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Zur Bevölkerungsbewegung in vorindustriellen Gesellschaften | APuZ 3-4/1967 | bpb.de

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APuZ 3-4/1967 Uber Stand und Wachstum der Weltbevölkerung Zur Bevölkerungsbewegung in vorindustriellen Gesellschaften Voraussetzungen, Schwerpunkte und Zukunftsaspekte weltweiter Urbanisierung Artikel 1

Zur Bevölkerungsbewegung in vorindustriellen Gesellschaften

Nathan Keyfitz

Umschichtung der Bevölkerungsverteilung zugunsten der Entwicklungsländer

Um das Ausmaß der Bevölkerungsbewegung deutlich zu machen, sollten wir zunächst einmal einen Blick zurück auf den Beginn unseres Jahrhunderts werfen, als die Erde 1, 5 Milliarden Menschen zählte. Zu dieser Zeit — die noch innerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegt — war die Welt ziemlich deutlich unterteilt in die Industrienationen Europas und Amerikas, die zusammen etwa 500 Millionen Menschen ausmachten, und den Rest der Welt, dessen Bevölkerung sich über eine Milliarde Menschen belief. Der größte Teil der Erdbevölkerung lebte in Asien und stand in der einen oder anderen Form unter der Herrschaft der Europäer. In Afrika und Lateinamerika zusammen lebten weniger als 200 Millionen Menschen.

In den ersten 65 Jahren des 20. Jahrhunderts sind umwälzende Veränderungen eingetreten. Und zwar nicht nur hinsichtlich der Bevölkerungsbewegung — der wir das Hauptinteresse in diesem Beitrag widmen werden —, sondern auch in bezug auf die Denkweise und die Sprache, mit der das Bevölkerungsproblem behandelt wird. Die Kolonialherren sind verschwunden; es gibt keine ausgesprochen rückständigen Völker mehr, und auch der Anspruch, anderen Völkern die Zivilisation bringen zu müssen, hat seine Berechtigung verloren. Das Verhältnis der Europäer zu den Völkern anderer Kontinente, das von ersteren als Verantwortung des Reiferen gegenüber dem Unmündigen und von letzteren als schlecht verschleierte Ausbeutung betrachtet wurde, hat einer allgemeinen Gleichberechtigung Platz gemacht. Fast alle Länder haben Sitz und Stimme in den Vereinten Nationen, und von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, konnten alle Völker Regierungsform und diplomatischen Apparat unabhängiger Staaten aufbauen.

In bezug auf die quantitative Entwicklung der Weltbevölkerung ist zu sagen, daß sie sich seit 1900 fast verdoppelt hat. Die ehemaligen Kolonien und andere damals weniger bedeutende Staaten — heute bezeichnet man sie als Entwicklungsländer — haben ihre Bevölkerung seit 1900 auf etwa 2 Milliarden Menschen verdoppelt, während die Industrienationen gegenwärtig etwa eine Milliarde Menschen zählen. Es ist interessant, die Umschichtung der Bevölkerungsverteilung zu betrachten, die zugleich mit der letzten Verdoppelung der Weltbevölkerung auftrat. Um 1900 hatte Europa einen prozentual höheren Anteil an der Weltbevölkerung als je zuvor und wahrscheinlich auch einen höheren, als es je wieder erreichen wird. Dieser Höhepunkt fiel mit der politischen Vorherrschaft Europas in den meisten Teilen der Welt zusammen. Asien hat seine Bevölkerung seit 1900 fast verdoppelt — von 900 Millionen auf 1, 7 Milliarden heute. Der prozentuale Anteil Asiens an der Weltbevölkerung ist jedoch leicht gesunken.

Den größten Bevölkerungszuwachs erlebte Lateinamerika. 1900 hatte es eine Bevölkerung von nur 63 Millionen, heute sind es 225 Millinen. Länder mit einer verhältnismäßig kleinen Einwohnerzahl sind in der Tat gewachsen.

Brasilien zum Beispiel führte im Jahre 1900 eine Volkszählung durch; das Land hatte 17 300 000 Einwohner. Eine Erhebung im Jahre 1960 ergab eine Einwohnerzahl von 69 700 000 Menschen. Dieses Wachstum von 17 Millionen auf 70 Millionen innerhalb unseres Jahrhunderts — das heißt während eines Lebens-alters — läßt auf Veränderungen im Leben der Nation schließen.

Mexiko wuchs von 1950 bis 1960 im Durchschnitt jährlich um 3, 1 Prozent, wie ein Vergleich verschiedener Bevölkerungserhebungen zeigt. Das bedeutet eine Verdoppelung der Einwohnerzahl in 23 Jahren. Aber seit 1950 ist die Wachstumsrate noch weiter gestiegen.

Zur Zeit hat Mexiko eine Geburtenrate von 46 pro Tausend und eine Sterbeziffer von 12 pro Tausend; daraus ergibt sich ein natürlicher Bevölkerungszuwachs von 3, 4 Prozent und eine Verdoppelung der Einwohnerzahl innerhalb von 20 Jahren. Venezuela wächst noch schneller als Mexiko; Mittelamerika wächst etwa ebenso schnell; Brasiliens Zuwachs geht zwar langsamer, aber mit erkennbarer Beschleunigung vonstatten.

Sieg über die Bakterien

Die Länder mit guten Bevölkerungsstatistiken sind kein repräsentatives Beispiel für Entwicklungsländer — im Gegenteil. Man würde deshalb niemals Ergebnisse aus Ceylon und Malaya mit Ergebnissen aus Nepal und Laos vergleichen; oder Mexiko mit Ekuador — jedenfalls heute noch nicht. Allerdings wird die Isolierung einzelner Länder im 20. Jahrhundert nicht beständig sein. Die Verminderung der Sterblichkeit, die wir in den leichter zugänglichen Küstenländern aller Kontinente antreffen, wird ihren Weg innerhalb weniger Jahre auch in die Binnenländer gefunden haben.

Denn letztlich sind die Methoden sehr einfach. An erster Stelle steht das Sprühen von DDT zur Vernichtung der Moskitos als den Über-trägern des Malariafiebers. Manchmal werden größere Gebiete von Flugzeugen aus besprüht, manchmal besprüht man aber auch einzelne Häuser, um den Schlaf ihrer Bewohner zu schützen. Die Wirkung macht sich sofort bemerkbar. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hat man in Ceylon eine Aktion zur Bekämpfung der Malaria gestartet. Fünf Jahre vor dem Krieg betrug die Sterblichkeit dort 24 pro Tausend; 1946 lag sie bei 20, 3 und 1947 nur noch bei 14, 3 pro Tausend.

Da wir wissen, daß überall in der Welt solche Verfahren angewandt und ähnliche Erfolge errungen werden, können wir damit rechnen, daß der gegenwärtige Bevölkerungszuwachs der fortgeschritteneren Entwicklungsländer bald allgemein gelten wird. Damit geht ein Abschnitt der Weltgeschichte seinem Ende entgegen: der Kampf des Menschen gegen die Bakterien, die immer schon todbringender waren als seine größeren Feinde. Den ersten Sieg verdanken wir der Entdeckung des Pocken-

impfstoffes durch Edward Jenner (1749— 1823).

Dann folgten die theoretischen Entdeckungen von Louis Pasteur (1822— 1895). Um 1900 begann man, dem Trinkwasser Chlor zuzusetzen und weitere sanitäre Einrichtungen in den Städten Europas und Nordamerikas einzuführen. Das Aufkommen des DDT und der Antibiotika in den letzten 35 Jahren hat diese Entwicklung abgeschlossen. Diese Mittel werden im wesentlichen kostenlos zur Verfügung gestellt und haben einen größeren Einfluß auf den Rückgang der Sterblichkeit als ausgefeilte und teuere Apparate in Hospitälern und als Krankenversicherungen.

Behält Malthus doch recht ?

Wie sieht nun die Zukunft im Lichte dieser Tatsachen aus? Vor einigen Jahren haben die Vereinten Nationen eine Reihe von Voraus-berechnungen für die verschiedenen Länder der Welt ausgearbeitet, die als die vollständigsten und zuverlässigsten Prognosen auf diesem Gebiete gelten. Man berechnete für das Jahr 2000 eine Weltbevölkerung von vor aussichtlich 6, 9 Milliarden Menschen. Das bedeutet eine Verdoppelung in etwa 30 Jahren. Lateinamerika soll nach diesem Bericht gegen Ende des 20. Jahrhunderts 600 Millionen Einwohner haben, soviel wie China heute hat. China selbst wird — wenn man ein mittlere Zuwachsrate zugrunde legt — eine bis 1 -> Mil liarden Menschen zählen. Brasilien wird 1975 die 100-Millionen-Grenze überschreiten und Mexiko wird bis dahin auf 53 Millionen Menschen angewachsen sein.

Die heute noch unterentwickelten Länder betreiben ihren Industrialisierungsprozeß mit sehr viel stärkerem Nachdruck, als Europa es seinerzeit getan hat, so daß man annehmen kann, daß auch die Rolle des Bevölkerungswachstums eine andere sein wird als in Europa. Dem vierfachen Bevölkerungszuwachs in England während des 19. Jahrhunderts lag nur eine kleine Bevölkerung zugrunde, und dennoch überstieg diese Entwicklung die Fähigkeit Englands, alle Menschen zu ernähren. England lebte davon, Fertigprodukte gegen Nahrungsmittel zu tauschen, ein System, wel-ches nicht für jedes Land geeignet ist. Was geschieht nun mit einem Land, das mit einem Bevölkerungskapital von der zehnfachen Größe des englischen im 18. Jahrhundert anfängt? In England und Wales lebten im Jahre 1801 8 900 000 Menschen auf etwa 150 220 Quadraktilometern; Java beherbergt heute 65 Millionen Menschen auf 124 320 Quadratkilometer Land. Die Bevölkerungsdichte beträgt im ersten Fall etwa 58 Menschen pro Quadratkilometer, im zweiten Fall 519 pro Quadratkilometer.

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß Thomas Robert Malthus (1766— 1834), aufgeschreckt durch die Situation des Insellandes und seiner Bevölkerungsdichte von 58 Menschen pro Quadratkilometer, seinen Mitbürgern voraussagte, daß die Nahrungsmittel bald knapp werden und schließlich überhaupt nicht mehr zur Ernährung des Volkes ausreichen könnten. Mit welchen Schreckensbildern hätte er seine Ausführungen wohl angesichts der statistischen Tabellen bestimmter Länder heute ausgemalt?

Die FAO, die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen, errechnete, daß der Index der Nahrungsmittel-produktion innerhalb von 25 Jahren bis Mitte 1961 von 77 auf 117 angestiegen war; das ist eine Steigerung um gut 50 Prozent. Was aber wird in den nächsten 25 Jahren geschehen, wenn sich die Bevölkerung verdoppelt, die Nahrungsmittelproduktion aber so langsam steigt wie bisher?

Nahrungsmittelproduktion hält nicht Schritt

Der Unterschied ist sehr groß; wenn die Menschen sich verdoppeln, während die Nahrungsmittelproduktion nur um 50 Prozent gesteigert werden kann, dann kann sich jeder ohne Schwierigkeit ausrechnen, daß der einzelne Mensch im Durchschnitt genau 25 Prozent weniger Nahrung erhält. Da gegenwärtig aber viele Menschen in der Welt hungern, stellt eine Reduzierung um 25 Prozent eine ernsthafte Bedrohung dar.

Aber man könnte gegen diese Rechnung protestieren, denn ich habe dem voraussichtlichen Bevölkerungszuwachs den Anstieg der Nahrungsmittelproduktion der letzten bis 30 25 Jahre gegenübergestellt — was nicht sehr fair ist.

Wie sehen also die Chancen für eine Verdoppelung der Nahrungsmittelproduktion in den kommenden 25 Jahren aus? Berechnungen ergeben, daß zu diesem Ziel die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Nahrungsmittel-produktion 2, 7 Prozent betragen muß. Viele Verbesserungen lassen sich durchführen. Man könnte, wo es noch nicht geschehen ist, den Boden düngen. Bessere Reis-, Weizen-und andere Getreidesorten, die in einigen Ländern entwickelt worden sind, könnte man austauschen und für alle zugänglich machen. Außerdem müssen neue Sorten gezüchtet werden, denn es gibt keinen Grund für die Annahme, daß die Entdeckungen und Erfindungen in der Erblehre und in der Agronomie zum Abschluß gekommen sind. Der Einsatz von Traktoren anstelle von Pferden erhöht ebenfalls den Reinertrag der Landwirtschaft. Zu den Erleichterungen und Verbesserungen, die ohne weiteren technischen Fortschritt erreichbar sind, kommen noch die Anwendung von Atomenergie bei der Meerwasserentsalzung, die Verbilligung des Anbaus von Algen und anderen Pflanzen, die keine Erde brauchen, und anderes mehr. Wir dürfen nicht den Fehler von Malthus und der klassischen Wirtschaftswissenschaftler wiederholen, die den technischen Fortschritt unterschätzten. Aber wenn wir den Irrtum von Malthus vermeiden wollen, dürfen wir auch nicht in das andere Extrem fallen. War sein Fehler ein unberechtigter Pessimismus, so ist das andere Extrem ein unverantwortlicher Optimismus, der zu einer Katastrophe von früher nicht gekanntem Ausmaß führen könnte.

In den letzten 25 bis 30 Jahren sind viele technische Erfindungen gemacht und in der Praxis angewandt worden. Auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Produktionsmethoden hat man große Anstrengungen gemacht und alle möglichen Mittel benutzt, um die Bauern zur Anwendung besserer Methoden zu überreden. Das Ergebnis war die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion um 50 Prozent. Aber die Ausarbeitung und Verbreitung neuer und besserer Methoden in der Landwirtschaft ist nicht von heute auf morgen durchführbar. Solange die Zuwachsrate der Nahrungsmittel-produktion der Bevölkerungszuwachsrate nur angeglichen wird, bleibt das Problem unverändert; abgesehen von der Vergrößerung beider Zahlen. Hinsichtlich der Bevölkerungsbewegung bedeutet aber das Wachstum alles. Wird also der Status quo beibehalten, während die Bevölkerungszahl steigt, so verschlimmert sich die Situation.

* Betrachten wir z. B. die Situation Irlands in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die 7 Millionen Einwohner des Landes lebten in Armut und Hungersnot. Die Folge war, daß erst in vorgerücktem Alter geheiratet wurde und daß mehr als eine Million Menschen in die Vereinigten Staaten auswanderten. Nehmen wir einmal an, es wäre möglich gewesen, die Kartoffelernte so zu steigern, daß man — eventuell mit ausländischer Nahrungsmittel-hilfe in besonders schlechten Jahren — mit dem Bevölkerungswachstum hätte Schritt halten können. Dann gäbe es heute 35 Millionen Menschen in Irland, die auf dem Lebensstandard von 1840 leben würden. Das Problem wäre fünfmal so schwerwiegend und bestimmt nicht mehr durch Auswanderung zu lösen. Irland müßte mit denselben Problemen kämpfen, mit denen Java heute nicht fertig wird, dessen Bevölkerung von 35 Millionen nicht einmal nach Sumatra, einer großen und relativ leeren Insel, die zudem nicht allzu weit entfernt liegt, auswandern kann. Die javanische Bevölkerung wächst jährlich um eine Million Einwohner und die Geldmittel zur Umsiedlung so vieler Menschen können natürlich nicht aufgebracht werden. Wenn Indonesien eine derartige Umsiedlung durchführen wollte, müßte es sämtliche aus der Entwicklungshilfe eingehenden Gelder für dieses Unternehmen ausgeben.

Soziale Konsequenzen

Der Mangel an Land, die Unmöglichkeit, eine so riesige und so schnell wachsende Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen, zieht mannigfaltige soziale Konsequenzen nach sich.

Ich möchte dazu ein Beispiel aus der gegenwärtigen Entwicklung Indiens geben. Indien hat Gesetze erlassen, die die dienenden Kasten in den Dörfern von ihrer traditionellen Rechtlosigkeit befreien sollen, in der diese seit altersher leben. Die Mitglieder dieser Kasten arbeiteten als Töpfer, Barbiere und führten andere Dienstleistungen aus, zu denen sie durch ihre Kastenzugehörigkeit gezwungen waren. Ihre Kunden waren in der Regel Bauern. Eine Tradition, die die Menschen in eine derartige persönliche Abhängigkeit zwingt, ist im Prinzip unannehmbar, und das erbärmliche Dasein der dienenden Kaste hatte mit Recht die Aufmerksamkeit der Gesetzgeber erregt. Aber in den übervölkerten Gegenden Indiens kann es durchaus dazu kommen, daß die Bauern weniger Angst vor der Entlassung ihrer unglücklichen Diener haben als diese selbst.

Der Bevölkerungszuwachs hat in den ländlichen Gegenden zu einer Bevölkerungsdichte von 772 Menschen pro Quadratkilometer geführt, und die immer weitergehende Aufteilung des Landes ist so weit fortgeschritten, daß der einzelne Bauer auf seinem Stückchen Land nur noch einen geringen Ertrag erzielt; seine Familie kann gerade davon leben.

Die Bauern werden froh darüber sein, der dienenden Kaste die Freiheit zu geben und ihre Haare künftig selber zu schneiden, ihre Misthaufen eigenhändig anzulegen und auf den Nachtwächter zu verzichten — denn sie haben kein Eigentum mehr, das bewacht werden müßte. Der einstigen dienenden Kaste bleibt nichts anderes übrig, als einen Arbeitsplatz in den Fabriken der großen Städte zu suchen. Und wenn die Industrie nicht schnell genug wächst, um genügend Arbeitsplätze zu schaffen, werden sie bald zu den Hunderttausenden gehören, die auf den Seitenstraßen und in den Slums von Kalkutta und anderen Großstädten dahinvegetieren. Wenn die ländliche Bevölkerung weiter so schnell wächst und die Industrie sich nicht rasch genug entwickelt, sind soziale Maßnahmen wie die Befreiung der dienenden Kasten völlig wirkungslos.

Schwierigkeiten der Kapitalakkumulation

Ich möchte noch eine andere Folgeerscheinung der Übervölkerung eines Landes nennen: die Schwierigkeit, Steuern zu erheben.

Im Frühstadium unserer Industrienationen — speziell in England, Japan und der UdSSR — wurde die wirtschaftliche Entwicklung zum großen Teil durch die den Bauern auferlegten Steuern finanziert. Sinn der Steuern war es nicht, dem Bauer die Versorgungsmittel zu entziehen, die er für sich und seine Familie angeptlanzt hatte, er sollte vielmehr zu größerer landwirtschaftlicher Produktion angespornt werden, um Nahrungsmittel für die Menschen in den Städten zu schaffen, während diese die Industrie aufbauten.

Zahlreiche Verwaltungsbeamte in den dicht besiedelten Ländern können bestätigen, daß diese Maßnahme heute äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist; es ist sinnlos, durch Steuern eine Produktionserhöhung in dei Landwirtschaft bewirken zu wollen, weil es kein Land gibt, außer dem winzigen Stück, das der einzelne für sich bebaut.

Für die klassischen Ökonomen war es ein allgemein anerkannter Tatbestand, daß lediglich dem Lande Arbeit die Quelle aller Werte auf ist, da eine gewisse Mitarbeit der Natur jedem Produktionsvorgang eigen ist. Cantillon, Sir William Petty und Adam Smith waren die Vertreter dieser Lehre.

Diese Ansicht scheint überholt zu sein. Mit dem Fortschritt der Technik überwand der Mensch seine Abhängigkeit von der Natur. Mit modernen Methoden können wir fast alles synthetisch herstellen, das heißt, wir können weit verbreitete und leicht zugängliche Gegebenheiten der Natur ausnutzen. Bauxit, das man überall findet, ist die Grundlage für Aluminium. Luft wird zu Dünger. Der Bauer braucht nicht mehr ein Fünftel seines Landes zu opfern, um Flaser für seine Pierde zu pflanzen. Traktoren liefern die nötige Energie — und das Land steht dem Bauern ganz zur Verfügung. Aus diesen Gründen beschäftigen sich Studenten heute nicht mehr, wie ihre Vorgänger, vorzugsweise mit dem Problem des Landes. Um ein wenig zu übertreiben:

wenn genug Kapital erreichbar ist, brauchen wir uns um das Land nicht zu kümmern, bis der Mensch sich so vermehrt hat, daß sowieso kein Platz zum Stehen mehr übrig bleibt. Die Schwierigkeit besteht in der Akkumulation von Kapital, ein Vorgang, dessen An-langsphase wir wirtschaftliche Entwicklung nennen. Um es ganz einfach auszudrücken: Kapital setzt voraus, daß irgend jemand spart; geringerer Verbrauch in der Gegenwart liegt im Interesse eines größeren Verbrauches in der Zukunft. Ein Teil solcher Rücklagen wurde bisher von den Industrienationen zugunsten der Entwicklungsländer mit Hilfe eines weltweiten Investsystems aufgebracht. So ist es auch heute noch. die internationalen Wenn Investitionen heute geringer sind als in der Vergangenheit, so werden sie durch erhöhte Rücklagen der Industriegesellschaften in Form von Entwicklungshilfe ergänzt. Diese unterscheidet sich von Investitionen dadurch, daß der Spender oft weder irgendeine Verpflichtung noch die Rückgabe seines Kapitals erwartet. Aber weder die eine noch die andere Form bringt ausreichende Hilfe. Die Investitionen in den Entwicklungsländern sind abhängig von der Bereitschaft dieser Länder, selbst Rücklagen anzulegen.

Hohe Sparleistung für Investitionen Vorbedingung der Entwicklung

Sobald ein Land in der Lage ist, 12 Prozent seines Gesamteinkommens zu sparen und dann nutzbringend neu anzulegen, beginnt seine wirtschaftliche Entwicklung. Aber sobald der Mangel an bebaubarem Land eine Besteuerung erschwert, wird gleichsam die Arbeitskraft, und damit die Möglichkeit zum Sparen, behindert. Außer mit diesen, die Entwicklung hemmenden Einflüssen, die sich aus der Bevölkerungsdichte ergeben, kämpfen die Entwicklungsländer mit Schwierigkeiten, die sich aus der hohen Wachstumsrate ihrer Bevölkerung ergeben.

Wenn man voraussetzt, daß die übervölkerten Gebiete bei einem Zehntel ihrer heutigen Bevölkerungszahl Land im Überfluß zur Verfügung hätten — die jährliche Zuwachsrate der Bevölkerung aber wie heute 3 Prozent betrüge —-, so wäre die Lösung des Versorgungsproblems für den Bevölkerungszuwachs noch immer sehr schwierig. Ein Land, dessen Bevölkerung jährlich um 3 Prozent zunimmt und das 2 Dollar, 2 Pesos oder 2 Rupien investieren muß, damit ein Mann in Zukunft mit seiner Arbeit einen Dollar, einen Peso oder ein Rupie verdienen kann, muß 6 Prozent seines jährlichen Gesamteinkommens investieren, um den neuen Mitgliedern der Bevölkerung denselben Standard zu ermöglichen.

Diese Länder müssen also erhebliche Sparmaßnahmen treffen, um ihre Struktur unverändert erhalten und um eine wachsende Verarmung verhindern zu können. Etwa 6 Prozent betrugen die Rücklagen in den Kolonien. Da die am meisten fortgeschrittenen Entwicklungsländer heute wahrscheinlich weniger als 10 Prozent ihres Einkommens sparen, bleiben weniger als 4 Prozent übrig, um das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung zu erhöhen. Mit 4 Prozent kann das Pro-Kopf-Einkommen höchstens um 2 Prozent jährlich gesteigert werden. Meine Berechnungen sind aber so großzügig angelegt, daß ein guter Ökonom sie nicht durchgehen lassen könnte, er würde darauf bestehen, daß die meisten Investitionen mehr als das Doppelte des späteren Einkommens betragen müssen.

Man kann sagen, daß ein Land mit einem Sparsatz von jährlich 10 Prozent und einem Bevölkerungszuwachs von jährlich 3 Prozent ein Sinken des durchschnittlichen Einkommens seiner Bürger gerade verhindern kann; es wird kaum in der Lage sein, seine Industrie derart zu erweitern, daß man von einer wirtschaftlichen Entwicklung sprechen könnte. Außerdem beziehen sich diese Berechnungen auf ein Land, das noch nicht übervölkert ist und dem noch genügend Land zur Verfügung steht.

Senkung der Geburtenrate als Alternative

In Anbetracht dieser und anderer Schwierigkeiten haben die Entwicklungsländer • oder zumindest ihre Elite — begonnen, die Geburtenrate zu beobachten. Denn viele Schwierigkeiten ergeben sich aus der Tatsache, daß die Geburtenrate auf der alten Stufe stehengeblieben ist.

Im Laufe der Geschichte gab es in jeder Kultur Umstände, die eine zahlreiche Nachkommenschaft begünstigten. Das gilt zumindest für Kulturen, die bis heute überlebt haben. Vielleicht gab es Völker, die hinsichtlich der Fa miliengröße anders dachten, aber da die Sterblichkeit bis vor kurzem sehr hoch war, starben diese Gesellschaften aus. Große Familien schienen sowohl Macht und Fortschritt a s auch das bloße überleben der Gruppe zu garantieren. Solche Vorstellungen sin nie leicht zu eliminieren. Viele Menschen ver in den die zahlenmäßige Größe eines ° es noch immer mit wirtschaftlicher und politis er Macht und übersehen dabei, inwieweit bloße menschliche Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt werden kann.

Aber zu dem Glauben, eine große Bevölkerung sei ein Instrument der Macht, kam ie ges schaftliche Realität, daß der einzelne in er Tat materiell und ideell von er seiner Kinder abhängig war. Die, r altung des Hofes war, wenn Alter den igentumer arbeitsunfähig machte, von den ac on abhängig. Abgesehen von der Fortführung der Familie, einer Art Unsterblichkeit durch die Generationsfolge, ergab sich aus der Über-gabe des Familienlandes an den Sohn auch eine Art Altersversorgung.

Gedankengut und Gewohnheiten, die so alt sind wie der Mensch selbst oder zumindest so alt wie der seßhaft gewordene Ackerbauer, können sich nicht so schnell verändern, wie die Sterberaten gefallen sind. Die Menschen bekommen weiter sechs, sieben oder acht Kin(ler — genau wie früher, als die Hälfte von ihnen starb, bevor sie das arbeitsfähige Alter erreicht hatten. Rationale und zielbewußte Anpassungsfähigkeit, Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse, die Art also, in der wir mit den Gegebenheiten unsers Lebens fertig zu werden versuchen, geht weit über die Fähigkeiten dieser Bauern hinaus. Sie haben eine Einstellung, die ihnen das überleben schlau, garantiert. Sie sind beharrlich und fleißig, aber ihnen fehlt Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit. Erziehung und Leben in einer modernen Industriegesellschaft führen zu dieser Flexibilität. Es besteht kein Zweifel, daß die Geburtenraten so weit fallen werden, wie es die heutigen Sterberaten erforden, sobald ein Land den Standard einer Industrienation erreicht hat. Das beweist die Entwicklung aller Industriegesellschaften, am deutlichsten wohl das Beispiel Japans nach dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von zehn Jahren fiel die Geburtenrate dieses Landes von 35 pro Tausend auf 18 pro Tausend jährlich. Die Anpassung der Geburten-an die Sterberate steht in einem funktionalen Verhältnis zur industrialisierten Gesellschaft und hat relativ wenig mit Ideologie zu tun.

Das wesentliche Merkmal der Entwicklungsländer ist die Isolation ihrer Landbevölkerung. Ihre Dörfer sind im wahrsten Sinne des Wortes von jeder Beziehung mit der Außenwelt abgeschnitten, weil die Kommunikationsmittel fehlen. Sie haben keine Zeitungen, und nur allmählich gibt es pro Dorf einen Radioapparat. Die Dorfbevölkerung spricht im allgemeinen nicht die Sprache der Oberschicht des Landes, sondern sie hat ihren eigenen Dialekt, manchmal sogar eine ganz andere Sprache. Und selbst wenn die Landbevölkerung die gleiche Sprache spricht, unterscheidet sich ihre Denkweise doch wesentlich von der der städtischen Elite. Wer ihnen ein vernünftiges wirtschaftliches Denken beibringen will, zu dem auch die Reduzierung der Familiengröße gehört, der muß die Gedanken und Begriffe in eine sehr viel konkretere Sprache übersetzen, als es etwa in diesen ziemlich abstrakten Ausführungen geschehen ist.

Eines aber ist sicher: von der Bewältigung des Bevölkerungsproblemes hängt das Wohlergehen und das Glück der Menschheit in der Zukunft ab.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Nathan Keyfitz, Professor für Soziologie an der Universität Chicago, geb. 29. Juni 1913 in Montreal/Kanada. Veröffentlichung u. a.: Main Trends in Canadian Population.