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Die Große Koalition. Verfassungspolitische Aufgaben und Probleme | APuZ 18-19/1967 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 18-19/1967 Die Große Koalition. Verfassungspolitische Aufgaben und Probleme Artikel 1

Die Große Koalition. Verfassungspolitische Aufgaben und Probleme

Werner Kaltefleiter

Die Entstehung der Großen Koalition

In einer redaktionellen Anmerkung zu der in dei Ausgabe B 30/65 erschienenen Arbeit von Heinz Laufer „Das demokratische Regime in der Bundesrepublik" wurde für eine spätere Ausgabe ein Beitrag von Werner Kaltefleiter angekündigt. Zum vorgesehenen Erscheinungstermin war dieser Aufsatz durch den raschen Wechsel der politischen Konstellation in der Bundesrepublik überholt, so daß er nicht mehr veröffentlicht werden konnte. Die jetzt vorgelegte neue Arbeit analysiert die Situation nach der Bildung der Großen Koalition und äußert sich dezidiert zu den verfassungspolitischen Aufgaben dieser Koalition für die Zukunft. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Arbeit als Diskussionsbeitrag zu werten ist, der weder in der Grundtendenz noch in den Einzelheiten die Auffassung des Herausgebers — sofern es eine solche zu diesen Problemen überhaupt geben kann — darstellt. Die Diskussion soll fortgeführt werden, und die Redaktion ist bereit, jeden qualifizierten Beitrag dazu zu veröffentlichen.

Der Herbst 1966 brachte der Bundesrepublik, die erste schwere Regierungskrise seit 1949. Sie war von drei Ereignissen begleitet, die die Verfassungswirklichkeit der nächsten Jahre, ja der ganzen weiteren Entwicklung der Bundesrepublik nachhaltig zu beeinflussen vermögen: die demonstrierte Unwirksamkeit bislang viel gepriesener Verfassungsregeln, die Gefahr einer Radikalisierung des Parteiensystems und die Möglichkeit einer Verfassungsreform.

Auf dem Höhepunkt der Krise wurde zunächst eine Verfassungswandlung sichtbar: Sie betraf das konstruktive Mißtrauensvotum, eine jener Einrichtungen, von denen der Parlamentarische Rat und seitdem zahlreiche Kommentatoren des Grundgesetzes geglaubt hatten, sie würden zu einer parlamentarischen Stabilisierung beitragen Aber als auf Antrag von SPD und FDP der Deutsche Bundestag mit knapper Mehrheit Bundeskanzler Erhard aufforderte, die Vertrauensfrage zu stellen, kam das in der Wirkung einem im Grundgesetz nicht vorgesehenen Mißtrauensvotum gleich. Es wurde demonstriert, daß die Regierung Erhard über keine Mehrheit im Parlament verfügte. Indem SPD und FDP aber nicht den Weg eines konstruktiven Mißtrauensvotums wählten, also zum Beispiel beantragten, Willi Brandt zum Bundeskanzler zu wählen, wurde zugleich deutlich, daß sie nicht in der Lage waren, gemeinsam eine neue Regierung zu bilden. Was immer die Motive und Erwägungen beider Parteien waren die Wirkungen waren das Wesentliche: die Regierung Erhard verfügte über keine Mehrheit und die Opposition konnte sich nicht auf eine Mehrheit einigen. Es bestand also genau jene Situation, die zu verhindern das konstruktive Mißtrauensvotum geschaffen war. Der Unterschied zu Ländern ohne eine solche Verfassungsregel bestand allein darin, daß dort eine formell gestürzte Regierung „die Geschäfte weiterführt", während in der Bundesrepublik ein Minderheitskabinett weiter „amtierte" — eine subtile

Die aktuelle Regierungskrise wurde durch die Bildung einer Regierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD überwunden. Die Motive und Interessen der verschiedenen Gruppierungen, die zu dieser Entscheidung führten, waren vielfältig. Offiziell wurde stets betont, daß die Bundesrepublik auf den verschiedensten Gebieten derart schweren Aufgaben gegenüber stehe, daß dazu eine „breite" Mehrheit notwendig sei, auch wenn für die einzelnen Maßnahmen nicht immer formell eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre

Genannt wurden u. a. neben Entscheidungen in der Deutschland-und Ostpolitik und in der Frage einer Finanzreform auch eine derartige Veränderung des Wahlrechtes, daß in Zukunft eine absolute parlamentarische Mehrheit für eine Fraktion im Normalfall gesichert sei, was einerseits eine automatische Beendigung der Großen Koalition herbeiführen und andererseits die Wiederholung von Regierungskrisen verhindern solle. Zwar waren die Meinungsverschiedenheiten über den konkreten Inhalt der Reformbestrebungen ebensowenig zu übersehen wie der Widerstand in den beiden Fraktionen, aber die Absichtserklärung wurde Bestandteil der Regierungserklärung Eine solche Reform würde die politischen Wettbewerbsbedingungen in der Bundesrepublik entscheidend verändern, und zwar mit weitgehenden Folgen nicht nur für die kleinen, sondern auch für die Struktur der großen Parteien die global von einer solchen Änderung zu profitieren scheinen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß die schwerwiegendsten Widerstände aus den Reihen der großen Parteien selbst kommen Die Berechtigung dieser Überlegungen ist noch zu diskutieren. Im Gegensatz zu allen anderen Maßnahmen, die die Regierung anstrebt oder auch verabschiedet, würde eine Reform des Wahlrechts das Existenzinteresse einer Reihe von Abgeordneten und verschiedener innerparteilicher Gruppierungen betreffen. Damit erscheint es berechtigt, in der Behandlung dieser Frage einen Testfall dafür zu sehen, was die tatsächlichen Motive für die Große Koalition waren: Reformwille, Interesse an permanenter Regierungsbeteiligung, innerparteiliche Führungsschwierigkeiten oder was sonst auch immer genannt werden mag.

Etwa vier Wochen nach der Regierungserklärung betonte Konrad Adenauer zunächst, daß ein Zweiparteiensystem englischen Musters — die logische Konsequenz einer Wahlrechts-reform — für die Bundesrepublik nicht vorteilhaft sei Es sei dahin gestellt, welches Gewicht der Meinung Konrad Adenauers für die politische Willensbildung noch zukam; seine Bemerkung zeigt jedoch deutlich, daß für die Regierungsbildung im Herbst 1966 auch andere Motive als die einer Generalreform maßgeblich waren. Die Verwirrung wurde noch größer, als Ludwig Erhard, der u. a. mit diesem Argument, daß Reformen notwendig seien, gestürzt worden war, sich — in vollem Einklang mit seiner verfassungspolitischen Konzeption — für eine Wahlrechtsänderung einsetzte

Gründe für die Bildung der Großen Koalition

Systematisch bedeutet die Regierung der Großen Koalition eine Ausnahmesituation im parlamentarischen Regierungssystem. Darauf haben auch die führenden Politiker beider Parteien immer wieder hingewiesen, wenn sie von einer „Koalition auf Zeit" sprachen (wenngleich die Tatsache, daß die Koalition zunächst bis 1973 dauern soll, wenn erst zu diesem Termin die Wahlrechtsreform — wie vorgesehen — wirksam wird, Zweifel an dieser Absicht aufkommen läßt). Das Kennzeichen arbeitsfähiger parlamentarischer Regierungsweise ist das Gegenüber von Regierung und Opposition, wobei die Opposition stets so stark ist, daß sie gute Chancen besitzt, in den nächsten Wahlen selbst die Mehrheit zu gewinnen. Auf diese Weise wird zugleich die Regierung wirksam kontrolliert, weil sie die Chancen des Machtwechsels fürchten muß; sie wird deshalb versuchen, auf Anregungen der Opposition einzugehen und vermeiden, durch Kritik auslösende Politik die Unterstützung eines Teiles ihrer Wählerschaft zu verlieren. In dieser Möglichkeit des Machtwechsels ist auch das Nachfolgeproblem in der Politik institutionell gelöst: Wenn es einer Führungsgruppe nicht mehr möglich ist, überzeugende Antworten auf anstehende Fragen zu finden, verliert sie die Wahlen und die andere Führungsgruppe erhält die Chance, ihrerseits die Lösung der Aufgaben zu versuchen.

Von diesem Normalfall des alternierenden Regierungssystems ist man auch in England in den letzten hundert Jahren, also in jener Zeit, seitdem die parlamentarische Regierungsweise durch die Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts effizient geworden ist, dreimal abgegangen: die Kriegskabinette Asquith und Lloyd George im Ersten Weltkrieg, das National Government unter MacDonald während der Weltwirtschaftskrise und das Kriegskabinett Churchill im Zweiten Weltkrieg. Schon diese Beispiele zeigen, daß der Anlaß für die Bildung einer Großen Koalition in England jedesmal eine besondere Krisensitation war: Krieg oder Weltwirtschaftskrise, also eine Ausnahmesituation. Bestand eine solche Ausnahmesituation auch in der Bundesrepublik?

So wesentlich und schwerwiegend die anstehenden Probleme im einzelnen auch sein mögen, sie sind mit den englischen Krisenfällen, die ein National Government begründet haben, kaum vergleichbar. Auch der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für die Durchführung einzelner Maßnahmen reicht nicht zur Begründung der Großen Koalition aus. Es versteht sich eigentlich von selbst, daß in den meisten Fällen die Zustimmung der SPD-Opposition zu gewinnen gewesen wäre, ja teilweise schon erreicht oder erreichbar war, um einzelne Gesetze dieser Art verabschieden zu können. Das gilt für die Notstandsgesetzgebung wie für die Stabilisierungsgesetze, und auf dem Gebiet einer Neuorientierung der Deutschland-und Ostpolitik war diese Zustimmung latent vorhanden, jedenfalls — wie gerade Ludwig Erhard betont hat — lagen die eigentlichen Schwierigkeiten in der Union selbst begründet. Mit anderen Worten: Was 1956, als das Verhältnis von Regierung und Opposition in vielen Fällen einem Freund-Feind-Verhältnis glich, bei der Wehr-gesetzgebung möglich war, bot sich 1966 bei der weitgehenden Angleichung der Auffassung von CDU/CSU und SPD nahezu an Eine Ausnahme von dieser Möglichkeit, auf der Grundlage der durch die Bundestagswahl von 1965 zustande gekommenen Bundesregierung Reformen mit Tolerierung der SPD anzufassen, bildete allein die Wahlrechtsreform. Da diese Frage das Existenzinteresse des kleinen Koalititonspartners tangierte, konnte sie* entweder nur von einer von der SPD tolerierten Minderheitsregierung oder von der Großen Koalition in Angriff genommen werden. Auch unter diesem Aspekt kommt der Wahlrechtsfrage somit eine Schlüsselstellung zu.

Wenn die deutsche Große Koalition nicht aus der Problematik einzelner außen-und innenpolitischer Fragen begründet werden kann, die denen vergleichbar sind, die zu den entsprechenden englischen Regierungen führte, bleiben zwei weitere Erklärungsmöglichkeiten: Die Große Koalition Dauererscheinung als des oder als Folge einer Krise politischen Systems der Bundesrepublik.

Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD kann dem österreichischen Beispiel folgen, das bis zum Frühjahr 1966, als die OVP quasi zufällig die absolute Mehrheit gewann von einer Großen Koalition regiert wurde. Die theoretische Begründung für diese Regierung lieferte Otto Kirchheimer : Da die großen Parteien heute nicht mehr politische Repräsentanten einzelner sozialer Gruppen seien, sondern vielmehr die verschiedenen sozialen Gruppen in sich vereinigten und damit ideologisch zu „Allerweltsparteien" geworden seien, sei das Gegenspiel von Regierung und Opposition obsolet geworden.

Demokratische Alternativen zu einer bestehenden Regierung gebe es ohnehin nicht, Opposition sei ein Monopol radikaler Parteien geworden und bei einem Regierungswechsel blieben ohnehin die gleichen sozialen Gruppen, die ja in beiden Parteien vertreten seien, an der Macht. Deshalb, so folgerte Kirchheimer, sei es zweckmäßiger und einer modernen Industriegesellschaft allein adäquat, eine große Koalition zu bilden, wobei jede soziale Gruppe in der Regierung die andere kontrolliert. Kirchheimer nennt das „Bereichsopposition". Die wesentliche Aufgabe jeder Regierung, das Sozialprodukt aufzuteilen, werde so durch Verhandlungen der sozialen Gruppen untereinander gelöst.

Der theoretische Einwand gegen Kirchheimer, daß er die Integrationsfunktion der Parteien und die Entscheidungsfunktion von Regierung, Parlament und schließlich Wählerschaft übersieht, wurde durch die österreichische Praxis bestätigt: Die Große Koalition erwies sich in zunehmendem Umfang als entscheidungsunfähig die Bereichsopposition als Instrument zur Blockierung von Entscheidungen. Da beide Parteien in allen Fragen verwickelt waren, verzichtete man auf öffentliche Auseinandersetzungen und Kritik, so daß, vielleicht ein wenig überspitzt, von der Institutionalisierung der Korruption gesprochen wurde.

Das Problem der fehlenden Opposition

Eine solche Große Koalition wird, wie erwähnt, nach den offiziellen Verlautbarungen in der Bundesrepublik nicht angestrebt. Es kann aber nicht übersehen werden, daß es starke Kräfte — und seien es auch nur Beharrungskräfte — gibt, die zu einer solchen „Lösung" tendieren. Das nur Ambitiöse gibt es immer in der Politik und hat gerade beim Sturz der Regierung Erhard auch eine Rolle gespielt. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, in welchem Umfang die CDU/CSU auf Grund ihrer vielfältigen Verflechtungen mit dem Regierungsamt auf eine permanente Regierungsbeteiligung angewiesen zu sein glaubt, in welchem Umfang die SPD jahrelang eine solche Besetzung von Machtpositionen angestrebt hat und schließlich, daß auf einer Reihe von Gebieten schon seit langem ein Zusammengehen der beiden großen Parteien zu beobachten war. Für eine solche Interpretation sprechen auch verschiedene Äußerungen insbesondere von SPD-Politikern, die darauf hinweisen, die Große Koalition diene letztlich der Liquidierung des Zweiten Weltkrieges und — auch auf diese Auffassung stößt man gelegentlich — zur Erfüllung dieser Aufgabe sei es zweitrangig, wie lange an der Koalition festgehalten werde. Parteiorganisationen und Unternehmungen zeigen gleichermaßen die Tendenz zur Kartellierung, um dem „mühsamen" Wettbewerb zu entgehen. Aber das politische wie das wirtschaftliche Kartell beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit auf Kosten von Wählern und Konsumenten.

Jede Große Koalition, besonders aber ein so langfristiges politisches Kartell kennt eine zweite Gefahr: Die wesentliche Aufgabe der Opposition ist ihre Auffangfunktion, das heißt, Sammelbecken für die mit der Regierung unzufriedene Wählerschaft zu sein. In der Bundesrepublik wird diese Funktion zur Zeit nicht ausgeübt: Die FDP als parlamentarische Opposition ist ihrer Struktur nach, vor allem aber in der Einschätzung der Wählerschaft, eine Minderheitspartei Die Distanz zwischen ihr und den Anhängern von SPD und CDU/CSU ist besonders seit 1961 recht groß geworden. So erscheint es fraglich, ob Unzufriedenheit mit der CDU/CSU-SPD-Regierung zu nennenswerten Stimmengewinnen der FDP führt. Das aber bedeutet, daß andere Parteien ein Quasi-Monopol an Opposition erhalten — nach der bisherigen Entwicklung insbesondere die NPD.

Dieser Zusammenhang zeigte sich schon vor der formellen Bildung der Großen Koalition bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern Bereits unmittelbar nach der Bundestagswahl 1965 konnte festgestellt werden, daß es für eine Partei wie die NPD in der Bundesrepublik ein Wählerreservoir von ca. acht Prozent gibt und daß darüber hinaus Gruppen von einer Stärke von etwa zehn Prozent unter bestimmten Bedingungen ebenfalls als potentielle NPD-Wähler betrachtet werden müssen. Diese erste Gruppe konnte in den Landtagswahlen in Hessen und Bayern und teilweise auch noch bei denen in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz mobilisiert werden, nachdem die entsprechenden Bedingungen erfüllt waren, nämlich:

a) wirtschaftlicher Pessimismus, b) Demonstration der bedingten Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und c) mangelnde Alternativen zur Bundesregierung.

Zum Jahreswechsel 1965/66 wurde die wirtschaftliche Situation erstmalig, seitdem das „Wirtschaftswunder" in das Bewußtsein der Wählerschaft gedrungen war, von der Mehrheit der Bevölkerung negativ beurteilt, und diese negative Beurteilung ist wesentlicher als die tatsächliche wirtschaftliche Situation Hinzu kam, daß sich auch nach der Bundestagswahl vom Herbst 1965 die Koalitions-und Führungskrisen in Bonn fortsetzten. Die Folge war, daß Bundeskanzler Erhard zunehmend Vertrauen in der Wählerschaft verlor: Während noch zur Bundestagswahl 1965 etwa jeder zweite Wähler Erhard als Kanzler befürwortete, war es ein Jahr später nur noch jeder dritte. Diese Entwicklung, die wirtschaftliche und politische Krise und der Vertrauensverlust der Regierung, hat die oppositionelle Wählerbewegung ausgelöst, aber sie wurde von der SPD-Opposition nicht aufgefangen, weil es der SPD nicht gelungen war, eine Alternative zur Regierung Erhard zu entwikkeln. Trotz seines Vertrauensverlustes besaß Erhard von allen potentiellen Kanzlerkandidaten noch immer die größte Zustimmung. Der Versuch der SPD, „von dem Begriff des Kanzlerkandidaten herunterzukommen" war gescheitert. Während die SPD in Bayern und Hessen stagnierte, erzielte die NPD ihre Erfolge.

Die NPD-Wähler sind Gegenstand vielfältiger soziologischer Untersuchungen Politisch-systematisch sind sie potentielle Wechselwähler: sie sind nicht gruppensoziologisch an eine Partei gebunden, sondern stellen vielmehr den — von den Parteiführern so wenig geschätzten, für die Mehrheitsbildung aber nun einmal notwendigen — „Flugsand“ der Wählerschaft dar. Bei einem alternierenden Regierungssystem bedeutet die Existenz derartiger Wählergruppen die Chance des Machtwechsels. Ohne sie kann Demokratie als ein System wechselnder Parteiregierungen nicht funktionieren Wenn jedoch die Be-dingungen eines alternierenden Regierungssystems nicht erfüllt sind, insbesondere wenn das Wechselspiel von Regierung und Opposition gestört ist, stellen diese Gruppen auch das Reservoir für Parteisplitterung und Radikalisierung dar. Unter den extrem ungünstigen Bedingungen am Ende der Weimarer Republik überließ die „Koalition aller Vernünftigen" den Radikalen das Monopol der Opposition, und die NSDAP absorbierte all die Wähler, die gruppensoziologisch und ideologisch nicht zu dem Stamm einer der anderen Parteien gehörte, zugleich die relative Konstanz von Zentrum und SPD, den Prototypen einer Weltanschauungspartei, erklärt. Die Situation der Bundesrepublik im Winter 1966/67 war zweifellos nur in den Ansätzen mit der am Ende der Weimarer Republik zu vergleichen, aber in der Tendenz zeigen sich doch deutlich Parallelen, wenn auch die Opposition, die von der Konjunkturabschwächung ausgelöst werden mag, nur ein Bruchteil von dem ist, was die Weltwirtschaftskrise bewirkte. Für die Arbeitsfähigkeit des deutschen Parteiensystems ist aber schon die Etablierung einer rechtsextremen Partei problematisch genug — von den außenpolitischen Reaktionen einmal ganz abgesehen 20a).

Die Wahrscheinlichkeit weiterer politischer Erfolge der NPD hängt nun — eine unveränderte Politik der Partei und kein Verbot vorausgesetzt — vor allem von zwei Faktoren ab:

1. Gelingt es der neuen Regierung, Vertrauen und Zustimmung zu finden, so werden die oppositionellen Reaktionen, die Grundlagen* des NPD-Erfolges sind, beschränkt. Das ist aber nur kurzfristig möglich. Langfristig wird jede Regierung in Situationen kommen, wo ihre Politik oppositionelles Wählerverhalten auslöst: Die Wahrscheinlichkeit, daß die NPD von der fehlenden Auffangfunktion der Opposition profitiert, steigt mit der Dauer der Großen Koalition.

2. Voraussetzung für jede Parteizersplitterung und Radikalisierung ist das gegenwärtige Wahlrecht, bei dem Gruppen mit einer Stärke von etwa fünf Prozent parlamentarisch vertreten sind. Zwar wurde die Fünf-Prozent-Klausel lange Zeit für einen wirksamen Schutz gegen Parteizersplitterung gehalten, aber gerade die Wahlen in Hessen und Bayern haben gezeigt, daß diese Klausel nicht mehr als ein politischer Gartenzaun ist, der leicht zu überspringen ist, wenn — um im Bilde zu bleiben — Krisenbewußtsein und Vertrauensverlust der Regierung das Sprungbrett liefern.

In welchem Umfang die Bundesregierung Erfolg haben und Vertrauen finden wird, kann nicht vorausgesagt werden. Sie scheint aber auch einem Strukturproblem ausgesetzt zu sein, das für alle Koalitionsformen kennzeichnend ist: Hat sie Erfolg, so wird dieser Erfolg entsprechend der zentralen Stellung des Kanzleramtes im deutschen Regierungssystem in erster Linie Kurt-Georg Kiesinger zugerechnet werden. Dafür spricht, daß die erste Phase der neuen Regierung nicht nur von einem steigenden Bekanntheitsgrad Kiesingers, sondern auch von steigender Zustimmung für seine Kanzlerschaft begleitet war. Dementsprechend ist seine innerparteiliche Stellung ständig stärker geworden, was sich am deutlichsten an der Diskussion um die Nachfolge Erhards im Parteivorsitz der CDU zeigte: Die anfängliche „Überzeugung", Regierungsamt und Parteivorsitz müßten gerade in der Großen Koalition getrennt sein, war bereits im März 1967 der „Selbstverständlichkeit" gewichen, daß Kiesinger neuer Vorsitzender werden würde. Setzt sich diese Entwicklung fort, so ergäbe sich 1969 eine Situation, die teilweise der von 1965 entspräche:

Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU würde weit mehr Zustimmung in der Wählerschaft finden als der der SPD.

Ein aus dieser Konstellation erwachsender erneuter Wahlsieg der CDU/CSU könnte eine Reihe schwerwiegender Folgen für die SPD, ihre Struktur, ihre Politik und ihr Selbstverständnis mit sich bringen, waren doch gewisse Frustrationserscheinungen schon nach der Wahlniederlage von 1965 nicht zu übersehen. Wird eine solche Entwicklung von den SPD-Führern jedoch rechtzeitig erkannt, so besteht die Gefahr, daß diese versuchen werden, die Arbeit der Koalition so zu erschweren, um auch Kiesinger das Image der Führungsunfä-higkeit anhaften zu können; die Folge wäre, daß der Regierungsstil der Periode 1961— 1966 als ein System sich abwechselnder Koalitionsund Parteikrisen fortgesetzt würde — mit allen Folgen für die deutsche Politik.

Die verfassungspolitische Krise der Bundesrepublik

Die große Koalition ist nicht einer Ausnahmesituation entsprungen, wie das in England gelegentlich der Fall war. Sie soll nach der erklärten Absicht der führenden Politiker nicht dem österreichischen Modell folgen, also kein Dauerzustand sein, obwohl manche Tendenzen in diese Richtung wirken. Gerade eine solche Entwicklung würde aber die Problematik dieser Regierung potenzieren. So besteht eine dritte Interpretation, die die Große Koalition als ein Ergebnis einer Krise des gesamten politischen Systems der Bundesrepublik sieht Nach 1949 ergab sich zunächst eine Periode der „hegemonialen Koalition" die Regeln der „Kanzlerdemokratie" wurden entwickelt und brachten eine weitgehende Stabilität des politischen Systems mit sich. Diese hegemoniale Koalition ist aber etwa seit 1959 einer zweiten Phase gewichen, in der die Regierung im zunehmenden Maße von inneren Schwierigkeiten gelähmt wurde und die nach 1961 in eine „marginale Koalition" 23a) abglitt, die all die typischen Schwächen von Koalitionsregierungen kannte: An die Stelle der Regierungstätigkeit trat der permanente Wahlkampf zwischen den Koalitionspartnern und die nicht abreißende Führungskrise in der CDU/CSU.

Diese Entwicklung wird in der Regel identifiziert mit den Persönlichkeiten der ersten beiden Kanzler, nämlich Konrad Adenauer und Ludwig Erhard. Die Verdienste Konrad Adenauers für die Formulierung und Durchsetzung deutscher Politik werden inzwischen auch von seinen ehemaligen politischen Geg-nern anerkannt; das gleiche gilt für die Rückwirkungen dieser Politik auf den Zusammenhalt der Koalitionen, insbesondere in der Zeit von 1949 bis 1953. Dennoch kann der verfassungspolitische Wandel nicht aus dem Wechsel der Personen erklärt werden. Eine solche Darstellung entspräche zwar der allgemeinen Tendenz, personelle Faktoren überzubetonen, übersähe aber, daß der Abstieg von der hegemonialen Koalition bzw. die Beeinträchtigung der Spielregel der Kanzlerdemokratie bereits etwa seit 1959 erfolgte und daß dieser Wandel begleitet war von einer Veränderung einer Reihe von Bedingungen, die zunächst zur Herausbildung der hegemonialen Koalition geführt hatten und deren Wegfall bzw. Veränderung die typischen Merkmale der Koalitionsregierung mit sich brachte. Dabei sind vor allem sechs Faktoren zu nennen.

1. Der Abstieg von der hegemonialen Koalition ist mit der politischen Entwicklung seit 1949 eng verzahnt. Die Kleine Koalition war 1949 die einzig politisch realisierbare Regierungsbildung. bestanden Zwar verschiedene Möglichkeiten, aber nachdem CDU und FDP im Frankfurter Wirtschaftsrat die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards unterstützt hatten, waren die Weichen für die Regierungsbildung von 1949 de facto gestellt (in diesem Sinne war Ludwig Erhard der erste Kanzler der Bundesrepublik). Diese Kleine Koalition wurde durch die große Distanz zur SPD in allen wichtigen politischen Fragen zusammengehalten, vor allem auf außen-und wirtschaftspolitischem Gebiet. Nach 1953 konnte sich die Regierung darüber hinaus auf eine zunächst nur knappe absolute Mehrheit der CDU/CSU stützen.

Diese Situation änderte sich, als die SPD nach 1959 ihre Politik im weiten Umfang neu orientierte und versuchte, durch einen partiellenVerzicht auf Opposition das Image einer regierungsfähigen Partei zu bekommen, um auf diese Weise den Durchbruch zur Mehrheitspartei zu erzielen, nachdem ihr die scharfe Opposition zur Regierung Adenauer-Erhard keine Stimmengewinne gebracht hatte. Dieser Wandel in der Politik und im Führungsstil der SPD, der zwar durch das sogenannte Godesberger Programm nicht inhaltlich festgelegt wurde, für den dieses Programm aber Symbolcharakter gewonnen hat, ist Gegenstand heftiger politischer Kontroversen gewesen. Die CDU/CSU warf der SPD-Führung ein politisches „Umfallen" vor, die eigenen Mitglieder Verrat an sozialistischer Tradition, aber die Wähler honorierten den Wandel, wenn auch, primär aus personalpolitischen Gründen, nicht in dem von der SPD-Führung erhofften Umfang.

Wesentlicher als diese Kontroversen sind jedoch die Auswirkungen dieses Wandels für das deutsche Parteiensystem: Die SPD wurde von einer gruppensoziologisch und ideologisch gebundenen Partei zu einer „Volkspartei" bzw. „Allerweltspartei". Sie vollzog diese Entwicklung nach, die die CDU/CSU bereits von 1949 bis 1953 durchlaufen hatte, als ihr der Durchbruch zur Mehrheitspartei gelungen war. Sie wurde damit zu einer funktionalen Partei; 25a) wie sie ein arbeitsfähiges deutsches Parteiensystem benötigt.

Diese Entwicklung war durch die Umstruktuierung der Wählerschaft vorgezeichnet und damit der SPD teilweise aufgezwungen, wollte sie nicht für absehbare Zeit mit der Oppositionsrolle vorlieb nehmen: Der zunehmende Wohlstand führte zu einer Auflockerung des Kerns der SPD-Wählerschaft, für den auch die erfolgreiche CDU/CSU wählbar geworden war. Andererseits erwuchs der SPD ein zusätzliches Wählerreservoir durch eine entsprechende Auflockerung des CDU/CSU-Wählerstammes als Folge der Urbanisierung ländlicher Gebiete im Gefolge der Industrialisierung und der Ausbreitung der Massenmedien. Die zunehmende horizontale und vertikale Mobilität der deutschen Gesellschaft ließ die gruppensoziologischen und ideologischen Bindungen an Bedeutung für den Wahlentscheid verlieren; die Wähler betrachten die Parteien nicht mehr als ihre politische Heimat, sondern als Organisationen zur Auswahl des politischen Führungspersonals

Die Folge dieser Entwicklung war äußerlich die Angleichung der beiden großen Parteien — wobei es eine zweite Frage ist, ob die Angleichung auf dem Gebiet der Werbetechnik nicht gelegentlich das systematisch notwendige Maß bei weitem überschritt, aber dies ist ein kurzfristig parteitaktisches Problem —, systematisch, daß die Voraussetzungen für die Herausbildung eines alternierenden Parteien-systems in der Wählerschaft geschaffen waren, zu dessen Realisierung es allerdings entsprechender Institutionen bedarf, und für die Regierungskoalition seit 1961, daß die Klammer der entschiedenen Gegnerschaft zur SPD entfiel, was sich nicht zuletzt an einer zunehmenden Zahl von Gesetzen zeigt, die mit wechselnder Mehrheit im Bundestag angenommen wurden. Gerade die Erfolge der Politik Adenauers und Erhards, der wirtschaftliche Wiederaufbau der Bundesrepublik, haben somit wesentlich dazu beigetragen, die Grundlagen der 1949 geschaffenen Regierung in Frage zu stellen.

2. Diese Entwicklung findet eine gewisse Parallele in der CDU/CSU. Bis 1959 war Konrad Adenauer unbestrittener Führer der Union, weil es ihm gelungen war, mit einfachen Lösungsformeln Zustimmung zu finden: Soziale Marktwirtschaft im Innern, Integrationspolitik nach außen waren einfache, das heißt verständliche und damit Zustimmung findende Antworten auf die anstehenden Probleme. Etwa nach 1959 wurde aber die politische Situation differenzierter: Außenpolitisch nahm der Ost-West-Konflikt mit dem atomaren Gleichgewicht neue Formen an, und die Entwicklung der de Gaulle'schen Außenpolitik führte zu einer gewissen Auflösung des westlichen Bündnissystems. Ähnliches galt für die Innenpolitik: Nach der Beendigung des wirtschaftlichen Aufbaus mußten Entscheidungen um die Rangordnung der gesellschaftspolitischen Ziele gefällt werden. Dieser differenzierteren Fragestellung entsprachen die bisherigen Lösungsformen nicht mehr, und der Autoritätsverlust Konrad Adenauers war auch Folge der Tatsache, daß es ihm nicht gelang, neue überzeugende Antworten zu finden. Damit war das Nachfolgeproblem institutionell für das Regierungssystem der Bundesrepublik gestellt: Was vielfach als eine Personenfrage empfunden wurde, erweist sich als die Möglichkeit eines politischen Wechsels neue Lösungsformen für neue Probleme zu entwik-

keln, kurz die Notwendigkeit der Innovation

3. Entsprechend seinen Lösungsformeln war die Regierungspraxis Konrad Adenauers durch einen Vorrang der Außenpolitik gekennzeichnet Um außenpolitische Handlungsfreiheit zu erlangen, versuchte Adenauer innerpolitisch die wechselnden Ansprüche der verschiedenen sozialen Gruppen zu befriedigen.

Diese Politik war generell durch eine ständig zunehmende Subventionierung der verschiedenen Gruppen gekennzeichnet; sie war nur möglich, so lange die jährlichen Wachstumsraten des Bruttosozialproduktes ausreichten, diese Subventionen zu finanzieren. Nachdem mit dem Erreichen der absoluten Vollbeschäftigung die Wachstumsraten zurückgingen, mehrten sich die finanziellen Schwierigkeiten der öffenlichen Hand, und die sozialen Gegensätze, die nun nicht mehr in vollem Umfang mit Subventionen verdeckt werden konnten, wurden offen ausgetragen, was unter anderem zu der inneren Lähmung der CDU/CSU beitrug. Die Finanzkrise im Herbst 1966, letztlich Anlaß für den Sturz der Regierung Erhard, war Folge dieser Politik.

4. Eine selbststärkende Wirkung des Erfolges kommt in vollem Umfang nur bei einer sehr niedrigen Ausgangssituation zur Geltung, wie das 1949 der Fall war. Das gilt für die wirtschaftliche Entwicklung wie für die außenpolitische Situation. Etwa seit 1957 waren aber spektakuläre Erfolge nicht mehr möglich. An ihrer Stelle konnten nur kontinuierliche Verbesserungen oder Festhalten am einmal Erreichten treten. Erfolg als Kontinuität ist aber selten werbewirksam.

5. Die in diesen Faktoren angelegte Verschärfung der internen Gegensätze wurde verstärkt durch die Entwicklung der Parteifinanzen. Bis 1958 waren CDU/CSU und FDP in großem Umfang von privaten Spenden finanziert worden Als 1958 die steuerliche Abzugsfähigkeit solcher Parteispenden vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, hatte das zwei Folgen: Erstens sank generell die Bereitschaft zu Parteispenden und zweitens wurde das Gewicht der einzelnen Spender verlagert. Solange die steuerliche Abzugsfähigkeit bestand, hatte vor allem die CDU in großem Umfang auch kleine Spenden von Mittelbetrieben, Handwerkern und ähnlichen Gruppen erhalten. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führte in erster Linie zu einem Wegfall dieser kleinen Spenden, während die großen Industrien über den Umweg der Förderergesellschaften im wesentlichen die gleichen Summen zur Verfügung stellten, ja stellenweise mehr, um die ausgefallenen „kleinen" Spenden zu ersetzen Dadurch erhielten aber diese Gruppen verstärkten Einfluß in der Partei, was in der CDU/CSU die Gegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen verschärfte und auf Seiten der FDP u. a. zu dem Verhalten in der Regierungsbildung 1961 führte. Konsequenz dieser Entwicklung wiederum war die zunehmende Subventionierung der politischen Parteien aus öffentlichen Mitteln, die dann 1966 vom Bundesverfassungsgericht in dieser Form ebenfalls für verfassungswidrig erklärt wurde.

6. All diese Faktoren haben zu der Veränderung der „Kanzlerdemokratie" beigetragen. So zeigt diese Entwicklung erstens, daß die Kanzlerdemokratie nur eine mögliche Form des deutschen Regierungssystems ist und daß es auch Perioden gibt, in denen die Koalitionskabinette und ihre innere Lähmung dominieren. Ein Zweites kommt hinzu: Dr Wandel im deutschen Regierungssystem war weitgehend unabhängig von den Persönlichkeiten der regierenden Politiker. Das bedeutet nicht, daß nicht auch die speziellen Führungsmethoden Konrad Adenauers und die Schlüsselstellung, die er bis 1955 gegenüber den Militär-gouverneuren besaß, in den ersten Jahren zu einer Stärkung der hegemonialen Koalition beigetragen haben. Aber als etwa nach 1959 die Grundlagen dieser Regierung hinfällig wurden, nutzten auch diese Führungsmethoden wenig — genauso wenig wie der erst mit Beifall begrüßte Stil Ludwig Erhards langfristig die unzureichende Basis seiner Regierung nicht ersetzen konnte. In gleicher Weise kann nicht übersehen werden, daß etwa das Zögern Erhards, den Parteivorsitz zu übernehmen, die Schwierigkeit seiner Regierung ebenso vergrößert hat, wie der Widerstand der weltanschaulich orientierten Kerngruppen der CDU gegen den liberalen Parteiführer.

Die Große Koalition als Konstituante

Wesentlicher aber als die Erörterung von Einzelheiten der Regierungspraxis von Adenauer und Erhard ist, daß die Voraussetzung parlamentarischer Regierungsweise in der Bundesrepublik nicht institutionell garantiert ist: die Existenz einer parlamentarischen Mehrheit und eines anerkannten Führers dieser Mehrheit. Es gab eine Periode, wo auf Grund einer bestimmten, der historischen Situation entsprungenen, im wesentlichen einmaligen Bedingungskonstellation die Voraussetzungen parlamentarischer Regierungsweise weitgehend erfüllt erschienen. Aber es gab auch die zweite Periode, in der die parlamentarische Mehrheitsregierung kaum möglich war. Das wurde im Herbst 1966 mit aller Deutlichkeit demonstriert, und in diesem Sinne wurde eine Krise des politischen Systems sichtbar, die in den unzureichenden Verfassungsentscheidungen des Parlamentarischen Rates begründet war. Deshalb ist es aber die primäre und wesentlichste Aufgabe der Großen Koalition, diese Krise des politischen Systems zu bereinigen, damit hinfort parlamentarische Regierungen zur Bewältigung der verschiedensten Aufgaben auf dem Gebiet der Innen-und Außenpolitik möglich sind. Diese Aufgabe konkretisiert sich in drei Punkten:

I. Die Reform des Wahlgesetzes II. Die Reform des Auflösungsrechtes III. Die Schaffung eines Parteiengesetzes.

Die Aufgabe der Wahlreform

Die Wahlrechtsreform gehört, wie erwähnt, zu den bislang verkündeten Zielen der Großen Koalitionsregierung. Gegen das geltende personalisierte Verhältniswahlrecht werden vor allem drei Einwände erhoben:

1. Das Verhältniswahlrecht sichert im Normalfall keine absolute parlamentarische Mehrheit für eine Fraktion, was bedeutet, daß die Regierungsbildung nicht durch die Wahlentscheidung in der Wahl, sondern durch Verhandlungen der Koalitionspartner nach der Wahl erfolgt. An dieser Regel ändert sich auch nichts, wenn die Koalitionspartner sich gelegentlich vor der Wahl festlegen. Was eine solche Festlegung bedeutet, zeigte sich bei den Bundestagswahlen von 1961 und 1965 und bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen von 1966 mit aller Deutlichkeit. 1961 ließ die FDP in der Wählerschaft den Eindruck entstehen sie werde in keine Regierung unter Adenauer eintreten, dennoch blieb ihr letztlich keine andere Wahl, als — wenn auch nach achtwöchigen Verhandlungen — Adenauer wieder als Kanzler zu akzeptieren. 1965 legte sie sich vor der Wahl auf eine Regierung unter Ludwig Erhard fest, um diesen ein Jahr später durch den Rückzug ihrer Minister zu stürzen. Vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1966 legten sich FDP und CDU ebenfalls vor der Wahl auf eine Fortsetzung der Regierung Meyers fest, was zunächst zu der Kleinstregierung gegen den unbestrittenen Wahlsieger, die SPD, die 49, 5 Prozent der Stimmen, aber keine absolute Mehrheit der Mandate erhalten hatte, und vier Monate später zur Regierungsumbildung führte. Die Zahl der Beispiele ließe sich in verschiedene Richtungen vermehren. Wesentlicher ist, daß bei Verhältniswahl keine Entscheidung über die Regierungsbildung im Wahlakt geschaffen wird, womit zunächst den Spekulationen über den im Wahlergebnis sichtbar werdenden Wählerwillen Tür und Tor geöffnet und anschließend die Regierungstätigkeit durch die Auseinandersetzung der Koalitionspartner gelähmt wird, wofür dann auch noch keine Partei eine eindeutige Verantwortlichkeit trägt.

2. Bei dem geltenden personalisierten Verhältniswahlrecht besteht für die parlamentarische Opposition nur eine eingeschränkte Chance, die Regierung nach den nächsten Wahlen allein zu übernehmen, da Stimmen-veränderungen nur proportional in Mandats-veränderungen umgesetzt werden. Das bedeutet zum Beispiel, daß ausgehend von dem Wahlergebnis von 1965, das heißt dem besten Wahlergebnis, das die SPD je erreichte, noch immer ein Stimmenzuwachs der SPD von etwa 8— 9 Prozent notwendig ist, damit sie allein die Mehrheit im Parlament erhält. Nach 1961 war sogar ein Stimmenzuwachs von etwa 12 Prozent und nach 1957 gar von 15 Prozent notwendig. Solche Wählerbewegungen können jedoch im Normalfall nicht erwartet werden. Somit ergibt sich eine eingeschränkte Chance des Machtwechsels mit allen Rückwirkungen auf die Struktur und die Politik von Regierung und Opposition: Bei der SPD führte diese Situation zu dem Bemühen um politische Anpassung und Regierungsbeteiligung. Die Folge war die sogenannte Strategie der Umarmung, in deren Verlauf die SPD zur „besten CDU wurde, die es je gab" Das Ergebnis war, daß die Auffangfunktion der Opposition beeinträchtigt wurde. Auf Seiten der CDU/CSU führte diese Situation zu dem Selbstverständnis einer „geborenen" Regierungspartei Man stand Zeit der lange vor Alternative, Regierung entweder allein die oder nur in Koalition mit der FDP zu bilden; die Regierungsbeteiligung selbst war aber kaum gefährdet. Dieses geringe Risiko des Machtverlustes führte dazu, daß die Anpassung an die veränderten Situationen, letztlich die Lösung des Nachfolgeproblems ständig hinausgeschoben und die Handlungsfähigkeit Auseinanderset der Regierung durch interne -zungen beeinträchtigt wurde.

3. Das personalisierte Verhältniswahlrecht sichert trotz der Fünf-Prozent-Klausel keinen Schutz gegen eine Aufsplitterung oder Radikalisierung des Parteiensystems. Die Konsolidierung des deutschen Parteiensystems nach 1952 war in erster Linie Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere der positiven Einschätzung dieser Entwicklung durch die Wählerschaft, durch die die Intensität der sozialen Konflikte vermindert wurde und die Zustimmung zur CDU/CSU-Regierung in den Wahlen von 1953 und 1957 zustande kam Nicht weniger bedeutsam war die Entwicklung der Bundestagswahlen zu Kanzlerwahlen: Zuerst 1953 auf Seiten der CDU/CSU, seit 1957 von der Union und den Sozialdemokraten wurde in den Wahlkämpfen der Eindruck einer quasi plebiszitären Entscheidung über die Besetzung des Kanzlerpostens suggeriert. Damit wurde eine Entscheidungssituation, wie sie unter Mehrheitswahl besteht, simuliert, ohne daß die institutioneilen Voraussetzungen bestanden. Schon die Bundestagswahl 1961 hat gezeigt, wie es unter bestimmten Bedingungen einer dritten Partei, in diesem Fall der FDP, möglich ist, die Kanzlerfrage „aufzuweichen", und die letzten Erfolge der NPD haben generell die mangelnde Wirksamkeit der Fünf-Prozent-Klausel demonstriert.

Die in der Regel zuerst diskutierte Alternative zu dem gegenwärtigen System ist die englische relative Mehrheitswahl bei der das Land in so viele Wahlkreise eingeteilt wird, wie Abgeordnete ins Parlament gewählt werden sollen. In jedem Wahlkreis ist gewählt, wer die relativ meisten Stimmen auf sich vereinigt. Von diesem Wahlsystem gehen starke Tendenzen zu einem Zweiparteiensystem aus: Da in jedem Wahlkreis nur eine Partei Chancen hat, etwa 45 °/o oder noch mehr Stimmen auf sich vereinigen, „lernen" die Wähler, daß es wenig erfolgversprechend ist, für dritte Parteien zu stimmen, und diese Parteien „lernen", daß es wenig erfolgversprechend ist, eigene Kandidaten aufzustellen. Damit besteht zunächst ein sicherer Schutz gegen Parteizersplitterung und auch Radikalisierung. Darüber hinaus ist die Folge im Normalfall eine parlamentarische Mehrheit für eine Partei zugleich aber auch eine erhöhte Chance des Machtwechsels, da es bei diesem System nicht mehr wichtig ist, wieviel Stimmen eine Partei im ganzen Land bekommt, sondern wie-viel Wahlkreise sie gewinnt. Rechnet man zum Beispiel das Wahlergebnis von 1965 auf relative Mehrheitswahl um, so ergibt sich eine Mandatsverteilung von etwa 300 zu 200 für die CDU/CSU. In mehr als 50 dieser Wahlkreise ist aber der Abstand zwischen CDU bzw. CSU und SPD kleiner als 5 Prozent, das bedeutet, daß ein genereller Wählerwechsel von nur etwa 2, 6 Prozent von CDU/CSU zur SPD bereits dazu führen würde, daß etwa 50 CDU/CSU-Wahlkreise auf die SPD übergehen würden. Mit anderen Worten: die Mehrheitsverteilung von 300 zu 200 für die CDU/CSU wird in eine knappe Mehrheit der SPD verkehrt

Der kritische Punkt des gegenwärtigen Wahl-systems, definiert als die Größe des Wähler-Wechsels, der notwendig ist, um einen parlamentarischen Machtwechsel auszulösen, liegt noch immer bei etwa 8— 9 Prozent, bei relativer Mehrheitswahl bei etwa 3 Prozent. Damit bedeutet das System der relativen Mehrheitswahl eine erhöhte Chance des Machtwechsels, mit den entsprechenden Rückwirkungen auf die beteiligten Parteien.

An Stelle des partiell frustzierten, in sich gespaltenen Strebens nach politischem Mitbesitz treten zwei potentielle Regierungsmannschaften, die mit unterschiedlichen sachlichen und personellen Lösungsvorschlägen eine Merheit für sich zu gewinnen suchen — und abwechselnd erhalten werden.

Einwände gegen das englische Wahlrecht

Diese Wirkungen des relativen Mehrheitswahlrechtes stehen im Einklang mit den Anforderungen parlamentarischer Regierungsweise. Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß auch gegen dieses System Einwände erhoben werden, die insbesondere auf Grund der speziellen deutschen Situation ernsthaft geprüft werden müssen. Dabei sind vor allem folgende Argumente zu beachten: 1. Bei relativer Mehrheitswahl ergibt sich das Problem eines „BIAS", das heißt, daß zwei Parteien mit gleicher Stimmenzahl eine unterschiedliche Mandatszahl erhalten. Dieses Problem ist gerade in der Bundesrepublik aktuell. Geht man von der Verteilung der Stimmen im ganzen Land aus, wie sie in der Bundestagswahl von 1965 bestanden, so stößt man auf einen solchen „BIAS" in Höhe von etwa 3 Prozent zugunsten der SPD. Wenn die CDU/CSU einen Stimmenvorsprung von etwa 3 Prozent hat, erhalten beide Parteien die gleiche Mandatszahl, oder wenn CDU/CSU und SPD den gleichen Stimmenanteil erhalten, bekommt die SPD fast 50 Mandate mehr. Dieser „BIAS", der 1961 noch 5 Prozent betrug oder 75 Mandate, beruht auf der unterschiedlichen Zahl und Größe der Hochburgen beider Parteien und der Stimmenverteilung in diesen Wahlkreisen

Diese Hochburgen sind seit 1961 tendenziell geringer geworden, insbesondere auf Grund der Erfolge der SPD in den katholisch-ländlichen Hochburgen der CDU/CSU, was die Reduktion des „BIAS" nach 1961 erklärt. Wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß infolge der weiteren Angleichungen der beiden Parteien, der sogenannten Nivellierungstendenz, nach der jede Partei in den Hochburgen der anderen Stimmen gewinnt, der „BIAS" auch in den folgenden Jahren weiter abgebaut wird, so bleibt die bloße Möglichkeit einer solchen Asymmetrie als ein Argument gegen die relative Mehrheitswahl. Der „BIAS" ist nicht eine Ausnahmeerscheinung, wie oft dargestellt wird sondern er tritt bei Mehrheitswahl mit erheblicher Häufigkeit auf. Sämtliche Wahlen in England seit dem Ersten Weltkrieg sind durch einen wie auch immer gearteten „BIAS" gekennzeichnet gewesen, von unterschiedlicher Größe und mit unterschiedlichen Wirkungen für die eine oder andere Partei

In England wird dieses Problem bislang weitgehend hingenommen, weil man davon ausgeht, daß eben jeder Abgeordnete seinen Wahlkreis vertritt.

Ein solcher Konsens scheint aber in der Bundesrepublik noch nicht zu bestehen, und es bleibt die Frage, ob nicht wesentliche Vertrauensverluste in das deutsche demokratische System zu erwarten wären, wenn bei einer nach Mehrheitswahl abgehaltenen Bundestagswahl nicht die an Stimmen stärkste Partei, sondern die zweitstärkste Partei die absolute Mehrheit der Mandate bekäme. Die Reaktionen auf die Bildung der Bundesregierung von 1961 und der ersten Landesregierung in Nordrhein-Westfalen im Sommer 1966, die ebenfalls deutlich von den Verhaltenserwartungen wesentlicher Teile der Wählerschaft abwichen, vermitteln dafür erste Hinweise.

2. Ein zweiter Einwand gegen die relative Mehrheitswahl betrifft die Möglichkeiten der übergroßen Mehrheit. In der Tat kommt es gelegentlich, wenn auch selten vor, daß eine Partei mit einem vergleichbar geringen Stimmen-vorsprung einen erheblichen Vorsprung in der Mandatszahl, ja möglicherweise sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit erhält. Das bekannteste Beispiel dafür sind die englischen Wahlen von 1931 [aber auch bei der Bundestagswahl von 1957 hätte es bei gleichem Wählerverhalten ebenfalls einen sehr großen Vorsprung der CDU/CSU gegeben. Bei einer zunehmenden Angleichung der beiden großen Parteien, die in der Regel auch durch das Wahlsystem gefördert wird, ist dieses Problem allerdings nicht so aktuell wie das des „BIAS". 3. Ein dritter Einwand beruht auf der vielfach als notwendig empfundenen Fraktionsplanung und dem Gedanken des Minderheitenschutzes. Immer wieder ist zu beobachten, daß Politiker, die von der Parteiführung für die parlamentarische Arbeit oder auch für ein Regierungsamt für wesentlich gehalten werden, bei einer Kandidatur im Wahlkreis erfolglos bleiben. Das bekannteste Beispiel hierfür aus jüngster Zeit ist die zweimalige Niederlage des designierten englischen Außenministers Gordon Walker. Angesichts der in der Bundesrepublik bestehenden Regeln der Kandidaten-aufstellung ist es bedeutsamer, daß in vielen Fällen die von der Parteiführung gewünschten Kandidaten von den lokalen Parteiorganisationen nicht nominiert werden, weil diese durch ihre zentralen Verpflichtungen nur in geringem Umfang in ihrem Wahlkreis für die Parteiarbeiten eintreten. Schließlich ergibt sich das Problem des Minderheitenschutzes: In einigen Gebieten erscheinen die Mehrheiten einer Partei langfristig zementiert und somit die Opposition keine Chance zu besitzen, dort Kandidaten durchzubringen, was zu Frustrationserscheinungen bei der jeweiligen Opposition führt. Das träfe in der Bundesrepublik zum Beispiel für die CDU in Hamburg und Bremen, teilweise auch in Hessen zu, ähnliches gilt für die SPD in Bayern, zumindest in großen Gebieten.

Die Notwendigkeit eines rationalen Wahlrechtes

Die Berechtigung dieser Einwände kann kaum bestritten werden. Sie sind Folge der sozial-strukturellen Situation in der Bundesrepublik. Damit wird zunächst wiederum deutlich, daß die Wirkungen politischer Institutionen einschließlich des Wahlrechtes nicht abstrakt, sondern nur im konkreten Bezug zu einer be-stimmten sozialen Situation diskutiert werden können

Eine völlig andere Frage ist die politische Wertung dieser Wirkungen. Dabei sind drei Gruppierungen zu beobachten:

Eine erste Gruppe versucht, die Einwände zu bagatellisieren oder zumindest als im Vergleich zu den Hauptwirkungen der Mehrheitswahl als völlig zweitrangig darzustellen. Auf diese Weise schafft man sich die Möglichkeit,an der seit langem erhobenen Forderung nach Mehrheitswahl festzuhalten, ohne die Ergebnisse jüngerer Untersuchungen, die die tatsächlichen Auswirkungen dieses Systems in der Bundesrepublik festgestellt haben, zur Kenntnis nehmen zu müssen. Soweit diese Position nicht auf einem unzureichenden Informationsgrad über die tatsächlichen Wirkungen der Mehrheitswahl beruht, gleicht sie einer gesinnungsethischen Position An der Forderung nach traditioneller Mehrheitswahl wird festgehalten, obwohl wegen der zitierten Einwände eine politische Realisierung nicht zu erwarten ist. Man greift darüber hinaus neue Wahlrechtsvorschläge an, die diesen Einwänden gerecht zu werden versuchen und trägt dadurch zu einer Verminderung der Chancen jeder Wahlrechtsreform bei.

Für eine zweite Gruppe sind die Einwände Grund genug, den Gedanken der Wahlrechts-reform schlechthin fallenzulassen Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, daß in vielen Fällen das Existenzinteresse des so Argumentierenden durch eine Wahlrechtsreform berührt ist und daß die festgestellten Nebenwirkungen der Mehrheitswahl aufgegriffen werden, um die gefürchteten Hauptwirkungen zu vermeiden.

Im Gegensatz zu dieser gesinnungsethischen oder am eigenen Interesse orientierten Position versucht eine dritte Gruppe Wahlsysteme zu entwickeln, die den Anforderungen parlamentarischer Regierungsweise gerecht werden, aber die sich aus der Kombination von relativer Mehrheitswahl und deutscher Sozialstruktur ergebenden Nebenwirkungen vermeiden. Der Grundgedanke dieser Bemühungen ist einfach: Was das parlamentarische System bedarf, sind die drei Hauptwirkungen der relativen Mehrheitswahl — Mehrheitsbildung, Chance des Machtwechsels und Schutz gegen Zersplitterung —, nicht die technischen Einzelheiten dieses Systems Da diese Haupt-wirkungen sichergestellt sind, können alle diese Vorschläge unter dem Begriff Mehrheitswahl subsummiert werden, auch wenn das Verfahren in einigen Punkten von der englischen Regelung abweicht. Die wichtigste Ergänzung gegenüber dem englischen System besteht zumeist darin, daß eine Liste bzw. ein System von Landeslisten beibehalten wird, mit deren Hilfe ein Ausgleich gegenüber den in den Wahlkreisen sich ergebenden Mandats-verteilungen erfolgen kann, ohne jedoch — wie beim gegenwärtigen System — die Mehrheitsbildung in Frage zu stellen Andere Überlegungen versuchen das Problem dadurch zu lösen, daß nicht wie in England ein Abgeordneter, sondern drei oder vier pro Wahlkreis gewählt werden Die Konkretisierung dieser Vorschläge ist Gegenstand der gegenwärtigen politischen Diskussion.

Diesen neuen Wahlrechtsentwürfen ist gemeinsam, daß sie sich nicht an irgendwelchen bestimmten Vorbildern orientieren, die aus welchen historischen Zufällen auch immer entstanden sind, sondern fragen, welchen Funktionen ein Wahlrecht in der parlamentarischen Demokratie gerecht werden muß. In diesem Sinne sind es rationale Wahlsysteme.

Im Vergleich zum geltenden Wahlrecht haben alle den Vorteil, daß sie die für die parlamentarische Regierungsbildung notwendige Mehrheit im Normalfall sichern und ausreichenden Schutz gegen Parteizersplitterung gewähren. Sie erhöhen darüber hinaus die Chance des Machtwechsels, was wiederum zur Folge hat, daß das Nachfolgeproblem in der Politik besser gelöst werden kann. Sie versuchen ferner den speziellen Einwänden gegen die relative Mehrheitswahl, die in Deutschland erhoben werden, gerecht zu werden. Bei der politischen Diskussion der einzelnen Systeme kommen eine Vielzahl taktischer, pragmatischer und auch psychologischer Erwägungen hinzu. Für welche Regelung man sich auch immer entscheiden mag, wesentlich ist, daß in der Diskussion die funktionalen Erfordernisse der Regierungsweise im Auge gehalten werden.

Die Voraussetzungen in der Wählerschaft

Als ein genereller Einwand gegen die Wahlrechtsreform wird oft betont, daß auf diese Weise die Möglichkeit der Kontrolle politischer Macht zugunsten einer erhöhten Handlungsfähigkeit der Regierung eingeschränkt würde. Diese These wird vor allem damit begründet, daß in der Bundesrepublik die verschiedenen gesellschaftlichen und innerparteilichen Kontrollmechanismen nicht voli entwickelt seien daß die verschiedenen Kontrollmechanismen insbesondere mit Hilfe der öffentlichen Meinung nicht effizient und die entsprechenden Institutionen, insbesondere Rundfunk, Fernsehen und Presse, in ihrer Struktur reformbedürftig sind. Das bedeutet jedoch zunächst nur, daß die anstehende Verfassungsreform nicht auf das Teilgebiet des Wahlrechts beschränkt bleiben kann. Die entscheidende Frage ist, ob die Kontrollmechanismen aus dem Bereich von Regierung und Parlament bei dem gegenwärtigen Wahlsystem wirksamer sind als bei einem wie auch immer gearteten Mehrheitswahlrecht.

Bei dieser Frage sind zwei Fälle zu unterscheiden: a) Die Regierung einer Großen Koalition bedeutet immer die Begrenzung der Kontrollmechanismen, da die Oppositionsfunktion nicht oder nur von einer Minoritätspartei bzw. außerparlamentarischen Gruppen ausgeübt wird. Darüber hinaus verfügt ein solches Kartell über vielfältige Möglichkeiten der Informationspolitik. Jedes Bemühen um wirksame politische Kontrolle kann deshalb nur das Ziel eines Aufbrechens dieses politischen Kartells der Großen Koalition haben. Die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Ziel erreicht wird, ist aber größer, wenn einer der beiden Koalitionspartner eine absolute Mehrheit der Mandate im Parlament gewinnt. Zwar können auch in diesem Fall die Bestrebungen der Parteiführungen, an permanentem politischem Mitbesitz festzuhalten, nicht übersehen werden. Es besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß die siegreiche Partei von ihrer Fraktion zur Alleinregierung gezwungen wird, und sei es nur, weil diese den ungeteilten Besitz der Macht verlangt.

b) Anders ist die Situation, wenn man eine kleine Koalition unter Verhältniswahl mit der Mehrheitsregierung einer Partei bei Mehrheitswahl vergleicht. Im ersten Fall besteht die Kontrolle darin, daß ein Teil der Regierung mit organisatorischem Eigeninteresse partiell in der Lage ist, Regierungstätigkeit zu verhindern. Bei Mehrheitswahl erfolgt demgegenüber die Kontrolle durch die Antizipation eines möglichen Machtwechsels, den die Regierung fürchten muß. Die Macht der Opposition besteht darin, um mit Hannah Arendt zu formulieren, daß in ihr „der Herrscher von morgen spricht' Die Wirksamkeit dieses Kontrollmechanismus hängt damit entscheidend davon ab, wie realistisch diese Chance des Machtwechsel ist, das heißt von der Struktur der Wählerschaft. Diese zeichnet sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik dadurch aus, daß die Distanz zu allen Parteien größer geworden ist, daß der Stamm der festen Wähler einer jeden Partei ständig gesunken ist und daß die Bereitschaft zum Wechsel gewachsen ist. Zur Zeit können CDU/CSU und SPD jeweils nur noch etwa 15— 20 Prozent der gesamten Wählerschaft, die FDP 5 Prozent als Stammwähler betrachten. Hinzu kommen etwa 15 Prozent Sympathisierende jeweils für die beiden großen Parteien. Aber diese Wähler sind auch schon grundsätzlich bereit, die andere Partei zu wählen, und sie tun es insbesondere bei Kommunalwahlen. Zwischen diesen Gruppen besteht eine weitere von ca.

30 Prozent potentieller Wechselwähler, die bereit sind, zwischen zwei Wahlen abwechselnd CDU/CSU oder SPD zu wählen und auch tatsächlich ihre Parteiidentifikation ändern. Von 1957 bis 1961 wechselten z. B. 20 Prozent, von 1961 bis 1965 etwa 15 Prozent ihre Parteiidentifikation. Dabei ist es wesentlich, daß der Wechsel zwischen allen Parteien erfolgte

Diese Untersuchungsergebnisse verdeutlichen die Bereitschaft zum Wechsel und damit die Realität der Chance des Machtwechsels. Angesichts dieser deutschen Wählerstruktur besteht gerade bei Mehrheitswahl ein wirksamer Kontrollmechanismus, ohne daß — wie bei* Koalitionsregierungen — die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Die Untersuchungen über die Wählerschaft zeigen darüber hinaus eine hohe Übereinstimmung mit entsprechenden englischen oder amerikanischen Ergebnissen. Das gilt für Informationsgrad, Informationsgewohnheiten, der Determinanten des Wahlverhaltens, wie auch für die Kriterien der politischen Beurteilung. Somit können all die Argumente, die von der mangelnden „Reife" — was immer das sei — des deutschen Wählers sprechen oder die Unübertragbarkeit politischer Institutionen behaupten, als widerlegt betrachtet werden.

Dagegen kann auch nicht mit dem Hinweis auf bestimmte politische Mißstände in dem politischen Verhalten einzelner Gruppen argumentiert werden. All das, was in der Bundesrepublik kritikwürdig erscheint, ist unter Proporz entstanden — was nicht heißt, daß das alles und ausschließlich Folge dieses Wahlrechtes sei. Aber man kann aus dieser Situation nicht auf das politische Verhalten unter einem anderen Wahlsystem unter anderen Wettbewerbsbedingungen schließen. Die Verschärfung des politischen Wettbewerbs durch die Wahlrechtsreform läßt dagegen sehr wohl erwarten, daß das politische Verhalten mit größerer Rücksicht auf den Wähler erfolgt: Wahlrechtsreform bedeutet einen Machtzuwachs des Wählers, der dann an Stelle der Parteiführungsstäbe über Regierungsbildung und -entlassung entscheidet.

Die Aktivierung des Auflösungsrechtes

Eine solche Wahlrechtsreform löst nur einige Probleme des deutschen politischen Systems, wie das besonders zu Anfang der Regierungszeit Erhards deutlich wurde. Als Ludwig Erhard 1963 Bundeskanzler wurde, verfügte er über eine überragende Zustimmung in der Wählerschaft. Was ihm fehlte, war eine parlamentarische Mehrheit, vor allem aber die geschlossene Unterstützung seiner eigenen Partei. Das wesentlichste Hilfsmittel, über das der englische Premier in einer solchen Situation verfügt, ist das Auflösungsrecht. Hätte Ludwig Erhard zum Beispiel 1963 den Deutschen Bundestag auslösen können, so hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine absolute Mehrheit der Mandate für seine Partei gewonnen, mit den entsprechenden Rückwirkungen auf seine eigene Position innerhalb dieser Partei.

Das Bonner Grundgesetz kennt eine Auflösung des Deutschen Bundestages nur in zwei Fällen: Wenn es nach der Neuwahl eines Bundestages nicht gelingt, einen Bundeskanzler mit absoluter Mehrheit zu wählen, ist es eine Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten, einen Minderheitskanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Neben dieser Spezialbestimmung zu Beginn einer Legislaturperiode gibt es das Auflösungsrecht noch im Fall des Gesetzgebungsnotstandes: Wenn der Bundeskanzler vom Deutschen Bundestag auf eine Vertrauensfrage hin keine Mehrheit findet und der Bundestag auch nicht mit einer absoluten Mehrheit einen anderen Kanzler wählt, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen. Die Wirksamkeit dieser Bestimmung ist doppelt beeinträchtigt: Erstens lähmt die Notwendigkeit, daß der Bundeskanzler zuvor die Vertrauensfrage stellen muß, die Waffe des Auflösungsrechtes. Die Wirkung dieser Waffe besteht zu einem wesentlichen Teil darin, daß sie von dem Regierungschef nach eigenem Ermessen zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt rasch eingesetzt werden kann, wobei die Drohung oft wichtiger als der Einsatz der Waffe ist. Ist die Notwendigkeit vorgeschaltet, zunächst im Parlament um Vertrauen nachzusuchen, so ergeben sich die Möglichkeiten vielfältiger parlamentarischer Manöver. Ein Bundestag, der die Auflösung nicht will, wird in einer solchen Situation dem Bundeskanzler zunächst einmal das Vertrauen aussprechen. Damit ist aber das strukturelle Problem, das den Bundeskanzler zu dieser Maßnahme veranlaßt hatte, kaum gelöst.

Ein zweiter Einwand betrifft die Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten. Diese besteht nach dem Wortlaut der Verfassung und wird von nahezu allen juristischen Kommentaren in dieser Form konstatiert Damit wird der Bundeskanzler von der Unterstützung und dem Wohlwollen des Bundespräsidenten abhängig. In der Bundesrepublik ist dieseFrage 1963 diskutiert worden, als Ludwig Erhard erwog, dem Deutschen Bundestag etwa im Zusammenhang mit dem Sozialpaket die Vertrauensfrage zu stellen und ihn gegebenenfalls aufzulösen. Diese Überlegungen endeten aber stets mit dem Hinweis, daß Bundespräsident Lübke einer solchen Auflösung nie zustimmen würde. Das hätte einen Konflikt zwischen Kanzler und Präsident zur Folge gehabt, den erstens Erhard nicht wollte und der zweitens möglicherweise auch die Wahlchancen wesentlich beeinträchtigt hätte.

Auch im englischen System liegt das Auflösungsrecht formal in den Händen der Königin, aber diese kann es nur und zwar ausschließlich auf Vorschlag des Premierministers ausüben, und sie ist dazu praktisch verpflichtet, wenn der Premier eine solche Maßnahme verlangt. Eine formelle Verfassungsänderung ist in diesem Sinne kaum notwendig, wenn klargestellt wird, daß mit der Formulierung „der Bundespräsident kann auf Vorschlag des Bundeskanzlers auflösen" eine höfliche Umschreibung eines „muß auflösen“ gemeint ist. Die Bedeutung einer solchen Aktivierung des Auflösungsrechtes kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Das hat gerade die Regierung Erhard gezeigt. Erhard verfügte lange Zeit über eine überragende Zustimmung innerhalb der Wählerschaft. Er hatte auch etwa im Vergleich zu Konrad Adenauer nach 1961 ein besseres Verhältnis zum Koalitionspartner, der FDP. Sein Hauptproblem war jedoch, daß die innerparteilichen Schwierigkeiten in der CDU/CSU ihm ein Regieren nahezu unmöglich machten. Gerade für diesen Zweck aber ist das Auflösungsrecht eine wesentliche Waffe, ohne die etwa Premierminister Wilson mit seiner knappen Mehrheit von nur zwei bis drei Mandaten kaum eineinhalb Jahre hätte tatkräftig regieren können.

Gegen eine solche Aktivierung des Auflösungsrechtes wird gelegentlich eingewandt, daß damit jeder Regierung die Möglichkeit in die Hand gegeben sei, die Wahlen zu einem „konjunkturgerechten" Zeitpunkt zu veranstalten, um auf diese Weise ihre Herrschaft über mehrere Legislaturperioden zu zementieren. Dieser Hinweis betont einen Faktor, ohne andere gegenläufig wirkende zu nennen, und darf deshalb nicht überbewertet werden. Die Determinanten des Wählerverhaltens, insbesondere die Bestimmungsgründe des Wählerwechsels, sind vielfältig: Den Möglichkeiten durch Mittel der Konjunkturpolitik zum Zeitpunkt der Wahlen eine für die Regierung günstige Ausgangssituation zu schaffen, steht zum Beispiel die permanent kritische Funktion der Massenmedien gegenüber Die Tatsache, daß zum Beispiel in England allein nach dem Zweiten Weltkrieg schon dreimal ein Wechsel zwischen Labour und den Konservativen erfolgt ist und daß die Konservativen ihre drei Wahlerfolge mit drei unterschiedlichen Premiers erzielten, der innerparteiliche Wechsel also den drohenden zwischenparteilichen Wechsel antizipierte, zeigt, daß die Chance des Machtwechsels bei einer entsprechenden Wählerstruktur unabhängig vom Auflösungsrecht realistisch ist, womit die Voraussetzungen für eine Lösung des Nachfolge-problems in der Politik institutionell geschaffen sind.

Schaffung eines Parteiengesetzes

Ein drittes Problem betrifft die Schaffung eines Parteiengesetzes. Schon der Parlamen-tarische Rat war an dieser Aufgabe gescheitert und hatte es deshalb in Art. 21 GG dem zukünftigen Bundestag überlassen, ein solches Parteiengesetz vorzulegen und sich darauf beschränkt, allgemeine Grundsätze zu formulieren, von denen die wichtigsten die nicht definierte Forderung nach innerparteilicher De-mokratie und damit verbunden die Offenlegung der Finanzquellen sind. Besonders an der zweiten Forderung des Art. 21 GG sind alle bisherigen Versuche eines Parteiengesetzes gescheitert. Während CDU/CSU und FDP sich weigerten, die für sie so wesentliche Her-kunft der Spenden im einzelnen aufzuzeigen, weigerte sich die Sozialdemokratie, die für sie nicht weniger wesentliche Herkunft der Gelder aus Parteivermögen offenzulegen. Darüber hinaus gerieten alle Parteien, auch die Sozialdemokraten, in zunehmendem Umfang in Finanzschwierigkeiten, die mit der steigenden Subventionierung aus öffentlichen Mitteln beseitigt werden sollten. Diese Möglichkeit wurde jedoch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Sommer 1966 zunächst beschnitten. 57

Finanzierung der Parteien

Fragt man nach den Ursachen dieser Finanz-schwierigkeiten, so läßt sich der Aufwand der Parteien in zwei Hauptgruppen unterteilen: die Ausgaben für die Parteiorganisation und für die Wahlkampffinanzierung. In der Parteiorganisation zeigen sich bei allen Parteien, insbesondere aber bei CDU/CSU und FDP, nach wie vor wesentliche während Probleme, die Wahlkampfausgaben astronomische Summen erreicht haben. Zur Bundestagswahl 1961 und 1965 wurden jeweils von allen Parteien gemeinsam etwa 100 Millionen DM ausgegeben. Zum Vergleich dazu kostete eine amerikanische Präsidentenwahl etwa 110 Millionen DM und die Wahl zum englischen Unterhaus etwa 35— 40 Millionen DM. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß die englischen und amerikanischen Parteien die Werbezeit im Rundfunk und Fernsehen nach kommerziellen Sätzen bezahlen müssen, während diese Zeiten in der Bundesrepublik den Parteien kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Bewertet man diese Zeiten mit den entsprechenden Tarifen, so sind die Gesamtkosten in der Bundesrepublik auf etwa 130— 140 Millionen DM zu veranschlagen

Eine Ursache dieses unproportionalen Werbeaufwandes ist der Glaube, mit zusätzlichen Werbemitteln zusätzliche Stimmen gewinnen zu können, was dazu geführt hat, daß die Parteien in den letzten Jahren ihren Aufwand gegenseitig „hochgeschaukelt" haben. Erst als nach 1961 ein derartiges Ausmaß erreicht war, daß eine weitere Steigerung aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich war, einigten sich die Parteien 1965 in dem sogenannten Wahlkampfabkommen auf eine Höchstsumme, die etwa dem entsprach, was man 1961 tatsächlich ausgegeben hatte, und das zugleich das Maximum dessen darstellte, was auszugeben man in der Lage war. Dementsprechend ist dieses Abkommen im wesentlichen auch „eingehalten" worden.

Diese Überlegungen zeigen aber zugleich, daß ein erster Ansatz zur Bekämpfung der Finanz-schwierigkeiten der Parteien eine effektive Begrenzung der Wahlkampfausgaben darstellt. Dabei erscheint es wenig erfolgversprechend, Globalabkommen der Parteien, und seien sie auch gesetzlich fixiert, anzustreben, da es ein weitgehend unlösbares Problem ist, festzustellen, wer bestimmte Ausgaben getätigt hat. So waren denn auch wesentliche Streitpunkte im Bundestagswahlkampf 1965 die Finanzierung der Anzeigenserie des Bundeskanzlers aus Mitteln des Bundespresse-und Informationsamtes und einer Berlin-Werbung, die den Kopf des regierenden Bürgermeisters und Kanzler-kandidaten der SPD zeigte. In beiden Fällen handelte es sich formal natürlich nicht um Ausgaben von CDU/CSU und SPD, doch es kann nicht übersehen werden, daß es sich dabei um Wahlkampfausgaben handelte. Eine Begrenzung der Wahlkampfausgaben der Parteien würde nur zur Folge haben, daß wesentliche Ausgaben in Zukunft von Parallel-Organisationen geleistet werden, die de facto im Dienste der Partei arbeiten.

Um diesem Dilemma zu entgehen, erscheint es zweckmäßig, sich an der englischen Regelung zu orientieren: eine Begrenzung der Wahlkampfausgaben pro Wahlkreis mit einer entsprechenden Sondersumme für zentrale Werbung über Rundfunk und Fernsehen. In diesem Fall ist es unwesentlich, wer die Ausgaben in einem Wahlkreis tätigt, entscheidend sind die Ausgaben, nicht die Ausgeber. Diese Summe kann man an der Art des tatsächlich zu beobachtenden Aufwandes feststellen und kontrollieren. Es ist dann Aufgabe einer jeden Partei zu verhindern, daß ihre „Freunde" das erlaubte Budget überschreiten.

Eine solche Regelung ist natürlich nur wirksam, wenn sie mit Sanktionen verbunden ist, und die einzige Sanktion, die Parlamentarier und Parteien ernsthaft fürchten, ist der Verlust des Mandats, was zu folgender Regelung führt:

Wer im Wahlkampf mehr als die erlaubte Summe ausgibt, verliert, wenn er den Wahlkreis gewonnen hat, sein Mandat zugunsten des unterlegenen Gegenkandidaten der anderen Partei.

Damit kann ein erster Schritt zur Konsolidierung der Finanzsituation der Parteien geleistet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil darüber hinaus die Möglichkeit der Erstattung von Wahlkampfkosten und die Zuwendung an einzelne Abgeordnete toleriert. Vor allem der zweite Weg scheint Mög-lichkeiten zu enthalten, die Probleme der unzureichenden Parteiorganisation zu lösen Dem einzelnen Abgeordneten kann aus öffentlichen Mitteln zweckgebunden eine Summe zur Verfügung gestellt werden, mit deren Hilfe er eine adäquate Parteiorganisation pro Wahlkreis aufbauen kann. Diese Summe kann man fixieren, und eine solche Regelung hätte darüber hinaus die Folge, daß die Position der einzelnen Abgeordneten im Vergleich zur Parteizentrale gestärkt würde, was den Erfordernissen innerparteilicher Demokratie nur zuträglich wäre und zugleich die innerparteilichen Kontrollmechanismen wirksamer werden ließe. Damit eine solche Regelung aber nicht zu einer unzureichenden Fraktionsloyalität führt, bedarf sie der Ergänzung durch die Aktivierung des Auflösungsrechts, die ihrerseits eine entsprechende Fraktionsdisziplin mit sich bringt.

Die organisatorische Öffnung der Parteien

Unter diesem Aspekt sind auch die Regeln der Kandidatenaufstellung zu überprüfen. Die gegenwärtige Vorschrift, nach der Wahlkreis-kandidaten von den Mitgliedern oder den Delegierten des Wahlkreises einer Partei, die Listenkandidaien von der Landesdelegiertenkonferenz au ; stellt werden, hat bei den Wahlkreiskandidaten zu einem dominierenden Einfluß der iokalen Führungsgruppe, bei der Listenaufstellung zu einem solchen der Landesparteiführung, die die Aufstellung „vorbereitet", geführt, wobei die vorderen Listen-plätze oft mit denen besetzt werden, die an der Aufstellung der Liste maßgeblich beteiligt sind

Zur Auflockerung dieser Prozedur und damit zur Vergrößerung der innerparteilichen Chance des Machtwechsels wäre zum Beispiel der Übergang zu dem amerikanischen System der Vorwahlen zu prüfen wo die Entscheidung über die Kandidatur in geheimer Wahl von den sich zu dem Zeitpunkt der Vorwahlen zur Partei bekennenden Wählern erfolgt. Das aber setzt eine neue Definition des Verhältnisses Wähler-Partei voraus. Mitgliedschaft in einer politischen Partei ist in Deutschland noch immer mit der hohen Schwelle des formellen Parteibeitritts mit Aufnahmeantrag, Beitrittserklärung, Parteibuch und Mitgliedsbeitrag gekennzeichnet, die der sozialen Abstempelung als einem bestimmten politischen Lager zugehörig folgt. Es erscheint fraglich, ob dieses Verhältnis einem alternierenden System funktionaler Parteien, das heißt weltanschaulich und soziologisch offener Parteien noch entspricht. Die geringe Mitgliedschaft deutscher Parteien ist bislang zumeist unter dem Aspekt der naserümpfenden Kritik an der mangelnden Bereitschaft deutscher Wähler zur politischen Partizipation betrachtet worden. Eine solche Kritik geht jedoch von einem Parteiverständnis aus, das Parteien als Glaubensgemeinschaften versteht und das weder der deutschen Realität noch den Anforderungen parlamentarischer Regierungsweise entspricht.

Die Entwicklung der deutschen Parteien war seit 1952 — wie dargelegt — zuerst auf Seiten der CDU/CSU, dann etwa seit 1959 auch auf Seiten der SPD durch eine Öffnung im Hinblick auf die Wählerschichten gekennzeichnet, die mit ideologischen Parolen nicht ansprechbar sind. Diese Entwicklung war notwendig, wollten die Parteien Mehrheitspositionen gewinnen, sie war in diesem Sinne in der Veränderung der Wählerschaft vorgezeichnet und vorgeformt, aber sie ist bislang nicht von einer entsprechenden Reform der Parteiorganisation begleitet gewesen. Das hat einerseits zu einer Konfliktsituation zwischen den Parteiführern, die sich an der Notwendigkeit, neue Wählerschichten zu gewinnen, orientieren, und der Mitgliedschaft, die noch weitgehend aus den engsten Stammgruppen der Partei besteht, geführt. Die innerparteilichen Schwie-rigkeiten Ludwig Erhards waren teilweise auf diese Weise zu erklären, wie auch die ständigen Angriffe auf Herbert Wehner in der SPD. Zur Überwindung dieses Konfliktes bedarf es einer organisatorischen Öffnung der Parteien, die auch solchen Wählern die Mitwirkung an der innerparteilichen Willensbildung ermöglicht, die nur temporär zu einer Identifikation mit der Partei bereit sind. Die Parteien müssen ihren Charakter als „politische Heimat" kleiner Gruppen verlieren zugunsten eines organisatorischen Rahmens für das gegebenenfalls temporäre Zusammenarbeiten von Gruppen mit politisch parallelen Zielsetzungen.

Es kann nicht übersehen werden, daß in beiden Parteien diese Problematik teilweise erkannt Worten ist, wie insbesondere die Debatte in der CDU über die Neuorientierung der Parteiarbeit in den Großstädten zeigt. Ein Parteiengesetz wird den Rahmen für eine solche Entwicklung abzugrenzen haben, wobei auch nicht übersehen werden kann, daß auf diese Weise neue Finanzquellen erschlossen werden können.

Sachliche Wahlkampfführung

Das Parteiengesetz ist wie das Wahl-und Auflösungsrecht Teil der politischen Wettbewerbsbedingungen. Dazu gehört auch eine normative Klärung der inhaltlichen Fragen parteipolitischer Auseinandersetzungen: Sollen Wahlkämpfe das Zurschaustellen von Slogans und Köpfen in werbewirksamer Form sein oder soll es sich hierbei um eine Auseinandersetzung über die vergangene und zukünftige Politik handeln? Wo immer man diese Frage stellt, die Antwort zugunsten eines „sachbezogenen" — was immer das sei — Wahlkampfes ist ebenso eindeutig wie die Wirklichkeit durch die Dominanz der Show-Werbung gekennzeichnet ist.

Jeder Forderung nach sachlicher Auseinandersetzung im Wahlkampf wird entgegenzuhalten sein, daß eine detaillierte Auseinandersetzung schon informationstechnisch nicht möglich ist und irreale Anforderungen an den Informationsgrad und die Bereitschaft zur Informationsaufnahme unter den Wählern stellt. Jeder Wahlentscheid bleibt, was schon Carl-Joachim Friedrich betont hat und was die modernen Wahluntersuchngen empirisch belegen, eine Artikulation von Vertrauen in die sachliche Leistungsfähigkeit und die persönliche Integrität der rivalisierenden Führungsgruppen, kurz: Personalplebiszite über den Regierungschef. Eine solche realistische Betrachtungsweise steht aber der Forderung nach sachlicher Information im Wahlkampf nicht entgegen, modifiziert diese jedoch: Im Wahlkampf sollen die Lösungsformeln für anstehende Hauptprobleme, nicht die auf die Aktivierung sozialpsychologisch erkannter Attitüden zugeschnittenen Selbstverständlichkeiten (z. B. Sicherheit) zur Diskussion gestellt werden. Das setzt allerdings voraus, daß solche Lösungsformeln, politische Konzeptionen zunächst von den Parteien entwickelt worden sind. Die Bedeutung eines sachbezogenen Wahlkampfes in diesem Sinne besteht in der notwendigen Kommunikation zwischen Wählern und Parteien, die primäre Voraussetzung der Konsensbildung. Diese Kommunikation herzustellen ist zwar nicht ausschließlich durch eine entsprechende Wahlkampfführung möglich, aber im Wahlkampf als jener Periode der Aktualisierung politischer Strömungen werden die Grundlagen gelegt. Ohne eine solche Kommunikation empfangen die Wähler nicht die erwarteten und geforderten Antworten auf ausstehende Probleme, was zu einer Entfremdung zwischen Wählern und Parteien führt und zu dem Empfinden von Führungslosigkeit und politischer Unsicherheit beiträgt. Damit werden zugleich die Chancen extremer Parteien verbessert, die dieses Vakuum durch das Wecken von Emotionen aufzufüllen versuchen. Es gibt kein Patentrezept, mit dessen Hilfe ein Wandel des Wahlkampfstils erreicht werden kann, es sei denn durch entsprechende Reaktionen der Wählerschaft. Es kann aber nicht übersehen werden, wie sehr der Wechsel zwischen Regierung und Opposition, die chancengleiche Konkurrenz der Parteien um die politische Macht, wie es Folge der Mehrheitswahl ist. — im Gegensatz zum Streben nach politischem Mitbesitz bei Proporz -die sachliche Kommunikation zwischen Wählern und Parteien fördert, wenn auch nicht unter allen Umständen garantiert. Auch in England ist zum Beispiel in den Wahlen von 1959 das wichtigste voraussehbare Problem englischer Politik, der Beitritt zur EWG, nicht diskutiert worden, weil die Parteien darüber selbst zerstritten waren. Dennoch können, wenn die primären Voraussetzungen alternierender Regierungsweise durch die Reform des Wahl-und Auflösungsrechtes geschaffen sind, durch ein Parteiengesetz bestimmte Oiientierunghilfen gegeben werden. Schon eine Begrenzung der für den Wahlkampf verfügbaren Ausgaben würde die bisherige Tendenz, den Wahlkampf als Werbeschau abzuziehen, beeinträchtigen. Ergänzende Maßnahmen kann man der englischen Erfahrung entnehmen die Vorschriften über sogenannte illegale und korrupte Praktiken enthalten. Diese schließen unter anderem das Verbot, Tanzkapellen gegen Bezahlung einzusetzen, Kaffeekränzchen und Stammtische als Wahlveranstaltungen zu betrachten und anderes mehr ein. Solche Vorschriften können zu einem generellen Stilwandel in der Wahl-kampfführung ermuntern, es können Rahmenbedingungen gesetzt werden, die zu einer mehr auf Diskussion denn auf Zurschaustellung ausgerichteten Politik führen.

In diesem Zusammenhang kommt der Berichterstattung über den Wahlkampf in den Massenmedien eine besondere Bedeutung zu, da gerade auf diese Weise die sachliche Auseinandersetzung in die Wählerschaft getragen werden kann. Zwar kann nicht übersehen werden, daß die Berichterstattung über die Wahl-kampfmaßnahmen der Parteien in der Presse in der Bundesrepublik gerade in den letzten Jahren ein sehr hohes Niveau erreicht hat;

es fehlt aber eine eigenständige Beteiligung der Massenmedien, insbesondere eine wirksame Stilkritik. 1961 war sich zum Beispiel die Bonner Presse mit den Parteien einig, nicht über die Berlin-Problematik vor dem 13. August zu berichten, weil diese Krise nicht in die Wahlkampfkonzepte der Parteien paßte, und 1965 wurde der inhaltliche Wandel des SPD-Wahlkampfes von Show zum Vortrag von Einzelprogrammen nicht wiedergegeben. D e Journalisten beteiligten sich nicht an der Diskussion, sondern wirkten als Informationsfilter. Von einer solchen globalen Darstellung gibt es natürlich Ausnahmen, aber die Tendenz ist unverkennbar. Sie ist noch deutlicher bei Rundfunk und Fernsehen, wo die „Große Koalition" aller Parteien und bedeutenden Verbände in den Rundfunkräten zu einer gewissen politischen Sterilität, insbesondere in Wahlkampfzeiten führt: Die vieldiskutierten politischen Sendungen wie Panorama, Report usw. waren nie so „langweilig" wie im letzten halben Jahr vor der Bundestagswahl 1965.

Reform der politischen Wettbewerbsbedingungen

Die Einzelheiten solcher Regelungen sind eingehend zu diskutieren. Wesentlich ist jedoch, daß der Zusammenhang der drei Reformbestrebungen gesehen wird: Reform des Wahlrechts, des Auflösungsrechts und der Formulierung eines Parteiengesetzes. Sie gemeinsam bilden die politische Wettbewerbsgesetzgebung, und diese muß an den funktionalen Erfordernissen parlamentarischer Regierungsweise ausgerichtet sein: Im Normalfall soll eine homogene parlamentarische Mehrheit regieren. Die Mehrheit soll wirksam dadurch kontrolliert werden, daß in der Opposition »der Herrscher von morgen spricht“. Regierung und das von ihr geführte Parlament sollen als Richter der Sozialinteressen eine Rangordnung der politischen Werte und Ziele aufstellen; dazu bedarf es einer gewissen Unabhängigkeit vom Verbandseinfluß, vor allem auf finanziellem Gebiet. Die innere Offung der Parteien kann dazu beitragen und zugleich die innerparteilichen Kontrollmechanismen verstärken. Ungelöst bleibt u. a. das Problem der Effizienz der gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, die noch einer eingehenden Diskussion bedürfen.

Das sind verfassungspolitisch wesentliche Aufgaben der Großen Koalition; sie ist in dieser Hinsicht einer Konstituanten gleichzusetzen. Sie muß die Arbeit des Parlamentarischen Rates ergänzen und wiederaufnehmen, ja in wesentlichen Punkten modifizieren. Nur wenn sie dieser Aufgabe gerecht wird, erhält sie die Legitimation für ihre eigene Existenz, denn alle anderen Maßnahmen, so wesentlich sie nach dem jeweiligen politischen Standort auch erscheinen mögen, lassen sich realisieren, ohne das Wechselspiel von Regierung und Opposition, das Lebenselixier demokratischer Regierungsweise aufzuheben. Gelingt diese Neuorientierung nicht, so erweisen sich all die Begründungen, die von Reformen und Koalition auf Zeit usw. sprechen, als wenig glaubhaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe dazu Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Hamburg 1950s., Zweitbearbeitungen 1964 s., Art. 67, S. 1, 2; Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, München-Berlin 1966, Art. 67, S. 1, 2; und auch, allerdings kritischer, Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, Berlin-Frankfurt 19642, S. 1290 s. Anderer Ansicht war schon immer F. A. Hermens, Verfassungslehre, Frankfurt-Bonn 1964, S. 453.

  2. Es wurde mehrfach betont, von der FDP allerdings ebensooft dementiert, daß etwa 5 FDP-Abgeordnete nicht bereit gewesen seien, einen SPD-Kanzler zu wählen. Ob diese Behauptung korrekt ist, kann letztlich nicht bewiesen werden, da eine entsprechende Abstimmung nicht stattfand. Für die Realität des Argumentes sprechen jedoch eine Reihe von Hinweisen, insbesondere die Art der sozialen Bindung eines wesentlichen Teils der FDP-Fraktion. Auf jeden Fall schien der SPD das Risiko einer Regierung, die quantitativ auf die Unterstützung aller FDP-Abgeordneten angewiesen war, nicht tragbar. Für den Entschluß der SPD spricht auch die in der CDU vielfach verbreitete Meinung, daß man die FDP wie 1956 hätte spalten können, wenn man nur selbst einig gewesen wäre. Vergl. dazu die Analyse der Regierungsbildung von 1965 in W. Kaltefleiter, Konsens ohne Macht? Analyse der Bundestagswahl von 1965, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 1, 1966, S. 58/59. 2a) Vergl. dazu auch E. Küchenhoff, Mißtrauensantrag und Vertrauensfrage-Ersuchen, in: Die öffentliche Verwaltung, Heft 4, 1967, S. 116 ff., der in der Aufforderung des Bundestages an den Bundeskanzler, die Vertrauensfrage zu stellen, ein Instrument parlamentarischer Kontrolle sieht.

  3. Dieses Argument wurde z. B. schon von Konrad Adenauer unmittelbar vor der Bundestagswahl 1965 vertreten. Siehe dazu K. Adenauer, Möglichkeiten einer Großen Koalition, in: Die politische Meinung, Heft 108, September 1965, S. 13 ff.

  4. In seiner Regierungserklärung am 13. Dezember 1966 sagte Kiesinger: „Während dieser Zusammenarbeit soll nach Auffassung der Bundesregierung ein neues Wahlrecht grundgesetzlich verankert werden, das für künftige Wahlen zum Deutschen Bundestag nach 1969 klare Mehrheiten ermöglicht." (Zitiert nach: Das Parlament Nr. 51— 52 vom 21. Dezember 1966 — Hervorhebung nach Das Parlament.) In der darauffolgenden Aussprache über die Regierungserklärung am 15. Dezember 1966 erklärte für die CDU/CSU Barzel: „Wir wollen diese Koalition auf Zeit. Der Zwang zum Ende muß auch durch ein Ubergangswahlrecht für 1969 verstärkt werden." Für die SPD erklärte Schmidt: „Die Regierung hat ihre Absicht erklärt, ein Wahlrecht zu schaffen, das klare Mehrheiten im Bundestag ermöglicht.......... Ich wiederhole also für meine Fraktion: Wir wer

  5. Zu den Auswirkungen der relativen Mehrheitswahl auf die Parteien s. F. A. Hermens, Verfassungslehre, a. a. O., S. 209 ff.

  6. Für die CDU zum Beispiel D. W. Rollmann, Wider das Mehrheitswahlrecht, in: Die Zeit Nr. 32, vom 6. August 1965. In der SPD herrscht in dieser Frage offensichtlich größere Parteidisziplin. Trotzdem sind auch in der SPD die Meinungen geteilt. Siehe dazu zum Beispiel in Die Welt vom 9. Februar 1967: „Die Rollmanns der SPD sind westlich des Rheins und südlich des Mains zu finden".

  7. So u. a. in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt am 6. Januar 1966.

  8. Siehe dazu das Interview mit Ludwig Erhard in der Stuttgarter Zeitung vom 12. Februar 1967.

  9. So zum Beispiel Bundeskanzler Kiesinger in seiner Regierungserklärung am 13. Dezember 1966: .. Die stärkste Absicherung gegen einen möglichen Mißbrauch der Macht ist der feste Wille der Partner der Großen Koalition, diese nur auf Zeit, also bis zum Ende der Legislaturperiode, fortzuführen." (Zitiert nach: Das Parlament Nr. 51— 52 vom 21. Dezember 1966) Und Schmidt, SPD, erklärte in der Debatte über die Regierungserklärung am 15. Dezember 1966: „Die Große Koalition bedeutet zeitlich begrenzte Einigung erstens über die Aufgaben der Regierung, zweitens über die Person des Kanzlers aus den Reihen der stärksten Gruppierung der Koalition und drittens die Verteilung der Ressortaufgaben auf die beiden Partner.“ (Zitiert nach: Das Parlament Nr. 1 vom 4. Januar 1967.)

  10. Demgegenüber wird oft darauf hingewiesen, die Unterstützung der SPD sei nur um den Preis der Regierungsbeteiligung zu erlangen gewesen, weil diese eine solche Mitregierung für die Verbesserung ihres „Images" für notwendig hielt. Dabei wird zunächst übersehen, daß die SPD schon 1965 das Image der Regierungsfähigkeit besaß — die Wahl verlor sie, weil ihr Kanzlerkandidat nicht die Zustimmung in der Wählerschaft fand. Wenn trotzdem die SPD diese Stellung eingenommen haben sollte, so wäre das nur ein Beweis dafür, daß nicht eine, wie auch immer in der Aufgabe begründete Ausnahmesituation, sondern das Image-interesse der Partei zur Großen Koalition geführt

  11. Siehe dazu K. H. Nassmacher, Die österreichische Koalition. Entstehung, Arbeitsweise und Zerfall, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 1, 1966.

  12. O. Kirchheimer, The Waning of Opposition in Parliamentary Regimes, in: Social Research, Vol. XXIV, Albany N. Y. 1957.

  13. O. Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 1965, S. 20— 41.

  14. Das gilt in vollem Umfange seit 1955, das heißt seit Abschluß des österreichischen Staatsvertrages. Bis dahin bestand weitgehend eine Ausnahmesituation, die die Große Koalition als national government rechtfertigte und in Grenzen arbeitsfähig erhielt. Siehe dazu K. H. Nassmacher, Von der Großen Koalition zum alternative government (in Vorbereitung).

  15. Zum Begriff siehe M. Weber, Politik als Beruf, in: Politische Schriften, Tübingen 19582, S. 530.

  16. Für einige Einzelheiten siehe V. Gemmecke und W. Kaltefleiter, Die NPD und die Ursachen ihres Erfolges, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 2, 1967, erster Halbband.

  17. Zur Bedeutung dieser Perzeption siehe W. Kaltefleiter, Wirtschaft und Politik in Deutschland. Konjunktur als Bestimmungsfaktor des Parteiensystems, Köln-Opladen 1966, S. 108.

  18. So Herbert Wehner auf dem Parteitag der SPD in Dortmund, zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juni 1966.

  19. Siehe dazu zum Beispiel die verschiedenen Untersuchungen von E. K. Scheuch und H. D. Klingemann, Materialien zum Phänomen des Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik 1966. Eine Untersuchung der Wählerschaft der NPD, mimeographiert, Köln 1966.

  20. Zu Art und Anzahl der Wechsel-Wähler in der Bundesrepublik: M. Kaase, Analyse der Wechsel-wähler in der Bundesrepublik, in: Sonderheft 9 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Zur Soziologie der Wahl, Köln-Opladen 1965.

  21. So F. A. Hermens, Verfassungspolitischer Neubeginn, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 2, 1967, erster Halbd.

  22. Zum Begriff siehe F. A. Hermens, Verfassungslehre, a. a. O., S. 474.

  23. Grundlagen und Bedeutung werden kritisch geprüft von R. Wildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen-und Außenpolitik, Frankfurt-Bonn 1963, S. 78 f. und 150 f. Vgl. auch D. Sternberger, Die Macht des Kanzlers und die Einheit der Regierung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4 November 1964, S. 14.

  24. Siehe dazu D. Sternberger, Die Macht des Kanzlers . . . ., a. a. O.

  25. Das wird auch bei der Darstellung der Regierungsbildung von 1949 durch Konrad Adenauer deutlich. Siehe K. Adenauer, Erinnerungen 1946— 1953, Stuttgart 1965, S. 224 ff.

  26. Siehe W. Kaltefleiter, Wirtschaft und Politik .. ., a. a. O., S. 146 ff.

  27. Siehe dazu M. Walden, Keine Alternativen, in: Die Ära Adenauer. Einsichten und Ausblicke, Frankfurt-Hamburg 1964, S. 162 u. 163.

  28. Vgl. dazu R. Wildenmann, Parteipolitische Malaise? in: G. Klepsch, H. Müller, R. Wildenmann, Die Bundestagswahl 1965, München 1965, S. 9— 42.

  29. Zum Begriff und seiner Bedeutung für das politische System siehe F. A. Hermens, Verfassungslehre, a. a. O., S. 30 ff.

  30. Siehe dazu R. Wildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen-und Außenpolitik, a. a. O., S. 182 ff.

  31. Für die CDU siehe U. Schleth, Die Finanzen der CDU, in: Zur Soziologie der Wahl, Sonderheft 9 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-Psychologie, 1965, S. 215 ff., insbesondere S. 244 bis 245.

  32. Siehe dazu R. Breitling, Das Geld in der deutschen Parteipolitik, in: Politische Vierteljahres-schrift, Band II, S. 348 ff.

  33. Siehe R. Wildenmann und E. K. Scheuch, Der Wahlkampf 1961 im Rückblick, in: Zur Soziologie der Wahl, a. a. O., S. 42.

  34. Siehe dazu E. K. Scheuch, Zur Irrelevanz des Wählerwillens, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 1, 1966, S. 63 ff.

  35. Bei dieser Angleichung sind zwei verschiedene Formen zu unterscheiden. Die erste betrifft den dargelegten Wandel der SPD von einer ideologisch und gruppensoziologisch einseitig ausgerichteten zur funktionalen Partei, entspricht also einer Verbreiterung des Verfassungskonsenses. Darüber hinaus ist aber eine Anpassung der SPD auch in Detailfragen an die CDU/CSU nicht zu übersehen, für die es aus der Entwicklung des Parteiensystems keine Notwendigkeit gibt, die aber taktisch-opportune Gründe hat. Vgl. dazu auch W. Kaltefleiter, Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems, in: H. Unkelbach, R. Wildenmann, W. Kaltefleiter, Wähler, Parteien, Parlament, Funktionen und Bedingungen der Wahl, Frankfurt-Bonn 1965.

  36. 1 Siehe dazu R. Wildenmann und U. Schleth, Die CDU, in: H. Unkelbach, R. Wildenmann, W. Kaltefleiter, Wähler, Parteien, Parlament, a. a. O.

  37. Siehe dazu W. Kaltefleiter, Wirtschaft und Politik in Deutschland, a. a. O., S. 111 ff.

  38. Siehe F. A. Hermens, Demokratie oder Anarchie?, Frankfurt 1952, S. 77 ff.

  39. Voraussetzung für die parlamentarische Mehrheit ist, daß die Stimmen weitgehend gleichmäßig über das ganze Land verteilt sind. Wenn eine dritte Partei über nennenswerte regionale Hochburgen verfügt, ist sie natürlich trotz absolut geringen Stimmenanteils im ganzen Land in der Lage, einige Mandate zu gewinnen und gegebenenfalls die Mehrheitsbildung in Frage zu stellen. Das gilt zum Beispiel für Kanada. (Siehe K. Franzen, Politische Heterogenität. Der Fall Kanada, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 1, 1966.) Dieses Beispiel widerlegt jedoch die These von der Tendenz zum Zweiparteiensystem und der Mehrheitswahl nicht; es ist allein notwendig, diese Theorie auf die entsprechenden sozialen Bedingungen zu relativieren, nämlich auf eine Gesellschaft mit ausgeglichener Verteilung der sozialen Gruppen. Das aber ist in modernen Industriegesellschaften mit weitgehender vertikaler und horizontaler Mobilität in der Regel der Fall und gilt für die Bundesrepublik unbestritten.

  40. Ein ähnliches Ergebnis zeigte die Umrechnung der Wahl von 1961. Siehe R. Wildenmann, W. Kaltefleiter, U. Schleth, Die Auswirkungen verschiedener Wahlsysteme auf das Parteien-und Regierungssystem der Bundesrepublik, in: Zur Soziologie der Wahl, a. a. O.

  41. Für einige Einzelheiten siehe R. Wildenmann und W. Kaltefleiter, Voraussetzungen zur Erörterung der Auswirkungen von Wahlsystemen, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 4, 1966, S. 566 ff.

  42. Das behauptet zum Beispiel H. Jäckel, Zur Erörterung der Auswirkungen von Wahlsystemen, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 4, 1966.

  43. Dabei ist jedoch zu betonen, daß der „BIAS" vor allem in den ersten Jahrzehnten Folge unglei-cher Wahlkreiseinteilung war — ein Problem, das in England heute durch die Boundary Commissions vorbildlich gelöst wird.

  44. Wobei es natürlich methodologisch nicht ohne weiteres möglich ist, das Wahlverhalten unter veränderten Wahlsystemen als konstant zu betrachten.

  45. Das wird besonders deutlich an dem Fall Kanadas, einem anderen vielzitierten Beispiel. Vergl. Anmerkung 39.

  46. Zum Begriff siehe M. Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, a. a. O.

  47. Siehe dazu zum Beispiel D. Rollmann, Warum das Wahlrecht ändern?, in: Christ und Welt vom 3. März 1967.

  48. So F. A. Hermens und H. Unkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 1, 1967, S. 13.

  49. Für einige Einzelheiten siehe F. A. Hermens und H. Unkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, a. a. O., S. 14 ff.

  50. Für einige Einzelheiten s. R. Wildenmann, W. Kaltefleiter und U. Schleth, Auswirkungen von Wahlsystemen . . . , a. a. O., S. 102 ff.

  51. So F. A. Hermens und H. Unkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, a. a. O., S. 13.

  52. So zum Beispiel E. K. Scheuch in einer Podiumsdiskussion der Evangelischen Akademie in Mül-heim am 12. Februar 1966.

  53. Siehe dazu R. Wildenmann und W. Kaltefleiter, Funktionen der Massenmedien, Frankfurt/Köln 1965.

  54. Siehe H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1962, S. 406.

  55. Siehe dazu die Untersuchung von Rudolf Wildenmann über die Bundestagswahl 1965.

  56. Siehe A. Hamann, Das Bonner Grundgesetz, a. a. O., S. 320 und 357; E. Meder, in: Bonner Kommentar, a. a. O., Erläuterungen I. 1 zu Artikel 68; Maunz-Dürig, Bonner Kommentar, a. a. O., Erläuterungen 5 zu Artikel 68, und ähnlich auch von Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, a. a. 0., S. 310.

  57. F. A. Hermens, Medien der Massenkommunikation und rationale Politik, in: Wissenschaft und Praxis, Köln-Opladen 1967, S. 65 ff.

  58. Siehe dazu W. Kaltefleiter, Konsens ohne Macht, a. a. O., S. 40, sowie U. Schleth, Die Finanzen der CDU, a. a. O.

  59. In vielen Fällen ist die Parteiorganisation nur Anhängsel anderer gesellschaftlicher Organisationsformen, zum Beispiel der Gewerkschaften auf Seiten der SPD, der Katholischen Laienorganisation oder des Bauernverbandes auf Seiten der CDU. Bis etwa 1961 konnte man die CSU in ländlichen Gegenden organisatorisch nur mit dem Weberschen Krite-rium der „Kaplanokratie" erfassen. Siehe dazu M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Politische Schriften, a. a. O., S. 316.

  60. I Siehe dazu E. Ritterbach, Die Aufstellung der CDU-Landesliste Nordrhein-Westfalen zur Bundestagswahl 1965, Diplomarbeit, angefertigt im Seminar für politische Wissenschaft der Universität Köln im Wintersemester 1966/67.

  61. Dieser Gedanke wurde zum Beispiel von E. K. Scheuch auf der Podiumsdiskussion der Evangelisehen Akademie in Mülheim am 12. Februar 1966 in die Debatte geworfen, was bei den Vertretern der Parteien ein sehr unbestimmtes Echo fand: Im Ge-gensatz zur Wahlrechtsfrage scheinen bei diesem Problem die Meinungen noch nicht vorgefaßt zu sein Für eine Diskussion der Vorwahlen siehe L Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, Koln-Opladen 1962, S. 55 ff.

  62. Siehe dazu: The Representation of the People Act, für deren Entwicklung die ersten Schritte schon im vergangenen Jahrhundert gemacht wurden und deren jüngste Fassung aus dem Jahre 1949 stammt.

Weitere Inhalte

Politik, Heft 3, 1965; Konsens ohne Macht? Eine Analyse der Bundestagswahl 1965, in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 1, 1966; Die Auswirkungen verschiedener Wahlsysteme auf das Parteien-und Regierungssystem der Bundesrepublik (zus. m. Rudolf Wildenmann u. Uwe Schleth), in: Sonderheft 9 der Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Zur Soziologie der Wahl, Köln-Opladen 1965; Voraussetzungen zur Erörterung von Wahlsystemen (zus. m. Rudolf Wildenmann), in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 4, 1966; Die NPD und die Ursachen ihres Erfolges (zus. m. Vera Gemmecke), in: Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd, 2, 1967, 1, Halb-band.