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Existenzphilosophie und Politik. Zur Struktur politischen Denkens bei Karl Jaspers | APuZ 16/1967 | bpb.de

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APuZ 16/1967 Existenzphilosophie und Politik. Zur Struktur politischen Denkens bei Karl Jaspers

Existenzphilosophie und Politik. Zur Struktur politischen Denkens bei Karl Jaspers

Bernhard Sutor

Karl Jaspers hat sich seit 1945 in zunehmender Ausführlichkeit und Entschiedenheit zur Politik geäußert. Zwar beklagt er den Mangel an Resonanz, den seine Schrift zur Schuldfrage 1946 gehabt habe; sein Werk über die Problematik der Atombombe (1958) wurde jedoch viel diskutiert; seine im gleichen Jahr bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels gehaltene Rede machte ihn weit über die Fachwelt hinaus als politisch engagierten Philosophen bekannt; seine 1960 veröffentlichten Thesen zur Frage der Wiedervereinigung erregten geradezu Aufsehen, und sein 1966 erschienenes Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?" wurde zum Bestseller. Die Diskussion um Japers’ Aussagen zur Politik leidet jedoch unter einem schwerwiegenden Mangel: Er selbst versteht sie als Konsequenzen seiner Philosophie. Diese aber ist offensichtlich bei der Mehrzahl der Leser, die zu seinen politischen Büchern greifen, nicht allzu bekannt. Wenn zudem Jaspers selbst in seiner philosophischen Autobiographie über sein politisches Denken reflektierend sagt: „Philosophie ist nicht ohne Politik und nicht ohne politische Konsequenzen" dann scheint es ratsam, nach dem Zusammenhang seiner politischen Aussagen mit seinem philosophischen Denken zu fragen. Mir scheint, daß Tragfähigkeit wie Grenzen seiner politischen Gedanken dadurch klarer hervortreten werden. Nebenher kann dabei die für die heutige Situation politischer Wissenschaft in Deutsch-land nicht uninteressante Frage beantwortet werden, ob und wieweit politische Wissenschaft eine philosophische Basis finden könnte in Jaspers’ Existenz-und Vernunftsphilosophie. Einige wenige Äußerungen, die darüber vorliegen, bringen Jaspers’ politisches Denken in die Nähe des Dezisionismus der zwanziger und dreißiger Jahre, für den ein inhaltloser Formalismus der Entscheidung ohne die Frage nach dem Wofür und Wogegen kennzeichnend ist Dem widerspricht aber Jaspers'entschiedenes Eintreten für Demokratie, politische Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in seinen Schriften nach 1945, aber auch schon der Grundtenor des 1931 erschienenen Goschen-Bändchens „Die geistige Situation der Zeit". Diese Frage bedarf also ebenfalls einer Klärung.

I. Wissenschaft und Philosophie

Abbildung 1

Von grundlegender Bedeutung für die Klärung unserer beiden Fragen ist Jaspers’ strenge Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Philosophie. Hierin bringt er die kritische Philosophie Kants und Max Webers Behauptung von der Wertfreiheit der Wissenschaft zu einer originären Synthese. Wissenschaft und Philosophie haben nach Jaspers zwar gemeinsam den ursprünglichen Antrieb des Wissenwollens und ebenso sind beide der Strenge methodischen Denkens verpflichtet, aber die Wahrheit der Wissenschaft ist zwingend gewiß und allgemeingültig, jedenfalls ihrer Intention nach, während die Wahrheit der Philosophie als existentielle Wahrheit zwar unbedingt, aber nicht allgemeingültig ist. Wissenschaft richtet sich auf Gegenstände in der Welt mit den ihnen gemäßen, sehr verschiedenen Methoden. Ihr Wahrheitssinn ist daher vielfach, denn zweifelsfreie Eindeutigkeit gibt es nur in den Naturwissenschaften und in der Mathematik, während in das Sinnverstehen der Geisteswissenschaften notwendig ein Werten mit eingeht. Dennoch ist allen Wissenschaften gemeinsam „der Anspruch auf rationale Gültigkeit" Die Gegenstände ermöglichen ein Nachvollziehen und Nachprüfen. Philosophie dagegen transzendiert über die Weltgegenstände hinaus, sie ist ein Denken ohne spezifischen Gegenstand, daher in ihren Ergebnissen nicht mehr zwingend, ja eigentlich überhaupt ohne ein festzuhaltendes Ergebnis. Das klingt nach philosophischer Skepsis, ist aber das Gegenteil davon, denn der Mensch kann sich mit den tausend Richtigkeiten der Wissenschaften nicht begnügen. Die Grenzen der Wissenschaften werden für Existenz zum Anstoß des Philosophierens. Die Grenzen der Wissenschaften liegen in ihrer Perspektivität und Partikularität, das heißt in ihrer Bezogenheit auf Standpunkte und Methoden, die ihre Ergebnisse relativ machen, sowie in ihrer Begrenzt-heit auf Gegenstände in der Welt. Relativität und Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse gehören also zusammen. Schlechte Auswege aus dieser Relativität wären der Wissenschaftsaberglaube einerseits, der Nihilismus andererseits.

Am Beispiel Max Webers zeigt Jaspers, wie strenge Wissenschaftlichkeit sich dagegen verbindet mit einer als existentielle Praxis verstandenen Philosophie, aus der sie stammt. Nach Jaspers gelten die zwei sich scheinbar widersprechenden Sätze: „Echte Wissenschaft ist ohne Metaphysik" und „Sinnvolle Wissenschaft ist durch Metaphysik" die man beide exemplifiziert findet in seiner Schrift über Max Weber. „Max Weber enthüllte den Irrtum, daß durch Wissenschaft . . . herauszubekommen und zu beweisen sei, was getan werden solle." Aber andererseits: „Max Webers Wissenschaft, in der Entfaltung Menschenkräfte übersteigend, schließt sich doch nicht in sich. Sie ist Funktion einer Existenz, der sie dient." Methoden und Resultate der Wissenschaften sollen also unabhängig sein von Philosophie, aber dennoch soll Wissenschaft nicht der Beliebigkeit eines bodenlosen Forschungsbetriebs verfallen, sondern leben aus dem existentiellen Antrieb des Wissenwollens.

Nun erfolgt bei Jaspers von den Grenzen der Wissenschaft aus nicht einfach ein Sprung in ungegenständliche Metaphysik. Auch Philosophieren hat Methode, und so führt zur Metaphysik hin die „Erhellung der Weisen des Umgreifenden", entfaltet 1947 in „Von der Wahrheit". Ihr Mitte nimmt die Existenzerhellung ein, die bereits den zentralen Teil der „Philosophie" von 1931 bildete. Das kann und braucht hier nicht ausführlich dargestellt werden. Es genügt ein Blick auf das Ergebnis, das Jaspers als „philosophischen Glauben" bezeichnet. Der entscheidende Gegensatz von Immanenz und Transzendenz ist bei Jaspers begrifflich nicht wie in der alten Philosophie gefaßt durch die Unterscheidung von Seiendem und Sein, sondern es werden verschiedene Weisen entfaltet, wie umgreifendes Sein im transzendierenden Denken sich uns zeigt. Dabei drückt die Chiffer „Umgreifendes" aus, daß uns Sein immer nur in Gespaltenheit begegnet, nie geradezu als Ganzes. Die Vernunft als Band aller Weisen des Umgreifenden ermöglicht ein Gegenwärtigsein in den Polaritäten des Um-greifenden, welches Jaspers „Glauben im weitesten Sinne" nennt. Glaube im eigentlichen Sinne heißt jedoch das Gegenwärtigsein in der letzten Polarität, der von Existenz und Transzendenz Zu allem welthaften Sein kann ich mich als mögliche Existenz noch einmal unbedingt verhalten, und in diesem unbedingten Verhalten, zu dem mir zumal die Grenzsituationen des Lebens Möglichkeit werden, werde ich mir meiner Abhängigkeit von der Transzendenz (Gottheit) gewiß. Glauben nennt Jaspers diese existentielle Transzendenzerfahrung, um so den radikalen Unterschied zum gegenständlichen und daher allgemeingültigen Wissen zu bezeichnen. An die Stelle der Allgemeingültigkeit tritt im Glauben eine grenzenlose Gemeinsamkeit der Existenzen, welche Kommunikation heißt. Existentielle Wahrheit ist kommunikative Wahrheit, und Kommunikation ist für Existenz nach Jaspers ebenso konstitutiv wie das Innewerden der Transzendenz. Wie man sieht, hat sich Jaspers Kants Philosophie sowohl in ihrem kritischen als auch in ihrem praktischen Teil zu eigen gemacht. Mit der „Kritik der reinen Vernunft" behauptet er die Unmöglichkeit wissenschaftlich-all-gemeingültiger Metaphysik; in Fortführung der „Kritik der praktischen Vernunft", vor allem durch die formale Übernahme des Kierkegaardschen Existenzbegriffs, sieht er in der Philosophie eine existentielle Praxis, ein denkendes Tun, wobei die methodische Erhellung dieses Tuns durch die Vernunft das Abgleiten ins Irrationale verhindern soll. Jaspers will nicht Existentialismus, sondern Existenzphilosophie, die er, wie er 1950 schrieb, jetzt lieber Philosophie der Vernunft nennen möchte Ebenso muß diese Philosophie abgehoben werden von mystisch-quietistischer Weltlosigkeit. Die existentielle Bindung an Transzendenz geschieht im entschiedenen Ergreifen der Aufgaben in der Welt als der Stätte, an der Existenz sich verwirklicht. Damit erhalten die Objektivitäten dieser Welt wie Gemeinschaft, Staat, Recht, Tradition, gerade indem sie auf Transzendenz hin relativiert werden, existentielle Bedeutung. „Alles in der Welt ist ganz gleichgültig, und alles in der Welt kann von entscheidender Wichtigkeit werden." Hier liegt die Wurzel für Jaspers’ Entschiedenheit im Politischen.

II. Der Sinn der Politik in existenzphilosophischer Sicht

Nach dem Gesagten können wir bei Jaspers keine politische Philosophie oder Staatsphilosophie im Sinne einer regionalen Ontologie erwarten, in welcher allgemeine Seins-und damit Ordnungsstrukturen des Politischen rational allgemeingültig erhellt würden. Aber in der schwebend-appellierenden Sprache der Existenzerhellung findet sich doch etwas Vergleichbares.

Menschliches Dasein findet sich mit anderem Dasein zusammen immer schon in Gesellschaft vor, und aus der Notwendigkeit der Arbeitsteilung wie der gegenseitigen Hilfe folgt ebenso wie aus der Grenzsituation des Kampfes die Notwendigkeit von Herrschaft. Staat ist der ordnende Machtwille einer Gesellschaft und hat die Aufgabe, den Daseinsraum für mögliche Existenz zu sichern. Da Dasein bei Jaspers das naturhaft Vorhandene, Existenz jedoch immer nur geschichtliche Möglichkeit eigentlichen Menschseins bedeutet, ist damit dem Staat und der Politik eine dienende Funktion für Existenz zugeschrieben. Aber andererseits ist der Staat eine der Objektivitäten in der Welt, in denen Existenz erst wirklich und wirksam wird. So muß Politik Führung gewinnen durch überpolitisches, und dieses überpolitische bei Jaspers kann man mit Hommes beschreiben als das „Grundverhältnis der Existenz", nämlich ihre Gründung in Transzendenz und ihr Angewiesensein auf Kommunikation mit anderer Existenz

Aus diesem Grundverhältnis glaubt Jaspers allerdings gemäß seinem Verständnis von Philosophie keine allgemeingültige politische Ethik ableiten zu dürfen — das Grundverhältnis ist ja nicht gegenständlich verstanden! —, sondern er beantwortet die ethische Frage mit Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsund Verantwortungsethik. Politischer Umgang, eine unumgängliche Situation für alles Menschendasein, ist immer Umgang mit dem sittlich gefährlichen Mittel der Macht, deren Grenzfall die Gewalt ist Die Norm für das Handeln muß dabei aus dem Umgreifenden der Existenz jeweils geschichtlich gewonnen werden. „Der unaufhebbare mit der unausweichlichen Schuld der Unwahrheit belastete politische Umgang ist nun gebunden an das Sein der Transzendenz." Der Rekurs auf die geschichtlich sich vor Transzendenz verwirk-lichende Existenz tritt hier an die Stelle des Versuchs traditioneller politischer Philosophie, aus der Erkenntnis einer Seinsstruktur die Anwendung von Macht zu rechtfertigen und zu normieren. Der konsequente Gesinnungsethiker, der stets nach rational eindeutigen Normen handelt, müßte, so meint Jaspers mit Max Weber, jede Gewaltanwendung und jede Unwahrheit im politischen Umgang verwerfen. Der Verantwortungsethiker dagegen ist zwar nicht der gesinnungslose „Realpolitiker"; er will diese Mittel nicht an sich, kann aber in die Grenzsituation kommen, sie wollen zu müssen aus Verantwortung für die Sache, der er sich existentiell verschrieben hat. Das ist nicht existentialistische Verwerfung, sondern existenzphilosophische Umschmelzung der Idee eines allgemeingültigen Rechts. „Das Ergreifen des Unbedingten ... ist, obgleich in allgemeinen Gesetzen sich erhellend, durch kein Allgemeines genügend zu bestimmen und abzuleiten" Willkür aber wäre existenz-widrig, die Verwerfung der Idee des Rechts substanzlos.

Das macht Jaspers auch so deutlich, daß er Politik dem „handelnden Denken" oder, meist einfacher gesagt, dem „Handeln" zuordnet. Unter Handeln versteht er das agere der alten Philosophie im Gegensatz zum facere; es ist ein Tun aus freier Entscheidung in der jeweils einmaligen Situation, und es kann durch Erkenntnis der die Situation konstituierenden Faktoren nicht determiniert werden. Es ist auch nicht wie das Machen, das facere, auf ein eindeutiges Zweck-Mittel-Verhältnis reduzierbar, vielmehr fordert Handeln ein Entscheiden, das heißt ein Herausgreifen des Bestimmten aus der Vielheit des Möglichen, einen Schritt ins Ungewisse der Zukunft, wodurch ich anderes ausschließe, aber eigentlich erst Existenz vollziehe. Existenz fordert Bestimmtheit. Nadi dem, Was über das Grundverhältnis der Existenz gesagt wurde, kann aber mit diesem Entscheiden und Bestimmtwerden kein inhalt-loser Dynamismus im Sinne des Dezisionismus der zwanziger Jahre gemeint sein. Dieses Grundverhältnis ist zwar nicht allgemeingültig formulierbare, aber unbedingt geltende Norm. Will man diese Norm konkretisieren, so wird man bei Jaspers auf die Geschichtlichkeit der Existenz verwiesen. Daher macht die Frage nach konkreten Inhalten politischen Handelns eine geschichtsphilosophische Deutung der Gegenwartssituation erforderlich.

III. Existenzphilosophie und Geschichte

Jaspers'existenzphilosophisches Verständnis der Geschichtlichkeit des Menschen enthält eine Polarität, die für seine Aussagen über Geschichte und Politik grundlegend ist. Einerseits ist Geschichtlichkeit konstitutiv für Existenz, weil die Transzendenzerfahrung, durch die mögliche Existenz erst wirklich wird, immer nur im geschichtlichen Augenblick in sich wandelnden Formen gelingen kann. „Der deus absconditus rückt fern, wenn ich ihn begreifen möchte, ist unberechenbar nah in der absoluten Geschichtlichkeit einer je einmaligen Situation." Das verlangt radikale Einsenkung in die jeweilige geschichtliche Situation, Übernahme der mir darin entgegentretenden Forderung durch existentielles Ergreifen. Andererseits bringt mich Geschichtlichkeit in den Horizont der universalen Menschheitsgeschichte, weil Geschichte aus der Geschichtlichkeit der Existenz hervorgeht, die Forderung nach Kommunikation der Existenzen sich daher auf die ganze Geschichte bezieht, und weil die Gegenwartssituation nur aus der Geschichte begreifbar ist. „Keine Realität ist wesentlicher für unsere Selbstvergewisserung als die Geschichte." Existentielle Aneignung der Vergangenheit und Einsenkung in die Gegenwart sind so nach Jaspers dialektisch ineinander verschränkt. „Universales Geschichtsbild und gegenwärtiges Situationsbewußtsein tragen sich gegenseitig."

Beide Seiten dieser Polarität können verdeutlicht werden durch einen Blick auf die Formeln, in denen Jaspers die Geschichtlichkeit einerseits und die Aufgaben der Geschichtsphilosophie andererseits beschreibt. Geschichtlichkeit nennt er Einheit von Dasein und Existenz, von Notwendigkeit und Freiheit, von Zeit und Ewigkeit. Geschichtlichwerden heißt, daß meine Zeitlichkeit und Endlichkeit, meine negativ mich begrenzende Situation mir positive Möglichkeit meiner Freiheit wird und daß ich in diesem unbedingten Ergreifen zeitlicher Aufgaben der Ewigkeit der Transzendenz innewerde. Wiederum wird deutlich: Philosophischer Glaube heißt nichts weniger als Welt-flucht, bedeutet vielmehr Identifikation mit der Zeit, freilich eine Identifikation in Distanz.

Geschichtsphilosophie trägt dazu bei, daß diese Identifikation in Distanz möglich wird. Jaspers unterscheidet drei Stufen der Geschichtsphilosophie. Auf der ersten Stufe zeigt sie die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis der Geschichte: Das Einmalige, das Individuelle als Hülle der Existenz, das Ganze der Geschichte, ihr dunkler Anfang, ihr unbestimmbares Ende, die nicht voraussehbare Zukunft sind prinzipielle Grenzen der Geschichtswissenschaft. Die Verwerfung aller als Wissen vorgetragenen Totalbilder, die Zurückweisung jeder ideologischen Verabsolutierung einzelner Faktoren des Geschichtlichen sind Leitmotive Jaspersscher Philosophie.

Auf ihrer zweiten Stufe leistet Geschichtsphilosophie Existenzerhellung aus der Geschichte. Die Betrachtung bisheriger Geschichte soll unser Gegenwartsbewußtsein steigern. Dem dient auch das Schema der Weltgeschichte, das Jaspers mit Hilfe seiner bekannten These von der Achsenzeit entworfen hat. Die These entspringt seinem philosophischen Glauben; denn was Jaspers als das Wesentliche des Mensch-seins ansieht, wird hier zum Maßstab aller bisherigen Geschichte gemacht. Aber nicht die These und das aus ihr abgeleitete Geschichtsschema sind das Wesentliche, sondern der Versuch der Gegenwartserhellung aus der Anschauung der Universalgeschichte. Jaspers fordert dazu auf, es mit seiner These gleichsam als einer Hypothese doch einmal zu versuchen, und dennoch erhebt er einen ungeheuren Anspruch. Er will nichts Geringeres leisten als eine Weltphilosophie der Zukunft, einen Beitrag zur Verwirklichung der Idee der Menschheit als freier Gemeinschaft. Er hofft, ein Grundwissen der Menschheit entwickelt zu haben, auf dessen Boden alle Menschen mit ihren geschichtlich verschieden artikulierten Glaubensgehalten sich finden können. „Die Idee ist: wenn wir das Umgreifende als das uns Gemeinsame vergewissern, in dem wir uns treffen, so können wir uns gegenseitig frei lassen in den Ursprüngen, aus denen wir leben." Das Prinzip dieser angestrebten Universalität einer Philosophie ist die doppelte Forderung, die Jaspers als Forderung der Achsenzeit an die heutige Menschheit ableitet: Der Verzicht auf den Ausschließlichkeitsanspruch eines Glaubens und die Bereitschaft zur Kommunikation mit fremdem Glauben. Die Frage ist nur, ob nicht dieses Prinzip wiederum einen aus geschichtlicher Situation einer Existenz allgemeingültig formulierten Glauben darstellt; anders ausgedrückt, ob die Polarität von universalem Geschichtsbild und gegenwärtiger Situation nicht aufgegeben ist zugunsten einer sehr eigenwilligen Deutung der Geschichte aus existentiell ergriffener Gegenwart. Die Frage sei hier zunächst nur gestellt.

Etwas anderes ist bereits deutlich geworden, nämlich, daß Jaspers mit der Verwerfung der als Wissen vorgetragenen geschichtlichen Totalbilder nicht auch die Frage nach Einheit und Sinn der Gesamtgeschichte verwirft. Vielmehr heißt Geschichtsphilosophie auf ihrer dritten Stufe das Lesen der Chiffer des Geschichtsganzen. Aber indem Jaspers hier von Chiffer spricht, will er den existentiellen, nicht allgemeingültigen Sinn geschichtlicher Total-bilder verdeutlichen, die in der Schwebe des Nichtgewußten bleiben und für Existenz doch die Einheit aller Geschichte als transzendente Einheit fühlbar machen sollen. Im Horizont solcher existenzphilosophischen Totalanschauung der Geschichte formuliert nun Jaspers seine politischen Grundgedanken.

IV. Die politischen Grundgedanken von Karl Jaspers

Nach den Darlegungen des vorausgehenden Abschnitts kann es nicht überraschen, daß alles, was Jaspers an Grundgedanken zur Politik entwickelt, im Zusammenhang geschichtsphilosophischer Reflexionen zu finden ist. Da Philosophie ihre Wahrheit nur existentiell-geschichtlich, nicht allgemeingültig-überzeitlich erfaßt, kann sie Zielvorstellungen für Politik nur durch geschichtsphilosophische Einsenkung in die Gegenwartssituation entwickeln. Aus Geschichtsphilosophie erwächst also das Wollen für die Zukunft. Prägnant formuliert Jaspers den Zusammenhang von geschichtsphilosophisch vertieftem Gegenwartsbewußtsein und Zukunftswollen, wenn er vom Geschichtsphilosophen sagt: „Im Bewußtwerden der eigenen Unbedingtheit wird ihm Gegenwartsbewußtsein zum Zukunfts-willen aus geschichtlicher Herkunft." Dementsprechend finden wir überall dort, wo Jaspers politische Zielvorstellungen entwickelt, zuerst eine geschichtsphilosophische Gegenwartserhellung, in aller Breite in den Werken „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" und „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen". Im Rahmen der Universalgeschichte sieht Jaspers unsere Gegenwart als den Beginn eigentlicher Weltgeschichte der einen Menschheit und nennt sie in seinem von der Achsenzeit her strukturierten Geschichtsschema das wissenschaftlich-technische Zeitalter. Wissenschaft und Technik werden als die beiden bestimmenden Kräfte unserer Zeit, aber auch als noch nicht bewältigte Aufgaben, als Chancen wie als Gefahren für existentielles Menschsein dargestellt. In dieser Gegenwartssituation sieht Jaspers für das Mensch-sein zwei Gefahren: Einerseits einen totalitär sich schließenden Apparat der Daseinsvorsorge für die Massen, durch den eigentliches ermöglicht, Menschsein nicht mehr sondern erdrosselt wird, andererseits das Ende der Menschheit in einer Atomkriegskatastrophe. Da beide Gefahren Weltausmaß haben, ist bisherige Politik an ihre Grenzen gelangt. Sie muß sich wandeln zu neuer Politik durch erinnernde Aneignung des abendländischen Ethos in der Form, in der es zum „Grundwissen der Menschheit" im oben dargelegten Sinn werden kann. Hier liegt die Wurzel für Jaspers'radikale, apodiktisch formulierte Forderungen an heutige Politik und Politiker.

Die Tragfähigkeit, der Realitätsgehalt der Jaspersschen Forderungen hängt davon ab, ob es einen politisch gangbaren Weg von der alten zur neuen Politik gibt. Jaspers bejaht diese Frage und hofft auf den vernünftigen Staatsmann, der, realistisch die Chancen und Gefahren neuer Politik abschätzend, den Weg von gegenwärtiger Feindschaft und Kriegsvorbereitung zu Frieden durch Miteinanderreden geht, von listenreichem Taktieren und geschicktem Manipulieren der Massen zum redlichen Appellieren an Vernunft und zu demokratisch-verantwortlicher Führung. „Idealistisch törichte Politik handelt, als ob der Zustand schon wirklich sei, der als Ziel vor Augen liegt. Realistisch törichte Politik handelt, als ob jener bessere Zustand der neuen Politik nie eintreten könne. Beide sind unverantwortlich."

Wenn Jaspers seine politischen Zielvorstellungen im Anschluß an Kant Ideen nennt und sie als solche charakterisiert, wird deutlich, wie er der Ideologiegefahr entgehen will. Die Idee ist als Leitlinie für das Handeln sittlich verpflichtend, aber sie hat zugleich geschichtlichen Charakter und drückt eine Unvollendbarkeit aus. Die Menschheit bleibt immer auf dem Weg zum Ziel, sie wird die Geschichte nie in einem idealen Reich der Freiheit, der Gerechtigkeit oder des Friedens abschließen, ja es gibt auf diesem Weg die Möglichkeit des totalen Scheiterns. Für Politik bedeutet diese Unvollendbarkeit sie der Geschichte, daß sich nicht anmaßen darf, Heilshandeln zu sein, vielmehr auf Daseinszwecke in der Welt beschränkt bleiben muß, ohne das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit dieses partikularen Handelns zu verlieren.

Die grundlegenden Ideen für gegenwärtige Politik formuliert Jaspers als Demokratie, soziale Ordnung und Weltfriedensordnung. Die Fülle der Gedanken, die er in diesem Zusammenhang entwickelt, kann hier auch nicht andeutungsweise zur Sprache kommen. Es genügt aber auch für unsere Fragestellung eine kurze Verdeutlichung des „idealen" Charakters dieser drei Zielvorstellungen.

Unter Demokratie versteht Jaspers die „republikanische Regierungsart" Kants, die Herrschaft der Vernunft durch Kontrolle der Macht in Rechtsstaatlichkeit, Publizität und politischer Freiheit. Sie ist nicht Heilsweg, sondern soll die politischen Voraussetzungen eigentlichen Menschseins sichern. „Der demokratischen Idee entspricht das Bewußtsein der Un-vollendbarkeit des Menschen." Kritik an der faktisch vorhandenen Demokratie mit ihren Fragwürdigkeiten (das Dasein in den Massen, die Urteilslosigkeit der Wähler, oligarchische Tendenzen und fragwürdige Propaganda) muß aus der Idee der Demokratie erfolgen.

Soziale Ordnung oder Sozialismus als Idee bedeutet Streben nach sozialer Gerechtigkeit, Überwindung individualistischer Schrankenlosigkeit, ohne die Persönlichkeit zu zerstören, partikulare Planung mit dem Ziel größerer Freiheit. Diese Idee steht gegen den ideologischen Sozialismus, der aus einem vermeintlichen Totalwissen von der Welt und vom Gang der Geschichte zur Totalplanung kommt, dabei nicht mehr nur soziale Gerechtigkeit, sondern ein neues Menschsein politisch anstrebt und so totalitär wird.

Dieser Gegensatz begegnet noch einmal in den Erörterungen über eine mögliche Weltfriedensordnung, wo Jaspers Weltimperium und Weltföderation unterscheidet. Weltimperium wäre „der Weltfriede durch eine einzige Gewalt, die von einem Ort der Erde her alle bezwingt" mit Totalplanung und Terror, Zensur und Propaganda, mit einer erbarmungslosen Nivellierung und vielleicht gar Auslöschung des Menschseins. Obwohl Jaspers hier ein „vielleicht" stehen läßt, weil sich über Menschsein und Möglichkeiten der Freiheit keine absolut sicheren Prognosen stellen lassen, schätzt er diese Gefahr so hoch ein, daß er gegen sie die Bereitschaft zum Opfer des Lebens auch in einer Atomkriegskatastrophe für berechtigt hält. Das hat ihm vom Osten den Vorwurf der „Atomkriegsideologie“ eingebracht. Aber Jaspers meinte, gerade diese Bereitschaft könne den Weg der Vernunft öffnen zu einer Weltföderation. Unter dieser versteht er in Anlehnung an Kant „die Fortsetzung und das Allgemeinwerden innerpolitischer Freiheit" also Demokratie im Welt-ausmaß. Soll eine Hoffnung auf dieses hohe Ziel überhaupt eine Basis in der politischen Realität haben, dann ist die unbedingte gemeinsame Selbstbehauptung der demokratischen Staaten notwendig.

An diesem Punkt wird gut sichtbar, wie Jaspers aus der Konfrontation seiner geschichtsphilosophischen Gegenwartsdeutung mit der aktuellen politischen Situation unmittelbar politische Folgerungen zieht. Das Ringen um eine freiheitliche Weltordnung muß „ausgehen von dem Föderalismus der schon freien Staaten" Daher Jaspers'Eintreten für Adenauers Außenpolitik gegen pazifistischen Neutralismus, für europäische Einigung in Solidarität mit Amerika, für das bedingungslose Freilassen der Kolonialvölker und eine geduldige Weiterentwicklung der UN. Ebendaher auch seine Appelle zur Überwindung nationalstaatlichen Denkens und seine Warnung davor, das Ziel der Deutschlandpolitik in der Wiedervereinigung statt in der Freiheit der mitteldeutschen Bevölkerung zu sehen. Im Phänomen Nationalsozialismus und in seinem Zusammenbruch sieht Jaspers die Aufforderung an die Deutschen zu einer radikalen Umkehr in ihrem geschichtlich-politischen Denken. Aus nationalistischer Verengung sollen wir den Schritt tun zurück zur universalen Weite des abendländischen Ethos und damit vorwärts zur Gemeinschaft freier Völker der Zukunft. Das bedeutet auch im Inneren Verneinung aller Kontinuität mit dem Deutschen Reich seit Bismarck und radikalen Neubeginn in unbedingt demokratisch-rechtsstaatlichen Formen, Bestrafung aller im „Dritten Reich" kriminell schuldig Gewordenen und politische Haftung des ganzen Volkes für die Folgen des Nationalsozialismus und seines Krieges. Für die Weltgemeinschaft der Völker knüpfte Jaspers dabei gleichzeitig an die Bestrafung der Kriegsverbrecher die Hoffnung auf den Beginn einer überstaatlichen Rechtsordnung, zuletzt noch anläßlich des Eichmannprozesses. Hier erhebt sich freilich die Frage nach Qualität und Realitätsgehalt solcher Stellungnahmen. Aus geschichtsphilosophischer Besinnung gewonnen, sollen sie ja offensichtlich mehr darstellen als unverbindliche politische Mei-nungsäußerungen eines Philosophen, der sich nebenher auch für Politik interessiert. Womit haben wir es zu tun, mit Philosophie oder mit politischer Wissenschaft, mit ethischen Maximen oder mit politischen Rezepten?

V. Die Gefahr der Kurzschlüssigkeit im politischen Denken von Karl Jaspers

Diese Frage muß um so nachdrücklicher gestellt werden, als Jaspers die Entschiedenheit seiner politischen Stellungnahmen neuestens stellenweise bis zu maßloser Kritik gesteigert hat. Hierzu nur wenige Beispiele aus „Wohin treibt die Bundesrepublik?". Durch die Notstandsgesetzgebung werde die Diktatur vollendet; es gehe dabei ein „tiefer Riß durch die Denkungsart des deutschen Volkes". „In diesem Riß kann der Deutsche nur auf der einen Seite stehen, entweder auf der der politischen Freiheit oder auf der der unpolitischen Brutalität . . (S. 156). Kommunistische Gefahr ist heute „ein Phantom" (S. 158). Die Forderung nach Wiedervereinigung „spielt praktisch keine andere Rolle, als den Frieden mit den Oststaaten zu verhindern" (S. 178). Weltpolitisch wäre erforderlich „die Vernichtung der Herstellungsstätten der Atombomben in China" (S. 226). „Die SPD hat sich zu sehr angepaßt, so daß sie weniger an Freiheit denkt als an Ministersessel“ (S. 262). „Wer wie Wehner einmal umfällt, fällt ein zweites Mal um .. (S. 264). Die CDU/CSU „hat keinerlei wirksame Idee" (S. 273). Die Unternehmer begehren die Gesetze für den inneren Notstand, »um durch ihn die Arbeiter vollends in Abhängigkeit zu bringen . .." (S. 279).

In einer eindringlichen Erörterung des Verhältnisses von Glauben und Politik hat Jaspers einmal gesagt: „Der Glaube formiert nicht den Inhalt, sondern die Gesinnung der Politik."

Es kann hier nicht erörtert werden, ob die reinliche Scheidung von Inhalt und Gesinnung möglich ist — wir meinen nein —, aber es ist offenkundig, daß Jaspers’ politische Stellungnahmen auch inhaltlich von seinem philosophischen Glauben geprägt sind. Jaspers glaubt sich in einer Polarität zu bewegen; er möchte „die Liberalität gewinnen des Hörens auf alles und zugleich die Entschiedenheit des Kämpfens in konkreten Situationen" Tatsächlich jedoch wird die Liberalität des Hörens um so geringer, je entschiedener er kämpft. Das ist an sich nicht überraschend, weil es menschlich ist; man muß aber sehen, daß es in der Struktur Jaspersschen Philosophierens angelegt ist in einer Weise, die der Philosoph wahrscheinlich bestreiten würde.

Jaspers meint, in der Erhellung menschlicher Existenz in ihrer Geschichtlichkeit allgemein sein Denken in schwebender Offenheit gehalten zu haben, so sehr, daß er seiner Philosophie die Qualität eines formalen Grundwissens der Menschheit zuschreibt, in ihm „die natürliche und notwendige Konklusion des bisherigen abendländischen Denkens, die unbefangene Synthesis vermöge eines Prinzips" sieht, „das in seiner Weite aufzunehmen vermag alles, was in irgendeinem Sinne wahr ist" In Polarität zu dieser Weite meint er im eigenen existentiellen Geschichtlichwerden ganz konkrete Gehalte zu ergreifen in geschichtsphilosophisch begründeter Wahl. Aber philosophische Erhellung und geschichtsphilosophische Entscheidung, universaler Anspruch und existentielle Identifikation mit der Zeit stehen nicht im polarem Verhältnis zueinander, sondern im Verhältnis von Grund und Folge. Es ist offensichtlich so, daß die Existenzerhellung bereits eine Grundentscheidung für ganz bestimmte philosophische Gehalte einschließt und daß sich aus dieserGrundentscheidung die Aneignung der Geschichte und die Gegenwartserhellung konsequent ergeben. Die Strukturierung der Geschichte von der Achsenzeit her sieht Jaspers, weil er Geschichte am Maß seines Existenzbegriffs mißt, und was er Geschichtlichkeit nennt, ist keine Leerform, die jeder in eigener existentieller Entscheidung mit Inhalt beliebig füllen würde, sondern sie ist in sich Fülle. Sie enthält das, was Jaspers philosophischen Glauben nennt. Die geschichtsphilosophischen und politischen Ergebnisse sind vom Existenzverständnis her präjudiziert. Damit erhält sein Denkgebäude den Anschein des Gekünstelten. Die Möglichkeit der Polarität von Schwebe des Denkens und Entschiedenheit des Handelns wird von Jaspers selbst in Frage gestellt. Das zeigt sich auf Schritt und Tritt in den geschichtlich-politischen Werken.

Gemäß dem Grundprinzip seiner Philosophie müßte Jaspers eigentlich alle seine geschichtlich-politischen Urteile in der Schwebe des Nichtgewußten lassen; es müßte deutlich werden, daß sie den Charakter von Chiffern haben, in denen der Philosoph seine eigene, zwar entschiedene, aber doch nicht allgemeingültige Aneignung unserer geschichtlich bestimmten Gegenwart vollzieht. Eine Philosophie des Politischen kann nämlich nach Jaspers gar nicht allgemeingültig aussprechen, was zu geschehen habe. Sie kann nur in der je geschichtlichen Lage durch die Erhellung von Ideen an Existenz appellieren. Existentielle Aneignung der Geschichte, wie sie Jaspers versucht in der Situation des Zusammenbruchs von 1945 und wieder vor der neuartigen Bedrohung der ganzen Menschheit durch die Atombombe, bringt nicht neue Verstandeserkenntnis, sondern klärt das Gegenwartsbewußtsein für Existenz.

Die Artikulation dieses Gegenwartsbewußtseins erfolgt aber bei Jaspers dann doch wie das Aussprechen neuer Verstandeserkenntnis. Man kann keinen Unterschied finden zwischen Tatsachenschilderung und Chiffernsprache. Das hat man Jaspers schon vorgeworfen angesichts seiner recht unduldsamen Polemik gegen die „Göttinger Achtzehn" im Zusammenhang mit dem Streit um die Atombewaffnung Dort wird das Dilemma in der Tat bereits deutlich: Jaspers knüpft das überleben der Menschheit angesichts der doppelten Gefahr des Atom-todes und des Totalitarismus an eine sittliche Umkehr, die in der Wiederaneignung des abendländischen Ethos zu bestehen hätte. Der Gedanke hat als Appell an Existenz sein Recht, nur zieht Jaspers daraus direkte politische Folgerungen und neigt dazu, dem, der zu andern Ergebnissen kommt, den Willen zu dieser Umkehr abzusprechen. So wirft er in eben diesem Werk über die Atombombe den Kirchen fälschlicherweise vor, sie bejahten „widervernünftig" die „ungehemmte Vermehrung" der Menschen, wogegen er den doch zumindest recht eigenartig zu nennenden Vorschlag macht, die Geburteneinschränkung durch zwischenstaatliche Verträge zu garantieren. Die Frage, wie die Kontrolle darüber funktionieren soll, wird gar nicht gestellt

Wird diese Gefahr des Absolutsetzens der eigenen geschichtlichen Entschiedenheit in dem Werk über die Atombombe nur erst sichtbar, weil beispielsweise der Bedingungszusammenhang von existentieller und politischer Freiheit doch noch in der Schwebe des Nichtgewußten bleibt so findet man in dem neuesten Buch über die Bundesrepublik statt schwebenden Philosophierens fast nur noch apodiktisches Behaupten. So wird dort zum Beispiel in dem einleitenden Teil über die Debatte zur Verjährung von NS-Verbrechen sicherlich manches treffend analysiert und entlarvt, aber die Gedankenführung im ganzen hängt an fraglos Vorausgesetzen Prämissen, über die man diskutieren müßte, ehe man zu Verurteilungen kommt. Ist der Gedanke wirklich zwingend, daß nur eine nicht durch Verjährung endende strenge Verfolgung der Verbrechen den Willen der Deutschen zum Umdenken und Neubeginn erweist? Und darf ich also dem diesen Willen absprechen, der im Rahmen gegebener juristischer und politischer Möglichkeiten nach einem Kompromiß strebt oder aus Rechtsgründen eine Verlängerung der Verjährungsfrist überhaupt ablehnt? Müßte Jaspers nicht, wenn er so hart urteilt, auch in eine rechtswissenschaftliche Erörterung seiner Unterscheidung von Verbrechen gegen die Menschheit und solchen gegen die Menschlichkeit eintreten?

Diese Frage führt uns zu einem weiteren ganz gewichtigen Einwand gegen Jaspers'Argumentationsweise. Es fehlt in seinen politischen Werken die einzelwissenschaftliche Analyse der erörterten Gegenstände. Aus geschichtsphilosophischer Besinnung folgt unmittelbar die politische Stellungnahme mit der Gefahr des Kurzschlusses, womit Jaspers gegen seine eigene Forderung verstößt, alles Wißbare zur Analyse einer Situation heranzuziehen So gehen zum Beispiel in seiner Kennzeichnung des Totalitarismus Ansätze zu rationaler Analyse immer wieder ununterscheidbar in geschichtsphilosophische Deutung über. Wohl sieht er, daß Prinzipien sich nie rein verwirklichen, daß die Russen nicht identisch sind mit dem Totalitarismus und jeder Mensch ansprechbar bleibt; aber die politische Stellungnahme erfolgt doch eher aus der geschichtsphilosophischen Deutung des Totalitären als einer das Menschsein schlechthin bedrohenden Gefahr. Um so überraschter liest man dann in dem neuen Buch, kommunistische Gefahr sei heute ein Phantom. Hier fehlt in beiden Fällen einfach die nüchterne Analyse.

In Entsprechung hierzu entspringen Jaspers’ bekannte Stellungnahmen zur deutschen Frage seiner Vorstellung von Umkehr und radikalem Neubeginn, wobei aber eine ganze Reihe historischer, rechtlicher, politischer Fragen überhaupt nicht gestellt werden. Es ist einfach nicht wahr, daß die offizielle deutsche Politik gegenüber dem Osten „Wiederherstellung eines Vergangenen" verlangt, also die Kriegsfolgen nicht anerkenne und den Frieden bedrohe Die deutsche Spaltung ist nicht unmittelbare Kriegsfolge, sondern Ergebnis fortgesetzter Gewaltakte gegen einen Teil des deutschen Volkes, gerade unter Verweigerung einer friedensvertraglichen Regelung. Die von Jaspers geforderte „rückhaltlose Anerkennung der Kriegsfolgen" in östlicher Propaganda „Anerkennung der Realitäten" genannt, könnte uns geradezu rettungslos der Willkür kommunistischer Machthaber ausliefern, wohingegen es in der deutschen Frage doch um die Herstellung einer neuen Rechtsbasis geht. Daß wir dabei als Urheber und Verlierer eines Weltkrieges schwere Opfer zu bringen hätten, ist einem jeden Einsichtigen bewußt, auch wenn das in der Sprache des politischen Alltags oft verschleiert wird. Gegen solche Verschleierung bedarf es gewiß der moralischen Besinnung, aber die Opfer von uns zu fordern ohne rechtliche Sicherung einer neuen Ordnung, das ist einfach nicht überzeugend. Man mag durchaus für so radikale politische Lösungen streiten, wie sie Jaspers vorschlägt, aber das muß dann mit den Argumenten des politischen Sachverstandes geschehen. Dazu genügt nicht der Hinweis auf den verlorenen Krieg und die Gefährdung des Weltfriedens, sonst wird Politik durch Erpressung ersetzt, und Jaspers muß sich dann darauf hinweisen lassen, daß seine radikale Trennung der Freiheitsforderung von der Selbstbestimmung der Nation die Freiheit selbst gefährdet Es gibt keine unpolitische Verwirklichung oder Verteidigung politischer Freiheit.

Die Beispiele für kurzschlüssiges Argumentieren ließen sich nach Jaspers’ neuester Polemik gegen die Politik der Bundesrepublik häufen, wobei bedauerlicherweise gesagt werden muß, daß seine Argumentation teils böswillige, teils ärgerliche Formen annimmt; böswillige zum Beispiel in der Frage der Notstandsgesetze, wo Jaspers keinerlei Gegenargumente anerkennt, auch nicht anerkennen kann, weil in seinen Augen die Bonner Politiker eben nicht den rechten, das heißt seinen philosophisch-politischen Glauben haben; ärgerliche Formen, wo der Mangel an rational-wissenschaftlicher Analyse sich bis zu geradezu primitiven sachlichen Fehlern steigert: Der Bundesrat kann nicht allein Gesetze beschließen (S. 151), ein „Bundesgericht" gibt es nicht (ebd.); sämtliche Entwürfe zur Notstandsverfassung sprachen bisher immer nur von „Einschränkung" der Grundrechte, nicht von „Aufhebung" (S. 159). Das Grundgesetz wurde nicht durch „das Parlament" bestätigt, sondern durch die Landtage der Bundesländer (S. 176). Was soll der Satz heißen, die 5 %-Klausel „stand nicht im ersten Grundgesetz" (S. 134)? Unser Wahlrecht steht überhaupt nicht im Grundgesetz. Wie reimt Jaspers seine Polemik gegen eine große Koalition zusammen mit der Forderung, der Kanzler solle auch Männer aus der Oppositionspartei zu Ministern ernennen (S. 194)? Kennt er die Spielregeln parlamentarischer Demokratie nicht? Woher weiß Jaspers, daß demokratische Parteien bei uns anders aufgebaut sind, als er es für Basel schildert (S. 200)? Auch vor der großen Koalition war die SPD nicht in „Ohnmacht" und „dauernd unterlegen" (S. 263); Jaspers ignoriert unser föderalistisches System. Ist schließlich eine Behauptung wie die, Adenauer habe den Staat politischer Freiheit, den wir haben könnten, verhindert (S. 150), nicht erschreckend obrigkeitsstaatlich gedacht?

All dies soll nicht heißen, daß Jaspers nicht auch in diesem Buch sehr Treffendes und Beherzigenswertes sagt. Aber der Jammer ist ja gerade, daß ihn sein weitgehend unpolitisches Moralisieren um Kredit und Resonanz bringt, zumal er sich damit in Widerspruch zu sich selbst begibt. „Die Denkungsart ist die des Prüfens in der Bewegung von Gründen und Gegengründen", sagt er zur politischen Erziehung (S. 206). Wo findet man bei ihm diese Bewegung? Die Argumentation verläuft geradlinig von Glaubensbekenntnissen zu moralisch untermauerten politischen Forderungen, Behauptungen, Urteilen. Hat Jaspers nicht seine eigene Haltung, wie sie sich in diesem letzten Werk ausprägt, treffend umschrieben, wenn er sagt: ..... ihrer selbst nur als eines Guten bewußte, im Doktrinären und im Beurteilen sich ergehende Unredlichkeit ist die Haltung aller Moralisten" (S. 275)? Das ist gewiß angesichts der großen Leistung dieses ehrwürdigen Philosophen eine harte Frage. Aber um der Klarheit politischen Denkens willen muß sie gestellt werden, denn einige Seiten zuvor heißt es: „Eine tiefere Umkehr wäre notwendig. Am Anfang stünde der neue überzeugende Glaube, dann erst folgte die Kalkulation unter Bedingungen dieses Glaubens" (S. 271). Unsere Politiker haben also nicht den rechten Glauben!

Jaspers weiß nach dem Zeugnis seiner philosophischen Hauptwerke, daß das sittliche Wollen in der Politik immer nur in Brechungen sichtbar werden kann, weil Politik Entscheiden und Gestalten in den konkreten Umständen bedeutet und also vom Sittlichen allein her nicht determinierbar, das heißt aber auch nicht von dort allein zu beurteilen ist. Er selbst geht sogar weiter, indem er von der unausweichlichen Unwahrheit im Politischen spricht so daß sich die von ihm heute angegriffenen Politiker gegen seine Kritik auf seine Philosophie berufen könnten. Das soll hier gar nicht mehr weiter vertieft werden; nur soviel sei gesagt, daß Jaspers nach seinen eigenen Aussagen verpflichtet wäre, im Politischen zunächst einmal politisch zu argumentieren, statt mit moralischen Urteilen jede Diskussion abzuschneiden. Oder aber er müßte deutlich machen, daß seine Aussagen zur Politik Chiffern eines weltlichen Propheten sind, der sich im Medium der Geschichtsphilosophie bewegt. Solche Chiffern wären in je eigener existentieller Aneignung oder Verwerfung zu dechiffrieren, nicht aber als gängige Münze im politischen Tageskampf zu verwenden.

Was die zweite unserer beiden Ausgangs-fragen betrifft, nämlich die Tragfähigkeit der Jaspersschen Existenzphilosophie als Grundlage politischer Wissenschaft, so wurde sichtbar, daß Jaspers von seinen Prämissen aus zu Folgerungen gelangt, die eben diesen Prämissen widersprechen. Also steckt in diesen Prämissen mehr, als er selbst annimmt. Es geht in ihnen gar nicht nur um schwebendes Denken, das alle fixierende Welterkenntnis übersteigt, um an Freiheit zu appellieren. Dieses Denken schafft nicht einfach nur Raum für ein unbedingtes Tun. Es präjudiziert die Welterkenntnis, es stellt Forderungen an das Tun. Existenzphilosophie ist nicht, jedenfalls nicht in Reinheit, „das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken" Sie erweist sich bei Jaspers auch als ein Denken, das in der Gefahr ist, Sachkunde aus doktrinärer Befangenheit zu mißachten. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß in ihr die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Philosophie und nach ihrem Verhältnis zu den Einzelwissenschaften nicht hinlänglich geklärt ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bei P. A. Schilp, Karl Jaspers, Stuttgart 1957, S. 56.

  2. Vgl. Chr. Graf v. Krockow, Die Entscheidung, Stuttgart 1958, S. 118; weitere Nachweise in meiner Dissertation: Der Zusammenhang von Geschichtsphilosophie und Politik bei Karl Jaspers, Mainz 1965, S. 169.

  3. Jaspers, Philosophie, Bd. I, 3. A. 1956, S. 155.

  4. Ebenda S. 135.

  5. Jaspers, Max Weber, 2. A. 1948, S. 54 und 64.

  6. Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1951, S. 19 f.

  7. Jaspers, Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, München 1950, S. 49 f.

  8. Philosophie, Bd. II, 3. A. 1956, S. 209.

  9. Vgl. Ulrich Hommes, Die Existenzerhellung und das Recht, Frankfurt/Main 1962, hier bes. S. 92 ff.

  10. Vgl. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958, S. 75 ff.; Von der Wahrheit, München 1947, S. 716.

  11. Philosophie II, S. 102.

  12. Philos. Glaube, S. 31.

  13. Ebenda, S. 33.

  14. Jaspers, Einführung in die Philosophie, Mündien 1955, S. 94.

  15. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 333.

  16. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, S. 147; vgl. Ursprung und Ziel, S. 42: bei der Auffassung der Achsenzeit handelt es sich „darum, wie uns die Einheit der Menschheit konkret wird".

  17. Jaspers, Plato — Augustin — Kant, München '957, S. 352.

  18. Atombombe und Zukunft, S. 486.

  19. Ebenda, S. 425.

  20. Ursprung und Ziel, S. 246.

  21. Ebenda, S. 248.

  22. Ebenda, S. 254.

  23. Ursprung und Ziel, S. 208.

  24. Glaube und Offenbarung, S. 442.

  25. Von der Wahrheit, S. 192.

  26. Vgl. Richard Schaeffler, Philosophische Über-lieferung und politische Gegenwart in der Sicht von Karl Jaspers, Philos. Rundschau 1959, S. 81 ff und 260 ff., hier S. 280 ff.

  27. Atombombe und Zukunft, S. 239 ff.

  28. Daran halte ich gegen Schaefflers Jaspers-Kritik fest; vgl. meine Dissertation S. 189 ff. und S. 211

  29. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 5. A. 1932, S. 160 f.

  30. So Bundesrepublik, S. 234.

  31. Ebenda, S. 239.

  32. So schon Hans Herzfeld, Deutsche Universitätszeitung 16/1961 Heft 1 zu Jaspers’ Schrift: Freiheit und Wiedervereinigung, München 1960.

  33. Vgl. etwa Philosophie II, S. 102 ff.

  34. Situation der Zeit, S. 161.

Weitere Inhalte

Bernhard Sutor, Dr. phil., Oberstudienrat am Ketteler-Kolleg in Mainz und Fachleiter für Politische Gemeinschaftskunde am Staatlichen Studienseminar in Mainz, geb. 1930. Veröffentlichungen: über das Verhältnis von Kirche und katholischer Staatslehre zur Demokratie, in: Die neue Ordnung, 1965; Politik und Philosophie, Mainz 1966; mehrere Aufsätze über didaktische und methodische Fragen des Geschichts-und Sozialkundeunterrichts in wissenschaftlichen Zeitschriften.