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Politische Optionen der europäischen Einigung | APuZ 34/1967 | bpb.de

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APuZ 34/1967 Artikel 1 Politische Optionen der europäischen Einigung Die Bedeutung der Marktgröße

Politische Optionen der europäischen Einigung

Rainer Waterkamp

„Europa ist kein Ziel, auf das hin konkret geplant werden könnte. Der Planer muß wissen, ob er ein . integriertes'Europa oder ein . Europa der Vaterländer'ansteuern soll. Er muß wissen, ob er zunächst die politische Durchformung des Sechser-Europas anstrebt, ob er auf die alsbaldige Einbeziehung Englands zielen will (und ob er Aussicht hat, zu diesem Ziel zu gelangen), ob und in welchen zeitlichen Rhythmen er die Konzeption eines Europas . vorn Atlantik bis zum Ural'ernst nehmen kann, ob das geplante Europa , eine dritte Kratt'in der Welt bilden kann und bilden soll, ob es zum mindesten die Befähigung hat, ein gleichberechtigter und gleichwertiger Partner der USA in einer . atlantischen Partnerschaft'zu werden."

Diese Äußerung macht deutlich, daß es angesichts des veränderten Kräftevergleichs in der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Optionen über eine neue Rolle Europas in der Weltpolitik gibt. Allerdings hat sich noch keine der Vorstellungen verbindlich durchsetzen können. „Hin-und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Größe, der Versuchung, sich nicht festzulegen, und dem Willen zu einer übernationalen Verschmelzung, fehlt es den ehemaligen Großen Europas an den nötigen Hilfsquellen, um Kräfte ersten Ranges zu werden, sie bewahren aber zu viele Hilfsquellen, um im Verzicht Sicherheit finden zu können."

Eine Option sieht eine erneute europäische Bedeutung in der Welt nur in der Integration in Form einer Föderation mit enger Anlehnung an die USA verwirklicht. „Ein geeintes Europa soll sich seiner Bedeutung und Identität bewußt sein, gleichzeitig aber eingegliedert sein in eine Atlantische Gemeinschaft als Partner der Vereinigten Staaten von Amerika." Für eine andere Option ist diese Bedeutung nur zu erlangen dank der von den National-Patrick Jenkin:

Die Bedeutung der Marktgröße . . . . S. 15 staaten wiedergewonnenen Handlungsfreiheit zwischen den beiden Weltmächten.

Es stehen sich also „zwei grundsätzliche Auffassungen zur internationalen Staatenstruktur gegenüber, nämlich die These von der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit der Gesellschaft und die These von der Rückkehr zur staatlichen Unabhängigkeit"

Die Konzeption der atlantischen Partnerschaft

Sowohl die erste wirtschaftliche Organisation der westeuropäischen Staaten als auch die erste effektive Verteidigungsorganisation des Westens (OEEC und NATO) war mit der tatkräftigen Unterstützung der Vereinigten Staaten von Nordamerika zustande gekommen. Mit dem wirtschaftlichen Erstarken und dem Erwachen des europäischen Selbstgefühls ergab sich aber das Problem, wie das Verhält-1 nis zu den USA auf wirtschaftlichem, militärischem und politisch-psychologischem Gebiet neu gestaltet werden könnte.

Die USA haben dieses Problem bereits Anfang der sechziger Jahre erkannt und sich darauf eingestellt. „Aufgespalten auf wenn auch lose zusammgengefaßte souveräne Staaten stellt sich das Problem Europa/Amerika als ein Verhältnis Amerikas zu den einzelnen Nationalstaaten, das aber angesichts der gewaltigen Militär-und Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten schwerlich als ein Verhältnis unter Gleichen aufgefaßt werden kann."

Von den USA kamen die Vorschläge für eine umfassende atlantische Partnerschaft auf der Basis der Gleichberechtigung und wechselseitigen Abhängigkeit; auf militärischem Gebiet das Projekt einer gemeinsamen atlantischen Streitmacht (MLF), auf wirtschaftlichem Gebiet das Angebot einer handelspolitischen Partnerschaft zwischen den USA und der um Großbritannien erweiterten EWG, für den politischen Bereich die Bereitschaft zur politischen Partnerschaft zwischen einem vereinten Europa und den USA

In der Paulskirche in Frankfurt/Main erklärte der amerikanische Präsident Kennedy am 25. Juni 1963: „Wir sind Partner bei der Sicherung des Friedens — nicht in einem eng umschriebenen zweiseitigen Verhältnis, sondern im Rahmen der atlantischen Partnerschaft. Der Ozean trennt uns weniger noch, als früher das Mittelmeer die antike Welt der Griechen und Römer zu trennen vermochte. . . Unsere Rollen sind verschieden, jedoch ergänzen sie einander — unsere Ziele sind die gleichen: Friede und Freiheit für alle Menschen, für alle Zeiten und in einer Welt des Überflusses und der Gerechtigkeit." Ähnlich waren die Ausführungen des Präsidenten der EWG-Kommission, Professor Hall-stein, am 2. März 1963 vor der Columbia-Universität, nachdem er sowohl die Konzeption eines Europas der dritten Macht als auch die einer Atlantischen Gemeinschaft als unrealistische Alternativen abgelehnt hatte: „Damit bleibt uns also nur noch die dritte Möglichkeit, die einer atlantischen Partnerschaft. Hierfür haben sich, soweit ich die Dinge sehe, nicht nur die Europäer, sondern auch die amerikanische Regierung entschieden. Hier wird versucht, an die Stelle eines Systems, das einen Riesen mit einer Reihe von (vergleichsweise) Zwergen zusammenspannte, ein anderes System zu setzen, das zwei Einheiten, die bereits jetzt vergleichbar sind, eines Tages aber gleich sein werden, zu einer Partnerschaft — zur gegenseitigen Beratung und auch zum Wettbewerb — zusammenführte. Ob sich daraus im Laufe der Zeit eine Atlantische Gemeinschaft zu entwickeln vermag, ist eine andere Frage. Auf absehbare Zeit bleibt jedoch die Partnerschaft unser Ideal."

Probleme ergaben sich zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet. Sie sollten in den als „Kennedy-Runde" bekannten Zollverhandlungen beseitigt werden. Das ursprüngliche Konzept der Kennedy-Runde, für das durch das Trade Expansion Act 1962 die Voraussetzungen geschaffen wurden, war ein sehr weitgehender Abbau des Einfuhrschutzes sowie eine vollständige zollpolitische Integration. Die USA und die Agrarexportstaaten wollten, daß die Industriestaaten und die EWG weitgehende Zusicherungen über die Zulassung von Agrarerzeugnissen zu ihren Märkten abgeben, denn manche westeuropäischen Staaten schützen ihre Landwirtschaft in einer Art und Weise, welche die Kritik der Agrarexportstaaten und vor allem der USA auslöste. Die EWG ihrerseits meinte, ihrem ziemlich ausgeglichenen Außenzolltarif stehe ein amerikanischer Zolltarif mit teils sehr niedrigen oder gar keinen Zöllen, teils aber sehr hohen, 50°/0 bis 150% erreichenden Zöllen gegenüber. Die von den USA vorgeschlagene Halbierung eines hohen amerikanischen Zolls würde deshalb handelspolitisch viel weniger ins Gewicht fallen als die Halbierung eines verhältnismäßig niedrigen EWG-Zolls.

Die USA sehen in der EWG eine Chance und Gefahr zugleich. Sie fürchten wegen des hohen gemeinsamen Außenhandelszolls der EWG um ihren Export nach Europa und hoffen, durch die Zollsenkungen einen Markt in Europa zu erhalten, was zur Überwindung ihrer Zahlungsbilanzschwierigkeiten mit beitragen soll. Tatsächlich werden in den meisten EWG-Staaten beispielsweise die Produkte an Tee und Kaffee mit hohen indirekten Steuern belegt. Frankreich erhebt eine Einheitssteuer mit einer Inzidenz von 34 Prozent auf den durchschnittlichen Kaffee-Preis und 20 Prozent auf den durchschnittlichen Tee-Preis Im Jahre 1960 betrug die Inzidenz der Verbrauchs-steuern auf den Kaffee-Preis in der Bundesrepublik 85 Prozent, auf den Tee-Preis 69 Prozent, in Italien bei Kaffee 113 Prozent und bei Kakao 61 Prozent In der Kennedy-Runde mußte sich die EWG also „einer Diskussion ihrer Agrarpolitik stellen. Sie ist dabei insofern in einer ungünstigen Position, als das System ihrer Agrarpolitik auf dem Schutz an der Außengrenze aufgebaut und damit fast automatisch auch Verhandlungsgegenstand der Kennedy-Runde wird. Mit den Abschöpfungen muß die EWG jedoch gleichzeitig auch ihr Agrarpreisniveau zur Debatte stellen."

Demgegenüber schützen Großbritannien und die USA ihre Landwirtschaft zwar ebenfalls, bedienen sich aber direkter Subventionen oder Garantiepreise, die in der Regel nicht Gegenstand von internationalen Handelsverträgen sind. Andererseits hätte die EFTA, gemessen am Außenhandelsvolumen ihrer Mitgliedsländer, eine ähnlich große Berücksichtigung finden müssen wie die EWG. „Doch konnte die EFTA ihren Einfluß in Genf deshalb nicht gebührend zur Geltung bringen, weil eine Freihandelszone keinen gemeinsamen Außentarif kennt und ihrer Struktur nach keine gemeinsame Handelspolitik vorsieht. Ihre Mitgliedstaaten haben ihre bisherigen Außenzölle . . . beibehalten und bleiben in ihrer Außenhandelspolitik souverän." Sie sind infolgedessen in Genf auch nur einzeln aufgetreten und nicht als geschlossener Block.

Auf militärischem Gebiet sind in den USA Zweifel wach geworden, ob die Drohung mit massiver nuklearer Vergeltung ausreichen würde, begrenzte Kriege auszuschließen. Demgegenüber fürchten immer mehr Europäer, auch nach der neuen NATO-Konzeption, die im Mai 1967 beschlossen wurde, zum Schlachtfeld zu werden und beginnen die Entschlossenheit der USA zu bezweifeln, für die Verteidigung Europas notfalls auch das Risiko eines nuklearen Krieges auf sich zu nehmen. Tatsächlich sind die USA bemüht, zu einem teilweisen Ausgleich mit der Sowjetunion auf mehreren Gebieten zu gelangen Die „funktionierende Verklammerung zwischen den rivalisierenden Mächten führt offenbar dazu, daß bei allen strukturellen und geistigen Unterschiedlichkeiten zwischen diesen beiden monolithischen Blöcken zunehmend parallele und sogar konvergierende Entwicklungen hervortreten . . . Diese Entwicklung wird durch die Tatsache begünstigt, daß sich Aktionen und Entscheidungen in dem einen System zwingend auf Nachrichten und Informationen, auf Pläne und Projekte sowie auf Absichten und Handlungen der Entscheidungsträger des anderen Systems beziehen. Diesem Zwang zur Interaktion und zum Verstehen der gegnerischen Disposition und Strategie mit allen seinen Folgen unterliegen beide Partner."

De Gaulle hat unter anderem aus dieser strategischen Wandlung die Konsequenz abgeleitet, eine eigene force de frappe aufzubauen. Allerdings wurde der Beschluß für die Herstellung von eigenen Atombomben bereits am 11. Juli 1956 von der französischen Nationalversammlung unter der Regierung Guy Mollet gefaßt. Die konkreten Maßnahmen für die Durchführung wurden am 10. April 1958 noch unter der Regierung Felix Gaillard angeordnet Zugleich hat de Gaulle aber selbst einen Dialog mit dem Ostblock begonnen, der den Entspannungsgesprächen zwischen den USA und der UdSSR sowie den Gesprächen über den Abschluß eines Nonproliferations-Vertrages parallel läuft. Allerdings: „Es gibt auf keiner Seite ein konsequentes renversement des alliances, weil die ideologische Scheidelinie praktisch unüberschreitbar ist, ohne die innere Substanz eines Staates selbst in Gefahr zu bringen oder verändern zu wollen."

Auf dem Sektor der politischen Zusammenarbeit gingen die führenden Politiker der USA niemals soweit, von einer „Atlantischen Union" zu sprechen. Zu ihrem Wortschatz gehörte immer nur der Begriff der atlantischen Partnerschaft. J. F. Kennedy definierte die Partnerschaft als ein System der Kooperation und Übereinstimmung, das durch eine feierliche Interdependenz-Erklärung der USA bekräftigt werden sollte. Voraussetzung dieser Konzeption ist allerdings ausdrücklich die Ei-nigung Westeuropas. Daneben gibt es eine Gruppe von Atlantikern, die eine Union anstreben. Der Kern einer solchen Atlantischen Union soll bestehen aus den ursprünglichen zwölf Signatarstaaten der NATO, ferner der Bundesrepublik Deutschland und den beiden Commonwealth-Mitgliedern Australien und Neuseeland. Dazu könnten nach Ansicht der Vertreter dieser Option noch die neutralen Länder Schweden, die Schweiz und Österreich, die beiden restlichen NATO-Länder Griechenland und die Türkei sowie Irland, Finnland und Spanien kommen. Am Ende einer Übergangszeit soll eine zentrale Behörde der Atlantischen Union mit Befugnissen bei Zöllen, Steuern und Außenhandel, bei Außenpolitik und Verteidigung stehen

In dem Glauben, daß „eine echte atlantische Gemeinschaft die Voraussetzung für unser überleben als freie Menschen und die nötige Grundlage des Fortschritts für alle Menschen darstellt", hat der Atlantische Konvent der NATO-Staaten bei seiner Gründung im Januar 1962 empfohlen, die Konferenz der NATO-Parlamentarier zu einer „Beratenden atlantischen Versammlung" auszubauen, die sich in ihren Debatten mit der Arbeit aller atlantischer Institutionen befassen und diese überprüfen soll Im November 1962 stellte der Politische Ausschuß der Konferenz der NATO-Parlamentarier lest, daß sich „mit dem raschen Vormarsch Europas zur Einigung auf dem wirtschaftlichen und dem politischen Gebiet eine eindeutige und dringende Notwendigkeit ergeben hat, in einer parallelen Entwicklung zu entsprechenden Formen der Vereinigung aller atlantischen Staaten zu gelangen .. . durch ein autarkes parlamentarisches Organ, dem die erforderlichen Informationen zugänglich sind und das befugt ist, nicht nur die Exekutivorgane der NATO und der OECD, sondern jene aller atlantischen Institutionen zu beraten."

Tatsächlich bestehen im atlantischen Bereich Probleme, die einer Lösung bedürfen: „Erstens ist die Konferenz der NATO-Parlamentarier, das einzige bestehende transatlantische parlamentarische Gremium, in ihrem Wirkungsbereich begrenzt, da in ihr nicht ganz Westeuropa vertreten ist. Österreich, Irland, Schweden und die Schweiz haben es konsequent abgelehnt, sich an der offiziösen NATO-Versammlung zu beteiligen." Zwei andere OECD-Mitgliedstaaten, Spanien und Japan, sind aus anderen Gründen nicht Mitglieder der NATO. „Zweitens hat die Ausweitung der NATO-Interessen auf Gebiete, die nicht unmittelbar mit der Verteidigung zu tun haben, überschneidende Kompetenzen zwischen NATO und OECD geschalten. . . Drittens wird in der OECD, die eine reine Exekutivorganisation ist, die Notwendigkeit eines atlantischen parlamentarischen Organs empfunden, das ihr beigegeben werden sollte."

Zwei Grundkonzepte für eine beratende atlantische Versammlung mit offiziellem Status werden diskutiert, die alle Mitgliedstaaten der OECD ungeachtet ihrer Mitgliedschaft in der NATO einzubeziehen wünschen: Erstens „eine Plenarsitzung der Parlamentarier aus den NATO-Ländern zur Diskussion und Prüfung von NATO-Fragen; eine getrennte Plenarsitzung der Parlamentarier aus den NATO-Ländern mit den Parlamentariern aus den übrigen westlichen Ländern zur Diskussion und Prüfung der OECD-Fragen" Die zweite Konzeption geht davon aus, daß der Europarat schon jetzt de jure als europäisches parlamentarisches Forum der OECD fungiert. „Es besteht ein Verbindungsausschuß zwischen den beiden Organen, und der Vorsitzende des Rates der OECD legt der Beratenden Versammlung jährlich einen Tätigkeitsbericht vor . . . Daher ist der Vorschlag gemacht worden, zwei . atlantische Parlamente" zu schaden, eins iür wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten, rechtlich unabhängig von, aber koordiniert mit einem zweiten Parlament, das für militärische Fragen zuständig ist." Alle diese Projekte sind praktisch über das Stadium der theoretischen Diskussion nicht hinausgekommen.

Die nationalstaatliche Konzeption

Eine andere Option läßt sich von dem Bestreben leiten, die beiden ideologisch getrennten Teile Europas von der vermeintlichen Vorherrschaft der beiden Weltmächte USA und UdSSR zu befreien und sie zu einem neuen „Konzert der Mächte" zusammenzufassen, das vom Atlantik bis zum Ural 22a) ein neues Gleichgewicht, eine „dritte Kraft" herstellt, wie es insbesondere vom Frankreich de Gaulles angestrebt wird.

Die „Motive der französischen Regierung dürften einmal in der . . . Vorstellung liegen, daß es einer geschickten Politik möglich sein sollte, die Sowjetunion wieder in das europäische Konzert hineinzuführen, und zum anderen in der Auflehnung gegen das, was man in Paris als eine amerikanische Hegemonie über Europa empfindet" De Gaulle lehnt alle Systeme ab, „die uns unter dem Deckmantel der Supranationalität oder der Integration oder auch des Atlantismus in Wirklichkeit der bekannten Hegemonie unterordnen würde“ Der europäische Kontinent müsse sich seiner europäischen Sendung wieder bewußt werden. Um sich bis zum Ural erstrekken zu können, darf er nicht über den Atlantik und möglichst nicht über den Ärmelkanal hinausgehen. Äußerungen des französischen Staatspräsidenten über eine Lösung der deutschen Frage im Rahmen eines künftigen „Europa vom Atlantik bis zum Ural", so in der Pressekonferenz vom 4. Februar 1965, zielen auf eine Einbeziehung zumindest des europäischen Teils der Sowjetunion in das europäische Konzept.

Am 22. November 1959 hat de Gaulle in Straßburg erklärt: „Europa vom Atlantik bis zum Ural. . , Das ganze Europa wird über das Schicksal der Welt entscheiden. Wenn die Völker Europas, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs sie sich auch befinden, eines Tages ein Einvernehmen herstellen, dann wird der Frieden der Welt gesichert, sein; wenn sie dagegen in zwei entgegengesetzten Gruppen geteilt bleiben, wird der Krieg früher oder später die menschliche Rasse auslöschen." Hier aber setzt die Problematik einer solchen Politik ein. „Einerseits fragt es sich, ob sich ein Europa, wie General de Gaulle es vorschlägt, vom Atlantik bis zum Ural erstrecken kann. Zum zweiten ist die Frage strittig, ob das integrierte Europa im Sinne Jean Monnets und Robert Schumans der Ansatzpunkt für eine Vereinigung mit Osteuropa sein kann, oder ob das Konzept de Gaulles — ein Europa souveräner Staaten — die bessere Grundlage bietet. Die dritte Frage ist die, ob ein solches Europa ohne die Einbeziehung der Vereinigten Staaten in ein künftiges europäisches Sicherheitssystem denkbar ist."

Das Wiederaufleben der nationalstaatlichen Konzeption beruht auf der Vorstellung, die Nachkriegszeit sei zu Ende, die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Herrschaft über Osteuropa seien im Schwinden begriffen, die wirtschaftlichen, militärischen und politischen Erfolge Westeuropas erlaubten es diesem, seinen Wohlstand und seine Sicherheit ohne Hilfe der USA zu gewährleisten und so das Gleichgewicht mit einem heute geschwächten und morgen ausgesöhnten Gegner herzustellen. „Der Neo-Nationalismus, der sich hier zu erkennen geben will, beruht nicht auf eigenen Potenzen, sondern auf der Immobilität der Giganten, zu der diese auf Grund wachsender eigener Potenz aus Vorsicht gezwungen sind."

Kritikern dieser Option erscheint die Bildung einer dritten Kraft allerdings unrealistisch, „obwohl Europa geographisch und ideologisch zwischen den beiden Weltmächten liegt und ihnen an Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und technologischem Können nicht viel nachsteht. Die Idee Europas als seperate dritte Kraft ist unrealistisch, weil die gesamte Welt in das System internationaler Beziehungen einbezogen ist, weil Europa in einem Spannungsfeld dieses Systemes liegt und der Sache der freien Welt verbunden ist."

Demgegenüber verweisen die Vertreter der nationalen Souveränität darauf, daß bei einer europäischen Integration ein hohes Maß an Übereinstimmung hinsichtlich der als verbindlich anerkannten Werte vorausgesetzt werden müsse. Angesichts der unterschiedlichen historischen Entwicklung und politischen Ideen in den Staaten Europas sei diese Übereinstimmung vorerst aber nicht zu erwarten. Die Nation wird als Wert an sich gesehen, die EWG als Kern, um den sich der weitere Einigungsprozeß in kooperativer Form vollziehen werde, allerdings in Abwendung vom atlantischen Bereich und allein auf Zentraleuropa begrenzt.

Tatsächlich ist die Konfrontation von West und Ost zwar noch nicht zu Ende, aber in ihrer eigentlichen Bipolarität überwunden und infolgedessen auf dem Wege der Auflockerung und der Kooperation begriffen. Konsequenterweise verbinden sich mit einer neuen Beurteilung der Gesamtlage bestimmte Anderungsbestrebungen. So wäre die Reorganisation der NATO auch ohne de Gaulle in Schwierigkeiten geraten, weil im Rahmen einer Ost-West-Annäherung zwar die militärische Schutzfunktion der NATO erhalten bleibt, ihre politische Rolle sich aber wandelt. Nach skandinavischen und britischen Vorstellungen soll die NATO daher zum Instrument einer Annäherung umgestaltet werden.

Ministerpräsident Pompidou erklärte am 13. April 1966 unumwunden: „Die NATO-Integration ist die Tochter des kalten Krieges." Zwar machen die atomaren Anstrengungen Großbritanniens und Frankreichs „entschieden den Eindruck, daß dieser schlichte, aber tiefsitzende Drang nach militärischer und politischer Autonomie mehr als irgendeiner der besonderen strategischen Zwecke, mit denen sie ihren Beschluß begründet haben, die beiden Länder dazu gebracht hat, unter so hohen Kosten ihr eigenes nukleares Potential zu entwickeln“ Zwar hat die Politik Frankreichs in ihrer bisherigen Auswirkung in ganz Europa die Neigung zur Integration gemindert und die nationalen Komponenten verstärkt. Doch kann sich das in Osteuropa durchaus im Sinne einer Auflockerung des dortigen Systems geltend machen, obwohl es natürlich desintegrierend im Westen wirkt. Schließlich ergibt sich angesichts dieser weltpolitischen Veränderungen die Möglichkeit völlig anderer Konstellationen, die freilich zunächst nur als Denkmöglichkeiten existieren: Etwa eine engere französisch-sowjetische Kooperation, vielleicht eingeleitet durch den Besuch Kossygins in Paris im November 1966, oder allgemeine Neutralitätstendenzen. Es kann auch zu einer Verständigung zwischen Ost und West unter Ausklammerung Mitteleuropas kommen — die für die deutsche Frage gefährlichste Entwicklung.

Es ist denkbar, daß sich nach Auflösung der Bipolarität und zunehmender nationalstaatlicher Bedeutung neben den beiden Weltmächten, deren militärische und wirtschaftlich-technische Überlegenheit vorläufig allerdings erhalten bleibt, Zentren mittleren Ranges bilden, die noch eine Weltrolle spielen wollen. Eine solche Rolle klingt (außerhalb eines „europäischen Konzepts") beispielsweise in der britischen „East of Suez" -Politik an, das heißt, eine Politik der militärischen und wirtschaftlichen Einflußnahme in Asien Eine solche Rolle klingt auch in der französischen Europa-Konzeption von einer Hegemonie Frankreichs in Europa an. Eine entscheidende Divergenz zwischen den USA und Europa zeigt sich in der gegenwärtigen Sicherheitspolitik und den politischen Interessen. Im amerikanischen Interesse liegt es nämlich, das US-Engagement in Europa durch ein europäisches Engagement an der Seite der USA in der Welt auszugleichen. In wirtschaftlicher Hinsicht geschieht dies teilweise durch die Hilfe für die Entwicklungsländer; im militärischen Bereich bemüht sich Großbritannien durch die „East-of-Suez" -Politik, eine solche Rolle ohne ein zu starkes Engagement zu spielen. Dagegen sind alle anderen europäischen Staaten nicht geneigt, eine materielle oder gar militärische und nur sehr bedingt eine moralische Stütze im Vietnam-Krieg zu geben.

Letztlich bestehen tiefe Gegensätze über den nuklearen Status. Auf der einen Seite wird in einem gewissen Umfang eine militärische Unabhängigkeit Europas erstrebt, am stärksten von der französischen Politik, auf der anderen Seite wird von allen Staaten einschließlich Frankreichs anerkannt, daß der amerikanische Nuklearschirm für die europäische Situation notwendig und unentbehrlich ist. Unter dem gegenseitigen atomaren Gleichgewicht der beiden Weltmächte wächst aber die Bewegungsfreiheit der mittleren und kleineren Mächte in der Weltpolitik. „Die Abhängigkeit der mittleren und kleineren Mächte von der Schutzmacht der USA bzw. UdSSR läßt sich zwar auf keine Weise ganz aufheben, aber kleine nukleare Potentiale können durchaus größere diplomatische Beweglichkeit verleihen und damit auf längere Sicht auf Situationen hinwirken, in denen der Schutz der nuklearen Vormacht an Bedeutung verliert und die übernationale Sicherheit wieder in stärkerem Maße eine Frage des politischen Manövrierens wird." Die französische Politik sieht hier eine Chance, durch Entspannung zu einer französischen Hegemonialposition in einem allerdings noch undeutlich umrissenen Europa zu gelangen, wobei aber die osteuropäischen Länder eingeschlossen sein sollen.

In einem solchen Europa der Kooperation souveräner Staaten soll dann auch die Möglichkeit der Wiedervereinigung Deutschlands erörtert werden. Die französische national-staatliche Option bedeutet also eine westeuropäische Desintegration sowie eine Herstellung eines bilateralen Verhältnisses unter Führung Frankreichs, das unter den kontinentalen Partnern allein Atomwaffen besitzen will.

Die Rolle Westeuropas in der Welt steht also in engem Zusammenhang mit der Frage, ob Westeuropa integriert oder nationalstaatlich aktiv werden soll und ob es in enger Partnerschaft mit den USA oder durch intensive Kooperation mit Osteuropa verbunden sein soll.

Supranationale und internationale Konzeption

Die Bezeichnung „Supranationalität" findet sich in Artikel 9 des Montanunion-Vertrages. Supranationalität besteht darin, „den Nationalstaaten ihre Souveränität zunächst noch weitgehend zu belassen, aber Teile aus dieser Souveränität . . . einer übernationalen Gemeinschaft zu übertragen." Die nationalen Kompetenzverzichte werden durch sachliche und zeitliche Aufgliederung so weit wie möglich erleichtert. Diese supranationale Methode der Teilintegration entstand aus der Erkenntnis heraus, daß die Nationalstaaten einer sofortigen Errichtung eines europäischen Bundesstaates, einer übernationalen Föderation, nicht zustimmen würden

Die Funktion der Supranationalität zeigte sich bei der Hohen Behörde der Montan-Union unter anderem darin, daß die sechs Mitgliedstaaten hier gemeinsam über die Einsetzung von acht Mitgliedern der Hohen Behörde beschloß und diese selbst dann das neunte Mitglied bestimmten. Die Neuartigkeit dieser Bestimmung zeigte sich bei einem Vergleich mit internationalen Organisationen. So heißt es in Artikel 14 des Statuts des Europarats über die Zusammensetzung des Ministerrats: „Jedes Mitglied hat im Ministerrat einen Vertreter; jeder Vertreter hat eine Stimme.“ In ähnlicher Weise bestimmt das Übereinkommen zur Errichtung der EFTA in Artikel 32 in bezug auf den Rat: „Jeder Mitgliedstaat ist im Rat vertreten und hat eine Stimme." Und in Arikel 7 des Statuts der OECD heißt es: „Ein aus allen Mitgliedern bestehender Rat ist das Organ, von dem alle Rechtsverhandlungen der Organisation ausgehen." In allen diesen Fällen ist Mitglied gleich Nation. Jeder Vertragspartner hat seinen nationalen Vertreter, der nach Weisungen seiner Regierung handelt. Demgegenüber verlangte der Montanunion-Vertrag von den Mitgliedern der Hohen Behörde, „bei der Erfüllung ihrer Pflichten weder Anweisungen von einer Regierung . . . einzuholen noch solche Anweisungen entgegenzunehmen".

Außerdem bestimmen Artikel 13 des EGKS-Vertrages, Artikel 132 für Euratom und Artikel 163 für die EWG, daß die Beschlüsse der Hohen Behörde bzw.der Kommissionen mit der Mehrzahl der Stimmen ihrer Mitglieder gefaßt werden. Dies bedeutet eine Abkehr von den internationalen Vereinbarungen über eine Beschlußfassung, die vom Einstimmigkeitsprinzip und der Garantie des Vetorechts bestimmt sind Das Übereinkommen zur Errichtung der EFTA sieht in Artikel 32 grundsätzlich Beschlußfassung mit Einstimmigkeit, aber auch Ausnahmen hiervon vor. Diese Ausnahmen gelten jedoch nur für Verfahrensfragen, Empfehlungen usw. Alle wesentlichen Bestimmungen können nur einstimmig zustande kommen. Ebenso ist Einstimmigkeit bei wichtigen Fragen nach Artikel 20 des Europarat-Statuts vorgeschrieben. In Artikel 6 des OECD-Vertrages wird gefordert, daß bis auf Sonderfälle Beschlüsse und Empfehlungen „der Zustimmung sämtlicher Mitglieder" bedürfen

In dieser Untersuchung soll nicht näher auf die Streitfrage eingegangen werden, ob eine europäische Integration durch Vollintegration mittels eines Bundesstaates oder durch Teil-integration, das heißt durch Zusammenschluß in begrenzten, integrationsbedürftigen Sachbereichen erfolgen soll Auch die Frage, ob ein vereintes Europa ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein soll, ist für unsere Untersuchung unerheblich. Heute unterscheiden sich die Europäischen Gemeinschaften einerseits von bundesstaatlichen Zusammenschlüssen durch geringeren Kompetenzumfang und geringere Intensität: Es fehlt ihnen die Hoheitsgewalt eines Staates, der Zwang gegen die Mitglieder ist nur unvollkommen ausgebildet, man kann noch nicht von einer Fusion von Souveränitäten sprechen. Andererseits unterscheiden sich die Europäischen Gemeinschaften von den herkömmlichen Rechtsformen völkerrechtlicher Zusammenschlüsse: Die Gemeinschaftsorgane sind in voller Unabhängigkeit von Weisungen einer Regierung tätig, sie haben rechtliche Befugnisse mit unmittelbarer Wirkung für Behörden der Mitgliedstaaten und für ihnen unterstellte Personen. Der Kern der oftmals mit rechtlichen Argumenten geführten Diskussion ist zweifellos der Streit um die Rangfolge von Nationalstaat und supranationaler Ordnung, das heißt der Grad des Verzichts auf nationale Souveränität. Dies ist keine bloße Frage der technisch-rechtlichen Verwirklichung, sondern eine politische Grundsatzfrage. „Die diplomatische und militärische . Kooperation', die bewußt der . Integration'gegenübergestellt wird, ist ein wesentliches, wenn nicht gar entscheidendes Element der . dritten Kraft', wie sie der franzö-sische Staatschef in Europa zu schaffen sucht."

Ausgangspunkt der Diskussion ist die Tatsache, daß es eine Interdependenz gibt zwischen Umfang des vereinten Europas und dem Grad der Einheit. Entweder beteiligen sich nur wenige Staaten an der europäischen Integration, die bereit sind, einen erheblichen Teil an Souveränität zu opfern (kleineuropäische Lösung: die bisherigen Europäischen Gemeinschaften), oder eine größere Zahl von Staaten findet sich zur engeren Kooperation, erreicht aber nur einen niedrigen Grad an Einheit (großeuropäische Lösung: Europarat, OECD, angestrebtes Gesamt-Europa).

So geht die kooperative Methode natürlicherweise vom Grundsatz der Souveränität der Staaten aus. Am 15. Mai 1961 verkündete de Gaulle: „Die Staaten allein sind . . . zuständig, legitimiert und in der Lage, etwas zu verwirklichen. . . Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist kein anderes Europa möglich als das der Staaten, außer natürlich das der Mythen, der Phantasie, des Scheins. Was in der Wirtschaftsgemeinschaft geschieht, beweist das jeden Tag, denn die Staaten sind es, die Staaten allein, die diese Wirtschaftsgemeinschaft geschaffen haben, die ihr Kredite geben und ihr Beamte zur Verfügung gestellt haben."

Die Ausgangslage der gegenwärtigen Diskussion ist die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Katastrophe, in die ein zügelloser Nationalismus geführt hatte, schien zunächst das nationalstaatliche Prinzip als internationale Ordnungsmethode überhaupt unbrauchbar gemacht zu haben. Der Nationalstaat der klassischen Epoche verstand sich bis zum Zweiten Weltkrieg als „nationaler Kultur-staat"; die „allgemeine Bildung", die er vermittelte, war nationale Bildung; das Erziehungsprinzip, zu dem der Staat sich bekannte, war „Nationalerziehung". „Die inneren Voraussetzungen für diese Leitbilder: National-kultur, Nationalbildung, Nationalerziehung aber bestehen heute offenbar nicht mehr." Hier zeigt sich: „Nationalbewußtsein ist gleichsam von Natur aus . künstlich', ein Produkt geschichtlicher Entwicklung, das sich als ,Natur'mißversteht.“ Das Nationalbewußtsein kann sich „ebenso wandeln wie die Tatsachen, Daten und Symbole, auf die es sich bezieht. Es wird durch Erziehung im weitesten Sinne vermittelt."

Zudem erzwangen technische Veränderungen ein Wirtschaftssystem, das nicht in national-wirtschaftlicher Abgeschlossenheit verharren kann, sondern auf weltweite Wirtschaftsverflechtung angewiesen ist. Im Zeitalter des Düsenflugzeugs sind die Grenzen der Nationalstaaten alten Stils technisch zu eng. „Sobald die Technik in eine Gemeinschaft eindringt, unterhöhlt sie traditionelle Anschauungen und Lebensstile." „Krise des Nationalbewußtseins aber bedeutet Krise des Staatsbewußtseins; Entmachtung des Nationalstaates bedeutet Staatsentmachtung; Krise des Nationalstaates bedeutet Krise des Staates schlechthin." So sahen viele Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg das Ende des Nationalstaates gekommen. Dennoch mehrten sich in den letzten Jahren, vor allem in Frankreich, Zeichen einer Restauration des Nationalstaates. Zwar ist anerkannt, „daß Erziehung das Fundament des Nationalismus ist. Daraus kann man nur folgern: wenn man Nationalisten erziehen kann, ja wenn man sie nur durch Erziehung erhält, da Kinder nicht als Patrioten oder Nationalisten geboren werden, dann ist nicht einzusehen, warum sie nicht auch zu Bürgern einer offenen Welt, zu Menschen mit einem wirklichkeitsnahen Gesellschaftsbewußtsein erzogen werden könnten." Andererseits können wirksame Motivierungen zur Integration „nicht nur rationaler Art sein. Sie müssen das Gefühl ansprechen, sie müssen Emotionen auslösen. Bloße wirtschaftliche Interessen reichen niemals aus. .. Die EWG wird nicht aus sich allein das politisch geeinte Europa hervorbringen, wenn nicht kräftigere Motivierungen ihr zur Hilfe kommen." Es haben zwar einige Nationen eingewilligt, ihre Souveränität zu begrenzen, aber keine Nation hat sich bereit gefunden, * freiwillig auf ihre nationalstaatliche Souveränität zu verzichten. Selbst die Europäischen Gemeinschaften haben sich entschlossen, die einzige wirklich supranationale Institution, die Hohe Behörde, zu opfern, weil man eine größere Effektivität durch das Zusammenlegen der Exekutiven, wenn auch auf Kosten der Hohen Behörde, anstrebt. „Die besondere Art der Konfliktlösung, die die Gemeinschaft kennzeichnet, kann nur so lange funktionieren, wie die Regierungen den politischen Willen haben, den Integrationsprozeß voranzutreiben.“

Während die Vertreter der Integration einen hohen Grad an Souveränitätsaufgabe und den praktischen Verzicht auf das nationalstaatliche Prinzip verlangen, plädieren die Vertreter der Kooperation für die Beibehaltung aller wesentlichen Souveränitätsrechte und des Nationalstaats. Da jedoch zu einer supranationalen Lösung heute nur sehr wenige Staaten bereit sind, kann eine Integration immer nur eine kleineuropäische Lösung sein, die unter Umständen auch nur Teilbereiche des wirtschaftlichen, kulturellen, militärischen oder politischen Bereichs umfaßt. Demgegenüber sind zu einer kooperativen Zusammenarbeit natürlich mehr nationale Regierungen zu bewegen. Hierzu eine osteuropäische Stimme: „De Gaulle bezieht in seine Europavision bekanntlich die ganze östliche Hälfte nicht als Objekt ein, sondern als vollwertiges und vollberechtigtes Subjekt. Er geht hierbei von der Tatsache aus, daß Europa von souveränen Staaten gebildet wird, die sich radikal voneinander unterscheiden und demzufolge an eine Vereinigung durch eine mehr oder weniger gewalttätige Verwischung der bestehenden Unterschiede nicht gedacht werden kann, sondern nur durch eine Zusammenfassung von all dem, worin alle einzelnen Elemente bei voller Beibehaltung ihrer Individualitäten einig sein können." 46)

Die Entwicklung einer Desintegration läßt sich gut am Beispiel der NATO und ihrer Krise zeigen. Der Entschluß Frankreichs, die NATO als Instrument der militärischen Integration zu verlassen, macht auf dem militärischen Sektor exemplarisch die Folgen eines solchen Schritts deutlich. Hier ist allerdings zuerst zu berücksichtigen, daß „das gaullistische Frankreich zwar den NATO-Vertrag mit der in ihm enthaltenen Bestandsgarantie akzeptiert, nicht aber die NATO-Organisation, das heißt die Unterstellung der militärischen Verbände unter integrierte Stäbe, die Integration der Infrastruktur usw., die durch Konsensus aller NATO-Partner Bestandteil des NATO-Vertrages geworden ist" Frankreich ging also den nationalen Weg einer Lösung der NATO-Reform.

De Gaulle „entzog alle französischen Streitkräfte der Integration und bot sie in einer parallel geführten politisch-diplomatischen Aktion dem Bündnis wieder zur Zusammenarbeit (, im Falle eines nicht provozierten Angriffs) an" Immerhin lassen sich drei grundsätzliche Ursachen für die NATO-Krise nennen:

Einmal sind die Ursachen zu nennen, die in erster Linie das Verhältnis der Allianzpartner untereinander betreffen, beispielsweise die veränderten Verhältnisse („was früher als Ausübung der amerikanischen Schutzfunktion galt, wird heute in Europa als Bevormundung angesehen" sodann mangelnde Partnerschaft (dieser Vorwurf wird den USA gemacht, weil sie ihre europäischen Verbündeten nicht in ausreichendem Maße an den lebenswichtigen Entscheidungen beteiligen würden); schließlich die tatsächliche Ungleichheit unter den NATO-Mächten: der Versuch, durch eine bevorzugte Verbindung mit den USA eine Sonderstellung zu erlangen (Bundesrepublik) und der Sonderstatus der beiden Nuklear-mächte Frankreich und Großbritannien erzeugten Spannungen.

Zweitens sind Usachen zu nennen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der NATO unmittelbar wirksam werden, beispielsweise das nukleare Problem, die Frage nach der atomaren Bewaffnung also, die die Allianz in zwei Lager zu spalten droht; sodann die unterschiedliche „Beurteilung der äußeren Bedrohung und Versuche, durch bilaterale Kontakte mit dem Osten Entspannungsabsprachen einzuleiten" bzw. das Mißtrauen gegen eine solche Politik.

Als letzter Ursachen-Komplex sind die Beschlüsse und Maßnahmen der französischen Regierung zu nennen, das heißt der Rückzug Frankreichs aus der NATO-Integration. Mit diesen Maßnahmen gewinnt die französische Politik außenpolitische Bewegungsfreiheit nach Osteuropa; sie gewinnt bzw. behält die Verfügungsgewalt über die konventionellen und nuklearen Streitkräfte. Andererseits verliert Frankreich den Schutz des NATO-Luftverteidigungssystems und kann nicht mehr an der gemeinsamen Verteidigungsplanung teilnehmen. Auch bleibt das Problem der Standardisierung ungelöst. Schließlich entfällt theorethisch der automatische Schutz Frankreichs durch die USA.

Dieses Beispiel zeigt also eindrucksvoll, daß Teilintegrationen aus politischen Erwägungen rückgängig gemacht werden können: es gibt keine Automatik zur Vollintegration. Allerdings wirft eine Desintegration Probleme nicht nur für die Vertragspartner auf: Frankreich möchte beispielsweise weiterhin die Vorteile der Luftverteidigung nutzen und an der Planung teilnehmen.

Ausblick

Die Entwicklung, die seit 1957 auf eine strukturelle europäische Integration hinauslief, ist größtenteils aufgehalten worden bzw. hat sich stark verlangsamt. In den nächsten Jahren wird die europäische Politik höchstwahrscheinlich von den Nationalstaaten und nicht von supranationalen Institutionen bestimmt werden. So erklärte Helmut Schmidt in einer Rede vor dem Hamburger Ubersee-Club am 20. März 1967: „Wir haben in den fünfziger Jahren in Westeuropa eine starke Bewegung zu supranationalen Lösungen hin gehabt. Inzwischen sind diese Wünsche und diese Hoffnungen erheblich reduziert worden. Man muß heute von einem Prozeß der Renationalisierung Europas sprechen. Diese Entwicklung ist in Westeuropa nicht allein von de Gaulle, aber am sichtbarsten von ihm beschleunigt worden. Die westeuropäische Integration ist seit Jahren, ich will vielleicht nicht gerade sagen, auf dem Rückzüge, aber doch stationär verharrend. Und der auf jeden Fall wünschenswerte Beitritt Englands zur EWG wird keinen neuen supranationalen Europäismus, keine supranationale Begeisterung in Europa auslösen."

Der Katalog der britischen Forderungen für einen EWG-Beitritt umfaßt hauptsächlich wohl 5 Punkte: „ 1. Starke und bindende Sicherungen für den Handel und andere Interessen unserer Freunde und Partner im Commenwealth" womit insbesondere der Import von Weizen aus Kanada und Australien sowie von Lamm-fleisch und Molkereiprodukten aus Neuseeland gemeint sind. Tatsächlich stellen die Handelsbeziehungen mit dem Commonwealth einen wichtigen Posten in der Außenhandelspolitik Großbritanniens dar. Der Gesamtexport an Handelswaren aus Großbritannien betrug 1962 3792 Millionen Pfund Sterling; davon gingen Waren im Wert von 281 Millionen Pfund in zwei ehemalige Commonwealth-Länder (Irland und Südafrika) und 1208 Millionen Millionen Pfund in Commonwealth-Länder. 90 Prozent der neuseeländischen Exporte an Schafen, Butter und Käse gingen nach Großbritannien. Die drei weißen Commonwealth-Länder Kanada, Australien und Neuseeland verlangen daher für sich eine Garantie ihrer Nahrungsmittelexporte. Dem steht die EWG-Agrarmarktordnung entgegen, nach der die Agrarprodukte nicht zu Weltmarktpreisen gehandelt, dafür eine Einkommenssicherung der Landwirte über relativ hohe Absatz-preise durch Heraufschleusen der Einfuhrpreise und ein kompliziertes Abschöpfungssystem innerhalb der EWG erreicht und erhebliche Subventionen gezahlt werden sollen. „ 2. Freiheit, wie bisher unsere eigene Außenpolitik zu verfolgen. 3. Erfüllung der Versprechungen der Regierung an unsere Genossen in der Europäischen Freihandelszone — kaum ernsthafte Probleme. Ebenso wohl problemlos: „ 4. Das Recht, unsere eigene Wirtschaft zu planen." Dafür aber voller Probleme: „ 5. Garantie zum Schutze der Position der britischen Landwirtschaft." Großbritannien erzeugt nämlich einen viel kleineren Anteil seines Lebensmittelbedarfs als der EWG-Raum. Nur 4 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Großbritanniens sind in der Landwirtschaft beschäftigt, während es im EWG-Raum 25 Prozent und in Italien allein sogar 28 Prozent sind. „Während die EWG den Landwirten durch relativ hohe Preise ein ausreichendes Einkommen garantieren will und billige Importe durch ein System von Abschöpfungsbeträgen auf das vereinbarte Preisniveau hochschleust, hat Großbritannien seit langem eine Politik niedriger Lebensmittelpreise verfolgt, vielfach unter Weltmarktpreisen im Ausland eingekauft und die einheimische Landwirtschaft im Rahmen eines Systems garantierter Preise durch direkte Subventionen entschädigt." Ähnlich wie Frankreich war Großbritannien bisher nicht bereit, Souveränitätsrechte an eine westeuropäische Technokratie abzutreten. Es beteiligte sich deshalb nur an kooperativen internationalen Organisationen (Europa-Rat, OECD). „Während eine Komponente des Europa-Konzepts de Gaulles, ein Europa der Vaterländer statt einer supranational gelenkten politischen Gemeinschaft, der britischen Regierung zusagt, hat sie gegen die andere Komponente, die Distanzierung zu den Vereinigten Staaten bei gleichzeitiger Ausnutzung des amerikanischen Atomschirms für eine eigenwillige Außenpolitik, erhebliche Bedenken." Mit dem Beitritt Großbritanniens zur EWG wäre also eine weitere Option möglich. Zweifellos aber wird ein politisches Europa der siebziger Jahre ein Europa der Kooperation sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wilhelm Grewe, Planung in der Außenpolitik, in: Planung I, hrsg. v. Joseph H. Kaiser, Baden-Baden 1965, S. 370.

  2. Raymond Aron, Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt, Franksurt/Main 1963, S. 468.

  3. Kurt Birrenbach, Deutschland -Amerika. Probleme einer Allianz, in: Außenpolitik, Heft 2/1966, S. 80.

  4. Pierre Hässner, Polyzentrismus in Ost und West, in: Europa-Archiv, Heft 14/1966, S. 497.

  5. Kurt Birrenbach, Deutschland -Amerika, a. a. O. S. 78 f.

  6. Alfred Jüttner, Die europäische Einigung, in: Geschichte und Staat, Bd. 120, München 1966, S. 62— 64.

  7. Europa-Archiv, 1963, S. D 357— 359.

  8. Veröffentlichung der Sprechergruppe der EWG-Kommission, Ref. 2372/X/63.

  9. Norbert Welter, Atlantische Handelspartnerschaft im Werden, in: Europäische Schriften des Bildungswerks Europäische Politik, Heft 5, Köln 1963, S. 63.

  10. Ebenda, S. 64.

  11. Ebenda, S. 77.

  12. Ebenda, S. 47.

  13. Rainer Waterkamp, Die Politik gegenseitigen Beispiels im Vorfeld der Abrüstung, in: Frankfurter Hefte, März 1965.

  14. Otto Walter Haseloff, Schicksalsideologie und Entscheidungsplanung, in: Modelle für eine neue Welt. Deutschland ohne Konzeption?, München/Wien/Basel 1964, S. 60.

  15. Heinrich Bechtoldt, Nationale Interessen und übernationale Verpflichtungen, in: Außenpolitik, Heft 2/1966, S. 89.

  16. Ebenda, S. 98.

  17. H. C. Allen, The Anglo-American Predicament. The British Commonwealth, The United States and European Unity, London 1960, S. 118.

  18. The Declaration of Paris, Teil I vom 19. Januar 1962.

  19. NATO-Parliamentarians'Conference. Reports and Recommendations. Report of the Political Committee. Eighth Ännual Conference, 1962, S. 9.

  20. Joseph Harned, Zur Idee eines atlantisdien Parlaments, in: Europa-Archiv, Heft 6/1965, S. 222.

  21. Ebenda, S. 223 f.

  22. Ebenda, S. 224 f.

  23. Walter Schütze, Die Politik de Gaulles und die erzwungene Neuordnung der NATO, in: Europa-Archiv, 10. Mai 1966, S. 315.

  24. Rundfunkrede vom 31. Dezember 1964.

  25. Kurt Birrenbach, Wiedervereinigung — reicht unser Atem?, in: Die Zeit vom 28. April 1967, S. 13.

  26. Heinrich Bechtoldt, Nationale Interessen ...... a. a. O., S. 99.

  27. Werner Ungerer, Außenpolitik eines vereinten Europas, in: Außenpolitik, Februar 1965, S. 82.

  28. Europa-Archiv, Heft 9/1966. S. D-251.

  29. Robert Osgood, NATO. The Entangling Alliance, University of Chicago Press, 1962, S. 269.

  30. Vgl. Gerd Schmückle, Differenzen und Übereinstimmungen im Atlantischen Bündnis, in: Europa-Archiv vom 25. Januar 1967, S. 46. Neuerdings durch die Labour-Regierung stark im Aufbau begriffen.

  31. Uwe Nerlich, in: Krieg und Frieden in der modernen Staatenwelt, Beiträge der Sozialwissenschaft II, hrsg. v. U. Nerlich, Gütersloh 1966, S. 13 f.

  32. Ernst Friedlaender/Katharina Focke, Europa über den Nationen, in: Europäische Schriften des Bildungswerks Europäische Politik, Heft 3, Köln 1963, S. 27.

  33. Vgl. ebenda, S. 30.

  34. Ebenda, S. 34 ff.

  35. Ebenda, S. 39 ff.

  36. Rainer Waterkamp, Bilanz der europäischen Integration, in: Politische Studien, Juli/August 1965, S. 450 u. 454.

  37. Walter Schütze, Die Zielsetzung der französischen Europa-Politik, in: Europa-Archiv, Heft 21 1966, S. 784.

  38. Ernst Rudolf Huber, Nationalstaat und Verfassungsstaat, Stuttgart 1965, S. 279.

  39. Christian Graf von Krockow, Nationalbewußtsein und Gesellschaftsbewußtsein, in: PVS 1960, S. 142.

  40. Ebenda, S. 150.

  41. Quincy Wright, Problems of Stability and Progress in International Relations, Berkeley/Los Angeles 1954, in: Krieg und Frieden in der modernen Staatenwelt, a. a. O., S. 334.

  42. Ernst Rudolf Huber, a. a. O., S. 281.

  43. Hannah Vogt, Nationalismus gestern und heute, Opladen 1967, S. 46. 62 :

  44. Ebenda, S. 24.

  45. Klaus F. Bauer, Spill-over oder spill-back, in: Europa-Archiv, Heft 14/1966, S. 521 46) Der europäische Status quo und die Friedenspolitik, in: Mezinärodni Politika, Prag März 1965.

  46. Kurt Birrenbach, Deutschland -Amerika, a. a. O., S. 79.

  47. Gerd Schmückle, Differenzen und Übereinstimmungen . . . ., a. a. O., S. 44.

  48. Legationsrat Kroneck auf dem 3. Kolloquium der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Protokoll, S. 81.

  49. Ebenda, S. 83.

  50. Sopade-Rednerdienst, Bad Godesberg, Sonderausgabe 1/67, S. 6.

  51. Rolf Breitenstein, Großbritanniens Weg nach Europa, in: Europa-Archiv, Heft 24/1966, S. 879.

  52. Ebenda.

  53. Ebenda, S. 880.

  54. Ebenda.

  55. Ebenda, S. 880.

  56. Ebenda, S. 882 f.

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