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Gemeinwohl und Macht — Ziel und Mittel politischer Gestaltung | APuZ 39/1967 | bpb.de

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APuZ 39/1967 Gemeinwohl und Macht — Ziel und Mittel politischer Gestaltung Ein deutscher Staatsmann — Zum 100. Geburtstag von Walther Rathenau

Gemeinwohl und Macht — Ziel und Mittel politischer Gestaltung

Helmut Große

Das Thema enthält einen Kristallisationspunkt politischer Theorie; an ihn binden sich die Begriffe Gemeinwohl und Macht. Beide werden im Verhältnis von Ziel und Mittel gesehen und somit funktional aufeinander bezogen. Das ist eine Sicht, die nicht ohne weiteres evident ist, denn auch Macht könnte sich als Ziel manifestieren; ihr ambivalenter Charakter wird noch zu betrachten sein. In der Relation zum Gemeinwohl wird ihr instrumentaler Sinn vorerst nur behauptet.

Gemeinwohl und Macht erscheinen in ihrer thematischen Zuordnung als Faktoren des Politischen, das sich als Gestaltung versteht. Das Hauptwort „Gestaltung" weist auf ein Tun hin, das innerhalb eines Rohstoffes beliebiger Art einen Ordnungszusammenhang schafft. Gestaltung verbinden wir mit etwas Schöpferischem, dem Chaotischen Entgegengesetzten, eben mit einer sinnvollen Ordnung. Politische Gestaltung gerinnt zur Politik, die schöpferische Antwort auf Gefährdung durch Chaotisches innerhalb eines Gemeinwesens zu sein behauptet.

Die theoretischen Aspekte des Begriffs Politik sind mannigfach. Eines scheint sicherer Konsens: Politik ist eine Form des Handelns; sie hat es mit der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu tun, mit guter oder schlechter, mit wertbetonter oder pragmatischer, gleichviel. Es geht dabei um die Ordnung in irgendeiner Form von Gemeinwesen, im allgemeinen begrenzter, aber zuweilen auch universeller Art. Wo Ordnung sein soll, geht es auch um die Durchsetzung ihrer Prinzipien. Dazu bedarf es der Macht als Mittel.

Hans Lamm:

Ein deutscher Staatsmann — Zum 100. Geburtstag von Walther Rathenau . . S. 15

Politik hat also auch mit ihr zu tun. Macht, gleich welchen Zwecken und Zielen sie dienen soll, ist notwendig an politisches Handeln gebunden. Nach Max Weber ist sie soziologisch amorph, daß heißt, sie kann sich im Gesellschaftsgefüge an beliebige Gruppen binden, in einer Richtung oder reziprok oder komplex wirken. Aber auch ihr ethischer Aspekt entbehrt der Gestalt; sie ist Mittel, das für Gutes wie für Böses verwendbar ist.

Politik als Ringen um die rechte Ordnung

Dürfen wir so verstandenes politisches Handeln aber als Gestaltung bezeichnen? Denn wo Macht im Spiele ist, gibt es auch den Kampf um sie, und es geht um ihre Sicherung. Wenn aber Kampf mit dem Wesen von Politik verbunden ist, wo bleibt dann der schöpferische Impuls zur Gestaltung, der Harmonie und Frieden braucht? Im Hinblick auf unser Gesamtthema möge eine Sicht gelten, die den Ableitungen folgt, die Heinrich Otto von der Gablentz vorgenommen hat. Neben die Macht-menschen in der Politik treten nach seiner Auffassung die Gestalter und die Rechtskämpfer. Sie haben vielleicht nicht immer den ausgeprägtesten Machtsinn, aber dennoch ist ihre Wirkung nachhaltig. Ihr Gefühl für das Recht als Wurzel politischen Denkens und Handelns gehört zusammen mit Macht und Gestaltung. „Ein Urphänomen des menschlichen Zusammenlebens ist es, daß man eine Form sucht, in der das Rechte durchgesetzt wird, noch ehe man die feste Ordnung des Rechts dafür hat. Das Rechte hat aber immer zwei Seiten, das Recht für den einzelnen Menschen, sich als Person zu entfalten, und das sachgerechte Gestalten der Dinge um der Menschen willen. Es muß die richtige Ordnung sein, die der Mensch herbeiführt, und er muß selbst dazu in seiner Ordnung sein, das heißt Freiheit haben. Auf der einen Seite gehört also die Freiheit dazu, die allein den Menschen in die richtige Form bringen kann, auf der anderen Seite der ordre des choses (Ordnung der Sachen) Das Rechte ist also der Impuls, der zu geordnetem Recht drängt; das heißt, das Erkannte soll Gestalt annehmen.

Politik ist sicherlich immer mit Macht und Kampf verbunden. Wenn sie aber echte Politik ist und nicht in zerstörerisches Wüten mächtiger Willkür ausartet, ist sie ein Ringen um die gerechte Ordnung. Gestaltung braucht aber einen Maßstab, ein inneres Bild von Ordnung, von rechter und gerechter Ordnung. Wir nennen diesen Maßstab „Gemeinwohl“. Dieses gewinnt die Dimension des Zieles für ein Gemeinwesen, das nach ihm zu formen ist.

Gemeinwohl — Varianten des Begriffs

Der Begriff „Gemeinwohl" hat seine Geschichte und seine Wirkungsaspekte. Die wichtigsten seien kurz charakterisiert. In der traditionellen Naturrechtslehre und der auf ihr basierenden katholischen Soziallehre ist das „bonum commune“ der konstituierende Faktor jedes politischen Handelns. Die wissenschaftliche, moderne Sozialethik hat seinen Inhalt ständig in der sich wandelnden Umwelt im Hinblick auf die religiös verankerte Würde der Person und natürlicher Gruppen zu ermitteln. Sie ist eine wertermittelnde und wertsetzende Disziplin

Die andere Naturrechtstradition, die von der autonomen Vernunft ausgeht, setzt das Gemeinwohl als alleiniges Ziel sozialer und politischer Tätigkeit voraus. Schon der aufgeklärte absolute Fürst hatte es zu verwirklichen. Das Bild von der Gemeinwohlgerechtigkeit bewegt die Formulierungen der ersten demokratischen Verfassungen und der Menschenrechtskataloge im 18. Jahrhundert. Dann ist es eng mit dem Verfassungsstaat aller Schattierungen verbunden; es ist der wesentlichste Motor aller Demokratieversuche im 19. Jahrhundert, sogar noch im Mißverständnis des liberalistischen Laisser faire. Allerdings verliert die Verankerung des Gemeinwohls in der Person, oder besser, in der Würde des einzelnen an Festigkeit in rein rationalen Systemen. Mit der volonte generale Rousseaus, die das Gemeinwohl intendiert, ist dann auch der Zug zum Totalitären nicht mehr ausgeschlossen Das Gemeinwohl kann zumindest einen Aspekt annehmen, der es in den Umkreis der Utopie und der chiliastischen Zwangsbeglückung der Menschheit rückt. Das jakobinische „salut public", das wir mit „Wohlfahrt“ übersetzen (einem heute mißverständlichen Begriff), ist nichts anderes als dieses Gemeinwohl totalitärer Prägung. Es verschlingt den einzelnen, da er nur noch Element des Ganzen ohne Eigenwert ist. Die Gleichsetzung des Nützlichen mit dem sittlich Guten durch die englischen Utilitaristen reduziert das Gemeinwohl auf ein niederes Wert-niveau. Es bleibt in dieser Form äußerst wirksam und verbindet sich mit totalitären Formeln, die angeblich Rationales ins absolut Irrationale verkehren. „Du bist nichts, dein Volk, deine Rasse, deine Klasse, die Partei ist alles!" sind spätere Formeln für diese Vermischung, wobei gleichzeitig die relative Wahrheit des Satzes „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" zur inhumanen Handhabe pervertiert wird

Bis vor kurzem fand man wenig Nachdenken über das „Gemeinwohl" außerhalb der katholischen Naturrechts-und Soziallehre. Empirische Sozialwissenschaftler erwähnen es kaum. In den neuen Ansätzen der politischen Wissenschaft kommt es jedoch wieder zu Ehren 5a). Die Erfahrung mit dem totalen Staat hat enthüllt, daß es ein Recht vor jedem staatlichen Gesetz geben muß. Außerdem wird es im politischen Alltag immer wieder zitiert, anscheinend als selbstverständliche Gegebenheit, die nicht weiter reflektiert zu werden braucht. Theodor Eschenburg nennt es im Zusammenhang mit den Staatszwecken. Alle Staatsaufgaben ließen sich letztlich in dem übergeordneten Zweck des gemeinsamen Wohls zusammenfassen. Er sagt: „Daher kann das Gemeinwohl auch als einziger Staatszweck bezeichnet werden." Die Problematik dieses Satzes wird noch zu bedenken sein. Ferner wird das Gemeinwohl in der Tagespolitik immer dann beschworen, wenn sich Interessengruppen besonders lautstark vernehmen lassen und ihren Druck auf Regierung und Legislative auszuüben versuchen.

Nach diesem kurzen Überblick können wir annehmen, daß der Begriff Gemeinwohl sicherlich nicht ethisch amorph ist wie der der Macht, aber doch so ohne weiteres sich nicht greifen läßt. Sein Zielinhalt ist theoretisch nicht bestimmbar, sein Wertverständnis kann vom Glück des einzelnen bis zu dessen Auflösung im Kollektiv reichen. Gemeinwohl ist ein formaler Begriff, der, wie alle Begriffe, ohne Anschauung blind bleibt.

Es wird also vom praktischen Gemeinwohl noch die Rede sein müssen. Dennoch vermag es uns als formales Prinzip weiterzuhelfen. Betrachten wir es einstweilen in seinem logischen Sinn und im Wirkungszusammenhang mit dem Politischen.

Das Wohl des einzelnen — Wesensbestandteil des Gemeinwohls

Unsere Sprache läßt verschiedene Wortverbindungen zu, die den Bestandteil „gemein" haben, z. B. die Gesellungsformen Gemeinde, Gemeinschaft, Gemeinwesen. Der dazugehörige Gemeinsinn ihrer Glieder macht sie erst menschlich wertvoll für den einzelnen wie für die Gesamtheit. Er ist mit eine Voraussetzung für das gemeine Wohl. Einzelwohl und Gemeinwohl sind notwendigerweise aufeinander bezogen, weil der Mensch Individuum und soziales Wesen ist. Das eine ist nicht ohne das andere denkbar, beide sind ineinander aufgehoben. Das ist die Dialektik des Begriffs. Wieweit dennoch das Einzelwohl sich vom Gemeinwohl differenziert oder das Gemein-wohl das Einzelwohl beschränkt, kann nur empirisch festgestellt werden. Daß das Einzel-wohl am Gemeinwohl seine Grenze findet, ist logisch und Grundlage jeden Anspruchs der Gesellschaft an das freie Individuum. Projizieren wir diesen Sachverhalt auf die genannten Gesellungsformen: Gemeinschaften — gemäß der bekannten Definition von Tönnies — haben im besonderen Sinn das Wohl ihrer Glieder im Auge, und die Glieder das Wohl ihrer Gemeinschaft. Verstöße dagegen werden durch Ausschluß geahndet; dieser ist für den Betroffenen wohl schmerzlich oder auch nachteilig, aber nicht lebensgefährlich. Das Mitglied seinerseits kann die Gemeinschaft freiwillig verlassen. Im politischen Gemeinwesen ist das anders. Der Austritt ist kaum denk-bar, es sei denn als Tausch mit einem anderen. Einen Ausschluß gibt es nur in extremen Fällen der Verfolgung. Das eine wie das andere wäre lebensgefährlich. Der einzelne, der sich dem Gemeinwesen gegenüber schädigend verhält, wird durch Gewaltmaßnahmen zum rechten, zum konformen Verhalten gezwungen. Der Bezugspunkt zum Politischen ist damit gefun

Der Staat als Gestalter des Gemeinwohls?

Welche Institution aber ist imstande, mit absoluter Macht das Gemeinwohl zu schützen? Praktisch nur der Staat; denn er allein verfügt über das absolute, unausweichliche Machtmittel. Wo also absolute Macht über den einzelnen in einem Gemeinwesen effektiv ist, ist auch vom Staat zu sprechen, und sei das Gemeinwesen auch noch so klein.

Der Schützer des Gemeinwohls manifestiert sich hier als souveräner Staat, denn keine Macht von außen kann seine Befugnisse erweitern oder schmälern. Trotz aller Fragwürdigkeit des alten absoluten Souveränitätsbegriffs heute im Zeitalter mannigfacher Interdependenz ist der souveräne Staat anscheinend noch die einzige Machtorganisation, die das Wohl eines Gemeinwesens gegen unbotmäßige Individuen oder Gruppen schützen kann. Der Staat verwendet sich also für das Gemeinwohl. Dafür hat er absolute Macht. Aber in dieser Funktion ist er noch kein positiver Gestalter des Gemeinwohls. Es ist zu fragen, ob er sich in seiner Existenz überhaupt als Gestalter des Gemeinwohls versteht. Es ist weiter zu fragen, ob es überhaupt wünschenswert sei, daß ei über seine Schutzfunktion hinausgeht und die Gestaltung des Gemeinwohls in seine Hand nimmt, ob er das nicht freien gesellschaftlichen Kräften überlassen sollte. Jeder Staat birgt in seiner Machtvollkommenheit gefährliche Möglichkeiten für seine Bürger in sich, wenn man ihn ohne Bedenken dazu bestellen wollte.

Betrachten wir einige Deutungen des Staates. Heute herrschen weitgehend rationale Staats-theorien vor, was nicht ausschließt, daß über religiöse, metaphysische und irrationale Grundlagen des Staates nachgedacht wird. Alle diese Lehren sprechen von Staatszwekken. Man kann sie leicht, aber auch unverbindlich aneinanderreihen. Da sind zum Beispiel die Sicherung des Rechts, die Friedenssicherung nach innen und außen, die Wohlfahrt, die Ordnung der Wirtschaft und des Arbeitslebens, die Förderung der Kultur und dieses und jenes.

Die Bedeutung der Macht für den Staat

Alle diese Bereiche bieten sicher auch Teilaspekte des Gemeinwohls. Die Macht des Staates als Zwangsgewalt begründen die Staatslehren in verschiedener Weise. Die religiöse Staatsidee bindet den Staat an theologisches Denken, die idealistische betrachtet ihn als die Wirklichkeit der sittlichen Idee schlechthin. Dazwischen siedeln die Ideen des Rechtsstaates, des Kulturstaates, des Wohlfahrtsstaates und andere. Alle erkennen die Notwendigkeit der souveränen Macht des Staates an. Aber als besondere theoretische Ausprägung steht die Idee des Machtstaates da. Sie war und ist äußerst wirksam. Wenn auch nicht mehr die Sophisten, Macchiavelli, Bodin, die Jakobiner, Fichte, Treitschke und Nietzsche das Denken vorrangig beherrschen, so wird doch weithin die Idee des Machtstaates eher akzeptiert als andere Theorien. Auch Max Weber deklariert trotz aller Einschränkungen den Staat im wesentlichen als Machtverband. Friedrich Meinecke sieht ihn nicht anders und beklagt sein Unvermögen zur absoluten Sittlichkeit. Theodor Litt erkennt die Macht als Wesen des Staates an. Das Hauptproblem der Demokratie sieht er darin, daß sie die Bändigung der Macht, ihre Verteilung und Kontrolle für notwendig erachtet, obwohl sie als Staat die Macht eigentlich ohne Einschränkung, also absolut, handhaben möchte. Wie nahe liegt der Punkt, an dem Macht nicht mehr, wie bisher in unserer Betrachtung, als Mittel dient, sondern zum Zweck des Staates selbst wird! Auch ohne der Idee des absoluten oder totalen Staates zu huldigen, liegt dieser Gedanke nahe. Denn tatsächlich fehlt dem Begriff des Staates das Essentielle, wenn es ihm an der gehörigen Macht gebricht. Auch amerikanische Denker fordern die Entfaltung der Staatsmacht. Charles Merriam erachtet sie als einen zu erstrebenden Wert, den er sogar als Höchstwert anzuerkennen bereit ist. Das Problem ist bei ihm nur, daß man dafür sorgen muß, diese Macht den rechten Personen zu übertragen. George Cattlin geht sogar so weit, zu überlegen, ob Macht nicht nur ein pragmatisches Ziel, sondern auch ein ethisch wünschbares sei. Für die Außenpolitik ist dieser Standpunkt weniger erstaunlich. So formuliert Hans Morgenthau „Welches auch immer die Ziele der internationalen Politik sein mögen, Macht ist immer das unmittelbare Ziel.“ Diese amerikanischen Äußerungen sind um so bemerkenswerter, als sie vom pragmatischen Denken herkommen und nicht im Verdacht idealistischer Rigorosität oder macchiavellistischer ethischer Bedenkenlosigkeit stehen. Arnold Brecht kritisiert alle diese Versuche, Macht als einen letzten Wert zu setzen, mit dem Hinweis auf die mangelnde Klarheit des Begriffes überhaupt, mit dem Zweifel an der Möglichkeit einer konsequenten logischen Theorie, die die Macht von ihren Quellen zu isolieren versucht, und mit der geschichtlichen Erfahrung von Katastrophen, wenn Macht höher bewertet wird als Ideale wie Frieden, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Es will scheinen, daß diese Argumente richtig sind, letztlich aber nicht überzeugen können, wenn andere Gründe als rationale die Macht auf dem Thron des Wertgefüges bestätigen. Das aber tun sie mit der ihnen eigenen Vehemenz und Lebenskraft. Zum Verständnis der Macht kann offenbar ein rationales Urteil nicht zureichend sein. Hier werden Entscheidungen gefordert, die in anderen Schichten des Geistes ihren Grund haben. Gerhard Ritters Dämonie-Aspekt findet hier sein Recht. Eine wirklich rationale Auflösung der politischen Antinomie von Machtkampf und Friedensordnung scheint es nicht zu geben

Gemeinwohl als einziger Staatszweck?

Wir haben den ambivalenten Charakter der Macht des Staates erkannt. In ihm sind die Möglichkeiten des Mittels und des Zieles zumindest angelegt. Das Gemeinwohl wird na-türlich für den Staat bedeutungslos, wenn er die Machtverwirklichung als alleiniges oder doch hauptsächlichstes Ziel anstrebt. Auch wenn der Staat seine Macht nur als Mittel deutet, muß er sie als solches erst gewinnen, denn sie ist nicht einfach zur Hand. Sie ist nicht unangefochten, wenn sie einmal Besitz ist. Also muß er um sie ringen, muß sie absolut wollen, auch wenn er nur relativen Gebrauch davon zu machen beabsichtigt. Noch als Mittel verstanden, wohnt also der Macht immer auch ein gewisser Zielcharakter inne. Dürfen wir aber nach dem bisher Erkannten annehmen, daß der Staat das Gemeinwohl seiner Bürger fraglos im Auge hat?

Der Staat ist keine bloße Genossenschaft, sondern ein Herrschaftsgebilde, daher seine innige Verbindung mit der Macht. Staatsgewalt muß in jeder Staatsform wirksam werden, gleichgültig wie sie sich legitimiert.

Wenn aber der Staat nicht reine Willkür-herrschaft im Sinne entarteter Despotie ist, wird er das Prinzip politischer Gestaltung anerkennen, da eine Ordnung nicht von selbst wächst, sondern der schöpferischen Tat bedarf. Staat ist also nicht von Politik zu trennen, wie wir sie verstanden haben. Herrschaftsordnung und Rechtsgestaltung können auf verschiedenen Grundlagen beruhen: auf der Gleichheit oder Ungleichheit des Staatsvolkes. Die Staatszwecke, die wir schon erwähnten, sind in ihrer Rangordnung nicht eindeutig. Ihr Katalog ist wandelbar, er kann eingeschränkt oder erweitert werden, er kann begrenzt oder gar universal sein. Das Wohl des Staates ist in jedem Fall sein Ziel. Aber ist dieses notwendig auch das gemeine Wohl, das wir ja primär als eine soziale und nicht unbedingt staatliche Größe gedeutet haben? Ist Eschenburgs Satz „Daher kann das Gemeinwohl auch als einziger Staatszweck bezeichnet werden" haltbar? Man möchte bezweifeln, daß der reine Machtstaat sein Staatsinteresse mit dem Wohl der Gesamtheit seiner Glieder als deckungsgleich ansieht. Staatsraison und Staatsvergottung haben wohl nicht immer echte Relationen zum Gemeinwohl gezeigt, ganz abgesehen von wahnsinnigen Grenzfällen, wie Hitlers Befehl am Kriegsende, wonach auf die elementaren Lebensinteressen des Volkes keine Rücksicht mehr zu nehmen sei.

Das Bild vom Menschen — Grundlage der Herrschaftsordnung

Das Gemeinwohl als Staatszweck, absolut betrachtet, bleibt in Frage gestellt. Nur wenn der empirische Staat einem Leitbild vom Menschen folgt, das Raum für die existentiellen Zwecke der Person und der gesellschaftlichen Gruppierungen natürlicher oder korporativer Art läßt, nur wenn er sich als Machtpotenz versteht, die notwendig ist für die Lebens-entfaltung und Sicherung seiner Bürger als Einzel-und als Gesellschaftswesen, nur dann ist zu hoffen, daß seine Politik als Gestaltung in unserem Sinne wirksam wird, nur dann könnte der Staatszweck mit dem des Gemeinwohls koinzidieren. Die Regierenden werden auch dann zwar nach den Eigengesetzen der Macht und der Staatsräson handeln müssen, sie werden aber das Postulat nicht aus den Augen verlieren, wonach der Staat die komplementären Funktionen von Selbstbehauptung und Dienst an seinen Bürgern hat. Beide soll er schöpferisch in die Gemeinwohlordnung integrieren. Dann kann auch erwartet werden, daß das Gemeinwohl sich der Mittel erfreut, die es zur Verwirklichung braucht, nämlich der Macht des Staates. Nur so kann erhofft werden, daß der Machtapparat des Staates das Gemeinwohl überhaupt in den realistischen Horizont seiner Zwecke bekommt, und zwar nicht nur als Teilzweck, mit dem jeweils opportunistisch verfahren werden kann, sondern als Staatsziel überhaupt. Die politischen Gestalter in diesem Staat werden seine tatsächliche Macht für die Verwirklichung des Gemeinwohls absolut einsetzen. Staat und Gesellschaft stehen sich dann nicht dualistisch gegenüber, befinden sich auch nicht in einer gewissen Differenz zueinander, sondern integrieren sich zum politischen Gesamt-körper

Nach der Naturrechtslehre erschöpft sich die Aufgabe des Staates nicht in der Sicherung von Recht und Ordnung. Er hat schlechthin das Gemeinwohl in allen seinen Aspekten zu verwirklichen. Seit Aristoteles über Thomas von Aquin und Hugo Grotius bis zu Edmund Burke war das so. Aber die Machtstaattheorien seit Macchiavelli bestreiten die Richtigkeit dieser Forderung oder interpretieren das Gemeinwohl ideologisch als Staatswohl, ohne zwischen beiden zu unterscheiden.

Der Staat, in dem wir leben, bekennt sich zum Gemeinwohl als Staatszweck. Als pluralistischer Staat vermag er nicht die gemeinsame Wertbegründung jenseits der rationalen Dimension zu formulieren. Er bleibt picht in abstrakter Distanz zum Begriff, sondern ringt um die Klärung des jeweiligen Inhaltes des Gemeinwohls und dessen Forderung an ihn. Seine Verfassungsorgane kreisen nicht um sich selbst, sondern ermitteln in Zusammenarbeit mit vielen gesellschaftlichen Kräften die Bestimmung des jeweils zu Ordnenden. Das geschieht auf vielen Ebenen. Regierung und Parlament zum Beispiel berufen individuelle Berater und Vertreter gesellschaftlicher Gruppen zur Vorbereitung von Gesetzesmaßnahmen. Sie sind nicht taub für die Stimme der öffentlichen Meinung, wie sie sich in den Publikationsorganen mitteilt. Die Regierung wird von der Legislative bestellt und ist ihr auch wiederum verantwortlich. Deren Vertreter sind zwar in die Disziplin politischer Parteien gebunden, entscheiden aber dennoch als Abgeordnete im letzten eigenverantwortlich. Die Parteien selbst sind nach unserer Verfassung nicht bloß gesellschaftliche Kräfte, sondern, sofern sie das Grundgesetz bejahen, selbst Mittlerorgane zwischen politischer Willensbildung der Gesellschaft und politischer Macht des Staates. Die Abgeordneten sind Angehörige und Repräsentanten vieler gesellschaftlicher Gruppen vor ihrer Volksvertreterschaft.

Der Kampf um die Macht im Staate vor dem Horizont des Gemeinwohls

Der Kampf um die Machtbestimmung im Staate geschieht unter der Idee der bestmöglichen Ermittlung des Gemeinwohls und mit dem Willen der Machtträger, dieses mit den von ihnen für geeignet erachteten Mitteln zu verwirklichen. Dennoch bleibt die Gefahr der Verfehlung dieses Zieles; nicht nur wegen menschlicher Unzulänglichkeit in der Wahl der Mittel, sondern auch durch die Verflechtung der Machtträger in Exekutive und Legislative mit Einzel-und Gruppeninteressen, die ihr eigenes Wohl im kämpferischen Sinne verwirklichen wollen, ohne dabei unbedingt das Ganze im Auge zu haben. Ein Staat, der das Gemeinwohl in der Weise bejaht, daß er sozialer Wohlfahrtsstaat sein will, scheint ein Idealfall von Diener im Gemeinwohl zu sein. Er gerät nur leicht in das soziale Macht-gefälle von Interessen, mit denen er sich ständig auseinandersetzen muß, um das gerechte Maß im Sinne des Gemeinwohls herauszukristallisieren. Zwar hat er die Staatsgewalt als Mittel zur Hand, aber die Gesellschaft und der einzelne, zu deren Wohl er sie verwenden soll, verfügen nun selbst über Macht, mit der sie auf den Staat über dessen Verfassungsorgane einwirken können. Das ist die Situation der modernen repräsentativen Demokratie im industriellen Zeitalter. Dieser Einsatz gesellschaftlicher Machtpotenzen macht den legitimen Kampf um die Staatsmacht aus.

Die absolute Macht des Staates scheint nur noch formal zu bestehen. Inhaltlich teilt er sie mit gesellschaftlichen Kräften, die wie-9 derum seine Macht mitbestimmen und modifizieren. Die pluralistische Machtverteilung im Staat ist aber dann eine Gefahr für die Ermittlung des Gemeinwohls, wenn übermächtige gesellschaftliche Sonderinteressen in der Schätzung der Staatsträger in Exekutive und Legislative gegenüber anderen ein unangemessenes Übergewicht bekommen. Die Verwendung der Staatsmacht zur Durchsetzung der einmal erkannten und angenommenen Normen des konkreten Gemeinwohls ist gefährdet, wenn gesellschaftliche Interessengruppen den Staat einzuschüchtern vermögen, sei es durch Manifestationen ihrer Anhänger oder durch öffentliche Meinungsträger, sei es durch teilweisen Ungehorsam starker Minderheiten oder schließlich durch Bedrohung der inneren Ordnung durch Korruption, Boykott oder Aufruhr. Es ist klar, daß der pluralistische soziale Wohlfahrtsstaat es schwerer hat, sich durchzusetzen gegen Sonderinteressen, die das Gemeinwohl gefährden, als der alte Obrigkeitsstaat. Dafür aber ist in ihm die größere Gewähr gegeben, daß die Bestimmung des konkreten Gemeinwohls ein ständiges, vielfältig wirksames Korrektiv erhält und weniger in Gefahr ist, aus Wohltat Plage werden zu lassen, als in statischen Systemen, in denen die Träger der Staatsmacht zwar konstanter, aber auch unbeweglicher sind. Die uralte Furcht vor der Macht, die ihren Träger zum Mißbrauch verführt, ist auch heute stets begründet. Die pluralistische Machtgewinnung und Machtverwaltung mag nicht immer in vornehmen Formen vor sich gehen, sie erscheint aber als die beste Sicherung gegen stets möglichen Mißbrauch. Die Machtkontrolle im Staate nach der klassischen Gewaltenteilung ist ja heute sehr stark modifiziert. Die Scheidung von Exekutive, Legislative und Rechtsprechung ist im modernen demokratischen Parteienstaat relativiert. Andere Formen der Machtkontrolle innerhalb und außerhalb des Parlaments, durch die öffentliche Meinung, durch den Einfluß auch von Gruppeninteressen, durch das föderalistische Prinzip sind wirksam. Sie werden aber nur dann segensreich, wenn die Disziplin der Bürger und ihrer Gruppierungen mit der Autorität der effektiven Staatsmacht korrespondiert. Eine schwache Staatsführung, die auf alle Einwirkungen von außen unsicher reagiert und sich von der Durchsetzung des einmal erkannten und verantworteten Inhalts des Gemeinwohls etwas abringen läßt, wird dem Gemeinwohl ebenso schaden wie die hemmungslose Interessendurchsetzung sozialer Gruppen ohne Rücksicht auf das Ganze. Das Problem der Führung in der Demokratie ist damit ebenso angesprochen wie das Problem zwar von der Gesellschaft kontrollierter, aber dennoch wirkungsvoller Gesetzessicherung durch die innere Staatsgewalt.

Die Streitkräfte im System der Staatsmacht

Sobald man die Verwirklichung des Gemeinwohls mit dem Staat verknüpft und die staatlichen Machtmittel zu seiner Durchsetzung und zu seinem Schutz in Anspruch nimmt, darf man die stärkste Potenz effektiver Staatsmacht nicht aus der Betrachtung ausklammern, nämlich seine militärischen Streitkräfte. Das Gemeinwohl, wie wir es bisher sahen, scheint vor allem eine Größe der Innenpolitik zu sein. Sicher ist es das primär auch, wenn man vom Bürger und von der Gesellschaft her denkt.

Aber eine der bestimmenden Funktionen des Staates ist ja auch die Friedenssicherung nach außen. Ja, sie erscheint als die erste Bedingung für die freie Entfaltung des Gemeinwesens im Innern. Seit der konstantinischen Wende hat das Christentum es schwer gehabt, den Staat, der Krieg führt, in seinem Wert-und Moralgefüge zureichend zu deuten. Die augustinische Lösung, gerechte und ungerechte Kriege zu unterscheiden, wirkt bis auf den heutigen Tag. Unangefochten war stets die Ansicht, daß der Staat von Natur aus, und besonders als souveräner Staat, einen militärischen Schutz nach außen wahrnehmen muß und daß das Wehrwesen ein konstituierender Bestandteil seiner Existenz ist. Die Verwirklichung des Gemeinwohls im Inneren steht auf schwachen Füßen, wenn der äußere Bestand des Gemeinwesens nicht vor möglicher Bedrohung geschützt werden kann. Deshalb muß der Staat seinen Streitkräften die Mittel von äußerster Wirksamkeit an die Hand geben. Mit der Idee des Gemeinwohls können sie aber nur als Instrumente der Friedenssicherung korrespondieren, die nur den Verteidigungskrieg erlauben. Denn nur da erscheinen Opfer an Leib und Leben der Bürger gerechtfertigt.

Die Theorien des Machtstaates, die den Krieg, den Angriffskrieg wie den Präventivkrieg, als Mittel zur unbeschränkten Machtentfaltung fordern, sprechen denn auch konsequenterweise kaum vom Gemeinwohl. Hier ist das Staatswohl alleiniges Motiv der Politik. Die metaphysische Größe „Staat" allein rechtfertigt das Opfer seiner Glieder. Nationalistische und imperialistische Machterweiterungen setzen da ihren Wert und erscheinen von den Nationen wohl gar gefordert. Allenfalls werden die nationalen oder machtstaatlichen Interessen als Ersatz für das Gemeinwohl genommen oder als dialektische Pervertierung seines Sinnes in den vorher erwähnten kollektivistischen Aspekten. Totalitäre Ideologien, die den Krieg wollen, sind auch nicht besorgt um eine Begründung im Hinblick auf das Gemeinwohl. Wo es um absolute kollektivistische Ziele geht, wo die chiliastische Zukunft der Rasse oder der Klasse alleinigen Wert beansprucht, ist das Gemeinwohl eine Quantite negligeable, denn hier ist die Dialektik des Begriffs, der ja das Wohl des einzelnen mit umfaßt, völlig zugunsten des Kollektivs als absolutem Wert aufgehoben.

Rechte der Soldaten — Rechte des Wehrdienstverweigerers

Doch ist die Lage für uns heute eine andere. Wo der Staat sich des Gemeinwohls als Aufgabe bewußt ist und sich seiner verantwortlich annimmt, muß auch die militärische Macht eine Relation dazu haben. Mit zwei Grundentscheidungen hat unser Staat seinen Willen bekundet, die Aufgabe der militärischen Friedenssicherung unter dem Blick der Erfüllung dieses Gemeinwohls zu begreifen:

1. erklärt er den Soldaten als vollwertigen Staatsbürger und nicht zu einem Sonderwesen in Staat und Gesellschaft (Soldatengesetz § 6), 2. räumt er dem Gewissen des einzelnen absolute Freiheit ein und erlaubt ihm, eben aus Gewissensgründen den Waffendienst zu verweigern, ohne ihn als Staatsbürger zu diskriminieren (GG Art. 12, 2).

Diese Entscheidungen werden der Dialektik des Gemeinwohls gerecht. Einzelwohl und Gesamtwohl bleiben in der Waage. Die Staatsmacht nimmt den Soldaten nicht absolut und totalitär in Beschlag, sondern gliedert den Bürger mit seinen Rechten und Pflichten als Person in das militärische Befehlsgefüge ein oder gibt ihn gar daraus frei, weil er die Person als letzten Wert achtet. Staatswohl und Gemeinwohl können in diesem Punkt nur kongruent sein, wenn der Bürger seinen Waffendienst als Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht ansieht. Es ist natürlich hierbei nicht nur an den Wehrpflichtigen gedacht, sondern vor allem auch an den Berufssoldaten.

Damit der Staat seine Aufgabe für das Gemeinwohl im Inneren in äußerer Sicherheit wahrnehmen kann, schafft er eine militärische Macht. Diese hat nur die Funktion des Schutzes nach außen und darf zur Durchsetzung der Maßnahmen für das Gemeinwohl im Inneren nicht in Anspruch genommen werden, außer in extremen Situationen, die vom Gesetz genau festgelegt werden. Hierin liegt die Problematik jeder Notstandsgesetzgebung, denn in der extremen Gefährdung ist der Staat leicht willens, das Staatswohl vor das Gemeinwohl zu setzen und einen Machtmechanismus in Gang zu bringen, dessen Kontrolle fragwürdig wird.

Die ungeheure militärische Macht, über die der Gemeinwohlstaat verfügt, will er selbst aber nur als Potential erhalten wissen. Er weiß, daß dieser Machtgebrauch leicht seine Eigengesetzlichkeit gewinnt und zum Machtmißbrauch im Hinblick auf das Gemeinwohl werden kann, weil sie dann nur seine Macht-entfaltung im Sinne der Machtstaatstheorien verfolgen würde. Das ist die Problematik aller Militärregime. Diese Gefahr des Umschlags der Macht vom Charakter des Mittels in den des Zieles in kritischen Situationen, begründet in der Ambivalenz der Macht, will der Staat, der sich als Anwalt des Gemeinwohls versteht, vermeiden. Er trägt dem Verlangen der Gesellschaft nach Sicherung vor zu großem Einfluß des Militärs im politischen Leben Rechnung. Daß dies zuweilen die Form des Miß-trauens annimmt, ist eine andere Sache. Der Soldat, der sich als Staatsbürger versteht, wird diese Sicherung im Prinzip bejahen. Er gründet seine berufliche Würde auf dieser Haltung der Machtabstinenz nach innen. Als Techniker und als geistiger Verwalter der militärischen Machtmittel zugleich fügt er sich ein in die Aufgabenteilung des Gemeinwesens; als Bürger ist er Teilhaber am Gemeinwohl, und als solcher hat er Interesse daran, daß der Staat seine Gemeinwohlfunktion in rechter Weise ausübt. Dieses Selbstverständnis des Soldaten im Gemeinwohlstaat verlangt von ihm Einsichten in das Wesen der Politik als Gestaltungsaufgabe, bei der die Macht als Mittel bejaht, als Ziel aber verneint werden muß. Seinen Anteil an der inneren Macht des Staates hat er wie jeder andere, wenn er seine Rechte und Pflichten als Staatsbürger wahrnimmt.

Gemeinwohl über den Staaten?

Wir haben verschiedentlich die mögliche Differenz zwischen Gemeinwohl und Staatswohl genannt. Sie wurde am eindringlichsten sichtbar im Verhalten des Machtstaates zum Gemeinwohl. Die Differenz erschien aufgehoben im Staate, der sich als Erfüller des Gemeinwohls versteht, indem er nicht nur den Schutz, sondern auch die politische Gestaltung des Gemeinwohls als seinen Zweck anerkennt. Immer aber war es der souveräne Staat, der letztlich mit seiner Macht die positiven Maßnahmen und die negativen Gebote zur Bestimmung und Verwirklichung des Gemeinwohls durchsetzte. Wir haben ferner das Gemeinwohl auf ein Gemeinwesen bezogen und dieses mit dem Staat identifiziert. Gibt es nun nicht auch andere Gemeinwesen, deren Wohl noch andere Perspektiven eröffnet als diejenige innerhalb des Staates und denen der einzelne wie auch ein Staatsvolk darüber hinaus verbunden und verpflichtet sind? Im Zeitalter der Interdependenz der Staaten der Erde möchte man das theoretisch unbesehen bejahen. Die Person hat überdies eine Dimension auf die Menschheit hin, philosophisch und religiös; die Nation ebenfalls, sofern sie sich nicht nationalistisch absolut setzt. Die Staaten haben heute reale Bezüge zur ganzen Welt, und zwar in einem anderen Sinn als früher im Rahmen traditioneller internationaler Politik. Heute sind viele Staaten praktisch und organisatorisch Mitglieder größerer wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und militärischer Teilgemeinschaften im europäischen, atlantischen und weltweiten Rahmen. Im Zeitalter der nuklearen Waffen sind wir auf Leben und Tod mit der ganzen Menschheit verbunden. Selbst im Alltag tritt uns diese Nähe vor Augen in der Anwesenheit von Menschen aller Erdteile und Rassen in unserem Lande. Die Entwicklungshilfe ist wohl der stärkste Ausdruck unserer existentiellen Verflochtenheit mit einem Gemeinwohl, das den Staat überschreitet und die Welt meint. Dieses Welt-gemeinwohl will auch politisch gestaltet werden, und viele Kräfte sind dafür am Werk. Alle Formen internationaler Zusammenarbeit mit jeweils beschränkten Aufgaben dienen sei-B ner Verwirklichung. Von der Organisation des Roten Kreuzes bis zur Organisation der Vereinten Nationen leisten sie ein Stück politischer Gestaltung. Wer aber ermittelt den konkreten Inhalt dieses Weltgemeinwohls? Man darf sagen, daß es immense individuelle und gesellschaftliche Kräfte sind, die das tun. Das Rote Kreuz verdankte seinen Impuls einer einzelnen Person ohne Macht, das europäische Einigungswerk begann in den Völkern mit einer Bewegung gesellschaftlicher Art, die Ideen internationaler Friedenssicherung empfingen ihre Antriebe von Denkern und humanitären Vereinigungen. Sie klärten und klären die Inhalte des Weltgemeinwohls. Eine unendlich breite öffentliche Weltmeinung wirkt mit an der konkreten Bestimmung dessen, was der Menschheit im einzelnen dienlich sei. Doch wie steht es mit der Verwirklichung?

Weltgemeinwohl und souveräner Staat

Wir sind an dem kritischen Punkt angekommen, der so viele Wohlmeinende verwirrt: Mittel ist wiederum die Macht der souveränen Staaten und nur diese! Politische Gestaltung des Gemeinwohls in überstaatlichen Räumen ist letztlich nur möglich, wo Staaten sich zu begrenzten Zielen zusammenschließen, mit völliger Aufrechterhaltung ihrer Souveränität oder mit der Delegierung von Teilsouveränität an übergeordnete Exekutiven. Mit ihrer Macht setzen sie gemeinsam das durch, was so viele Individuen und Gruppen für das gemeine Wohl angeregt und erstrebt haben. Allerdings nehmen nun auch Staaten selbst Einfluß auf die Inhaltsbestimmung des Zieles. Aber niemals hätten Staaten als Herrschaftsgebilde die heutigen weltweiten Aufgaben im Sinne des Gemeinwohls in Angriff genommen, wenn nicht die Impulse von den eigentlichen Teilhabern des Gemeinwohls ausgegangen wären. Ihnen ist es im inneren gesellschaftlichen Kampf um die Bestimmung der Staatsmacht oft erst gelungen, diese für ihre Strebungen zu engagieren. Daß sich das Staats-interesse mit dem Gemeinwohl völlig deckt, ist hier noch weniger zu erwarten als innerhalb eines Einzelstaates. Deshalb gibt es vorerst nur Teilgebiete, auf denen an der Verwirklichung des Weltgemeinwohls gearbeitet wird. Dennoch ist der Wandel unverkennbar, wenn man die Welt vor 20 Jahren mit der heutigen vergleicht; trotz totalitärer Ideologien, trotz der Militärblöcke, trotz geteilter Nationen, trotz reaktionärer Tendenzen in beteiligten Staaten, trotz blutiger Kriege, trotz drohender Atomgefahr. Man möchte Hoffnung schöpfen, aber man muß auch warnen vor illusionären Erwartungen, die die Realität der Macht in allen ihren Aspekten verkennen.

Die Macht der souveränen Staaten scheint bis heute die einzige Gewähr für die Verwirklichung des Weltgemeinwohls zu sein. Die Kräfte der politischen positiven Gestaltung in aller Welt sind auf sie angewiesen. Vordringlich vom Selbstverständnis der Staaten hängt offenbar auch heute noch das gemeine Wohl der Welt ab; sie müssen deshalb ihr Wirken in zunehmendem Maße in der Zusammenarbeit, als Weltinnenpolitik verstehen, wie es Carl Friedrich von Weizsäcker formuliert hat. Internationale Politik muß aber dennoch mit der absoluten Machtentfaltung souveräner Staaten ständig rechnen. So lange das der Fall ist, ist das Gemeinwohl der Welt auch von der militärischen Stärke der Staaten abhängig, die ihre Macht nicht nur um ihrer selbst willen behaupten, sondern ihre Potenz mit einbringen in die gemeinsame Organisation der militärischen Friedenssicherung, um das Bemühen um eine politische Gestaltung der Einen Welt im Sinne des Gemeinwohls überhaupt zu ermöglichen. Daß dieser Tatbestand auch auf das Selbstverständnis des Soldaten Rückwirkungen hat, soll wenigstens als Problem erwähnt werden. Daß die Staaten selbst trotzdem Opfer des absoluten Machtmechanismus dabei werden können, ist die ständige Gefahr. Daß sie sie abwenden, davon wird der Fortschritt in der Gemeinwohlverwirklichung für die Menschheit abhängen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Heinrich Otto v. d. Gablentz, Der Kampf um die rechte Ordnung, Köln und Opladen 1964, S. 36 ff.

  2. a. a. O., S. 55 f.

  3. Johannes Messner, Das Naturrecht, Innsbruck— Wien—München 195832, S. 446 f.

  4. J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln—Opladen 1961, S. 36 ff.

  5. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 19565, S. 167.

  6. Theodor Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 19562, S. 98.

  7. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 19564, S. 829 ff.

  8. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson, 19253, S. 513.

  9. Theodor Litt, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes, Bonn 1957, S. 26 ff.

  10. Zitiert nach Arnold Brecht, Politische Theorie, Tübingen 1961, S. 416.

  11. ebenda

  12. ebenda

  13. a. a. O., S. 418.

  14. Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, München 1948’, S. 170 ff.

  15. Die Entwicklung unserer Verfassungswirklichkeit verdeutlicht in zunehmendem Maße die Forderung nach dieser Synthese, jüngst wieder bei der Frage der Parteienfinanzierung.

Weitere Inhalte

Helmut Große, Dr. phil., geb. 1917 in Kassel, Wissenschaftlicher Direktor im Wiss. Forschungs-und Lehrstab der Schule der Bundeswehr für Innere Führung, 1963— 66 Leiter der pädagogischen Gruppe in der Bundeszentrale für politische Bildung, davor im höheren Schuldienst. Veröffentlichungen: Beiträge zur politischen Bildung und Erziehung.