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Die deutsche Kriegszielpolitik 1914— 1918 | APuZ 25/1967 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 25/1967 Die deutsche Kriegszielpolitik 1914— 1918 Die Kriegsschuldfrage — Das Ende eines Tabus

Die deutsche Kriegszielpolitik 1914— 1918

Wolfgang J. Mommsen

Bemerkungen zum Stand der Diskussion

Abbildung 1

Diese Ausgabe enthält zwei Beiträge zu der schärfsten Kontroverse, die die deutsche Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten ausgefochten hat, den von Fritz Fischer ausgelösten Streit um die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und um die deutsche Kriegszielpolitik vor und während dieses Krieges. Wolfgang J. Mommsen gibt einen Überblick über Gang und Stand der Diskussion und setzt sich mit den Thesen Fritz Fischers, zum Teil auch mit denen anderer Teilnehmer der Debatte auseinander. Imanuel Geiss, ein Schüler Fritz Fischers, gibt hier aus seiner Sicht eine Darstellung der Julikrise 1914. Beide Aufsätze sind stark gekürzt. Sie sind mit freundlicher Genehmigung der Nymphenburger Verlagshandlung, München, dem in diesen Tagen erscheinenden Buch „Kriegsausbruch 1914" entnommen. Der vollständige Text und der ebenfalls nicht abgedruckte Anmerkungsapparat können in dem Buch eingesehen werden.

Fritz Fischers große Untersuchung über die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914— 1918 (Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18) hat schon unmittelbar nach ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1961 — inzwischen liegt bereits eine dritte, geringfügig verbesserte Auflage vor — großes Aufsehen nicht nur in den Kreisen der historischen Wissenschaft, sondern auch der breiteren Öffentlichkeit hervorgerufen. Die Wellen der Erregung schlugen sehr hoch und sind auch heute noch keineswegs abgeebbt. Man wird sich fragen, warum es überhaupt zu solch heftigen Reaktionen seitens der historischen Wissenschaft und der breiteren Öffentlichkeit kam. Der Grund liegt klar zutage: Fritz Fischer berührte mit seinen Untersuchungen einen der wunden Punkte des deutschen historischen Selbstverständnisses, das sich eben anschickte, nach der Katastrophe, mit welcher die nationalsozialistische Ära geendet hatte, wieder in Funktion zu treten. Sollte wirklich die ganze jüngere deutsche Vergangenheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr gewesen sein als die Vorgeschichte des nationalsozialistischen Großraumimperialismus? Fritz Fischer hat solche Vorstellungen in seinem Werk nur gelegentlich anklingen lassen, aber sie drängten sich seinen Lesern dennoch auf, nicht zuletzt infolge des provozierenden Stils seiner Darstellung.

Fischers Herausforderung an das bisherige Geschichtsbild

In der Tat stellen Fischers Thesen, vorgetragen in der Form eines unerbittlichen Beweis-antrages, eine Herausforderung an das hergebrachte Bild der Geschichte des Ersten Weltkrieges dar, wie es sich in den zwanziger Jahren herausgebildet und wie es die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945 mit nur geringen Modifikationen übernommen hatte. Die deutsche Historiographie der Weimarer Zeit hatte es als eine ihrer legitimen nationalen Aufgaben betrachtet, den Schuldspruch des § 231 des Versailler Vertrages zu revidieren, auf den das drückende Gebäude der Reparationen und der Diskriminierung Deutschlands juristisch gegründet war; und es schien, daß diese Bemühungen im wesentlichen gelungen und eine Art internationaler Übereinstimmung darüber erreicht waren, daß eine einseitige Belastung Deutschlands mit der Schuld am Kriege durch die Quellen nicht bestätigt werde, wie bedenklich die deutsche Politik im Juli 1914 auch immer gewesen sein möge. Demgegenüber betonte Fritz Fischer unter Berufung auf das große Werk Luigi Albertinis über die Politik der europäischen Kabinette in der Juli-krise, aber tatsächlich in einseitiger Zuspitzung seiner Ergebnisse, daß es sich vielmehr um einen maßgeblich von Deutschland provozierten Krieg gehandelt habe, der dem Deut-3 sehen Reich endgültig den Durchbruch zur Welt-macht, es zu einer den großen Weltreichen des britischen Empire, des zaristischen Rußlands und der Vereinigten Staaten von Amerika ebenbürtigen Weltstellung habe bringen sollen. Demgemäß seien auch die deutschen Kriegsziele nicht bloß das Ergebnis der Kriegs-situation selbst, sondern vielmehr der unverhüllte Ausdruck des Weltmachtwillens der gesamten deutschen Nation. Den Gedanken, daß diese erst unter dem Eindruck der bedrohten machtpolitischen Stellung des Deutschen Reiches inmitten des europäischen Kontinents ihre schließliche, gelegentlich überaus extreme Form erhalten hätten, wischte Fischer vom Tisch. Klar und scharf gemeißelt zeichnet er ein Bild kontinuierlichen deutschen Weltmachtstrebens, das, weit entfernt, von den konkreten Verhältnissen bedingt zu sein, vielmehr diesen selbst erst seinen Stempel auferlegte — eine, wie man unschwer erkennen kann, im Kern rein gesinnungsethische Interpretation, die freilich im Laufe der Darstellung vielfach mit sozialökonomischen und interessenpolitischen Erklärungsmodellen vermischt wird, ohne jedoch viel von ihrem moralistischen Grundton zu verlieren, der die Hemmungsund Maßlosigkeit eines nationalimperialistischen Denkens immer wieder aufs neue an den Pranger stellt.

Auch die bisherige Forschung war nicht blind gegenüber der Tatsache geblieben, daß große Teile der deutschen Nation im Ersten Weltkrieg extrem annexionistische und imperialistische Ziele vertreten und diese in lautstarker Form propagiert haben. Aber man schrieb dies in erster Linie der Kriegsatmosphäre und der Uninformiertheit der Öffentlichkeit über die wirkliche Lage der Dinge zu. Soweit von Regierungsseite annexionistische Kriegsziele verfochten worden waren, schienen diese entweder durch die Kriegssituation selbst bedingt und zudem weitgehend taktischer Natur gewesen zu sein, oder man schrieb sie auf das Konto der Militärs. Darüber, daß die Regierung selbst eine vergleichsweise gemäßigte Richtung vertreten habe, waren sich eigentlich alle Lager einig, mit Ausnahme vielleicht der extremen Linken. Dies ist auf den Gang der Forschung ebenso wie auf die Entwicklung des Geschichtsbildes der deutschen Öffentlichkeit nicht ohne Einfluß geblieben.

Bisherige Forschung: Verständigungsbereite Politiker gegen maßlose Militärs

Ebenso wie den Zeitgenossen war es auch der historischen Forschung bisher im großen und ganzen unzweifelhaft, daß die politische Leitung bis zu ihrer faktischen Entmachtung seit dem Frühjahr 1917 einem Verständigungsfrieden mit durchaus maßvollen Zielen zugeneigt gewesen sei, während die Militärs, befangen in den Traditionen der Vernichtungsstrategie, stets den absoluten Siegfrieden angestrebt und darob mit der politischen Leitung immerwieder in Konflikt geraten seien. Die leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Anhängern eines gemäßigten Friedens und jenen eines vollen Siegfriedens, der nicht zuletzt die absolute Seeherrschaft Englands brechen müsse und um den in den ersten Kriegsjähren unter der Decke in der Form eines Denkschriften-krieges, dann aber seit Ende 1916 mit offenem Visier und in immer ungehemmteren Formen gekämpft wurde, stand im Mittelpunkt des Interesses; über die außenpolitischen Vorgänge während des Krieges, insbesondere die zahlreichen Sonderfriedensbemühungen, war hingegen nicht allzuviel bekannt. Bethmann Hollweg selbst wurde überwiegend als eine willens-und entschlußschwache Persönlichkeit gedeutet, die zwar besten Willens gewesen sei, sich aber gegenüber dem vereinten Widerstand der Militärs, der konservativen Kreise, der Industrie und den Parteien der Rechten nicht habe durchsetzen können. In vermindertem Maße gilt dies auch für den Reichskanzler Graf Hertling und dessen Staatssekretär des Äußeren, von Kühlmann, deren scharfe Konflikte mit der Obersten Heeresleitung besondere Beachtung fanden und meist unbesehen als Beleg für ihre angeblich gemäßigte Haltung galten. Im allgemeinen herrschte Einigkeit darüber, daß jedenfalls für die Zeit Bethmann Hollwegs von einem positiv annexioni stischen Kriegszielprogramm, auf dessen Durchsetzung die politische Leitung unter allen Umständen bestanden haben würde, nicht die Rede sein könne, wenngleich man nicht immer im gleichen Maße wie E. Volkmann von der Bereitschaft Bethmann Hollwegs überzeugt war, einen Verständigungsfrieden ohne nennenswerte Annexionen zu schließen. Man kreidete es der Reichsleitung nur als schweren Fehler an, die Bereitschaft zur Wiederfreigabe Belgiens aus fragwürdigen taktischen Gründen immer wieder aufgeschoben zu haben. Arthur Rosenberg etwa urteilte, Bethmann Hollweg und Wilhelm II.seien ohne klares Kriegsziel gewesen; des Kanzlers eigene Kriegsziele hätten ein Gemisch aus sämtlichen Richtungen dargestellt. Hans Herzfeld meinte, der erste Kriegskanzler sei bestrebt gewesen, „den Weg zum Verhandlungsfrieden durch einen ehrlichen, wenn auch in der Öffentlichkeit selbst für ihn nicht ohne Anpassung möglichen Kampf gegen übersteigerte Kriegsziele offen-zuhalten."In der Aufgabe dieser gemäßigten Linie durch die späteren Kanzler, unter dem Druck der Militärs und der annexionistischen Rediten hat die bisherige Forschung die eigentliche Ursache der deutschen Niederlage gesehen, und nicht so sehr in der Ausrichtung der deutschen Politik zu Beginn und in den ersten Jahren des Krieges. Der Person ebenso wie der Politik des ersten Kriegskanzlers kam daher eine Schlüsselstellung für die Deutung der gesamten Entwicklung bis hin zur totalen Niederlage des Jahres 1918 zu, und daher konzentriert sich auch die gegenwärtige Diskussion auf die ersten Kriegsjahre.

Fischer: Einheitliche Konzeption der Machterweiterung Deutschlands

3chon Hans Gatzke hatte in seiner Untersuchung der westlichen Kriegsziele Deutschlands „Germany’s Drive to the West" eine Bresche in diese überkommene Deutung der deutschen Politik im Ersten Weltkrieg geschlagen, obgleich er nur das gedruckte Quellenmaterial benutzen konnte. Gleichwohl hielt auch Gatzke daran fest, daß die Kriegsziele der Reichsleitung, vorab die Bethmann Hollwegs, verglichen mit den extremen Plänen, die in der deutschen Öffentlichkeit propagiert wurden, „im ganzen gemäßigt" gewesen seien. Aber erst Fritz Fischer, neuerdings unterstützt durch die Arbeiten von Werner Basler und Imanuel Geiss, hat das herkömmliche Schema vom schroffen Gegensatz eines annexionistischen und eines gemäßigten, im wesentlichen nichtannexionistischen Lagers, welches nicht nur das Denken der Zeitgenossen, sondern auch der historischen Fachliteratur bis in die jüngste Zeit hinein beherrscht hat, beiseite geschoben und an dessen Stelle die These von der „grundsätzlichen Einheit und der Stärke des Kriegszielwillens aller politisch maßgebenden Kräfte in Deutschland, angefangen vom Kaiser und fortgeführt über die zivile Reichsleitung und die militärische Führung bis hin zur Mehrheit des Reichstages und der deutschen Presse", gesetzt. Fischers stellenweise im Stile eines Staatsanwalts geführten Untersuchungen kommen zu dem Schluß, daß den Differenzen der verschiedenen Richtungen in der Kriegszielfrage, so stark die Zeitgenossen diese auch empfunden haben mögen, nur eine relative Bedeutung zugemessen werden könne. Alle Nuancen und Unterschiede in den Kriegszielvorstellungen der einzelnen Instanzen, gesellschaftlichen Gruppen und Persönlichkeiten verschwinden gleichsam gegenüber einem mono-

Ethischen Block des Weltmachtwillens aller maßgebenden Schichten und Gruppen der Nation. Zwar betont auch Fischer, daß die weitausgreifendsten imperialistischen Kriegs-ziele in erster Linie von der Schwerindustrie, den Militärs und breiten Schichten des Groß-bürgertums verfochten worden sind; aber auch die Sozialdemokratie und die Gruppen der deutschen Intelligenz, die sich im späteren Verlauf des Krieges hinter den „Volksbund für Freiheit und Vaterland" stellten, verfallen dem Verdikt, dem Weltherrschafts-oder doch Weltmachtsanspruch Deutschlands mindestens zeitweilig ihre Unterstützung verliehen zu haben. So werden etwa Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke und Alfred Weber expressis verbis zu den Imperialisten, wenn auch nicht zu den offenen, gezählt. Nur die äußerste Linke und einzelne entschiedene Pazifisten wie Friedrich Wilhelm Foerster können vor dem strengen Maßstab Fritz Fischers, dem absoluten Status quo ante, bestehen.

Fischer geht freilich noch weiter. Er beschränkt sich nicht darauf, den Gegensatz der Anhänger des sogenannten Verständigungs-und des so-genannten Siegfriedens als bloß sekundär und scheinbar zu bezeichnen, sondern spricht darüber hinaus von einer einheitlichen und umfassenden, vor allem aber in allen Phasen des Krieges kontinuierlich durchgehaltenen Konzeption der Machterweiterung Deutschlands auf Kosten aller seiner Gegner auf Seiten der Reichsleitung, und zwar nicht bloß des Kaisers und der OHL, sondern namentlich auch Bethmann Hollwegs und seiner engsten Mitarbeiter. Sie alle hätten, trotz mannigfacher Nuancen und Modifikationen im einzelnen, doch stets konsequent auf die Erringung der Weltmacht-Stellung für das Deutsche Reich als dem eigentlichen Ziel des Krieges hingearbeitet. Diese granitharte und eigentlich recht undifferenzierte These wird nun mit einer Überfülle von Aktenbelegen als der eigentlich objektive Kern all des verwirrenden Gegeneinanders der verschiedensten Instanzen, Parteien und Gruppen herausgearbeitet. Das Hauptgewicht der Argumentation wird dabei auf den Nachweis gelegt, daß zwischen den Ansichten der politisch verantwortlichen Persönlichkeiten und jenen der Militärs kein wesentlicher Unterschied bestanden habe, daß vielmehr beide in ihrem grundsätzlichen Ziel, die deutsche Weltmachtstellung zu erkämpfen, in voller Übereinstimmung mit der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes gestanden hätten. Diese Darstellung der Dinge, über deren sachliche Berechtigung wir an dieser Stelle einstweilen gar nicht urteilen wollen, steht nicht bloß in scharfem Kontrast zu dem hergebrachten Bild vom Kanzler Bethmann Hollweg als eines Politikers der Mäßigung und der Verständigung , sondern bildet in Wahrheit die exakte Antithese zur bisherigen Sicht der deutschen Kriegszielpolitik überhaupt. Fast das ganze deutsche Volk, mit Ausnahme nur sehr kleiner, politisch und gesellschaftlich unbedeutender Gruppen, habe mehr oder minder sich jenem gigantischen Maditwillen verschrieben, der die Gleichberechtigung des Deutschen Reiches neben den Weltmächten des Britischen Empire, der Vereinigten Staaten und des russischen Reiches zum Ziele gehabt habe. Fischers Deutung des ersten Kriegskanz-lers als eines zielbewußten Machtpolitikers der Deutschland bewußt in den großen Krieg hineingeführt und dann in seinen Methoden elastisch, in der Sache aber um so unnachgiebiger und zäher auf das Ziel der Machterweiterung Deutschlands hingearbeitet habe, liest sich geradezu als die Umkehrung der bisherigen, in der Atmosphäre des Kampfes gegen die Kriegsschuldthese entstandenen „gesinnungspolitischen" Deutung vom „innerlich verständigungsbereiten" Bethmann Hollweg, der sich mit seinen Absichten infolge einer unglücklichen Verkettung von innen-und außen-politischen Widerständen jedoch leider nicht habe durchsetzen können. Sie verfällt freilich in den gleichen Fehler wie die bisherige Literatur, wenn sie die Kriegszielpolitik Bethmann Hollwegs ebenfalls auf einen „gesinnungspolitischen" Kern, auf ganz persönliche Zielsetzungen zurückzuführen versucht, nämlich „ein beharrliches und zielbewußtes Streben auf eine Machterweiterung Deutschlands nach Ost und West", welches allen noch so taktisch bedingten Stellungnahmen des Kanzlers zu den Kriegszielfragen zugrunde gelegen habe. Daran schließt sich dann die weitere These von der Kontinuität der deutschen Kriegszielpolitik vom September 1914 bis hin zu den Ostfriedensschlüssen des Jahres 1918 an. Sie steht gleichfalls in Widerspruch zu den bisherigen Darstellungen, die im Übergang zum unbedingten U-Boot-Krieg und in der Militarisierung 'der gesamten inneren und äußeren Politik durch die 3. OHL einen qualitativen Sprung in der Entwicklung sahen.

Beweisführung ist auf Erhärtung der These vom Weltmachtwillen abgestellt

Ohne zu den Einzelheiten selbst Stellung zu nehmen, läßt sich doch generell sagen, daß dem Werk Fischers im ganzen ein relativ un-differenziertes gesinnungsethisches Erklärungsmodell zugrunde liegt. Das politische Handeln der verantwortlichen Persönlichkeiten und Gruppen im Deutschland des Ersten Weltkrieges erscheint in der Regel als Ausfluß einer bestimmten gesinnungsethischen Haltung, nämlich eines spezifisch machtpolitischen, imperialistischen Denkens nationalistischer Prägung, und dies allen situationsbedingten Faktoren zum Trotz. Es scheint, als ob es Fritz Fischer und ebenso seinem Schüler Imanuel Geiss vor allem darauf angekommen sei, diese in ihren Augen natürlich mit gutem Recht verwerfliche Geisteshaltung möglichst rein zur Darstellung zu bringen; deshalb wohl auch der eigentümliche, plakatartige Plädoyerstil, der sich bei ihnen findet, sowie die nachweislich vorliegende Tendenz, die reichlich vorliegenden Kriegszieldokumente stets im Maximalsinne zu interpretieren, obwohl in der Politik nicht weniger als im täglichen Leben stets das Wort gilt, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht ist. Zu dieser Grundtendenz des Buches paßt es schließlich gut, daß es Fischer gar nicht darauf ankommt aus der Vielfalt taktisch bedingter Stellungnahmen der verschiedensten Instanzen und Persönlichkeiten graduell oder grundsätzlich differenzierte Standpunkte herauszuarbeiten; er hält sich an den Wortlaut der Dokumente, ganz gleich, wie auch immer die Situation gewesen sein mag, in der sie entstanden sind, und welcher spezifischen Zielsetzung sie jeweils gedient haben mögen. Diese Methode ist in einzelnen Fällen, wie etwa bei der Behandlung der Kreuznacher Kriegszielkonferenz vom 23. April 1917, äußerst irritierend für jeden, der davon ausgeht, daß sich in der Politik grundsätzlich verschiedene Standpunkte fast stets in die Form bloß gradueller Differenzierungen kleiden.

Es kommt hinzu, daß es sich bei dem Werk Fritz Fischers nicht so sehr um eine narratio des Geschehens im herkömmlichen Sinne und eine kausale Rekonstruierung der Zusammenhänge handelt, sondern vielmehr um eine immer wieder neu ansetzende Beweisführung, die nahezu ausschließlich der Erhärtung der einen Hauptthese vom maßlosen deutschen Weltmachtwillen dient. Dies bringt in Fischers Darstellung zahlreiche Einseitigkeiten, gelegentlich auch Überspitzungen hinein, die oft hernach teilweise wieder zurückgenommen werden, auch wenn es absurd und ungerecht ist, ihm bewußte Verfälschung seiner Quellen vorzuwerfen. Beispielsweise sieht Fritz Fischer in dem deutschen Friedensangebot vom 12. Dezember 1916 nichts weiter als ein taktisches Manöver, um eine Deutschland unbequeme Friedensvermittlung durch Wilson zu verhindern und den unbeschränkten U-Boot-Krieg diplomatisch vorzubereiten, während doch klar zutage liegt, daß Bethmann Hollweg dieses Angebot, auch wenn er über seinen Erfolg nicht allzu optimistisch dachte, ernst gemeint hat und darin einen letzten Versuch sah, der ultima ratio des unbedingten U-Boot-Krieges auszuweichen.

Negierung jeglicher Machtpolitik

Trotz des überreichen Quellenmaterials, das Fischer der historischen Wissenschaft als erster neu erschlossen hat, bietet seine Darstellung der historischen Einzelforschung eine Fülle von Angriffspunkten. Aber nicht daraus erklärt sich die Leidenschaft, mit welcher die Diskussion über die Thesen Fritz Fischers wenigstens in ihrer Anfangsphase geführt wurde. Dies liegt zunächst einmal daran, daß seine Ergebnisse in der oben beschriebenen krassen Weise mit dem Zeitbewußtsein der Jahre 1914— 1918, das in unserem historischen Bewußtsein noch nachwirkt, in Widerspruch stehen. Darin kündigt sich eine Formverwandlung unseres historisch-politischen Denkens an. Was den Zeitgenossen noch als durchaus vereinbar mit einer auf die Erhaltung des machtpolitischen Status quo gerichteten und insofern im Prinzip defensiven Politik erschien, stellt sich vom Standpunkt des heutigen Beobachters bereits als ausgeprägter Annexionismus oder als eine Spielart indirekter Herrschaft dar, und zwar besonders dann, wenn die deutschen Kriegsziele isoliert für sich betrachtet und nicht in Relation zu den Kriegs-zielen der Alliierten gesetzt werden, was Fischer durchweg nicht tut. Wir haben heute das Absinken Deutschlands zu einer Macht zweiten oder gar dritten Ranges innerlich akzeptiert und lehnen es im allgemeinen ab, in den Kategorien einer wie immer gearteten deutschen Machtpolitik zu denken. Wenn Fritz Fischers Thesen gleichwohl stellenweise so überaus scharfe Polemik auf den Plan gerufen haben, so deshalb, weil er in dieser Richtung bis zu dem Punkt der Negierung jeglicher Machtpolitik überhaupt geht und, orientiert am Maßstab des territorialen Status quo ante und der uneingeschränkten Abdikation aller Machtstaatsideale, die Geschichte der spätwilhelminischen Zeit geradezu in ein Trümmerfeld verwandelt: nirgends, so scheint es, vernünftige Einsicht, überall ein utopischer, alle Maße sprengender Nationalismus imperalistischer Spielart, bisweilen sogar mit Einschlägen völkischen Denkens. Und dies keineswegs etwa nur oder auch nur überwiegend als Ausfluß der Kriegssituation, in der die nationale Leidenschaft der Völker sich allerorten und zu allen Zeiten aufzubäumen pflegt, sondern ganz im Gegenteil — der Krieg selbst erscheint als Folge dieses illusionären nationalistischen Weltmachtstrebens. War die deutsche Geschichte der spätwilhelminischen Ära wirklich nicht mehr als nur die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Welteroberungsgelüste und das vielgerühmte Bekenntnis der deutschen Sozialdemokratie zum eigenen nationalen Staat am 4. August 1914 wirklich nicht mehr als eine Mischung von gröblicher Selbsttäuschung und verkapptem, uneingestandenem Nationalimperialismus?

Aus solchen Empfindungen heraus erklären sich die anfänglichen, teilweise überaus schroffen Rezensionen, die sich insbesondere gegen die von Fritz Fischer nur beiläufig angedeutete Theorie von der Kontinuität deutschen nationalen Machtstrebens vom Jahre 1900 über 1914 bis hin zum Jahre 1939 leidenschaftlich verwahrten. Und war das ganze Bemühen um eine sachliche Klärung der Kriegsschuldfrage sinnlos und verfehlt? Sollte Deutschland nicht nur den Zweiten, sondern auch den Ersten Weltkrieg absichtlich herbeigeführt haben? Diese Fragen werden von Fritz Fischer selbst überhaupt nicht näher erörtert, aber sie drängten sich dem breiten Publikum dennoch als Quintessenz seiner Darlegungen auf. Es versteht sidi, daß dadurch wunde Punkte des deutschen historischen Selbstverständnisses berührt wurden. Man kann sich also nicht wundern, daß es darüber teilweise zu recht unerquicklichen Pressefehden kam, die uns hier freilich nicht weiter beschäftigen sollen, da sie die eigentlich wissenschaftliche Seite der Angelegenheit nicht berühren.

Diskussion konzentriert sich auf Kriegsschuldfrage und deutsche Kriegszielpolitik

Die wissenschaftliche Diskussion über Fischers Thesen war schon vor dem Erscheinen seines Werks „Griff nach der Weltmacht" in Gang gekommen, da Fischer den wesentlichen Tenor seiner Ergebnisse in einem Vorabdruck in der „Historischen Zeitschrift" bekanntgemacht hatte. Hans Herzfeld meldete unverzüglich Bedenken gegen die Deutung Bethmann Hollwegs durch Fischer an und betonte, unter Heranziehung der Tagebücher des Admirals von Müller und den Erinnerungen Friedrich Meineckes, die in der Tat doch gemäßigte Position des von der Rechten hart bedrängten Kanzlers; darüber hinaus bezweifelte er, ob man wirklich von einer „Kontinuität" der deutschen Kriegszielpolitik seit dem August 1914 sprechen könne. Wenig später attackierte dann Gerhard Ritter in einem ungewöhnlich scharfen Aufsatz Fischers Deutung der deutschen Politik in der Julikrise. Inzwischen hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung noch weiter ausgedehnt, insofern, als durch die bereits erwähnten Untersuchungen von Imanuel Geiss über den polnischen Grenzstreifen und die des Ostberliner Historikers Werner Basler über die deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, ferner durch die Arbeiten von K. H. Janßen über den Wechsel in der Obersten Heeresleitung im Herbst 1916 und über die Kriegs-politik der deutschen Bundesstaaten neue Aspekte der Problematik aufgewiesen worden sind. Neuerdings liegen weiterhin eine wertvolle Einzelstudie von Hartwig Thieme über die nationalliberale Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus sowie der erste Band einer großangelegten, materialreichen Darstellung Wolfgang Steglichs über die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917/18 vor, die in gewissem Sinne an seine ältere Studie über das Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 anknüpft.

Es würde ins Uferlose führen, wollten wir den Gang der inzwischen kaum mehr überschaubaren Diskussion chronologisch im einzelnen nachzeichnen. Sie hat sich im wesentlichen konzentriert auf zwei Fragenkomplexe, die wir im folgenden gesondert behandeln wollen: erstens das Problem der Kriegsverursachung und in engem Zusammenhang damit die Frage, wieweit die deutschen Kriegsziele schon in der Politik der Vorkriegsjahre vorgezeichnet waren, und zum zweiten die Frage der Beurteilung der deutschen Kriegszielpolitik selbst.

Deutungen der deutschen Politik in der Julikrise

Angesichts der Bedeutung, welche die Kriegsschuldfrage in der deutschen Historiographie der zwanziger und auch noch der dreißiger Jahre gehabt hat, ist es nicht erstaunlich, daß Fritz Fischers Thesen über die deutsche Politik in der Julikrise von Anfang an große Aufmerksamkeit erregt und viel Widerspruch gefunden haben. Seine Ansicht, daß die Auffassungen, die Friedrich v. Bernhardi 1912 in seinem Buch „Deutschland und der nächste Krieg" vorgetragen hat, „mit großer Präzision die Intention des offiziellen Deutschland" wieder-gäben, obgleich diesem damals vom Auswärtigen Amt entgegenzutreten versucht worden ist, wurde als Überzeichnung eines an sich unbestreitbaren Sachverhaltes vielfach nachdrücklich kritisiert. Auch seine These, daß die deutsche Politik im Vertrauen auf die engl, lische Neutralität 1914 im Minimalfalle eine schwere Demütigung Rußlands in der Balkan frage, im Maximalfalle einen kontinentalen Hegemoniekrieg zu viert habe herbeiführen wollen, hält, wenigstens in dieser Form, einer Überprüfung nicht stand, ist doch von verschiedenen Seiten geltend gemacht worden, daß Bethmann Hollweg im Falle eines großen Krieges, der sich bei Lage der Dinge automatisch auch gegen Frankreich richten mußte, damit rechnete, daß England auf die Seite der Gegner treten werde. Damit entfällt eine der wesentlichen Voraussetzungen für die ursprüngliche Interpretation der deutschen Diplomatie in der Julikrise, so wie wir sie bei Fischer finden. Gerhard Ritter hat gegenüber Fischer in der Einleitung zum dritten Band seines großen Werks „Staatskunst und Kriegshandwerk" erneut die Abhängigkeit der politischen Führung von den militärtechnischen Überlegungen der Militärs als entscheidende Ursache dafür bezeichnet, daß es im Juli 1914 nicht gelungen ist, den Frieden zu bewahren, und darüber hinaus an der grundsätzlich defensiven Haltung der deutschen Politik festgehalten — eine Auffassung, der neuerdings auch Karl Dietrich Erdmann auf Grund seiner Kenntnis der Tagebücher Riezlers, des Privatsekretärs Bethmann Hollwegs, beigetreten ist. Allerdings hat auch Erdmann, im Gegensatz zu früheren Deutungen, anerkannt, daß sich der Reichskanzler schon am 5. Juli 1914 des Risikos eines großen Krieges — unter Einschluß auch Englands — voll bewußt gewesen ist. Egmont Zechlin hingegen hat das deutsche Verhalten in der Julikrise neuerdings aus den Befürchtungen über eine bevorstehende politische Annäherung Englands an Rußland zu erklären Versucht, die sich auf geheime Nachrichten über eine in Vorbereitung befindliche englisch-russische Flottenvereinbarung gründeten. Die drohende Gefahr eines endgültigen Abschwenkens Englands auf die Seite der kontinentalen Gegner Deutschlands, die ja für die langfristigen Planungen der Außenpolitik Bethmann Hollwegs geradezu katastrophale Bedeutung haben mußte, habe die Reichsleitung dazu veranlaßt, buchstäblich in letzter Minute die politische Offensive zu ergreifen, um den einzig verbleibenden österreichischen Bundesgenossen wirksam zu stärken und die seit Jahren über Europa hängende Balkankrise in einem für Deutschland noch relativ günstigen Augenblick zu bereinigen, obgleich damit die Gefahr eines Weltkrieges verbunden war.

In seinen jüngsten Beiträgen zu dieser Frage, so insbesondere in dem Aufsatz „Bethmann Hollweg, Kriegsrisiko und SPD 1914“ sowie der Miszelle „Motive und Taktik der Reichs-leitung 1914. Ein Nachtrag", hat Egmont Zechlin diese Deutung der deutschen Politik in der Julikrise noch weiter vorangetrieben und sich dabei Fritz Fischers Position erheblich angenähert. Zechlin kommt hier zu dem Schluß, daß die Reichsleitung unter dem Eindruck einer gefährlichen Verschlechterung der Lage der Mittelmächte die durch den Mord von Sarajewo ausgelöste politische Krise zu einem politischen Vorstoß genutzt habe, durch welchen die drohende Isolierung Deutschlands „selbst auf das Risiko eines Weltkrieges hin" aufgehalten werden sollte. Man habe in Berlin die Hoffnung gehegt, Rußland und die Entente über der serbischen Frage „auseinandermanövrieren" zu können. Zechlin mißt in diesem Zusammenhang den Präventivkriegsideen, welche damals in deutschen militärischen Kreisen verbreitet waren, erheblich mehr Gewicht zu, als dies die ältere deutsche Forschung (und mit ihr noch Gerhard Ritter) zu tun pflegte. Er veröffentlichte ein durch Imanuel Geiss erstmals bekanntgemachtes Dokument aus dem Nachlaß Jagow, wonach Moltke diesem Ende Mai oder Anfang Juli 1914 die Frage vorgelegt habe, ob es nicht besser sei, dem für 1916 zu erwartenden Angriffskrieg Rußlands zuvorzukommen, da sich die militärische Situation der Mittelmächte angesichts der gewaltigen russischen Rüstungsanstrengungen nur noch weiter verschlechtern würde. Jedoch hält Zechlin daran fest, daß Bethmann Hollweg es in der Julikrise keinesfalls auf den Krieg „abgelegt" habe, auch wenn er den serbisch-österreichischen Konflikt zum Prüfstein des russischen Kriegswillens haben machen wollen.

über die Verteilung der Verantwortlichkeit für die Entstehung des Ersten Weltkrieges wird das letzte Wort wohl kaum gesprochen werden können, bevor nicht ähnlich eindringliche Studien, insbesondere über die russische und die französische Politik in der Julikrise, vorliegen. Jedoch wird sich heute nicht mehr bestreiten lassen, daß die deutsche Reichsleitung im Juli 1914 nicht nur aus „Nibelungentreue" gehandelt hat. Politische und militärische Besorgnisse, vor allem die starke Beunruhigung militärischer Kreise über die russischen Rüstungen, welche auf längere Sicht die Voraussetzungen des Schlieffenplans, nämlich eine langsame russische Mobilmachung und ein umständlicher Aufmarsch, illusorisch werden zu lassen drohten, bestimmten die deutsche Reichsleitung dazu, in einem Moment, welcher als noch verhältnismäßig günstig angesehen wurde, eine politische Offensive hart am Rande des großen Krieges zu wagen, welche freilich angesichts der österreichisch-ungarischen Ungeschicklichkeiten und der unnachgiebigen Haltung Rußlands vollständig scheiterte und den Männern um Bethmann Hollweg sehr gegen ihre Neigungen schließlich keine andere Alternative mehr ließ, als die Kriegs-furie ihren Lauf nehmen zu lassen. Inzwischen hat Imanuel Geiss eine zweibändige Akten-publikation über die Julikrise 1914 veröffentlicht, welche die zahlreichen Dokumente der verschiedenen amtlichen Aktenpublikationen, vermehrt um einige wenige bisher unbekannte Stücke, in streng chronologischer Anordnung zum Abdruck bringt und als ein wertvolles Hilfsmittel gelten kann, um sich durch die Fülle des Materials hindurchzufinden. Es ist freilich zu bedauern, daß diese Dokumentation ausschließlich das Ziel hat, die Entschlüsse der deutschen Regierung aufzuhellen, während die Dokumente der anderen Mächte gleichsam nur als Parenthese herangezogen sind. In dem ausführlichen Kommentar, welcher den Dokumenten beigegeben ist, gibt Geiss offen seine Absicht kund, die Thesen Fritz Fischers über die Verantwortlichkeit Deutschlands am Kriege dokumentarisch zu erhärten; es überrascht demgemäß nicht, daß er in diesem Bestreben zumindest in einigen Fällen über das Ziel hinausschießt und zu Urteilen gelangt, die sich bei unbefangener Überprüfung als unhaltbar oder doch zumindest als überspitzt erweisen. Ganz abgesehen davon erheben sich gegen eine solche positivistische Auffassung von Geschichtsschreibung grundsätzliche Bedenken.

Fischer verschärft seine Thesen

Neuerdings hat freilich Fritz Fischer seinen eigenen Verteidiger insofern im Stich gelassen, als er seine ursprüngliche These hinsichtlich der deutschen Hauptverantwortung am Kriege immer stärker radikalisiert hat. In einem großen Aufsatz in der „Historischen Zeitschrift", der schon im Jahre 1963 fertiggestellt war, dann aber erst 1964 erschien, verteidigte Fritz Fischer nicht nur seine bisherige Deutung, sondern suchte sie insofern zu stützen, als er den Entschluß zum Kriege in aller Form als Folge einer Krise der deutschen wirtschaftlichen Expansion nach dem Südosten zu deuten suchte — ein Nachweis, dem freilich zwingende Kraft fehlt, weil ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Scheitern der deutschen wirtschaftlichen Expansionsbemühungen in Griechenland, Bulgarien und der Türkei und dem deutschen Entschluß vom 5. Juli 1914, in Abänderung des bisherigen Standpunktes des Auswärtigen Amtes (der freilich durch die Erklärungen Wilhelms II. gegenüber dem Erzherzog Franz Ferdinand anläßlich seines Besuches in Wien im März 1913 teilweise unterhöhlt worden war), Österreich-Ungarn in der serbischen Frage bedingungslos zu unterstützen, schlechterdings nicht besteht.

Aber damit nicht genug. In einem großen Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit" vom 3. September 1965 überraschte Fritz Fischer die Teilnehmer des 12. Internationalen Historiker-kongresses, die einen Tag zuvor über eben diese Frage diskutiert hatten, mit einer weiteren Verschärfung seines Standpunktes. Er erklärte nun, daß Deutschland den Weltkrieg seit 1913 systematisch vorbereitet habe: „Der Krieg war im Sommer 1914 geistig, militärisch, politisch-diplomatisch und wirtschaftlich wohl vorbereitet. Er mußte nur noch ausgelöst werden", und dazu kam der Mord von Sarajewo gerade recht. Wenig später hat sich Fritz Fischer zu dem gleichen Fragenkomplex in einer Broschüre „Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im Ersten Weltkrieg" erneut zu diesen Fragen geäußert, wenn auch hier noch (offensichtlich ist der „Zeit" -Artikel später abgefaßt, obwohl er um weniges früher erschien) in etwas zurückhaltenderer Form. Hier heißt es: „Deutschland benutzte Sarajewo bewußt als die sich bietende Gelegenheit, um die Blockierung der deutschen Weltpolitik zu überwinden."

Man wird Fritz Fischer grundsätzlich darin zustimmen müssen, wenn er einen engen Zusammenhang zwischen dem Drängen der deutschen Nation auf weltpolitische Erfolge in den Jahren vor dem Kriege und der deutschen Politik seit Sarajewo sieht. Ob jedoch seine Grundthese, daß die Reichsleitung seit 1913 zielbewußt auf einen solchen Krieg zugesteuert habe, weil sie die Möglichkeiten, auf friedlichem Wege eine Erweiterung der deutschen Weltstellung zu erlangen, plötzlich blo • kiert sah, aus den Quellen heraus verifizier werden kann, bleibt abzuwarten; man darf der angekündigten neuen Untersuchung Fritz i schers, „Der Krieg der Illusionen", insofern mit Spannung entgegensehen. Immerhin vermag man das Gefühl nicht ganz zu unterdrükken, daß diese Radikalisierung seiner Ansichten auch die Überzeugungskraft seiner bisherigen Darlegungen zu beeinträchtigen vermag. Wenn auch zuzugeben ist, daß die deutsche Politik sich seit 1906 — ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt — genötigt sah, Politik mit einer stetigen Steigerung des Kriegsrisikos zu treiben, so will doch die These nicht recht überzeugen, daß die Reichs-leitung schon lange vor Sarajewo entschlossen war, die Flucht nach vorn in den großen Krieg zu wagen, zumal unbestritten ist, daß Bethmann Hollweg selbst Gegner eines Präventivkrieges war. Sein ursprüngliches Konzept, zumindest seit 1912, war jenes eines vorsichtigen Ausgleichs mit Rußland und insbesondere auch mit England; davon erhoffte er sich keineswegs, wie Fischer anzunehmen geneigt ist, ein höheres Maß politischer Bewegungsfreiheit für den Augenblick, sondern nur eine allmähliche Besserung des allemeinen politischen Klimas und auf lange Sicht schließlich weltpolitische Erfolge größeren Stils.

Zu den wirtschaftlichen Zielen Deutschlands

Insofern wird es auch eine umstrittene Frage bleiben, ob es berechtigt ist, die deutschen Kriegsziele des Septembers 1914 samt und sonders auf politische und wirtschaftliche Bestrebungen der Vorkriegszeit zurückzuführen. Gewiß sind die deutschen Kriegsziele von 1914 nicht einfach vom Himmel gefallen; aber das einfache Faktum, daß sie ihre konkrete Ausformung erst in der Belagerungssituation des Jahres 1914 erhielten, sollte doch vor vorschnellen Rückprojizierungen warnen. Dies gilt insbesondere auch für das Mitteleuropaprojekt, welches gewiß vor 1914 viele Anhänger besaß, aber erst in einer völlig veränderten Kriegssituation — und auch dann noch gegen den Willen der Fachressorts — vorwiegend aus politischen Gründen Aktualität erhielt, und zwar im Laufe der Entwicklung mit ganz verschiedenen Zielsetzungen: 1. als ein Projekt, welches die Reichsleitung für den Fall eines Friedensschlusses auf gemäßigter Grundlage in die Lage versetzt hätte, dem uferlosen Annexionismus der deutschen Öffentlichkeit nicht mit gänzlich leeren Händen entgegenzutreten; 2. als Mittel, um Österreich so an Deutschland zu fesseln, daß die „austropolni-sche" Lösung ihre Gefahren für Deutschland verloren haben würde; 3. als Mittel, um England die Hoffnung auf einen Erschöpfungssieg zu nehmen, wie dies insbesondere seit dem Frühsommer 1915 von Falkenhayn propagiert wurde; und 4. als Gegenmaßnahme gegen den nach der Pariser Wirtschaftskonferenz des Jahres 1916 zu erwartenden weltweiten Boykott des deutschen Handels auch nach einem Friedensschluß. Wie immer man dieses für die damalige Zeit überaus moderne Projekt auch beurteilen mag, das Deutschland eine wirtschaftliche Hegemonlesteilung auf dem Konti-nent sichern sollte, der Erste Weltkrieg ist gewiß nicht ausgebrochen, um die „Vereinigten Staaten von Europa" unter deutscher Vorherrschaft zu begründen. Und was die territorialen Ziele Deutschlands angeht, so besteht einstweilen kein Grund, Bethmann Hollwegs Aussage anzuzweifeln, wonach Deutschland bei Kriegsausbruch keine Ziele gehabt habe, die nur durch Krieg zu erreichen gewesen wären.

Die bisherige Forschung hat sich für ihre Auffassung, daß Deutschland in den Jahren vor dem Kriege vorwiegend auf die Karte wirtschaftlicher Expansion gesetzt habe, meist auf die Schrift Ruedorffer Riezlers, „Grundzüge der Weltpolitik'', aus dem Jahre 1914 bezogen. Nachdem nun noch Karl Dietrich Erdmann auf das der allgemeinen Forschung leider immer noch nicht zugängliche Riezler-Tagebuch zurückgegriffen hat, um die vergleichsweise gemäßigte Linie der Politik Bethmann Hollwegs zu belegen, ist neuerdings auch Riezler in den Streit der Meinungen hineingezogen worden. In einer allerdings recht kasuistischen Weise hat jüngst Imanuel Geiss nachzuweisen versucht, daß derselbe Riezler, den Dietrich Schaefer während des Ersten Weltkrieges auf Grund der gleichen Quellen als Protagonisten eines schwächlichen Pazifismus attackierte, mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit ein Befürworter einer militärischen Lösung des gordischen Knotens der deutschen Weltpolitik gewesen sei. Welche Umkehrung der Wertungen! Es bleibt abzuwarten, wie die weitere Forschung auf solche Interpretationen am Rande des Möglichen reagieren wird, überzeugender ist der Versuch Andreas Hillgrubers, aus Riezlers Schriften eine Theorie des kalkulierten Kriegsrisikos abzuleiten, welche Bethmann Hollweg in den kritischen Wochen des Juli 1914 geleitet haben dürfte. Eines bleibt freilich — wie immer man die Riezler-Tagebücher auch auslegen mag — als unbestreitbar zurück: der bestürzende Fatalismus, mit dem weite Kreise der deutschen (wenn auch gewiß nicht nur der deutschen) Öffentlichkeit und mit ihnen die leitenden Männer der deutschen Politik den kommenden großen Krieg erwarteten — eine Geisteshaltung, die ohne jede Frage im Augenblick der Krise den Willen zur Erhaltung des Friedens entscheidend geschwächt hat.

Die Beurteilung der deutschen Politik während des Krieges

Damit kommen wir zu dem zweiten großen Problemkreis: der Beurteilung der deutschen Politik während des Krieges selbst. Hier ist es noch schwieriger, die Vielfalt der im Zuge der wissenschaftlichen Diskussion über die Thesen Fritz Fischers vertretenen Ansichten vollständig zur Darstellung zu bringen. Es soll jedoch versucht werden, wenigstens die wichtigsten Positionen, die sich im Laufe der Auseinandersetzungen herauskristallisiert haben, zu charakterisieren.

Wie wir schon angedeutet haben, hat sich die Kritik an dem Buch Fritz Fischers anfänglich insbesondere gegen seine Deutung der Person und der Politik des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg gerichtet. Es bleibt ein unbestreitbares Verdienst Fritz Fischers, erstmals die Kriegszielplanungen, welche von den einzelnen Ressorts unter der Verantwortung und im Auftrag Bethmann Hollwegs ausgearbeitet worden sind, in ihrem vollem Umfang bekanntgemacht zu haben. Jedoch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Fischer in seinem Bestreben, die machtpolitischen Zielsetzungen der Reichsleitung — im Gegensatz zu der bisher herrschenden Meinung — möglichst prägnant herauszuarbeiten, zumindest an verschiedenen Stellen erheblich zu weit geht. Auch sonst sehr wohlmeinende Rezensenten wie etwa Klaus Epstein beanstandeten, daß Fischer Äußerungen Bethmann Hollwegs gegenüber Dritten ohne weiteres als Beweis für dessen persönliche Meinung werte, da doch klar zutage liege, daß der Kanzler mit Absicht all things to all men habe sein wollen. Fischers Bild vom zielbewußten Machtpolitiker Bethmann Hollweg mit einer eigenen weitreichenden imperialistischen Konzeption geht am Wesen der Persönlichkeit des ersten Kriegskanzlers vorbei, der auch in der Kriegszielfrage nach einer Diagonale suchte und wenigstens anfänglich auf eine gewisse Mäßigung der hochgeschraubten Erwartungen der erregten öffentlichen Meinung hinzuwirken versucht hat. In einer feinsinnigen Studie hat neuerdings Karl Dietrich Erdmann auf Grund der Riezler-Tagebücher die große Kluft beschrieben, die Bethmann Hollweg von den naiven machtpolitischen Aspirationen der Alldeutschen und ihrer bürgerlichen und konservativen Gefolgsleute trennte. Auch Janßen hebt in seinem glänzenden Buch über die Kriegszielpolitik der deutschen Bundesstaaten, das zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Erhellung der verfassungspolitischen Struktur des spätwilhelminischen Reiches leistet, die vergleichsweise gemäßigte Linie des Kanzlers hervor. Und selbst der „DDR, ‘-Historiker Willibald Gutsche attestiert Bethmann Hollweg, daß seine Kriegsziele jene der gemäßigten Richtung des „deutschen Monopolkapitals" gewesen seien, während er zur Schwerindustrie, der es insbesondere gelungen war, den Generalgouverneur von Belgien, v. Bissing, für ihre Ziele einzunehmen, in scharfem Gegensatz gestanden habe. Es ist wohl kaum zu bestreiten, daß Fritz Fischer und desgleichen Imanuel Geiss in der Frage des sogenannten polnischen „Grenzstreifens" infolge der Begrenztheit ihrer Fragestellung, die sich ganz auf den Nachweis des Umfangs des deutschen Machtstrebens konzentriert, die schwierige innenpolitische Situation des Kanzlers und seiner Mitarbeiter sowohl gegenüber der Öffentlichkeit wie gegenüber den militärischen Instanzen, die zu immer erneutem Taktieren und Temporisieren zwang, nicht genügend berücksichtigt haben. Fraglos muß es jeden Kenner der Materie stören, den außerordentlich scharfen Gegensatz Bethmann Hollwegs zu den Alldeutschen und ihren industriellen und hochkonservativen Hintermännern, der die Stellung des Kanzlers in jenen Jahren außerordentlich erschwerte, als Angelegenheit zweiten Ranges behandelt zu sehen. Zwischen Bethmanns Septemberprogramm und Claß'erster großer Kriegszieldenkschrift bestand eben doch ein himmelweiter Unterschied, und es ist irreführend, wenn Fischer schreibt, beide Dokumente stimmten zumindest in ihrer Tendenz miteinander überein. Andererseits hat Eit Fischer, wie man sagen muß, mit vollem Recht gegenüber seinen Kritikern eingewandt, daß es nicht um die persönlichen Anschauungen, sondern um die politische Wirksamkeit Bethmann Hollwegs gehe und daß dieser gar nicht anders hätte handeln können, als er es getan hat. Es hieße dies, die Analyse der Persönlichkeit und der politischen Strategie Bethmann Hollwegs durch eine Strukturanalyse des politischen Systems zu ergänzen, wozu Fischer zwar dankenswerte Ansätze, aber wegen seiner Vorliebe für gesinnungspolitische Erklärungsmodelle eben bloß Ansätze geliefert hat.

Die Ergebnisse Egmont Zechlins

Gewisse Bemühungen in dieser Richtung werden in den zahlreichen scharfsinnigen, leider aber weit verstreuten Aufsätzen Egmont Zechlins unternommen. Zechlin kommt es vor allem darauf an, den Charakter der Politik Bethmann Hollwegs als Kabinettspolitik im Stil des 19. Jahrhunderts aufzuweisen, der notwendig von vornherein auf einen begrenzten Krieg und einen Verhandlungsfrieden von Kabinett zu Kabinett unter möglichster Ausschaltung der öffentlichen Meinung ausgerichtet gewesen sei. Im einzelnen freilich nicht immer ganz überzeugend, versucht er zu zeigen, daß der Kanzler anfänglich auf eine militärische Zurückhaltung Englands und eine mögliche englische Friedensvermittlung gesetzt habe, bis er dann erkennen mußte, daß England willens war, den Krieg bis zu einer vollen Entscheidung durchzukämpfen. Zechlin legt treffend dar, daß die Frage, auf welche Weise man im Falle einer französischen Niederlage den Kampf gegen England weiterführen solle, für die Entstehung des sogenannten September-programms von großer Bedeutung gewesen ist. In der Tat rechnen die „Vorläufigen Richtlinien über unsere Politik beim Friedensschluß" mit der Weiterführung des Krieges durch England, wie übrigens auch aus dem Begleitschreiben des Kanzlers an Delbrück vom 9. September 1914 hervorgeht. Es wäre sonst einigermaßen erstaunlich, daß in diesem Programm England, in den Augen der deutschen öffentlichen Meinung der eigentliche Hauptfeind Deutschlands, überhaupt nicht erwähnt wird. Angesichts der in direktem Zusammenhang mit der Ausarbeitung des Septemberprogramms stehenden Entwürfe Rechenbergs über von Frankreich für die Dauer des Krieges zu fordernde Vorrechte in den Kanalhäfen und dergleichen und angesichts des Stichworts von der „Kontinentalsperre" im Riezler-Tagebuch ist der Schluß unabweisbar, daß das Septemberprogramm wenigstens zum Teil als ein Kampfprogramm gegen England zu werten ist. England wäre zusammen mit den Dominions auch nach einer französischen Niederlage, wie sie damals auf deutscher Seite als bevorstehend angesehen wurde, durchaus in der Lage gewesen, den Krieg fortzuführen oder doch wenigstens Deutschland den Zugang nach Übersee auf absehbare Zeit zu verlegen. Es liegt nahe, daß sich die deutsche Politik für diesen Fall nach Möglichkeiten umsah, wie sie Deutschland eine großräumige kontinentale Machtstellung und Wirtschaftsbasis als Äquivalent für die verlorene überseeische Stellung schaffen könne. Fischers Ansicht, daß in dem Septemberprogramm die Grundzüge der deutschen Kriegszielpolitik bereits fest fixiert gewesen seien und man dann im Verlaufe des gesamten Krieges grundsätzlich daran festgehalten habe, wird sich demnach nicht uneingeschränkt aufrechterhalten lassen.

Wie schwer es ist, von den zahlreichen durch Fritz Fischer erstmals bekanntgemachten Kriegszielprogrammen auf die tatsächliche Haltung des Kanzlers zu schließen, sofern es wirklich zu konkreten Verhandlungen gekommen wäre, zeigt auch der erstaunliche Quellenfund Zechlins hinsichtlich des soge-nannten „schlesischen Angebotes" an Österreich im Zusammenhang der österreichisch-italienischen Verhandlungen vom Frühjahr 1915. Es will nicht so recht in das von Fritz Fischer entworfene Bild des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg passen, daß dieser im März 1915 willens war, einen Teil Schlesiens an Österreich-Ungarn abzutreten, um diesem den Verzicht auf das Trentino zu erleichtern. Es steht außer Frage, daß in der deutschen Öffentlichkeit, sofern sie davon damals erfahren haben würde, sofort ein wilder Sturm gegen den Verzichtpolitiker Bethmann Hollweg los-gebrochen wäre. Bethmann Hollweg ist jedoch bereit gewesen, auch dieses Risiko notfalls in Kauf zu nehmen, und er hat es verstanden, nicht nur das gesamte preußische Staatsministerium, sondern auch Wilhelm II. und selbst seinen schärfsten Widersacher Tirpitz dafür zu gewinnen. Die Entwicklung der Dinge ist darüber hinweggegangen. Ist es vermessen, sich ähnliches vorzustellen, sobald es einmal zu ernsthaften Friedensverhandlungen zwischen den Kombattanten gekommen wäre? Viel-13 leicht hätte der Kanzler in einer solchen Situation, gestützt auf die Friedenssehnsucht der Massen und Wilhelms II., die Militärs ausmanövrieren können und ebenso kühl vermeintliche oder objektive nationale Interessen geopfert, um sein Ziel eines verhandelten Friedens durchzusetzen. Doch wir müssen zugeben, daß solche Überlegungen in den Bereich der politischen Spekulationen gehören: Die bittere Wahrheit ist, daß es dazu gar nicht hätte kommen können, und zwar unter anderem, weil der Kanzler, wie immer seine letzten

Auffassungen gewesen sein mögen, sich gegen die überwiegend annexionistisch gesonnene Nation und schließlich gegen die 3. OHL nicht hat durchsetzen können, sei es, weil er davor zurückschreckte, für seine gemäßigten Auffassungen offen zu kämpfen, wie Eugen Schiffer, der ihm persönlich nahestand, nach seinem Sturz gesagt hat, sei es, weil die verfassungspolitische Struktur des spätwilhelminischen Reiches, die den Militärs ein weit über ihr eigentliches Aufgabengebiet hinausreichendes Gewicht verlieh, dies nicht zuließ.

Die Deutung Bethmann Hollwegs bei Gerhard Ritter

Dieser letzten Frage ist die neueste Darstellung der Kriegskanzlerzeit Bethmann Hollwegs gewidmet, die Gerhard Ritter jüngst als Band III seines Werkes „Staatskunst und Kriegshandwerk" vorgelegt hat. Wie immer man zu den konkreten Urteilen Ritters im einzelnen stehen mag, als Ganzes darf diese Darstellung, die die Ergebnisse der neueren Forschung in einem bemerkenswert vollständigen Umfang zusammenfaßt, als eine große historiographische Leistung gelten. Gegenüber der Darstellung Fischers besitzt sie den großen Vorzug einer anschaulichen Schilderung des Gesamtverlaufes, die auch die Politik der Alliierten und der Vereinigten Staaten ausführlich berücksichtigt. Ritter konnte dafür nicht nur auf eine ebenfalls außerordentlich große Fülle ungedruckten Aktenmaterials zurückgreifen, sondern sich auch auf die inzwischen vorliegende Publikation von Scherer-Grunewald aus den Akten des deutschen Auswärtigen Amtes über die deutschen Sonderfriedens-bemühungen während des Ersten Weltkrieges stützen. In scharfem Gegensatz zu Fritz Fischer hält Gerhard Ritter am ursprünglich defensiven Grundgedanken der deutschen Politik fest, aber auch er bestreitet nicht, daß dieser defensive Charakter des Krieges schon sehr bald eine offensive Umdeutung erfahren hat, im Sinne einer Stärkung der Machtstellung Deutschlands auf dem Kontinent, sei es durch das Mittel indirekter wirtschaftlicher Beherrschung, sei es durch offene Annexionen, wenn er auch bestrebt ist, diese Tatsache in einem ungleich milderen Lichte erscheinen zu lassen, als dies bei Fritz Fischer der Fall ist. Man mag die Argumente, die Ritter anführt, um „die Machtträume deutscher Patrioten" zu Anfang des Krieges begreiflich zu machen, gelegentlich ein wenig sentimental finden, aber grundsätzlich ergibt sich kein so sehr ver-schiedenes Bild. Auch Ritter bestreitet nicht, daß die deutsche Politik sich utopischen Annexionszielen größten Ausmaßes verschrieb, aber anders als Fischer deutet er dies als Folge der Kriegssituation selbst. Vor allem betont er, daß auch bei wesentlich maßvolleren Zielsetzungen ein Verständigungsfrieden mit den Alliierten nicht zu erreichen gewesen wäre.

Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang die Behandlung der belgischen Probleme durch Ritter. Er kommt ebenfalls zu dem Schluß, daß die „ungelöste . belgische Frage'. . . zum Fluch der ganzen deutschen Kriegspolitik geworden" sei. Aber stärker als Fischer sucht Ritter die Gründe dafür aufzuzeigen, die die deutsche Politik veranlaßten, in irgendeiner Form dauernd auf Belgien Einfluß zu gewinnen. Unter Heranziehung des Tage-buches König Alberts von Belgien vermag Ritter den Verhandlungen zwischen diesem und Mittelsmännern der deutschen Regierung vom Jahre 1916, die Fischer zum ersten Male genauer dargestellt hat, ganz neue Aspekte abzugewinnen. Er zeigt, daß in der damaligen Situation die Chance, das belgische Glacis in indirekter Form dem deutschen Machtbereich anzugliedern, nicht ganz und gar aussichtslos gewesen ist, obgleich man — im Gegensatz zu Ritter •— fragen wird, ob Verhandlungen mit einem Monarchen, die gegen den erklärten Willen der belgischen Regierung und wohl auch des belgischen Volkes geführt wurden, wirklich eine dauerhafte und für beide Seiten tragbare Lösung hätten erbringen können. Immerhin hat Bethmann Hollweg diese Aussichten für so ernst genommen, daß er in seinem Kriegszielkatalog für Wilson vom Ende Januar 1917 für Deutschland nur freie Hand dafür verlangte, die belgische Frage in zweiseitigen Abmachungen mit König Albert zu regeln. Hinsichtlich der Frage eines Ostfriedensschlusses kommt Ritter ebenfalls zu etwas gemäßigteren Folgerungen als Fritz Fischer, so etwa, wenn er Bethmann Hollwegs Ansichten zu diesem Punkte dahin gehend zusammenfaßt, daß „nationale Erwerbswünsche" keinesfalls einem Sonderfrieden mit Rußland entgegenstehen sollten. Jedoch erscheint uns auch nach Ritters Darlegungen die Frage noch keineswegs eindeutig beantwortet, ob und gegeben-falls wie weit deutsche Annexionswünsche auch nur begrenzter Art, wie der vielbeschworene, aus strategischen Gründen damals als völlig unentbehrlich angesehene polnische „Grenzstreifen", über dessen Umfang freilich immer wieder gestritten worden ist, nicht die deutschen Bemühungen um einen Sonderfrieden mit Rußland erschwert haben. Was die Friedenssondierungen gegenüber der Regierung Kerensky angeht, so ist unseres Erachtens kein Zweifel möglich, daß die OHL und mit ihr der Kaiser die Anbahnung von Friedensverhandlungen auf der Basis des Verzichts auf größere Annexionen zu blockieren bestrebt waren; eine Tatsache, die Bethmann Hollweg zwar bedauerte und die ihn sowohl innenpolitisch wie auch gegenüber der österreichischen Politik in ein katastrophales Zwielicht brachte, gegen die er sich aber gleichwohl nicht offen zur Wehr gesetzt hat.

Ritters Beurteilung der Militärs

Das eigentliche Thema Gerhard Ritters ist freilich die Frage des Einflusses der militärischen Instanzen auf die Entschlüsse der politischen Leitung. Wenn er diesen Faktor in der Entwicklung scharf hervorhebt, so befindet er sich fraglos in Übereinstimmung mit älteren Auffassungen, und man wird gelegentlich finden, daß er in der Betonung desselben weiter geht, als der Sadie angemessen ist. Aber seine Behandlung dieses Problems ist dennoch alles andere als konventionell; insbesondere in der Beurteilung Falkenhayns einerseits und Ludendorffs andererseits vollzieht er eine „Umwertung der Werte", die Beachtung verdient. In völliger Umkehr der bisherigen kriegs-geschichtlichen Literatur zeichnet er ein schlechterdings überraschend positives Bild Falkenhayns, während Hindenburg und insbesondere Ludendorff in schwärzestem Licht geschildert werden. Ritter preist nicht nur die verhältnismäßig maßvolle Haltung Falkenhayns in den Kriegszielfragen, sondern auch seine militärische Strategie, die traditionellermaßen nach den Fehlschlägen der großen, außerordentlich verlustreichen Offensiven bei Ypern und Verdun als verfehlt galt, und zwar weil sie sich der objektiv bedrängten Lage der Mittelmächte sehr viel stärker bewußt geblieben sei als jemals diejenige Ludendorffs. Der große Durchbruch bei Tarnow-Gorlice vom Frühsommer 1915 wird als große strategische Leistung und ein ganz persönliches Verdienst Falkenhayns bezeichnet. Ritter stellt fest, daß es zwischen Falkenhayn und Bethmann Hollweg nur geringe Differenzen in den Kriegszielfragen gegeben habe; beide standen, so heißt es, „in gemeinsamer Front gegen den wild aufgeregten Nationalismus, . Militarismus'und Anne-xionismus der öffentlichen Meinung." Demgemäß zeigt sich Ritter verwundert darüber, daß es zwischen beiden gleichwohl niemals zu einem Vertrauensverhältnis gekommen sei. An dieser Stelle wäre doch darauf hinzuweisen, daß Falkenhayn, auch wenn die Sorge, wie er diesen Krieg zu einem günstigen Ende führen solle, zeitweilig schwer auf ihn lastete und ihn zu einer maßvollen, ja gelegentlich fast resignierten Einstellung veranlaßte, eine außerordentlich ehrgeizige Natur war, die insbesondere auf Wilhelm II. einen solchen Einfluß besaß, daß Bethmann Hollweg ständig auf der Hut sein mußte, um die Vorschläge des Generalstabschefs auf politischem Gebiet rechtzeitig zu konterkarieren. Nicht ganz ohne Anhaltspunkte munkelten damals viele Leute von einer bevorstehenden Kanzlerschaft Falkenhayns. Nicht nur hinsichtlich der ungestümen Forcierung der Sonderfriedensbemühungen mit Rußland und des Mitteleuropaprojekts, sondern auch durch seine Haltung in der U-Boot-Frage hat Falkenhayn die politische Position des Kanzlers wiederholt außerordentlich gefährdet. Schließlich war es Bethmann Hollweg selbst, der Falkenhayns Sturz herbeigeführt hat, das Mittel zähen Intrigenspiels dabei nicht scheuend, weil er nicht mehr daran glauben mochte, mit ihm zu einem Frieden zu kommen.

Wenn Bethmann Hollweg gehofft hat, mit Hindenburg und Ludendorff, deren gewaltiges Prestige in der breiten Öffentlichkeit längst zu einem politischen Faktor ersten Ranges geworden war, notfalls auch einen bescheidenen Frieden zu schließen, wie schon Janßen wahrscheinlich gemacht hat, so sah sich der Kanzler freilich sehr bald darin getäuscht. Seine an-15 sangliche Taktik, die eigene gefährdete innenpolitische Position mit Hilfe der Autorität der neuen Obersten Heeresleitung abzustützen, erwies sich schon bald als verhängnisvoll, lieferte er sich doch damit auf die Dauer dem Willen Ludendorffs aus. Seit Oktober 1916 verschärften sich die Gegensätze zwischen der politischen und der militärischen Leitung beständig; ihre Analyse bildet den Kern der Darstellung Ritters. Ritter wendet sich in diesem Zusammenhang wohl kaum ganz zu Unrecht gegen Fischer, der die Spannungen zwischen Ludendorff und der zivilen Reichsleitung, gemessen an dem auf beiden Seiten vorhandenen Willen zur Machterweiterung des Reiches, als zweitrangig betrachtet. Unter Heranziehung von bisher unbekanntem Material aus dem Nachlaß Bauer gelingt es Ritter, die Schärfe der Gegnerschaft der 3. OHL zu Bethmann Hollweg noch deutlicher herauszuarbeiten, als bisher bekannt war. Dennoch wird man sagen müssen, daß Ritter um einiges zu weit geht, wenn er in Ludendorff und seinem politischen Gehilfen Oberst Bauer geradezu den „bösen Geist" der deutschen Politik sieht. Wenn beispielsweise Erzbergers berühmter Vorstoß im Hauptausschuß vom 5. Juli 1917 als im wesentlichen von Bauer initiiert erscheint und ersterer überhaupt als ein in seinem eigenen Ehrgeiz gefangenes Werkzeug der Obersten Heeresleitung beschrieben wird, so dürfte damit der tatsächliche Sachverhalt doch verzeichnet sein. Soweit wir sehen, unterhielt Oberst Bauer enge Beziehungen zu schwerindustriellen Gruppen; darüber hinaus standen Hindenburg und Ludendorff stark unter dem Einfluß der stetig anwachsenden annexionistischen Propaganda der Rechten. Es hätte die Aufgabe der politischen Leitung sein müssen, diese beizeiten in Grenzen zu halten und der Öffentlichkeit ein wenig ungeschminkter die Wahrheit zu sagen, als dies der Kanzler je gewagt hat. Die große Vertrauenskrise des Juli 1917, der Bethmann Hollweg schließlich zum Opfer fiel, war eben keineswegs bloß das Werk der politisierenden Militärs, sondern eine Folge der tiefen Enttäuschung über das Scheitern des U-Boot-Krieges, welche um so nachhaltiger war, als die Reichsleitung seit dem Frühjahr 1917 der Agitation von der „unfehlbar wirkenden Waffe", die spätestens im Sommer den Frieden bringen werde, wider besseres Wissen freien Lauf gelassen hatte.

Antiösterreichische Tendenz

Noch ein weiterer Aspekt des Buches von Ritter vermag nicht zu befriedigen, nämlich seine antiösterreichische Tendenz. Es scheint, als ob Ritter der Versuchung nicht hat widerstehen können, Bethmann Hollweg vor der Folie der in schwärzesten Farben geschilderten österreichischen Politik in günstigerem Lichte erscheinen zu lassen. Die Politik des österreichischen Kaisers Karl und seines Außenministers Czernin wird teils als völlig defätistisch, teils als anmaßend annexionistisch, vor allem aber als „heuchlerisch" geschildert; auch die fatale wirtschaftliche Lage der Donaumonarchie gibt Ritter keinen Anlaß, mildernde Umstände zu gewähren. Dies gilt insbesondere für die berühmte sogenannte Sixtus-Affaire, welche in der Interpretation Ritters vorwiegend als ein machiavellistisches Spiel erscheint, um das Gewicht des österreichischen Bundesgenossen, insbesondere auch in den Kriegszielfragen, hochzuspielen. Wenn Ritter insbesondere bei Kaiser Karl von starken Tendenzen spricht, einen Sonderfrieden mit den Westmächten auf Kosten des Bundesgenossen zu schließen, so wird dies freilich in der neuesten Untersuchung über diesen Gegen-B stand, der großen Darstellung des Ritter-Schülers Wolfgang Steglich über die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917/18, nicht bestätigt. Im äußersten Falle, so urteilt Steglich, habe die österreichische Diplomatie an einen „legitimen Sonderfrieden" gedacht, aus dem sich der allgemeine Frieden herausentwickeln lasse. Dies gilt auch für die Friedenssondierungen vom August 1917 über die Mittelsmänner Graf Armand und Graf Revertera; auch in diesem Falle hat Czernin entgegen den Wünschen seiner französischen Verhandlungspartner im Einvernehmen mit Berlin gehandelt, obgleich er nicht ganz darauf verzichtet hat. mit dem Hinweis auf ein Sonderfriedensangebot die deutsche Politik nachgiebiger zu stimmen und für Konzessionen in der belgischen und der elsaß-lothringischen Frage zu gewinnen. Die Untersuchung von Steglich, die sich auf die einschlägigen Akten des deutschen Auswärtigen Amtes und des österreichischen Außenamtes stützt, die Akten der Reichskanzlei jedoch nicht hinzugezogen hat, darf als definitive Darstellung der schwierigen Materie der deutschen und österreichischen Frie denssondierungen der Jahre 1917/18 gelten, obgleich man die Beschränkung der Fragestellung auf den engen Sektor der auswärtigen Politik im klassischen Sinne bedauern muß. Die Darstellung ist offensichtlich unabhängig von derjenigen Fritz Fischers entstanden und setzt sich mit dieser nur in dem unvermeidJ. dien Mindestmaß auseinander. Gleichwohl kommt sie hinsichtlich der Gesamtbeurteilung der deutschen und der österreichischen Politik jenes Zeitraumes zu wesentlich milderen Urteilen, wie schon die Wahl des Titels andeutet. Auch wenn Steglich die weitgehenden deutschen und österreichischen Bestrebungen auf Erweiterung ihres Machtbereichs nicht beschönigt, gelangt er zu dem einigermaßen herausfordernden Schluß, daß in dieser Phase der Entwicklung wohl die Staatsmänner der Mittelmächte einem „Behauptungsfrieden" hätten zustimmen können, der dem Status quo gleichgekommen oder zumindest nahegekommen wäre, nicht aber die Westmächte, weil ein Verhandlungsfrieden, „der auf eine Anerkennung der ungebrochenen deutschen Großmacht-stellung hinauslief", das Gefüge der Entente erschüttert hätte.

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Gewiß wird dies nicht das letzte Wort in der hitzigen Debatte über die deutsche Politik während des Ersten Weltkrieges bleiben. Diese hat sich ja, wenn man von dem Buch Steglichs absieht, vorläufig vornehmlich auf die ersten Kriegs]ahre konzentriert; erst allmählich rücken auch die Vorgänge der späteren Kriegszeit in das allgemeine Interesse. Insbesondere die deutschen Friedensschlüsse von Brest-Litowsk, von denen schon damals Max Weber sagte, daß man dadurch das Schicksal herausgefordert habe, sind freilich schon länger Gegenstand der Aufmerksamkeit der Wissenschaft. Hier stehen sich die Fronten freilich noch ziemlich unvermittelt gegenüber; während Fischer und seine Schule in Brest-Litowsk nur den konkreten Ausdruck dessen sehen wollen, was man schon im September 1914 ins Auge gefaßt habe, hebt insbesondere Steglich den kriegsbedingten Charakter der Friedensschlüsse hervor, die keineswegs in allen Dingen vollendete Tatsachen schaffen sollten. Jedenfalls habe sich Kühlmann, damals Staatssekretär des Äußeren, in den Verhandlungen von Brest-Litowsk von dem Gesichtspunkt leiten lassen, daß die Friedensbestimmungen im Falle eines allgemeinen Friedens selbstverständlich erneut Gegenstand der Verhandlungen aller Mächte werden würden.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung über alle diese Fragen kann zur Stunde noch keineswegs als abgeschlossen gelten. Ganz im Gegenteil: es scheint, als ob dadurch der Prozeß einer grundsätzlichen Überprüfung des traditionellen deutschen Geschichtsbildes beschleunigt worden sei, die weit über die Probleme des Ersten Weltkrieges selbst hinausgeht. Sehr viel unbefangener und sehr viel kritischer als bisher bemüht sich eine jüngere Generation der deutschen Historiker darum, die Krankheitsherde der deutschen Gesellschaft zu erfassen, die schließlich den Nährboden für den plötzlichen Aufstieg des Nationalsozialismus abgegeben haben. Man darf es unter diesem Aspekt als ein großes und bleibendes Verdienst der Untersuchungen Fritz Fischers über die deutsche Kriegspolitik im Ersten Weltkrieg ansehen, allzu traditionelle Anschauungen zerstört und Tabus gebrochen und dergestalt der historischen Forschung neue Wege gewiesen zu haben, ganz gleich, wie man zu seinen Ergebnissen im einzelnen stehen mag.

Man darf hoffen, daß die zunehmende Verlagerung der Forschung auf die innenpolitischen Fragen zugleich eine weitere Versachlichung der Diskussion mit sich bringen wird. Wenn in der Frage der Beurteilung die Meinungen in so ungewöhnlich scharfer Weise aufeinandergeprallt sind, so erklärt sich dies letztlich aus dem Umstand, daß es der deutschen zeitgeschichtlichen Forschung während der Jahre der Herrschaft des Nationalsozialismus verwehrt war, an eine unbefangene, vorurteilslose Klärung dieser brennenden Fragen der jüngeren deutschen Vergangenheit heranzugehen. Infolgedessen haben sich die Vorurteile, Ressentiments und Standpunkte der Zeitgenossen gleichsam aufgestaut, statt einem kontinuierlichen Prozeß der Revision unterworfen zu sein, wie dies sonst die Regel zu sein pflegt. Insofern ist auch die Auseinandersetzung über die deutschen Kriegsziele 1914— 1918 nur ein Symptom für die Tatsache, daß die Deutschen infolge der krisenhaften Umbrüche in der deutschen geschichtlichen Entwicklung seit 1918 noch nicht wieder zu einem einheitlichen Geschichtsbewußtsein zurückgefunden haben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

J. Wolfgang Mommsen, Dr. phil., Dozent für Geschichte an der Universität Köln, geb. 5. November 1930 in Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959; Ägypten und der europäische Imperialismus, München 1961; Universalgeschichtliches und politisches Denken bei Max Weber, in: Historische Zeitschrift, Bd. 201/65.