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Das befohlene Chaos. Maos Kulturrevolution soll die Revolution retten | APuZ 7/1967 | bpb.de

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APuZ 7/1967 Artikel 1 Das befohlene Chaos. Maos Kulturrevolution soll die Revolution retten China und die Asienpolitik der USA

Das befohlene Chaos. Maos Kulturrevolution soll die Revolution retten

Mark Gayn

Revolution von oben

Abbildung 1

Mao Tse-tungs jüngste Schlacht ist fast mit Sicherheit seine letzte. Sie wird wahrscheinlich auch mit seiner ersten und unwiderruflichen Niederlage enden. Als glänzender politischer Taktiker wird er wohl imstande sein, seine alten Gefährten, die sich gegen ihn gewandt haben, zu vernichten. Aber er wird damit nicht das erreichen, was er mit seiner „Kulturrevolution" beabsichtigt hatte. Denn er will nichts weniger als die Verjüngung der großen Revolution, eine Wiedergeburt, während diese Revolution sich bereits in einem fortgeschrittenen Alter befindet; er will die Leidenschaft, die Selbstlosigkeit und die Disziplin wiederherstellen, die ihr in ihrer Jugend über dreißig Jahre lang zu eigen war. Aber die Uhr kann schwerlich zurückgestellt werden, und eine Nation kann sich im Zeitalter der Atombomben und Computer nicht so verhalten, als befände sie sich noch im Zeitalter der Hirse und der Flinten.

Die Kulturrevolution geht allein auf Mao zurück. Sie hat ihre Wurzeln nicht in Karl Marx, sondern in Maos Erfahrung und in seinen Erinnerungen, in seinem idealisierten Bild von der Revolution, wie sie in ihren wilden Jahren war, in den Bergen von Tschingkang, in Kiangsi und vor allem in den Höhlen von Jenan. Maos politische Ideen sind durchdrungen von der Sehnsucht nach der Vergangenheit — von dem Jenan-Syndrom.

Die klassischen Revolutionen entstehen aus dem Leiden des Volkes, aus dem Groll gegen Ungerechtigkeit, aus allgemeiner Unzufriedenheit. Maos eigene Revolution in den zwanziger und dreißiger Jahren hatte ihren Ursprung in den Leiden des ländlichen Chinas. Seine Kulturrevolution aber ist von anderer Art. Es ist eine Revolution, die von oben dekretiert worden ist. Sie ist nicht durch sozialen oder wirtschaftlichen oder gar politischen Protest ausgelöst worden. Und sogar die Feinde, die sie bekämpfen soll, bleiben schattenhaft, namenlose Figuren in hohen Rängen der Partei und des Staates.

Obgleich die Wurzeln dieser Revolution nicht in allgemeinen Ärgernissen liegen, hat sie bereits radikale Veränderungen mit sich gebracht. Vor allem hat sie das Gleichgewicht der politischen Macht verändert, das seit dem Tage bestanden hat, da Mao 1949 im Triumph nach Peking zurückkehrte. Von diesem Tage an bis zum Herbst 1965 hatte die Kommunistische Partei das Monopol der politischen Macht, das in Frage zu stellen nicht erlaubt und sogar nicht einmal möglich war. Die Partei bestimmte die Politik und machte sie. Sie beherrschte die Künste, die politischen Ideen und die Schulstuben. Sie herrschte über die Armee und verfuhr streng mit denen, die die Armee frei von politischen Kommissaren halten wollten. Sie bestimmte, was in den Regalen der Läden und was in den Reisschalen sein sollte. Sie diktierte das Benehmen und die Mode. Sie war alles, überall und ewig.

Machtmonopol der Partei gebrochen

Das trifft jetzt nicht mehr zu. Ein Ergebnis der Kulturrevolution ist, daß die Partei gespalten ist und sich unter einer Säuberung windet, die noch lange Zeit andauern wird. Ihr Sproß, die Kommunistische Jugendliga, ist inaktiv und erwartet eine schmerzhafte Reorganisation. Noch wichtiger ist, daß die Partei sich jetzt zwei bedeutenden Rivalen gegenübersieht, die beide von Mao unterstützt werden. Einer davon ist die Armee, die unter dem Kommando von Maos designiertem Nachfolger Lin Piao jetzt mehr denn je ein politisches Instrument ist. Der andere Rivale ist das Netz der »kulturrevolutionären Gruppen“ und die Roten Garden. Ihr Gefüge ist noch unvollendet und formlos, aber sie sind bereits eine Macht im Lande. Das vielleicht verblüffendste politische Faktum im China von heute ist die Existenz dreier paralleler und oftmals miteinander ringender Machtinstrumente, deren gegenseitige Beziehungen noch nicht festgelegt sind. Das zweite bedeutende Faktum ist Maos scharfer Ruck nach links. Wenn ein Mitglied der Roten Garden gefragt würde, was das heißt, so würde er bereitwillig erklären, daß es die Zerstörung der „Vier Alten" (der alten Ideen, der alten Kultur, der alten Bräuche und der alten Gewohnheiten der „Ausbeuterklasse") und die Einführung der „Vier Neuen" bedeutet. Tatsächlich aber wird die Wendung nach links früher oder später alle Bereiche des Lebens in China beeinflussen, von der Planung und Lenkung der Wirtschaft bis zur militärischen Strategie. Es ist offensichtlich, daß Peking bisher die Folgerungen aus dieser Wendung noch nicht durchdacht hat. Was wird sich für die landwirtschaftliche Produktion ergeben, wenn der Bauer seines kleinen privaten Stückchen Landes beraubt wird? Was werden die Folgen der beabsichtigten Erziehungsreform — kürzeres Schuljahr, vereinfachter Lehrplan, mehr Zeitaufwand zum Studium der Gedanken Mao Tse-tungs — für den technischen Fortschritt der Nation bedeuten? Und wie wird es sich auf die Leistungsfähigkeit des Regierungsapparates auswirken, wenn Mao seine Pläne in die Tat umsetzt, ein Netz von Massenorganisationen nach dem Muster der Pariser Kommune zu schaffen?

Das dritte bedeutende Faktum — und eines, das der Westen noch nicht gebührend bedacht hat — ist, daß China sich in die Isolation zurückgezogen hat. Ebenso wie Stalin nach dem Fiasko in China im Jahre 1927 in die Isolation ging, hat sich Peking jetzt in sein Gehäuse zurückgezogen. Der Grund dafür ist, daß die chinesischen Führer ihre inneren Probleme lösen wollen, bevor sie auf die Barrikaden der Weltrevolution zurückkehren. Die Brücken zur Außenwelt werden abgebrochen, indem die Roten Garden die Übersetzungen westlicher Autoren beschlagnahmen, die sie in den Privathäusern gefunden haben, indem die Verträge ausländischer Lehrer in China nicht mehr verlängert werden oder auch, indem die Arbeit chinesischer Übersetzer eingeschränkt wird. Gekoppelt mit dem Rückzug in den Isolationismus ist eine Neueinschätzung der amerikanischen Absichten. Irgendwann Ende 1965 oder Anfang 1966 entschied Peking, daß die Vereinigten Staaten im Moment nicht die Absicht hätten, gegen China Krieg zu führen.

Vietnamkrise als auslösendes Moment

Der Sturm, den Mao entfesselt hat, ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Es ist das Drama des politischen Giganten, der in seinen letzten Jahren entdeckt, das seine Revolution und seine Partei sich in einer Weise wandeln, die er nicht dulden kann. Es ist die nur teilweise der Öffentlichkeit verborgen gebliebene Erbitterung bei einer historisch bedeutsamen Debatte zwischen Mao und einigen seiner alten Genossen. Es ist die totale Unvorhersehbarkeit der Ereignisse. In einer griechischen Tragödie kann der Zuschauer die tragische Lösung voraussehen und weiß vorweg, wer die Helden und wer die Schurken sind. In dem Sturm in China geschieht ständig das Unerwartete und Figuren, von denen man es nie gedacht hätte, werden zerschmettert. Die Szene ist düster, das Thema ist Gewalt und der Zuschauer ist immer von neuem überrascht. Peking selbst setzt den Beginn der Kultur-revolution mit dem Tag im November 1965 an, an dem eine Schanghaier Zeitschrift den Angriff auf Wu Han, den stellvertretenden Oberbürgermeister von Peking, eröffnete, einem Historiker von Rang und Dramatiker, dessen schweres Vergehen darin bestand, daß er historische Stücke über antike Schurkerei und Tugend schrieb, die die Zuschauer an die Gegenwart denken ließen. Aber der wirkliche Beginn der Krise geht zurück auf das Frühjahr 1965, als die Vereinigten Staaten begannen, ihr Militärpotential in Süd-Vietnam zu verstärken und den Norden zu bombardieren. Das Krachen der Explosionen unmittelbar jenseits der Grenzen Chinas rief unvermeidlich eine besorgte Diskussion in Peking hervor. Würde das zu einem neuen Korea führen? Wenn ja, wann würden die Amerikaner angreifen? Was sollte man tun, um sich auf diesen Krieg mit einem Gegner vorzubereiten, der mit den verheerendsten Waffen ausgerüstet ist, die die Menschheit kennt? •

Chinas Führer haben immer geglaubt, daß der Krieg mit dem „Wall-Street Imperialismus" unvermeidlich ist. Was jedoch noch ein Jahr zuvor marxistische Theorie war, bekam jetzt plötzlich den Anstrich der Realität. Als ich im April und Mai 1965 in Peking war, bemerkte ich keine Panik, aber in meinen Notizbüchern sind mancherlei Spekulationen, in privaten Kreisen und in der Öffentlichkeit, festgehalten, was wohl geschehen würde, wenn der Angriff käme. Zum erstenmal sagte man der Bevölkerung, daß Atombomben auf chinesische Städte fallen und schwere Zerstörungen anrichten könnten. Aber ein alter Intimus von Mao versicherte mir eines Tages, daß das Gefüge der politischen und sozialen Organisation so stark und widerstandsfähig sei, daß es einen nuklearen Angriff überleben würde, selbst wenn Teile davon vernichtet würden.

Rückschläge führten zu einer politischen Gärung

Die Debatte über die Absichten der Amerikaner wurde bis weit in den Sommer 1965 hinein fortgesetzt. Wie Kriege heute nun einmal sind, konnte die Diskussion nicht auf das Problem Frieden oder Krieg beschränkt bleiben. Sehr bald dehnte sie sich auf Fragen der Prioritäten, der Steuerung der Wirtschaft, der Moral und Loyalität des Volkes, abweichender Meinungen in den Universitäten und unter den Künstlern sowie der Haltung der jungen Generation aus.

Eine der heftigsten Debatten fand innerhalb der Armee statt. Zum dritten Male seit dem Koreakrieg, lagen die Exponenten des „Volks(oder Guerilla-) kriegs" im Streit mit den Berufssoldaten, die eine kleinere, gutausgebildete, moderne Streitmacht wollten. Dem Westen bot sich ein Einblick in diese Kontroverse im September 1965 durch Marschall Lin Piaos berühmten Artikel „Lang lebe der Sieg im Volkskrieg". Unglücklicherweise interpretierte der Westen diesen Artikel jedoch falsch. In Washington wurde er als ein asiatischer „Mein Kampf“ bezeichnet. Andere hielten ihn in erster Linie für eine Warnung an Nord-Vietnam, die Guerillataktik nicht aufzugeben. Heute ist klar, daß der Artikel in erster Linie Teil der erbitterten Diskussion innerhalb des Ober-kommandos war, wobei Lin Piao die Auffassung darlegte, die schließlich die Oberhand be-hielt. Es ist bekannt, das die Berufssoldaten weniger Politik und Unkrautjäten für die Armee wollten und dafür mehr militärische Ausbildung und bessere Waffen. Sie mögen sogar zugunsten erneuter Bindungen an die Sowjetunion plädiert haben, die allein die erwünschten modernen Waffen liefern konnte. Lin Piao wies all diese Argumente zurück und wurde in der Folge der wichtigste autorisierte Exponent des Denkens des Ersten Vorsitzenden Mao Tse-tung. Der Sprecher der Berufssoldaten scheint Marschall Lo Jui-tsching gewesen zu sein, ein früherer Polizeifachmann und selbst einer der ausgehenden Sterne in der chinesischen Politik. Ende November 1965 verschwand er von der Bildfläche.

Die militärische Krise in Vietnam und das Desaster in Indonesien kamen für Peking in einem unpassenden Augenblick. Der Fehlschlag des „Großen Sprunges nach vorn" in den Jahren 1959— 1962 hatte eine politische Gärung ausgelöst, deren Ausmaß der Westen erst jetzt zu erkennen beginnt. Sogar die Intellektuellen in der Partei — ihre politischen Philosophen, die Chefredakteure ihrer Zeitungen, die Leute, die sich im Labyrinth der Propagandaabteilung des Zentralkomitees abmühen — wurden von Zweifeln erfüllt. Leitartikler der Pekinger Tageszeitungen begannen die Weisheit der Führer, die Integrität der Bürokratie, das Dogma selbst in Frage zu stel-len. Hierdurch ermutigt, begannen Autoren in den Provinzen von Fehlern der Behörden und von der Verzweiflung in den Dörfern zu sprechen. 1965 ging es mit der Wirtschaft schließlich wieder aufwärts, jedoch nicht in dem Um-fange, um die Träume der Führer zu erfüllen und die hohe Geburtsrate zu kompensieren. Die Einzelheiten des neuen Füntjahresplanes wurden nicht bekanntgegeben, aber offenbar sah er nur ein bescheidenes Wachstum vor.

Revolution in Gefahr

Noch beunruhigender vom Standpunkt Maos waren die sozialen Vorgänge. Die Kluft zwischen Stadt und Dorf, zwischen den neuen Großstädtern und den Bauern, verbreiterte sich ständig. Die neue intellektuelle Elite, die die industrielle Revolution hervorgebracht hatte, verlor sehr schnell ihr Interesse am flachen Lande. Die Jugend, zu spät geboren, um das Revolutionmachen aus erster Hand zu lernen, wurde durch Berichte aus zweiter Hand nicht mehr angefeuert. Das Gift des „Revisionismus", das nach Maos Meinung den Geist der Jugend in der Sowjetunion korrumpiert hatte, war jetzt auch in China am Werk.

Die Revolution war in Gefahr. Sie wurde schlapp und verlor ihren Orientierungsinn, bevor sie vollen Erfolg gehabt hatte. Mao fühlte, daß die Revolution nicht durch die Amerikaner in Gefahr war, sondern durch den Mangel an Glauben und Disziplin, durch die Versuchungen der Friedenszeit, durch die wiedererwachten bourgeoisen Sehnsüchte nach Komfort, Status, Bildung, Stabilität. Heroische Schritte waren nötig, um mit diesen und anderen inneren Problemen fertig zu werden. Im Jahre 1959 und noch einmal 1962 hatte Mao von der Notwendigkeit einer Kulturrevolution gesprochen, •—• ein Begriff, den er synonym für kämpferische politische Haltung gebrauchte. Seine Wünsche erregten für kurze Zeit Aufmerksamkeit, dann wurden sie ignoriert. Nun, da die amerikanische Drohung über China schwebte, wollte er seine Revolution erneuern, sie wieder dynamisch und rein im Glauben machen. Auf Versammlungen des inneren Führungskreises im Herbst 1965 kündigte Mao an, daß er den Weg zur extremen Linken einschlagen würde.

Mao wollte mehr als kämpferische Schlagworte und Resolutionen. Er wollte die treulosen Intellektuellen vernichten, bis niemand mehr die Dinge vergessen würde, die er vor beinahe einem Vierteljahrhundert in Jenan gepredigt hatte. Er wollte die Fachleute an die Kandare nehmen, in der Armee und in der Industrie, und er wollte jedermann dazu bringen, sich darüber klar zu werden, daß es wichtiger war, ein Roter als ein Fachmann zu sein. Er wollte die neumodischen Ideen von unternehmerischen Fähigkeiten, Anreizen, Gewinnen und freiem Markt vernichten. Der Feind stand vor den Toren. Nichts außer der totalen Mobilisierung des Glaubens und der Kräfte konnte die Revolution für die nächsten hundert Jahre retten — nein, für die nächsten zehntausend Jahre.

Aber Maos Forderung nach einem scharfen Ruck nach links stieß auf Widerstand bei einigen seiner alten Gefährten. Obgleich viele dieser „Ungeheuer und Teufel" noch nicht namentlich genannt worden sind, waren die Argumente, die sie in dieser historisch bedeutsamen Debatte vorbrachten, in der Partei-und Armeepresse nachzulesen. Ebenso wie Mao waren sich seine Widersacher der ernsten sozialen und politischen Spannungen, der ökonomischen Probleme, der Spaltung in der Armee, der Drohung durch das amerikanische Engagement in Vietnam bewußt. In vielen Fragen waren sie einer Meinung mit Mao. Wie er müssen sie beunruhigt gewesen sein durch die abweichlerischen Äußerungen von Künstlern, in der Presse und in den Universitäten, und sie waren bereit, noch eine weitere Säuberung im kulturellen Sektor mitzumachen — was erklären mag, weshalb die Umwälzung mit einem Angriff auf die Intellektuellen begann. Aber die Opponenten waren zugleich Pragmatiker. Sie glaubten nicht, daß die simplen und gewaltsamen Methoden und Lösungen der dreißiger Jahre für die sechziger geeignet seien. Es war an der Zeit, die Fachleute — unter Führung der Partei —-mit den Problemen der Produktion, der Qualität, der Kosten, der Leistungstüchtigkeit, der Prioritäten und des Absatzes fertig werden zu lassen. Die neue Klasse der Städter und die neue intellektuelle Elite konnten nicht behandelt werden, als trügen sie immer noch Strohsandalen. China, so schien ihre Argumentation zu lauten, sollte vorwärts blicken auf das Zeitalter der Computer und nicht zurück zu den einfachen Lösungen und den Improvisationen der Anfänge der Revolution.

Mao entgleitet die Herrschaft über die Partei

Bei diesen Diskussionen nun, die mit der Erörterung der amerikanischen Bedrohung begannen und in einen Streit über den Kurs mündeten, den China in den kommenden Generationen einschlagen sollte, entdeckte Mao, daß er nicht mehr die Partei beherrschte, die seine Schöpfung war. Ein Grund dafür war sein Alter und seine schwache Gesundheit; er war nicht mehr der Mann, der seinen Willen seinen Gefährten aufzwingen konnte. Ein anderer Grund war, daß seine Genossen glaubten, seine Methode würde nicht funktionieren; sie fürchteten den zerstörenden Effekt der Maßmahmen, die Mao der Gesellschaft, der Partei und der Wirtschaft aufzwang.

Seit der Tsunji-Konferenz von 1935, zu Beginn des Langen Marsches, ist die Partei Maos einzige Machtbasis gewesen. Sie war die Quelle seiner Autorität und die eigentliche Regierung, und die Nachfolge war genau festgelegt. Beinahe ein Vierteljahrhundert lang war Liu Schao-tschi Maos rechtmäßiger Erbe; es schien, als ob China gegen die erbitterten Machtkämpfe, wie es sie in der Sowjetunion ge-geben hatte, gefeit sein würde. Da Mao sich nun plötzlich zu einem bedeutsamen Kurs-wechsel anschickte, entdeckte er, daß er sich nicht mehr voll auf die Partei verlassen konnte. Er hatte noch immer viele Verbündete, aber er konnte nicht mehr sicher sein, daß der politische Apparat seine Befehle ausführen würde, wie er es in der Vergangenheit getan hatte. Deshalb begann der alte Mann mit einer Kühnheit und Phantasie, in denen es ihm nur wenige der heutigen Führer gleichtun könnten, eine neue Machtbasis aufzubauen, von der aus er eine neue Revolution in Gang setzen konnte. Beinahe instinktiv wandte er sich der Armee zu, wie er es so oft in Krisen getan hatte. Unter Lin Piao war sie wieder ein Instrument der Revolution geworden. Die abweichlerischen Generale waren 1959 und nochmals Ende 1965 einer Säuberung zum Opfer gefallen. Die politischen Kommissare hatten die Oberhand. Die Armee mochte nicht ein ganz so wirksames Instrument wie der Parteiapparat sein, aber sie war ein politisches Instrument und jeder Soldat war ein Propagandist.

Modell der Bauern von Hunan

Aber die Armee allein genügte nicht. Darum erinnerte sich Mao an die Tage in den Jahren 1926/27, als er eine Rundfahrt durch fünf Bezirke der Provinz Hunan unternommen und gesehen hatte, wie Bauernbanden den Klassenkampf führten. Er brauchte eine Stoßtruppe wie diese, um eine Situation zu schaffen, in der die widerspenstige Parteibürokratie daran gehindert wurde, ihre gewohnten Methoden anzuwenden und ihre Macht zu gebrauchen. Anfang 1966 versammelte sich das Zentralkomitee zu einer seltsamen Sitzung. Weder die Namen noch die Anzahl der Teilnehmer wurde mitgeteilt, so daß es unmöglich war, das Ausmaß der Säuberung zu übersehen, aber die Verhandlungen erwiesen sich als außerordentlich bedeutungsvoll. Die Anwesenden sprachen sich dafür aus, „jenen innerhalb der Partei, die in der Führungsspitze sitzen und den kapitalistischen Weg einschlagen, ... die Macht zu entreißen". Sie bestimmten, daß ein neues ständiges Machtorgan — in Form von »kulturrevolutionären Gruppen, Ausschüssen und Kongressen" — geschaffen werden sollte. Eine der Sitzungen dieses obersten politischen Gremiums war — so unglaublich das damals klang — vollgestopft mit Halbwüchsigen, die angewiesen wurden, „Furcht zu verbreiten" und „Aufruhr nicht zu scheuen". Niemals zuvor hatten die Beherrscher irgendeines großen Staates nach Aufruhr im eigenen Land gerufen.

Nicht lange danach rief die Zeitung der Volksarmee jedermann dazu auf, Maos berühmten „Bericht über eine Erforschung der Bauernbewegung in Hunan" als Anleitung zum Verständnis der neuen „großen proletarischen Kulturrevolution" zu lesen. Es war ein nützlicher Ratschlag. Die Roten Garden und alles was folgte waren nach dem Muster der Bauern von Hunan geschaffen worden: die Banden von Jugendlichen, die mit Bannern, Trommeln und Becken durch Städte und Dörfer stürmten; die Narrenkappen und andere Demütigungen für — tatsächliche oder angenommene — Gegner; das Verprügeln und gelegentliche Töten; die Razzien in Privathäusern; die Gewaltanwendung gegen die Behörden. All das ging einher mit einer inneren Disziplin, einer Inbrunst und einem Ausmaß an Selbstverleugnung, die die Puritaner neidisch gemacht hätte.

Rote Garden als Kampftruppen der Kulturrevolution

Die Idee, Rote Garden zu verwenden, muß entweder Ende 1965 oder Anfang 1966 entstanden sein. Ein Beweis dafür sind die langen Ferien, die die Universitätsstudenten im Spätwinter 1965 unerwartet erhielten. Sie waren darüber ebenso verblüfft wie erfreut, und erst viele Monate später verstanden sie, daß diese freie Zeit als Ersatz für die Sommerferien gedacht war, die sie als Stoßtruppen der Kulturrevolution verbringen sollten. Die erste Einheit der Roten Garden wurde beinahe heimlich im Mai 1966 in der der Pekinger Tsing Hua Universität angegliederten Mittelschule organisiert. Wenig später brach der Sturm in der Pekinger Universität los, die Mao schon lange als gefährliches Zentrum der Abweichung angesehen hatte. Ein weibliches Mitglied der philosophischen Fakultät machte den Anfang: Mit Plakaten mit „großen Schriftzeichen" prangerte sie den Rektor der Universität an (der ein verdienter Kommunist war). Danach gab es Faustschläge, Tumulte, die Demütigung des Rektors und zahlreicher Professoren, nahezu endlose Versammlungen, das ohrenbetäubende Dröhnen der Gongs, die Säuberung des Lehrkörpers und der Studentenschaft, Selbstmorde von Professoren — und die Schaffung der Roten Garden.

Von Peking aus dehnte sich die Bewegung mit blitzartiger Geschwindigkeit auf andere Städte aus, und die Rektoren der Universitäten Nanking, Sian, Chengchow und Wuhan waren Demütigungen ausgesetzt, bevor sie entlassen wurden. Die Roten Garden wurden formal am 18. August 1966 auf dem Platz des Tores des Ewigen Friedens ins Leben gerufen, auf der ersten der riesigen Versammlungen, bei denen, wie es hieß, „der Vorsitzende Mao den revolutionären Massen begegnet". Diese erste Versammlung erhielt eine doppelte Bedeutung, weil auf ihr Marschall Lin Piao dem Volke als Maos neuer designierter Nachfolger und als erster Interpret seiner Gedanken präsentiert wurde.

Die Ansicht, die Roten Garden seien Banden von Rowdies, die die Herrschaft auf der Straße übernommen hätten, geht fehl. Sie sind Maos Kampftruppen zur Einschüchterung oder sogar zur Vernichtung seiner Gegner. Sie sind ein wirkungsvolles politisches Werkzeug, das mit Phantasie und — vom Standpunkt der Opposition —-mit totaler Skrupellosigkeit geschaffen wurde und benützt wird. Außerdem dient die Bewegung auch noch dazu, das revolutionäre Feuer in der Jugend anzufachen, die niemals eine wirkliche Revolution erlebt hat. (Ihr Schlagwort ist jetzt: „Lernt Revolution machen, indem ihr Revolution macht.") Im Herbst 1966 nahm die Armee die Roten Garden unter ihre Fittiche, und uniformierte Ausbilder begannen die Jugendlichen in paramilitärischen Formationen zu organisieren. Um die Millionen von Jugendlichen für den Sturm auf den Straßen verfügbar zu machen, schloß Mao sämtliche Mittelschulen und Universitäten im ganzen Land. Es war eine radikale Maßnahme, die auf heftigen Widerstand gestoßen sein muß. Niemals in diesem Jahrhundert hat ein großer Staat eine solche Pause in der Erziehung verfügt, durch die Millionen von Halbwüchsigen acht Monate oder noch länger aus den Schulen herausgenommen worden sind. Die offizielle Argumentation, daß die Schulen geschlossen wurden, um der Partei Gelegenheit zu geben, Reformen der Erziehung auszuarbeiten, ist kaum glaubhaft, denn sie hätten entworfen werden können, während die Jugendlichen ihre Studien fortsetzten. Mao brauchte die Stoßtruppen sofort, und es kam ihm nicht darauf an, dafür mit dem Ausfall des Unterrichts zu bezahlen.

Weshalb studiert ganz China die Gedanken Mao Tse-tungs?

Mao und Lin Piao ergriffen eine weitere Maßnahme zur Vorbereitung des großen Kampfes. Auf Lins Befehl hin begannen zunächst die Armee und dann die ganze Bevölkerung mit dem „Studium der Gedanken Mao Tse-tungs" in einem bisher noch nicht dagewesenen Ausmaß. Jeder Soldat und jeder Angehörige der Roten Garden legte sich sein Buch mit Mao-Zitaten zu. Passanten auf den Straßen, Fahrgästen in Bussen und Zügen, Arbeitern an der Drehbank, Bauern auf den Reisfeldern, ihnen allen lasen Jugendliche unermüdlich Zitate vor. Ein Kaufmann aus dem Westen, der geschäftlich auf der Messe von Kanton zu tun hatte, wurde des Nachts von seinem Dolmetscher angerufen, der begierig darauf war, ihn mit den Gedanken Maos bekannt zu machen. Speisegäste in Lokalen aßen ihr Tschow mein, während ihnen kleine Schulmädchen Zitate von Mao vorlasen. Für andere Autoren gab es kaum Papier oder Drucker, da die Druckerpressen 35 Millionen Exemplare von Maos Essays ausspuckten. Die Eisenbahner gaben feierliche Versicherungen ab, daß sie diese kostbare Fracht mit Vorrang vor allen anderen befördern würden.

Einige Experten im Westen schrieben dies alles dem Wahnsinn eines alten Mannes zu. Es war aber vielmehr ein brillantes Mittel, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der niemand etwas gegen Mao und seine Ideen sagen konnte. Kein Oberbefehlshaber hat sich jemals auf eine Schlacht mit größerem Geschick und mit größerer Gründlichkeit vorbereitet.

Einer der frühen Höhepunkte der Kulturrevolution kam Anfang Januar 1966 bei einer Konferenz der politischen Kader der Armee. Hier schlug Hsiao Hua, der oberste politische Kommissar der Armee, das Thema „Politik hat den Vorrang" an, das das Leben des Volkes im kommenden Jahr beherrschen sollte. Das Treffen wurde im höchsten Maße propagandistisch ausgeschlachtet. Auf Dutzenden der folgenden Konferenzen erhielten Fabrikdirektoren und Vorsitzende von Volkskommunen, Ingenieure und Eisenbahner und alle anderen ihre neuen Befehle. Man sagte ihnen, daß die Produktivität der Industrie weniger wichtig sei als der revolutionäre Eifer der Arbeiter, daß im 17. Jahr der proletarischen Diktatur der Klassenfeind immer noch seine Agenten in hohen Stellungen hätte und daß sie vernichtet werden müßten.

Beginn der Säuberung

Nach dem Fall des Historikers Wu Han dehnte sich die Säuberung auf die mächtigen Ideologen im Parteiapparat der Pekinger Stadtverwaltung aus. Als ich im Mai 1966 Südchina besuchte, war die Kampagne gegen die „Schwarze Bande" der führenden Intellektuellen der Partei in vollem Gange. In einer Landwirtschaftshochschule außerhalb von Kanton sah ich mehr als tausend kleine Plakate, die die „Schwarze Bande" attackierten. Die Zettel waren nach einer Massenversammlung am vorangehenden Abend geschrieben worden, und die wildeste aller Anschuldigungen entstammte dem Pinsel eines Küchenmädchens.

Das Schicksal Peng Tschens scheint in der ersten Hälfte des Aprils 1966 entschieden worden zu sein, als der einzige Mann, der ihm hätte zur Seite stehen können, Staatspräsident Liu Schao-tschi, außer Landes war. Peng wurde durch Li Hsueh-geng, dem Vorsitzenden des Nordchina-Büros der Partei, ersetzt, der prompt eine Säuberung der Pekinger Partei-organisation einleitete. Die Parteiführer machen sich traditionell Sorgen um die großen Städte. Tatsächlich sind Schanghai und Peking von Mitgliedern des Politbüros regiert worden. Li sorgte nun dafür, daß die Hauptstadt von wirklichen oder potentiellen Abweichlern und Feinden gesäubert wurde. Man hielt ihn jedoch nicht für genügend rücksichtslos. Im Oktober 1966 prangerten gedruckte Plakate mit „großen Schriftzeichen" vor der Parteizentrale der Stadt Li wegen seiner Milde an. Eine der Beschuldigungen gegen ihn war, daß einen Monat lang nach der Säuberung des Parteibüros die gesäuberten Funktionäre in den Versammlungen der Säuberer dabei saßen, die ihnen Tee, Sympathie und Schutz vor den Roten Garden zukommen ließen.

Aber die Pekinger städtische Parteiorganisation war nur eine der Bastionen, die von Mao und Lin Piao genommen wurde. Ebenso schnell wie der Frühling in den Sommer überging, gingen sie daran, ihre Machtbasis in der Partei auszudehnen und die der Opposition zu bekämpfen. Innerhalb des Zentralkomitees der Partei wurde eine kulturrevolutionäre Gruppe unter Tschen Po-ta, einst Maos Privatsekretär, gebildet. Sie hatte ausgedehnte Vollmachten und beschränkte sich nicht auf kulturelle Angelegenheiten. Als nächstes gingen Mao und Lin gegen das mächtige Propagandakomitee vor. Sein Vorsitzender, Lu Tingji, ein dicklicher und eifriger kleiner Mann, der sich ein halbes Jahrhundert lang an Maos Seite abgemüht hatte, wurde beiseitegeschoben. Sein Platz erhielt der neue Star, Tao Tschu, lange Zeit Parteichef in Südostchina und jetzt, mit 60 Jahren, einer der führenden Akteure in dem Drama von Peking. Tao machte sich sofort an eine durchgreifende Säuberung des Propagandaapparates. Er hatte eine Schlüsselstellung, denn durch ihn beherrschten Mao und Lin alle Kommunikationsmittel. Während sie die Meinungen nach ihren Wünschen beeinflussen konnten, blieb den Opponenten jedes öffentliche Forum versagt. Ebenfalls in Besitz genommen wurde ein weiteres Nervenzentrum der Partei, das Amt für Allgemeine Angelegenheiten des Zentralkomitees. Sein Leiter war lange Zeit Jang Tschangkun gewesen, ein in der Sowjetunion ausgebildeter Revolutionär, Teilnehmer des Langen Marsches und lange Jahre Maos ergebendster Diener. Er verschwand einfach von der Liste der Mitglieder des Zentralkomitees.

Der bedeutsamste Sieg wurde im Ständigen Komitee des Politbüros erzielt, einem Gremium von sieben Männern unter Führung von Mao, die alle Macht in der Hand haben, die Politik festlegen und alle wichtigen Entscheidungen treffen. Im August 1966 war Lin Piao, bisher auf dem fünften Platz, auf den Platz des Nachfolgers gerückt, und Liu Schao-tschi war aus dem Kreis ausgestoßen. Tschou En-lai war immer noch Nummer Drei. Aber es waren jetzt drei Neulinge da: Tao Tschu, Tschen Po-ta und Kang Scheng. Mit fünf von sieben Stimmen konnte Mao jetzt, wie er es früher getan hatte, für das Zentralkomitee und den Parteiapparat sprechen.

Es bedurfte noch eines weiteren Zuges in diesem komplizierten und gefährlichen Spiel. Mao scheint eine Art von engerem Kabinett gebildet zu haben, dem so enge Anhänger wie Tschen Po-ta und Kang Scheng angehörten. Ein weiteres wichtiges Mitglied dieser Gruppe war Madame Mao Tse-tung, die aus der Verborgenheit des Privatlebens auftauchte, um eine führende Figur in der Kulturrevolution zu werden. Der Vorzug dieser kleinen und straffen informellen Gruppe bestand darin, daß Mao allen ihren Mitgliedern vollkommen vertrauen konnte.

Die Roten Garden entgleiten der Kontrolle

Im August 1966 erfolgte die Kriegserklärung an die Opposition gegen Mao. Die Drohungen wurden immer heftiger, bis die Pekinger Volkszeitung im Oktober forderte, daß den Widersachern kein Pardon gegeben werden dürfe. Sie rief die Getreuen dazu auf, den Ansichten des Schriftstellers Lu Hsun zu folgen, der meinte, man müsse „den wilden Hund schlagen, auch wenn er schon im Wasser ist“ und „wenn man einmal angefangen habe, zu schlagen, müsse man ihn schlagen, bis er tot ist." Die Roten Garden begannen mit ihren Paraden, ihrem Geschrei und ihren Gewaltakten. Im großen ganzen war es eine gelenkte Gewaltsamkeit, die eine Atmosphäre der Spannung und Furcht schaffen sollte. Die Halbwüchsigen, die in Privatwohnungen in Peking eindrangen, das Mobiliar zerschlugen oder beschlagnahmten und die Bewohner mißhandelten, folgten dabei Listen, die — vermutlich durch die Polizei — in jedem Block angeschlagen waren.

Es war jedoch unvermeidlich, daß Gewaltakte in einem solchen Ausmaß nicht vollständig unter Kontrolle gehalten werden konnten. Rivalisierende Gruppen Roter Garden erschienen in Schulen und bekriegten einander um die Ehre, der Kulturrevolution zu dienen. Solange die Roten Garden sich darauf beschränkten, Straßen, Läden, Restaurants, Gaststätten und Nudelgeschäfte umzubenennen, war der Schaden gering. Sobald die Halbwüchsigen aber in Fabriken und Kommunen einzudringen begannen, die örtlichen Kader angriffen und die Produktion unterbrachen, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Arbeitern und Bauern auf der einen Seite und den Roten Garden auf der anderen. Die Unterbrechung der Produktion war geringfügig — sie betraf eine Textilfabrik hier, eine Reifenfabrik dort, ein Eisenbahnwaggonwerk anderswo. Aber das war schon genug, um Peking zu alarmieren. Ministerpräsident Tschou En-lai, möglicherweise ein nur widerstrebender Verbündeter Maos und Lin Piaos, warnte die Jugendlichen in zahlreichen Versammlungen, daß die Produktion heilig sei. In den Provinzen fielen noch schärfere Worte. Den Roten Garden wurde lapidar erklärt, sie sollten sich von den Fabriken und Feldern fernhalten, und die Arbeiter und Bauern wurden angewiesen, an den Versammlungen der Roten Garden nicht teilzunehmen oder nur ein paar Vertreter zu entsenden. Im September erhielten die jungen Kämpfer den Befehl, aufzuhören und sich zurückzuhalten, bis die Herbsternte eingebracht wäre — oder bei der Arbeit auf den Feldern zu helfen.

Die Gegner sind noch nicht geschlagen

Wenn es gelungen sein sollte, die namenlosen Widersacher im inneren Führungskreis einzuschüchtern, so gab es jedenfalls keine sichtbaren Anzeichen dafür. Da sie durch dieselbe harte revolutionäre Schule gegangen waren wie Mao und Lin Piao, waren sie gleichfalls harte Männer und geschickte Kämpfer. Sie verfügten zwar über kein öffentliches Forum mehr, wo sie ihre abweichenden Meinungen vortragen konnten. Ebenso wenig besaß irgend jemand die Möglichkeit, sich an eine Straßenecke zu stellen und Zweifel an Maos Politik zu äußern, denn das wäre Selbstmord gleichgekommen. Aber Maos Gegner in Peking waren nicht vollständig hilflos. Sie beherrschten noch immer einige bedeutende Positionen im Zentralkomitee und hatten zahlreiche Verbündete und Freunde in den Provinzen. Im Hinterland konnten die Befehle Maos und Lin Piaos absichtlich mißverstanden und ihre Ausführungen verzögert werden. Der Parteiführer einer Provinz wurde angeklagt, zwei Monate lang den Befehl Lin Piaos zur Intensivierung des Studiums der Werke Maos in der Schublade behalten zu haben. Ein anderer wurde beschuldigt, die Gedichte Maos nicht in der örtlichen Presse veröffentlicht zu haben. Noch ein anderer wurde angeklagt, unter den örtlichen Kadern das Gerücht verbreitet zu haben, Mao wolle die Partei zerstören.

Die Säuberung in den Provinzen nahm niemals stalinistische Ausmaße an. Sie war selektiv und wurde propagandistisch groß herausgestellt, um psychologisch großen Eindruck zu machen. Unter den Gesäuberten waren Sekretäre der Provinzparteiorganisationen, Redakteure, Schriftsteller, Propagandafachleute, Leiter von Rundfunksendern und Erzieher (jedoch kein Fabrikdirektor und kein Armeeoffizier). Wenn jemand auf einer nichtöffentlichen Sitzung der Parteiführer als Opfer der Säuberung ausersehen war, wurde er einer ganzen Serie von ungesetzlichen Verfahren unterworfen, die ihren Höhepunkt in Massenversammlungen mit manchmal Zehntausenden von Teilnehmern fanden. Bei solch einem „Verfahren" wurde der einst berühmte Schriftsteller Oujang Schan öffentlich durch seine frühere Köchin, seine Pflegerin und seinen Sohn, der noch zur Schule ging angeklagt. Der Sohn rief, um die Zeitung von Kanton, Hung-wei Pao, zu zitieren, „mit unbezähmbaren Zorn: Nieder mit Oujang Schani Untersucht sorgfältig die Verbrechen des Antiparteielements Oujang Schani" Um den Bruch vollständig zu machen, änderte der Junge seinen Namen von Oujang Jen-hsing in Hsiang Tungscheng.

Stabilität weicht dem befohlenen Chaos

Nichts illustriert die grundlegende Schwäche der Kulturrevolution besser als die Tatsache, daß die chinesische Presse in derselben Woche über den letzten Atomversuch und über eine Reihe von Versammlungen berichten konnte, bei denen junge Leute Unkraut „zur Erinnerung an vergangene Notzeiten" aßen. Was Mao zu tun versuchte, ist die Schaffung eines gloriosen Morgen, indem er ständig auf das Gestern zurückblickt. Das aber heißt sich gegen das Wesen der sich wandelnden Gesellschaft Chinas zu stemmen. Einer von fünf Chinesen gehört heute der neuen städtischen Schicht an, deren Geschmack, deren Bedürfnisse und Forderungen denen des ländlichen Chinas um ein Jahrhundert vorauseilen. Mao selbst kann sich das volle Verdienst an Chinas wachsender Urbanisierung zuschreiben. Aber er will es nicht hinnehmen, daß der neue Städter, nachdem er einmal seine primi11 tive Welt verlassen hat, nicht verstehen kann, warum er — zeitlich oder räumlich — in sie zurückkehren sollte. Die Stadtbewohner sind physisch von der Kulturrevolution betroffen, sie studieren Maos Werke, sie lernen Zitate von ihm auswendig, sie marschieren und füllen bei den riesigen Massenversammlungen die Plätze. Aber weder politisch noch psychologisch ist es ihre Revolution.

Diese Entfremdung der Städter trägt zur Aushöhlung der Autorität bei. Anderthalb Jahrzehnte lang war der größte Vorzug des von Mao geschaffenen Systems die Stabilität. Es gab keine Regierungskrisen, keine ausgedehnten Säuberungen, keine politischen Umstürze, wie sie die Sowjetunion erschütterten. Die Nachfolge war festgelegt und jedermann wußte genau, wo die Macht lag. Die Führung machte Fehler in der Politik, oft verkehrte sie die bisherige Linie in ihr Gegenteil. Aber sie sorgte für Ordnung und politische Stabilität nach nahezu vierzig Jahren der Uneinigkeit und Unordnung.

Durch die Kulturrevolution änderte sich das. Das Zentralkomitee empfiehlt Unordnung, als ob sie eine Tugend wäre. In den Provinzen singen Parteiführer ein Loblied auf das Chaos. Die Roten Garden werden auf die Straße geschickt, um sich dort auszutoben, und die Führer der Nation geben dazu nicht nur ihren Segen, sondern befehlen sogar, daß niemand gegen die Jugendlichen einschreiten darf.

Gleichermaßen bedeutsam war das ständige Gerede von den Führern, die sich in Spitzenstellungen des Staates und der Partei eingenistet hätten und nun vernichtet worden wären. Wer waren sie? Was haben sie Furchtbares verbrochen? Wenn sie Feinde waren, warum sind sie dann nicht sofort zur Verantwortung gezogen worden? Die Brandmarkungen mögen dazu dienen, die Revolution voranzutreiben, aber sie untergraben zugleich das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Stabilität des Systems.

Revolution gegen die Gesellschaft

Als die Macht der Partei durch ihre Rivalen beschnitten wurde, versuchte Mao das Autoritätsvakuum mit den kulturrevolutionären Gruppen zu füllen. Es ist von neuen Massenorganisationen nach dem Muster der Pariser Kommune gesprochen worden. Aber die Schaffung all dieser neuen Machtorgane ist ein langsamer Prozeß, und das Vakuum besteht fort. Die Parteiführer in den Provinzen, die immer für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich waren, wissen nicht, wie sie diese ihre Pflicht mit dem aus Peking kommenden Lob der Unordnung in Einklang bringen sollen. Und wenn es ihre primäre Aufgabe war, die Produktion zu gewährleisten, sind sie sich nicht darüber im klaren, wie dies sichergestellt werden kann, während auf den Straßen der Aufruhr herrscht.

Dies alles gehört zu dem Dilemma, dem sich Mao und Lin Piao in dem großen Streit mit den ungenannten Widersachern gegenübersehen. Taktisch gesehen hat Mao alles getan, was er tun konnte, und sogar noch mehr, um die Position seiner Feinde unhaltbar zu machen. Aber der Haken dabei ist, daß das nicht genügt. Die Revolution, die er China zu verschreiben sucht, ist ein heroisches Vorhaben, das den Bestrebungen der neuen städtischen Gesellschaft und dem Drang des Volkes nach Fortschritt zuwiderläuft. Keine Gesellschaft, die vorankommen will, kann lange Zeit die Isolierung ertragen oder ein verstümmeltes Erziehungssystem oder ein antiintellektuelles Klima oder ein ständiges Herumreiten auf der Vergangenheit, wie glorreich sie auch gewesen sein mag. Daher stehen die Zeichen weiterhin auf Sturm.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Mark G a y n , Chef des Asienbüros der kanadischen Zeitung Toronto Star, hat eine Reihe von Büchern über Asien veröffentlicht, darunter The Fight for the Pacific und Japan Diary.