China, in: Asia, Bd. 21, Nr. 7, Juli 1921, und: The Sequel of the Student Move-ment, in: The New Republic, Bd. 19, Nr. 273, 3. März 1920.

  6. Mao Tse-tung, Die Kultur der Neuen Demokratie, in: über Literatur und Kunst (Ausgewählte Schriften, zusammengestellt vom Verlag für fremdsprachige Literatur), Peking 1961, S. 26— 27.

  7. Ebda., S. 17— 18. Dieses Essay erschien ursprünglich 1940 als Teil einer der wichtigsten ideologischen Schriften Mao Tse-tungs: über die Neue Demokratie.

  8. Zit. bei Wolfgang Franke, Chinas Kulturelle Revolution, a. a. O., S. 57.

  9. Ebda., S. 66. Vgl. auch Hu Shih, The Chinese Renaissance, Chicago 1934 (insbes. Kapitel 3 u. 4).

  10. In der Hoffnung, daß die Gestaltung des Welt-friedens im Sinne der „Vierzehn Punkte" von Präsident Wilson erfolgen werde, hatte die chinesische Delegation der Friedenskonferenz in Paris ein Sieben-Punkte-Programm zur Emanzipierung Chinas von dem Status eines halbkolonialen Gebiets unterbreitet. Jedoch keiner dieser Vorschläge wurde berücksichtigt. Es stellte sich im Gegenteil heraus, daß Großbritannien und Frankreich Japan bereits während des Krieges ihre Unterstützung für Japans geplante Übernahme deutscher Rechte in Kiautschou und Schantung (also auf chinesischem Boden) zugesagt hatten. Diese Übernahme wurde in den Artikeln 156, 157 und 158 des Friedensvertrages von Versailles festgelegt. In einem Schreiben an den Rat der „Großen Drei“ (Wilson, Clemenceau, Lloyd George) erklärte der chinesische Außenminister Lu Cheng-hsiang daher am 4. Mai 1919: „China in coming to the Peace Conference, has relied on the Fourteen Points set forth by President Wilson. . .. She has relied on the spirit of honorable relationship between States which is to open a new era in the world and inaugurate the League of Nations. She has relied, above all, on the justice and equity of her case. The result has been to her a grievous disappointment." (Bei seiner Teilnahme an der Friedenskonferenz hat China auf die von Präsident Wilson proklamierten vierzehn Punkte vertraut... Es hat darauf vertraut, daß zwischen den Staaten der Geist ehrenhafter Beziehungen herrschen würde, durch den eine neue Ära in der Welt eröffnet und der Völkerbund geschaffen würde. Es hat vor allem auf das Recht und die Gerechtigkeit seiner Sache vertraut. Das Ergebnis ist eine bittere Enttäuschung gewesen.) John A. V. MacMurray, Treaties and Agreements with and concerning China, 1894— 1919, New York 1929, Bd. 2, S. 1494 bis 1495. China lehnte es somit ab, den Friedensvertrag von Versailles zu unterzeichnen. Der Wortlaut des chinesischen Memorandums über die Frage der deutschen Rechte in Schantung findet sich in: China Year Book 1921/22, S. 660— 705.

  11. In erster Linie Ch'en Tu-hsiu und Li Ta-chao. Sodann aber auch Chang Kuo-t'ao, Teng Ying-ch’ao, (Madame Chou En-lai), Mao Tse-tung, Lu Hsün und Kuo Mo-jo (letzterer gehört jedoch nicht zur „alten Garde" der K. P. Chinas).

  12. Darunter Hu Shih, Chiang Mon-lin, Fu Ssu-nien, Wu Chih-hui, Tai Chi-t'ao, Ts'ai Yüan-p'ei und Lo Chia-lun.

  13. Zwei gute Beispiele für die zwischen Hu Shih und den der Kuomintang nahestehenden Traditionalisten bzw. Sunyatsenisten stattfindenden Kontroversen sind in der Quellensammlung von Bary (Th. W.de Bary, Chan Wing-tsit und Burton Watson: Sources of Chinese Tradition, New York 1960) in leicht gekürzter Übersetzung enthalten. Das erste betrifft einen von zehn traditionalistischen Universitätsprofessoren unterzeichneten Appell, der vor zu blinder Imitation des Auslandes warnt und eine kulturelle Erneuerung „auf chinesischer Basis“ fordert. Auf diesen im Januar 1935 in der Zeitschrift Wen-hua Chien-she (Kultureller Aufbau) erschienenen Aufruf erfolgte Hu Shihs kritische Entgegnung. Beide Texte in englischer Übersetzung bei Bary, a. a. O., S. 854— 857. Als zweites Beispiel sei eine Schrift des chinesischen Historikers Tsiang Ting-fu genannt (der später als nationalchinesischer Chefdelegierter in der UN weltbekannt wurde), in der er die Vormundschaftsdiktatur der Kuomintang in China verteidigt. Professor Tsiangs Schrift und Hu Shihs Kritik ihrer Thesen finden sich beide gekürzt in englischer Übersetzung in Bary, e. a. O., S. 791— 796. Noch fünf Monate vor seinem Tod hielt Hu Shih am 6. November 1961 in Taipei (Formosa) einen Vortrag, in dem er die von den Traditionalisten gern verwendete Gegenüberstellung zwischen der „geistigen Kultur des Ostens* und der „materialistischen Kultur des Westens” einer scharfen Kritik unterzog.

  14. Chow Tse-tung, a. a. O., S. 365— 366.

  15. Vgl. Liang Ch’i-ch’aos Vorwort zu seinem Buch: History of Chinese Political Thought, S. 6— 13.

  16. S. Y. Teng and J. K. Fairbank, Chinas Response to the West, Cambridge/Mass. 1954, Dokument 62, S. 252— 255, deutsch bei Wolfgang Franke, Chinas Kulturelle Revolution, S. 66 (beide Wiedergaben gekürzt).

  17. Ebda.

  18. über das, was er als bleibende Werte der chinesischen Kulturtradition betrachtete, schrieb Hu Shih u. a. in seinen Essays: Confucianism, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 4, New York 1932; The Chinese Tradition and the Future, in: Free China Review, Bd. 10, Nr. 8, August 1960; Chinese Thought, in: MacNair (Hrsg.), China, Los Angeles 1951, Kap. 13; deutsch in: Kindermann, Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus, Freiburg/Br. 1962, Dokument 1.

  19. Ch'en Tu-hsiu und Chang Kuo-t'ao, die beide nacheinander Generalsekretäre der Kommunistischen Partei Chinas waren, wurden aus der Partei ausgeschlossen.

  20. Vgl. Roderick MacFarquhar, The Hundred Flowers, London 1960, sowie Wilhelm Cornides (Hrsg.), Die Internationale Politik 1956/57, München 1961, S. 551— 565; Mao Tse-tung, über die richtige Lösung von Widersprüchen im Volke, Peking 1957; Lu Ding-Ji, Laßt hundert Blumen miteinander blühen! Laßt hundert Schulen miteinander streiten!, Peking 1957; Cheng Hsueh-chia, Mao Tse-tung and the „Let a Hundred Flowers Bloom and a Hundred Schools of Thought Contend" Campaign, Taipei 1958.

  21. Wolfgang Franke, Chinas Kulturelle Revolution, a. a. O., S. 19. Eine interessante Auswahl aufschlußreicher Schriften chinesischer Gelehrter und Staatsmänner des 20. Jahrhunderts, die in verschiedenster Weise zur Zielsetzung und Problematik der Neuen Kulturbewegung Stellung nehmen, findet sich (zumeist gekürzt) in Kapitel 28 sowie auch in den Kapiteln 27 und 29 der Quellensammlüng von Bary, a. a. O„ S. 813— 857, 786— 812 und 928— 940. Die hier genannte Selektion enthält Schriften von Hu Shih, Ch’en Tu-hsiu, Chang Chün-mai (Carsun Chang), Liang Shu-ming, Mao Tse-tung, Chiang Kai-shek.

  22. Vgl. Kongreß der Kommunistischen Internationale I—II; Teil II des Bandes: Protokoll der Verhandlungen vom 19. Juli in Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August 1920 in Moskau, Hamburg 1921, S. 139— 200, S. 226— 231 und 205— 211; ferner: Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale (Petrograd/Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922), Hamburg 1923, insbesondere S. 612— 633 und S, 1035— 1042.

  23. Vgl. Leitsätze über die Nationalitäten-und Kolonialfrage, in: Kongreß der Kommunistischen Internationale I—II, a. a. O., sowie Leitsätze zur Orient-frage, in: Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale, a. a. O., S. 1040 bis 1041.

  24. Teng Ssu-yü and John K. Fairbank, China’s Response to the West, Cambridge/Mass. 1954 (Dokument 56: Manifest der T’ung-meng-hui), S. 227 bis 229.

  25. Sun Wen (Sun Yat-sen), San-min chu-i, Kanton 1925. Englische Ausgaben: Sun Yat-sen; San Min Chu I — The Three Principles of the People, übers, v. Frank W. Price, Schanghai 1927 (eine gekürzte Neuausgabe erschien 1953 in Taipei mit begleitendem chinesischen Text). Leonard Hsü Shih-lien: Sun Yat-sen — His Political and Social Ideals (enthält englische Übersetzung der wichtigsten Schriften Sun Yat-sens einschließlich der San-min chu-i), Los Angeles 1933. Eine gekürzte deutsche Ausgabe der San-min chu-i befindet sich in Kindermanns Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus — Dokumente zur Begründung und Selbstdarstellung des chinesischen Nationalismus, Freiburg i. Br. 1963, Dokument 2. Da Sun Yat-sens Hauptwerk in zahlreichen Ausgaben erschienen ist, wird dieses Werk hiernach als San-min chu-i zitiert und ferner nicht nach Seitenzahlen, sondern unter Hinweis auf die jeweils zitierte Rede der 16 darin enthaltenen Reden Sun Yat-sens, die den Inhalt des Werkes bilden.

  26. Vgl. Harold Schiffrin, Sun Yat-sen's Early Land Policy, in: The Journal of Asian Studies, Bd. XVI, Nr. 4, August 1957; ferner Gottfried-Karl Kinder-mann, Agrarrevolution und Agrarreform als Alternativen der Selbstentwicklung: Die Entwicklungstheorien des Sunyatsenismus und des chinesischen Kommunismus, in: Kulturen im Umbruch — Studien zur Problematik und Analyse des Kulturwandels in Entwicklungsländern (vom gleichen Autor herausgegeben), Freiburg 1962.

  27. Sun Yat-sen war bei dieser Meinung sowohl von der politischen Philosophie des Konfuzianismus wie auch von der am russischen Marxismus geübten Kritik des amerikanischen Sozialisten Maurice William beeinflußt.

  28. Vgl. Sun Yat-sen, Die Grundlehre vom Volks-wohl (Min sheng chu-i). In: Kindermann, a. a. O., Dokument 2b; ferner: Sun Yat-sen und der Kommunismus, ebda., Einleitung, Abschn. 4. Nach seiner Begegnung mit dem Komintern-Vertreter G. Maring (alias Sneevliet) im November 1921 in Kweilin (Kiangsi) äußerte sich Sun Yat-sen seinem Mitarbeiter Liao Chung-k'ai gegenüber wie folgt: „Ich bin sehr skeptisch gewesen im Hinblick auf die Möglichkeit einer Verwirklichung des Marxismus — also des reinen Kommunismus — nach der sowjetischen Revolution; denn die Welt erlebt einen Aufschwung des Kapitalismus, während der Kommunismus angesichts der geringen Entwicklung der Industrie und des Handels in Rußland wie auch wegen dessen Isolierung nicht in der Lage ist, sich zu entfalten, und somit noch einen weiten Weg bis zu seiner Verwirklichung vor sich hat. Jetzt habe ich soeben von Maring gehört, daß Sowjetrußland nach einem Versuch zur Einführung des Kommunismus in große Schwierigkeiten geriet und deshalb zur Neuen Ökonomischen Politik übergegangen ist. Der Geist dieser Neuen Ökonomischen Politik entspricht dem von mir befürworteten Prinzip des Volkswohls. Ich bin froh, daß Sowjetrußland eine Politik gewählt hat, die meinem Prinzip entspricht. Ich werde dadurch in meinem Glauben daran bestärkt, daß mein Prinzip vollständig verwirklicht werden kann und letztlich von Erfolg gekrönt sein wird". Zitiert bei Conrad Brandt, Stalin’s Failure in China 1924— 1927, Cambridge/Mass. 1958, S. 26— 27, aus: Ssu-ma Hsien-tao, Pei-fa hou chih ko-pai ssu-ch’ao (Die ideologischen Tendenzen der verschiedenen Gruppen nach dem Nordfeldzug), Peking (Peiping) 1930, S. 45.

  29. Sun Yat-seri, China’s Next Step, in: Independent, Bd. LXXII, Juni 1912, S. 1315— 1316; Sun Yat-sen, Road of Progress, in: Fundamentals of National

  30. W. I. Lenin, Demokratie und Narodnikitum in China, in: Ausgewählte Werke in 12 Bänden (übersetzt nach der russischen Ausgabe des Marx-Engels-Lenin-Instituts in Moskau), Wien-Berlin 1933, Bd. IV, S. 317— 323.

  31. Leon Trotsky (Trotzki), Problems of the Chinese Revolution. Mit einer Einführung von Max Shachtman, New York 1932, S. 339 (Hervorhebungen nicht im Original).

  32. Wortlaut dieses Nachrufes von T’ang Shao-yi in: Far Eastern Review, Bd. XXI, März 1925, S. 103.

  33. Mao Tse-tung, Uber die Neue Demokratie, in: Ausgewählte Schriften, Bd. III, Berlin 1958, S. 158.

  34. Ebda., S. 159— 160.

  35. Bericht der Pekinger Sektion der Kommunistischen Partei Chinas vom 10. Februar 1927, in: C. Martin Wilbur and Julie Flow Linn-ying, Documents on Communism, Nationalism, and Soviet Advisers in China 1918— 1927. Papers seized in the 1927 Peking Raid, New York 1956, Dokument 50, S. 439— 441.

  36. „Leitsätze zur Orientfrage“, a. a. O., S. 1041.

  37. In einem Abschnitt über die Grundlehre von den Volksrechten heißt es in der Grundsatzerklärung ausdrücklich, die jeweilige Haltung von Individuen und Gruppen werde darüber entscheiden, ob sie zu den Anhängern oder den Gegnern der Revolution zu zählen seien. Grundsatzerklärung des Ersten Nationalen Kongresses der Kuomintang. Englisch in: Leonard Hsü Shih-lien, Sun Yat-sen — His Political and Social Ideals (A source book), Los Angeles 1933, S. 120— 141. Tai Chi-t’ao erläuterte hierzu, die Kommunisten strebten eine „Diktatur des Proletariats" an, die Sunyatsenisten hingegen eine „Diktatur der Revolutionäre", ungeachtet ihrer Klassenherkunft. Tai Chi-t'ao, Die geistigen Grundlagen des Sunyatsenismus; deutsch auszugsweise in: Kindermann, Konfazianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus .... a. a. O., Dokument 10.

  38. Sun Yat-sen, The Vital Problem of China, Taipei 1953, S. 37. Diese von Chu Chih-hsin nach Sun Yat-sens Diktat 1917 niedergeschriebenen Essays über Probleme der chinesischen Außenpolitik und die Rolle des Imperialismus in der Weltpolitik erschienen erstmals in chinesischer Sprache unter dem Titel: Sun Wen, Chung-kuo ts'un wang wen-t’i, Schanghai 1928.

  39. Grundsatzerklärung des Ersten Nationalen Kongresses der Kuomintang, a. a. O., (vgl. Anm. 16), S. 129; Mao Tse-tung, Uber die Koalitionsregierung, in: Ausgewählte Schriften, a. a. O., Bd. IV, S. 355.

  40. Grundsatzerklärung des Ersten Nationalen Kongresses der Kuomintang, a. a. O., S. 134.

  41. Wilbur und How, a. a. O., Dokument 20, S. 236.

  42. Mao Tse-tung, Ausgewählte Schriften, a. a. O., Bd. I, S. 12.

  43. Wilbur und How, a. a. O., Dokument 21, S. 240.

  44. Zitiert aus: Internationale Presse-Korrespondenz vom 23. April 1927, in: K. A. Wittfogel, Sun Yat-sen — Aufzeichnungen eines chinesischen Revolutionärs, Wien-Berlin o. J., S. 326— 327.

  45. Thesen des VII. Erweiterten Plenums des Exeku-tiv-Komitees der Kommunistischen Internationale, in: Xenia Joukoff Eudin and Robert C. North, Soviet Russia and the East 1920— 1927 — A Documentary Survey, Stanford/Cal 1957, Dokument 102, S. 356— 361.

  46. Louis Fischer, The Soviets in World Affairs (2 Bde.), London 1930, Bd. II, S. 645.

  47. Ho Kan-chih, A History of the Modern Chinese Revolution, Peking 1959, S. 96; Harold R. Isaacs, The Tragedy of the Chinese Revolution, London 1938, S. 98— 99.

  48. Kurzgeschichte der Kommunistischen Partei Chinas, in: Wilbur und How, a. a. O., Dokument 1, S. 76.

  49. Ho Kan-chih, a. a. O„ S. 100.

  50. Mao Tse-tung, Bericht über eine Untersuchung der Bauernbewegung in Hunan, in: Conrad Brandt, Benjamin Schwartz und John K. Fairbank, Der Kommunismus in China — Eine Dokumentargeschichte, München 1955, Dokument 7, S. 63.

  51. Ho Kan-chih, a. a. O., S. 154.

  52. Internationale Presse-Korrespondenz Nr. 32, 22. März 1927.

  53. Wilbur und How, a. a. O., S. 285; Ho Kan-chih, a. a. O., S. 153.

  54. Wilbur und How, a. a. O., S. 97.

  55. Chiang Kai-shek, Declaration to Kuomintang Members, Schanghai April 1927, S. 17— 18 — deutsch auszugsweise in: Kindermann, Konfuzianimus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus, a. a. O , Dokument 8.

  56. Zit. in: T ang Leang-li, The Inner History of the Chinese Revolution, London 1930, S. 178.

  57. Ebda., S. 178— 179. Der Ständige Ausschuß des Zentralen Exekutivkomitees der Kuomintang betonte in einer Erklärung vom 7. Juli 1924 im Hin-blidc auf die zu Jahresanfang begonnene Partei-reform: „Die Methoden der Organisation sind verbessert worden, während aber die Grundprinzipien der Drei Grundlehren vom Volk unverändert bleiben. ... In den letzten Monaten ergaben sich jedoch Mißverständnisse im Hinblick auf jene Kommunisten, die unserer Partei beigetreten sind.... Da die Kuomintang der Träger der chinesischen Revolution ist, muß sie in ihren Reihen alle revolutionären Elemente vereinigen. Bei der Wahrung ihrer

  58. Am 20. März 1926 ließ Chiang Kai-shek die sowjetischen Berater der Kuomintang in Kanton unter Schutzhaft stellen, führende Kommunisten verhaften und deren Streikpostenverbände entwaffnen. Er motivierte dieses Vorgehen damit, daß er das Gefühl habe, die Macht im Lager der chinesischen Revolution beginne der Kuomintang zu entgleiten und gerate zusehens in die Hände der chinesischen Kommunisten und ihrer sowjetischen Berater. Als conditio sine qua non einer Fortführung der Zusammenarbeit der Kuomintang mit den chinesischen Kommunisten und mit der Kommunistischen Internationale forderte er die ausdrückliche Anerkennung der ideologischen und politischen Hegemonie der Kuomintang, die Entfernung der Kommunisten aus Führungsstellen der revolutionären Regierung und die Einsichtnahme der Kuomintangführung in die von der Kommunistischen Internationale an die Kommunistische Partei Chinas erlassenen Direktiven. Die von Chiang Kai-sheks Staatsstreich überraschten kommunistischen Bündnispartner der Kuomintang gaben aus taktischen Gründen nach, und Chiang Kai-shek erlangte in den folgenden Monaten eine seit dem Tode Sun Yat-sens in dieser Art nicht mehr gegebene politische und militärische Führungsstellung innerhalb der revolutionären Bewegung in Kanton.

  59. In diesem Sinne schrieb Mao Tse-tung später: „Die chinesische Revolution muß unweigerlich zwei Phasen durchlaufen: die Phase der neuen Demokratie und erst dann die Phase des Sozialismus. . . . Einige böswillige Demagogen bringen diese zwei verschiedenen Etappen der Revolution bewußt durcheinander und predigen die sogenannte Theorie der einmaligen Revolution; mit ihrer Hilfe versuchen sie zu beweisen, daß die drei Volksgrundsätze (d. i. Sun Yat-sens Weltanschauung, niedergelegt in seinem Werk: Drei Grundlehren vom Volk)

  60. Eudin und North, a. a. O., Dokument 102, S. 357 bis 358.

  61. Protokoll, VII EEKKI, S. 1591. (Protokoll der VII. Konferenz des Erweiterten Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationale, in: International Press Correspondence, Bd. VI, Nr. 91, 30. Dezember 1926, S. 1608. — Hiernach zitiert als Protokoll, VII. EEKKI.)

  62. Ebda.

  63. Eudin und North, a. a. O., Dokument 102, S. 361.

  64. Ebda., Dokument 102, S. 360 u. 361.

  65. Wortlaut der Rede übers, in: North China Herald, 19. März 1927.

  66. Tang Leang-li, a. a. O., S. 265— 266.

  67. Wortlaut dieser Erklärung vom 5. April 1927 in: North China Daily Herald, 9. April 1927.

  68. Chiang Kai-shek, Manifesto to the People, a a. O., S. 7.

  69. Wang Ching-wei, Der Ausschluß der Kommunisten aus Wuhan (Rede vom 5. November 1927, in der Wang Ching-wei über seine Rückkehr nach China und seine anschließenden Kontakte mit den chinesischen Kommunisten und den sowjetrussischen Beratern berichtet), in: Ko-ming yü tan-ko-ming, S. 607— 608; T'ang Leang-li, a. a. O., S. 279 bis 289.

  70. Wortlaut der Leitsätze in: Kongreß der Kommunistischen Internationale, I—II, a. a. O., S. 225— 232.

  71. Ebda., S. 226— 227.

  72. Eudin und North, a. a. O., Dokumente 98 u. 99, S. 343— 346.

  73. Ein die verschiedenen Gruppen innerhalb der Kuomintang charakterisierendes Klassifikationsschema des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas beschreibt die als typisch erachtete Haltung dieser Gruppen Sowjetrußland gegenüber wie folgt: „Reaktionäre: Opponieren Sowjetrußland und die Kommunistische Partei Chinas“; „Linker Flügel: Stellt Verbindungen mit Sowjetrußland und der Kommunistischen Partei Chinas her"; „Rechter Flügel: Stellt Verbindungen mit Sowjetrußland her, um die Kommunistische Partei Chinas zu opponieren“. Wilbur und How, a. a. O., Dokument 20, S. 236. Die letztgenannte Charakterisierung wirkt besonders interessant, wenn man sie Sun Yat-sens Erklärung gegenüberstellt, die Kommunistische Partei Chinas hätte Sowjetrußlands Freundschaft für China monopolisieren wollen. Vgl. unten das der Anmerkung 55 zugehörige Zitat Sun Yat-sens.

  74. Vgl. Ch'en Tu-hsius Artikel zum zweiten Todestage Sun Yat-sens (12. März 1927) in: Hsiang-tao (Wöchentlicher Wegweiser), Bd. 1927, S. 2056— 2057 (Auszug in Wilbur und How, a. a. O., S. 392); ferner Ch’en Tu-hsius gegen Chiang Kai-sheks außen-politische Haltung polemisierenden Artikel in Hsiang-tao vom 18. März 1927 (übers, in: North China Herald, 9. April 1927).

  75. Mitte 1922 wurde Sun Yat-sen von Dalin, einem Vertreter der Kommunistischen Jugend-Internationale, der Vorschlag zur Bildung einer Zwei-Parteien-Koalition zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas unterbreitet. Der erste Generalsekretär der K. P. Chinas berichtet hierzu:

  76. Tan-ho Kung-ch'an-tang liang-ta yao-an, a. a. O., S. 4.

  77. Ebda., S. 5— 6.

  78. Wortlaut der „Sun-Joffe-Erklärung“ in: China Yearbook 1924/25, S. 863; deutsch in: Brandt, Schwartz u. Fairbank, a. a. O., Dokument 3, S. 48 bis 49.

  79. Zit. bei T’ang Leang-li, a. a. O., S. 170.

  80. Ebda., S. 159— 160.

  81. Sun Yat-sen, The Vital Problem of China, a. a. O., S. 153. Sun wiederholte die gleiche Aufforderung in einem Interview in Moji am 1. Dezember 1924. Ebda., S. 174.

  82. Wortlaut des Vermächtnisses in Hsü, a. a. O., S. 43.

  83. Manabendra Nath Roy, Revolution und Konterrevolution in China, Berlin 1930, S. 300.

  84. Wortlaut dieser von Eugen Ch'en (Ch'en Yu-jen) entworfenen Botschaft in: New York Times, 24. Mai 1925, u. in: Chung-shan ch’üan-shu (Vollständige Schriften Sun Yat-sens), a. a. O., 1926, Bd. IV, S. 23— 24.

  85. Karl Radek, Sun Yat-sen, der Schöpfer des revolutionären Kanton, in: Welt am Abend, 24. März 192?; zit. bei Wittfogel, a. a. O., S. 92.

  86. The Current Digest of the Soviet Press, Bd. II, Nr. 43, S. 20— 21.

  87. Rede vom 24. Juni 1924, in: Chiang Chieh-shih hsien-sheng yen-shuo-chi, a. a. O., S. 99— 100.

  88. Rede vom 20. April 1926 über den Staatsstreich vom 20. März gleichen Jahres, ebda., S. 582— 585.

  89. Ebda.

  90. Wilbur und How, a. a. O., S. 381— 382.

  91. In einer 1927 gehaltenen Rede in der Universität Nanking berichtete General Ch’en Ming-ch’u, der sowjetische Chefberater Borodin, der sowjetische Militärberater Galen und die der Kuomintang-Linken nahestehenden Generäle T'ang Sheng-chih und Teng Yen-ta hätten alle Chiang Kai-sheks Plan zu einer Offensive in Richtung auf Schanghai abgelehnt. Als Chiang in seiner Eigenschaft als Ober-befehlshaber der Nationalrevolutionären Streitkräfte dennoch mit dieser Offensive begann, hätten die vereinten Kräfte der Linken eine Reihe von Maßnahmen — vor allem Unterbindung des Nachschubs — unternommen, um diese Offensive scheitern zu lassen. Wortlaut der Rede in: Ko-ming yü fan-ko-ming (Revolution und Konterrevolution), hrsg. v. Lang Hsing-shih, Schanghai 1928, S. 361— 370 (insbes. S. 365— 366). In dem vom 17. März 1927 datierten Bericht von drei Komintern-Beobachtern (N. Nassonow, N. Fokine und A. Albrecht) aus Schanghai heißt es, die russischen Militärberater und Borodin hätten die Ansicht vertreten, es könne Chiang Kai-shek nichts schaden, „wenn er sich an Schanghai und Chekiang den Hals breche**. Der sowjetische General Galen habe die Offensive gegen Schanghai als „hoffnungsloses militärisches Unternehmen* bezeichnet. Der Bericht ist abgedruckt in Trotzky, a. a. O., S. 397— 432. Vgl. ferner Gregorij Bessedowsky, Den Klauen der Tscheka entronnen. Erinnerungen, Leipzig-Zürich 1930, S. 114— 116 (diese stellenweise fragwürdigen Memoiren eines zu dieser Zeit in Japan tätig gewesenen vormaligen sowjetrussischen Diplomaten stimmen, was das hier behandelte Problem betrifft, weitestgehend mit den Angaben Ch’en Ming-ch’us und der drei Komintern-Beobachter überein).

  92. Rede Chiang Kai-sheks vom 18. April 1927, in der seine letzte persönliche Auseinandersetzung mit Borodin geschildert wird. Chiang Chieh-shih hsien-sheng yen-shuo-chi, S. 681— 682.

  93. Wortlaut der Rede Chiang Kai-sheks leicht gekürzt übers, in: North China Herald, 2. April 1927. Ch'en Tu-hsius Artikel im Hsiang-tao (Wöchentlicher Wegweiser) vom 18. März 1927, übers, in: North China Herald, 9. April 1927. Die Grundsatzerklärung des Ersten Nationalen Kongresses der Kuomintang (übers, in Hsü, a. a. O., S. 120— 141) sagt in Absatz 2 des in ihr enthaltenen Parteiprogramms der Kuomintang: „Alle Staaten, die freiwillig ihre Sonderprivilegien in diesem Land (China) aufgeben und dazu bereit sind, die von ihnen mit China geschlossenen ungleichen Verträge abzuschaffen, sollen als die China am freundlichsten gegenüberstehenden Staaten betrachtet werden."

  94. Artikel Ch'en Tu-hsius, vgl. Anm. 72. Der ideologische Hintergrund der hier zum Ausdruck kommenden Haltung der chinesischen Kommunisten wird voll ersichtlich aus den Worten Stalins: „Ein Revolutionär ist, wer ohne Vorbehalte, bedingungslos, offen und ehrlich ... bereit ist, die UdSSR zu schützen und zu verteidigen, denn die UdSSR ist der erste revolutionäre proletarische Staat in der Welt, der den Sozialismus aufbaut. Ein Internationalist ist, wer vorbehaltlos, ohne zu schwanken, ohne Bedingungen zu stellen, bereit ist, die UdSSR zu schützen, weil die UdSSR die Basis der revolutionären Bewegung der ganzen Welt ist; diese revolutionäre Bewegung zu schützen und voranzubringen, ist aber nicht möglich, ohne die UdSSR zu schützen. Denn wer die internationale revolutionäre Bewegung zu schützen gedenkt und dabei die UdSSR nicht schützen will oder sich gegen sie stellt, der stellt sich gegen die Revolution, der gleitet unwiderruflich ins Lager der Feinde der Revolution hinab." J. W. Stalin, Werke, Berlin 1952, Bd. X (1927), S. 45.

  95. Vgl. Chiang Kai-shek, Manifeste to the People, a. a. O., sowie vom gleichen Autor: Declaration to Kuomintang Members, a. a. O. (beide Dokumente auszugsweise in: Kindermann, Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus, a. a. O., Dokument 8). Ferner die beiden diesbezüglichen Dokumentensammlungen der Kuomintang: Ch'ing-tang yün-tung („Die Bewegung zur Säuberung der Partei"), Dokumente zum Ursprung des chinesischen Bürgerkrieges zwischen der Kuomintang und den Kommunisten im Frühjahr und Sommer 1927, o. O. 1927; und: Ko-ming yü fan-ko-ming („Revolution und Konterrevolution"), 12 Dokumente führender Kuomintang-Politiker über die Ursachen des Konflikts zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas, hrsg. v. Lang Hsing-hsih, Schanghai 1928.

  96. Chiang Kai-shek, Manifesto to the People, a. a. O., S. 7.

  97. In Chiang Kai-sheks Rücktrittserklärung vom 14. August 1927 (das heißt noch vier Monate nach seinem zweiten Staatsstreich) heißt es unter anderem: „Ich befürworte (weiterhin) die chinesisch-russische Zusammenarbeit, aber ich verlange die sofortige Ausweisung Borodins." China Yearbook 1928, S. 1383. Ebenso hatte Chiang Anfang Mai gleichen Jahres in Nanking erklärt: „Es sollte verstanden werden, daß wir unsere Haltung Rußland gegenüber nicht ändern werden, solange es auf der Basis der Gleichberechtigung mit uns im Kampf gegen den Imperialismus zusammenarbeitet. Die Säuberung der Kuomintang (das heißt der Ausschluß und die Unterdrückung der chinesischen Kommunisten) wird unsere Rußlandpolitik in keiner Weise beeinträchtigen." Wortlaut der Rede in: North China Herald, 20. Mai 1927. Vgl. ferner: Chiang Kai-sheks Rede vom 18. April 1927, zit. oben in Anm. 71.

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Gottfried-Karl Kindermann, geb. 13. April 1926; z. Z. Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. und Leiter der Femost-Abteilung im Arnold-Bergstraesser-Institut für Kulturwissenschaftliche Forschung (in Freiburg). Veröffentlichungen: Kapitel über die Außenpolitik und die innere Entwicklung der Staaten Ostasiens in den Jahrbuchbänden „Internationale Politik" (hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik) für die Jahre 1955, 1956/57 und 1962; Herausgeber von: Kulturen im Umbruch. Studien zur Problematik und Analyse des Kulturwandels in Entwicklungsländern, Freiburg/Br. 1962, darin Autor des Beitrages: Agrarrevolution und Agrarreform als Alternativen der Selbstentwicklung. Die Entwicklungstheorien des Sun-yatsenismus und des chinesischen Kommunismus; Herausgeber und Mitautor von: Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus. Dokumente zur Begründung und Selbstdarstellung des chinesischen Nationalismus, Freiburg/Br. 1963; Bürgerkrieg und Weltpolitik in China 1923— 1966. Chinas Revolution zwischen Rußland und Amerika, erscheint 1967 in Köln; mehrere Schriften zur inneren und auswärtigen Politik der Vereinigten Staaten sowie zur Theorie und Struktur der Politikwissenschaft.