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Die Logik der Demokratie | APuZ 51-52/1967 | bpb.de

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APuZ 51-52/1967 Die Logik der Demokratie

Die Logik der Demokratie

Hermann Flade

Der Kurztitel dieser Arbeit soll besagen, daß die demokratische Ordnung als Ergebnis einer folgerichtigen Entwicklung der Gesellschaft zu betrachten ist. Zweifellos wird diese These erheblicher Skepsis begegnen, erweckt sie doch den Anschein, als würde eine historische Kausalität vertreten, die mit Zwangsläufigkeit zur demokratischen Ordnung hinführe; tatsächlich ist die Folgerichtigkeit nur im logischen und nicht im kausalen Sinne zu verstehen. Die Beweisführung stützt sich auf allgemein bekannte Fakten, die gleichsam wie Mosaiksteine zu einem Bild zusammengefügt werden, das der vertretenen These Evidenz verleiht. Unter „Gesellschaft" wird dabei der Zusammenschluß von Menschen schlechthin verstanden. Die genannte These beansprucht damit prinzipiell für alle Gesellschaften Gültigkeit, und dies impliziert wieder eine Konstanz und Universalität der menschlichen Natur, in der die primären Antriebsquellen für jede Entwicklung der Gesellschaft zu finden sind.

Im folgenden soll versucht werden, den Prozeß der Demokratisierung im einzelnen zu bestimmen und damit zu erklären, weshalb dieser Prozeß so mühsam verlaufen und relativ selten in der Geschichte festzustellen ist.

Drei Typen politischer Herrschaft

Es wird Übereinstimmung darin bestehen, daß der Charakter einer politischen Herrschaft beurteilt werden muß nach den Beziehungen zwischen Staatsgewalt und Bürger oder, noch allgemeiner, zwischen Amtsinhaber und Mitglied der jeweiligen politischen Einheit. Diese Beziehungen sind nur als freiheitlich (demokratisch), autoritär oder totalitär zu qualifizieren; als einzig mögliche und einzig richtige fundamentale Klassifizierung politischer Herrschaft bleiben damit nur der Typus der Demokratie, der autoritären und der totalitären Herrschaft übrig. Wie der jeweilige Herrschaftstyp konkret realisiert wird •— ob sich die Demokratie am angelsächsischen, schweizerischen oder einem anderen Modell orientiert, ob absolute Monarchie oder Militärdiktatur, ob sich der Totalitarismus auf rassistische oder klassen-kämpferische Doktrinen stützt —, bleibt außerhalb der Betrachtung; hier interessiert nur das Wesen der jeweiligen Herrschaft.

Als Wesen der Demokratie müssen der Grundrechtskatalog und die Verantwortlichkeit der Amtsinhaber betrachtet werden, die als Organisationsprinzip die Diskussion, die öffentliche Debatte bedingt. Dagegen beruht das Wesen der autoritären Herrschaft in dem politischen Entscheidungsmonopol eines einzelnen oder einer kleinen privilegierten Oberschicht, die sich des Befehls als Organisationsprinzip ihrer Machtausübung bedienen. Der Totalitarismus wird wesentlich bestimmt durch einen universalen Wahrheitsanspruch, aus dem eine universale Inpflichtnahme des Menschen folgt; als Organisationsprinzip ist das Frageverbot erforderlich

Die Klassifizierung in Demokratie, autoritäre und totalitäre Herrschaft ist als idealtypische Konstruktion zu verstehen, das heißt, es wird stets eine Diskrepanz zwischen Wesen und Realität der Herrschaft festzustellen sein. In der Demokratie können sich Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit am nächsten kommen, aber es bleiben gewisse Residuen undemokratischer Beziehungen übrig, etwa die Diskriminierung von Farbigen oder der religiöse Proporz. Die Prinzipien der autoritären Herrschaft werden „verwässert", je mehr Personen in den Kreis der zur politischen Mitbestimmung Berechtigten eintreten; selbst der verfassungsmäßig absolute Herrscher teilte praktisch seine Macht mit Ratgebern, Günstlingen und Mätressen. Der Totalitarismus schließlich ist erst recht unfähig, seinen Anspruch auf universale Inpflichtnahme des Menschen zu realisieren. Wir erhalten somit durch die genannte Klassifizierung eine Skala zur Standortbestimmung politischer Herrschaft, die auch ihrem Wandel gerecht wird. Während die Sowjetunion und die SBZ in der Nähe des totalitären Ideal-typus anzusiedeln sind und die CSSR durch die jüngste Verfolgung der Schriftsteller zu diesem Typus wieder zurückgekehrt ist, hat sich Jugoslawien am weitesten zum autoritären Typus fortentwickelt. Portugal und Spanien befinden sich zwischen autoritärer und demokratischer Herrschaft, jedoch in nächster Nähe der ersteren; Länder wie die USA, Großbritannien oder die Bundesrepublik Deutschland stehen beim demokratischen Idealtypus.

Das Pendeln zwischen autoritärer und demokratischer Herrschaft hat für Jahrhunderte den politischen Prozeß in vielen Ländern stark beeinflußt, während der Totalitarismus und die mit ihm verbundenen Prozesse erst im 20. Jahrhundert aufgetaucht sind. Bevor wir aber darauf eingehen, muß noch ein wichtiges Problem betrachtet werden: die Kongruenz der Ordnungsprinzipien. Grundrechtskatalog, Verantwortlichkeit der Amtsinhaber und öffentliche Debatte bilden eine untrennbare Einheit; ein Frageverbot wäre mit der demokratischen Ordnung unvereinbar. Allerdings müssen für das Funktionieren des demokratischen Staates auch Befehle erteilt werden; sie sind jedoch für den politischen Prozeß nicht konstitutiv.

Andererseits könnte weder im autoritären und erst recht nicht im totalitären Regime die öffentliche Debatte praktiziert werden, ohne die bestehende Herrschaft in Frage zu stellen. Es zeigt sich dabei, daß das autoritäre Regime „in der Mitte" steht: es ist nur so lange funktionsfähig, wie die von der politischen Mitbestimmung Ausgeschlossenen keine oder nur geringe politische Ambitionen besitzen, solange sie die Privilegien des oder der Amtsinhaber kritiklos akzeptieren. Bei wachsendem „Zivilisationssättigungsgrad" verliert jedoch die unverantwortliche Herrschaft ihre Glaubwürdigkeit. Wird das autoritäre Regime nicht mehr unwidersprochen hingenommen, beginnt sich die öffentliche Debatte zu regen, müssen die Amtsinhaber entweder immer mehr Personen in die politische Mitbestimmung einbeziehen und damit auf die Demokratie zusteuern oder die Diskussion selbst unterbinden, also ein Frageverbot verhängen. Praktisch kommt nur die erste Lösung in Frage, da dem autoritären Regime die Potenzen für die zweite Lösung nicht zur Verfügung stehen. Der Totalitarismus zeichnet sich also gegenüber dem autoritären Regime, das sozusagen auf halbem Wege stehenbleibt, durch eine größere Folgerichtigkeit aus.

Die der Natur des Menschen gemäße Ordnung

Die Frage nach der „besten" Ordnung ist mindestens 2500 Jahre alt. Heute haben die Prinzipien der demokratischen Ordnung eine weltweite Anerkennung gefunden, so daß sie auch von ihren radikalsten Gegnern nicht mehr ignoriert werden können. Keine ernst zu nehmende Partei oder politische Bewegung wagt es, die demokratischen Grundsätze offen und unverblümt zu bekämpfen; die Charta der Vereinten Nationen, die von den demokratischen Ideen erfüllt ist, trägt die Unterschrift der Repräsentanten von nahezu allen Ländern der Welt. Das Prestige der demokratischen Ideen erweist sich daran, daß man durch solche Erfindungen wie „Präsidentschaftsdemokratie" (Nasser), „Grunddemokratie“ (Ayub Khan), gelenkte Demokratie (Sukarno), „sozialistische" oder „Volksdemokratie" versucht, die Realität der autoritären bzw. totalitären Herrschaft zu verschleiern und mit einer demokratischen Fassade zu verschönern.

Um ein wirklichkeitsfremdes Pathos und und eine ungerechtfertigte Idealisierung zu vermeiden, fragen wir nicht nach der „besten", sondern nur nach der dem Menschen gemäßen Ordnung, und diese erblicken wir in der Demokratie. Der universale Geltungsanspruch der demokratischen Prinzipien, den wir vertreten, impliziert eine Konstanz und Universalität der Natur des Menschen, die wir versuchen wollen zu belegen.

Die Konstanz der Natur des Menschen

Man kann die Konstanz der menschlichen Natur mit Henry Buckle und Jakob Burckhardt negativ-ironisch vertreten: „Weder Seele noch Gehirn des Menschen haben in historischen Zeiten erweislich zugenommen, die Fähigkeiten waren jedenfalls längst komplett." Auch nach Karl Löwith offenbarte sich zu allen Zeiten dieselbe Natur des Menschen, und er fragt: ....... ob die Geschichte den Menschen jemals gelehrt hätte, ein anderer zu werden und sich zu verändern"

Tatsächlich liefert uns die Geschichte unüberschaubares Material, das stets dieselbe Natur des Menschen in ihrer moralischen Größe und Tiefe widerspiegelt; in den historischen Persönlichkeiten und ihren Handlungen erblicken wir wesensverwandte Züge, erkennen wir Parallelen zur jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Sei es die Geschichte Herodots, seien es die Feldzüge Alexanders des Großen oder die Schädelpyramiden der Mongolen, die Wahrzeichen ihrer Eroberungen — es bedarf keiner langen Suche, um Brücken in die historische Gegenwart zu schlagen. Der ehrwürdige Bericht des uralten Pentateuch ist uns — zumindest in seinen spezifisch menschlichen Komponenten — ohne weiteres zugänglich. In der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, in der klassischen Philosophie und Dichtung sind längst die Probleme vorweggenommen worden, die auch im Mittelpunkt unserer Überlegungen und Entscheidungen stehen. Unübertrefflich hat Hippokrates das Ethos des ärztlichen Berufes formuliert, und das Beispiel des Sokrates ist nach wie vor aktuell. Es sind dieselben Hoffnungen und Wünsche, dieselben Motive und Leidenschaften, die den Menschen von einst und jetzt bewegen: Nur die spezifische Form seiner Daseinsbewältigung, nicht aber sein Wesen hat er im Laufe der Jahrtausende geändert. Das Wissen und damit die Fähigkeit, die Welt zu gestalten — und zu vernichten! —, haben wahrhaft gigantische Fortschritte erzielt, doch die Weisheit der Alten bleibt der unsrigen ebenbürtig.

Die Universalität der Natur des Menschen

Wie das historische Material die Konstanz der Natur des Menschen beweist — und je mehr man in das historische Detail eindringt, desto stärker wird man von dieser Kontinuität gefesselt —, so erweist es auch die Universalität der menschlichen Natur. Einblicke in die Gedankenwelt der Völker fremder Kulturen bieten zunächst ihre Mythen. Ganz gleich aus welchem Teil der Welt sie auch stammen, gemeinsam ist ihnen der Kampf zwischen Gut und Böse, das in naiver Selbstverständlichkeit nicht näher differenziert wird, zwischen Wahrheit und Lüge, deren Bezugspunkte in einer den menschlichen Bereich transzendierenden Sphäre gesucht werden. Die Mythen erhalten einen optimistischen Akzent, da nach gewissen, vielfältig variierenden Schwierigkeiten das Prinzip des Guten siegt, und einen pessimistischen Akzent, da das mit geradezu frappierender Häufigkeit auftretende Streben nach Unsterblichkeit vergeblich bleibt. Zugleich geben die Mythen eine spekulative Deutung der Welt, wobei nicht die Erklärung, sondern die Fragestellung interessiert. Die Frage ist es, die am Anfang allen intellektuellen Fortschritts steht, und der Versuch, eine Antwort auf die dem Menschen begegnenden Probleme zu finden, ist eine weitere Gemeinsamkeit aller Kulturen.

Ein hohes Niveau erreichen die altiranischen religiösen Mythen, die bereits die Idee des Rechtsstaates formulieren: „Die Schöpfung Ohrmazds war mit Herrschaft, Richteramt, Rechtspflege, mit Seligkeit und dem Sitz in der Höhe begabt. Die Schöpfung des Bösen Geistes war mit Gewaltherrschaft, Gewalttätigkeit, Sündhaftigkeit, mit Unseligkeit und dem Sitz in der Tiefe begabt." Das Werk des Konfuzius enthält eine Ethik, die auch für den modernen Europäer unmittelbare Geltung besitzt. In den Sprichwortsammlungen der verschiedensten Völker finden wir fremdartig verkleidet wohlbekannte Maximen.

Diese nur kursorischen Ausführungen werden eindrucksvoll ergänzt und unterstützt durch die Arbeit Viktor Cathreins, der 336 Völker und Stämme der primitiven Kulturen und der alten Hochkulturen erforscht hat und mit dieser umfangreichen ethnographischen Untersuchung seine These von der Einheit des sittlichen Bewußtseins der Menschheit stützt Allerdings folgt aus der Allgemeingültigkeit und Unwandelbarkeit der sittlichen Ordnung nicht die gleiche Universalität und Konstanz bezüglich ihrer konkreten Anwendung, diese betreffen allein die allgemein sittlichen Begriffe und Grundsätze.

So beweist etwa das Töten der greisen Eltern durch die eigenen Kinder in manchen primitiven Kulturen durchaus nicht die Verschiedenheit des sittlichen Bewußtseins, sondern nur die Verschiedenheit in der konkreten Schlußfolgerung. Entweder wünschten die Eltern selbst den Tod, weil man glaubte, man ginge mit den körperlichen und geistigen Kräften ins Jenseits ein, über die man im Augenblick des Todes verfügt, oder man wollte die in primitiven Kulturen besonders große Mühsal des Greisenalters vermeiden, so daß es als Kindespflicht erschien, die eigenen Eltern zu töten, oder es war der Zwang der unerbittlichen Verhältnisse, der das Aussetzen der Eltern veranlaßte. Wenn die Lebensmittelvorräte nicht für alle ausreichten, dann war es „vernünftiger", die Alten zu opfern als junge Leute, um das Aussterben der Sippe zu verhindern.

Sind Konstanz und Universalität der Natur des Menschen für das historische Zeitalter gesichert, darf man den Schluß ziehen, daß sie auch für die Zukunft gelten werden Eine Interpretation ist jedoch notwendig. Die Natur des Menschen als solche muß als ein gegebener Komplex verschiedenartiger, einander zum Teil widersprechender Eigenschaften, Fähigkeiten, Neigungen und Interessen betrachtet werden, und wie das Individuum jeweils nur einen Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum repräsentiert, so haben auch die Kollektive —-Stämme, Völker, Nationen — in ihrer Geschichte oft nur einen Teil dieses Spektrums aktualisiert. Damit aber der demokratische Prozeß einsetzen und die demokratische Ordnung praktiziert werden kann, ist die Aktualisierung nicht eines beliebigen, sondern eines bestimmten Ausschnittes aus diesem Spektrum erforderlich.

Wir stoßen hier auf ein Problem der politischen Pädagogik. Wir wissen, daß das Individuum fähig ist, unter besonderen Umständen neue, an ihm bislang noch nicht beobachtete Eigenschaften zu entwickeln. Dasselbe trifft für Kollektive zu, in denen einmal diese, einmal jene Eigenschaften dominieren, z. B. Trägheit und schöpferischer Elan, politische Resignation und politisches Engagement abwechseln können. Gerade in diesem Wechsel erblickt Toynbee eine wesentliche Ursache für den Aufstieg und Niedergang der Kulturen.

Das Grundgesetz der Ordnung . ..

Aus der Konstanz und Universalität der menschlichen Natur folgt die Allgemeingültigkeit bestimmter Grundgesetze der Ordnung, die bereits von der klassischen Philosophie eindeutig vertreten worden ist. Diese präpositiven Elemente der Rechtsordnung lassen sich in der knappen Formel der Institutiones Justi-niani zusammenfassen: honeste vivere, neminem laedere, suum cuique tribuere (Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das seine zuteilen). Die „seinsrechtliche" Bedingtheit der Ordnung wird allerdings auch von zeitgenössischen Autoren nicht akzeptiert. So meint Ernst Topitsch, die genannte Formel sei eine „pseudonormative Leerformel", die keine Anweisung für das soziale Verhalten geben würde Das läßt sich jedoch leicht widerlegen.

Zunächst müssen diese drei Sätze als eine Einheit verstanden werden, die nur im Zusammenhang betrachtet werden dürfen. „Ehrenhaft leben" fordert einmal die Identität von Gedanke, Wort und Tat. Allgemein wird die Integrität einer Person nach dieser Identität beurteilt, die auch das Prinzip der Vertragstreue einschließt. Die haßerfüllte Polemik der radi-kalen Ideologen, einer Gruppe also, die ein „neues Recht" und eine „neue Moral" setzen will, wird wesentlich von dem Versuch bestimmt, beim Gegner eine Diskrepanz zwischen Gedanke, Wort und Tat nachzuweisen und ihn dadurch abzuwerten. Sicherlich bleibt die absolute Identität ein unerreichbares Ideal — wer wollte behaupten, noch nicht dagegen verstoßen zu haben? —, das ändert jedoch nichts an der Gültigkeit des Ideals. Man kann sich darauf einigen, daß eine Person um so suspekter wird, je weiter sie sich von dieser Norm entfernt und je wichtiger die Frage ist, an der sich die Diskrepanz offenbart.

Diese Identität reicht jedoch zur Bestimmung des honeste vivere nicht, weil man sich ja ganz unverfroren zu seinen Verbrechen, zu dem „Recht des Stärkeren“ bekennen könnte; erforderlich ist weiter die Bindung an das neminem laedere. Dieser Satz enthält nicht nur das Postulat der körperlichen Unversehrtheit, sondern auch der Freizügigkeit und der freien Rede; denn zweifellos gehören Freizügigkeit und freie Rede zu den legitimen Aktionen beziehungsweise Äußerungen eines zur Fortbewegung fähigen, mit Vernunft und Sprache begabten Lebewesens, die zu unterdrücken eine Verletzung originärer personaler Rechte darstellt. Des weiteren wird die Möglichkeit „ehrenhaft zu leben" ernstlich beeinträchtigt, wenn der Mensch gehindert wird, seine Über-zeugung frei zu vertreten.

Insgesamt folgt aus dem Satz neminem laedere die persönliche Freiheit, die Berechtigung des einzelnen, sein Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten. Da der mit normalen Fähigkeiten ausgestattete Mensch in der Lage ist, über sein Schicksal selbst zu entscheiden, das heißt konkret einen bestimmten Aufenthaltsort und eine bestimmte Arbeit zu wählen, eine Familie zu gründen, sich bestimmten Ideen, Neigungen und Interessen zuzuwenden, so folgt aus den natürlichen Fähigkeiten ein natürliches Recht. Umgekehrt beeinträchtigt der Entzug der persönlichen Freiheit stets die natürlichen Fähigkeiten des Menschen und verletzt damit natürliche Rechle. Freilich besitzt diese Ableitung nur dann Evidenz, wenn man sich zur Anerkennung der Würde des Menschen versteht.

Schwieriger ist der Satz suum cuique tribuere zu bestimmen, weil bekanntlich die Ansprüche des Menschen ins Uferlose wachsen können; keineswegs aber „läßt das Prinzip , suum cuique tribuere'den Maßstab völlig offen, nach dem einem jeden das Seine zu-zuteilen ist" Zumindest garantiert der Satz das Recht auf Nutzgenuß der geleisteten Arbeit und das Recht des Bedürftigen auf Unterstützung durch die Gesellschaft zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Lebensstandards. Am ehesten wird die Forderung des suum cuique tribuere erfüllt werden, wenn die Anspruchsberechtigten — die Sozial-partner — untereinander einen Kompromiß aushandeln. Selbst wenn der Kompromiß die Ansprüche nur zum Teil befriedigt, so wird er doch mit größerer Bereitwilligkeit hingenommen werden als eine oktroyierte Entscheidung.

Rechte sind jedoch ohne Pflichten undenkbar; Rechte und Pflichten, Freiheit und Bindung bilden eine dialektische Einheit. Die personalen Rechte und die personale Freiheit werden durch die Rechte und Freiheiten des Mitmenschen begrenzt, und da ferner der Mensch auf das gesellschaftliche Zusammenleben angewiesen ist, folgt daraus auch eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft.

. . . und seine Verwirklichung

Erforderlich ist jetzt ein System zur Verwirklichung jener Prinzipien in der politischen Praxis — und dieses System bietet allein die repräsentative Demokratie —, deren Minimal-postulate bestimmt werden einerseits durch den Grundrechtskatalog, die Verantwortlichkeit der Amtsinhaber und durch die Möglichkeit des Bürgers, am politischen Prozeß teilzunehmen, und andererseits durch die Verpflichtung des Bürgers auf diese Ordnung. Die Verantwortlichkeit der Amtsinhaber vor der Gesamtheit der Bürger und das Recht des ein-zelnen Bürgers auf politische Mitbestimmung erscheinen dabei als Synonym für die Volks-souveränität, die — in Abgrenzung von Rousseaus Doktrin — insofern als eine relative zu bezeichnen ist, da sie an den Grundrechtskatalog gebunden bleibt.

Die Logik der Entwicklung zur Demokratie besteht jetzt darin: Wenn der Mensch über sein politisches Schicksal nachdenkt, und zwar rational nachdenkt, muß er in etwa die genannten Prinzipien entwickeln. Den Anstoß zum Nachdenken erhält der Mensch aus der Erfahrung des Mißbrauchs politischer Macht, aus dem natürlichen Wunsch, ein erträgliches Leben zu führen, aus dem „pursuit of happi-ness", dem Streben nach Glück, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt. Die politische Theorie, das heißt die rationale Analyse des Ordnungsproblems, muß die Theorie der freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie werden. Ausschließlich hier kann eine menschliche und vernünftige Lösung der Ordnungsproblematik erzielt werden.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland entspricht diesen Prinzipien insbesondere durch die Artikel 1, 18, 21 und 79 Absatz 3 und unterscheidet sich damit wesentlich von der Weimarer Reichsverfassung. Man hat die Lehren berücksichtigt, die das Schicksal der ersten deutschen Demokratie erteilte, daß nämlich die an Rousseau und dem Relativismus orientierte demokratische Ideologie keine Argumente gegen die Zerstörung der Ordnung besitzt. Die Einbeziehung der föderativen Gliederung in den Verfassungsvorbehalt ist allerdings nur aus den Umständen zu verstehen, unter denen das Grundgesetz der Bundesrepublik entstand.

Die Tradition gerechter Ordnungsprinzipien

Es ist das Verdienst der abendländischen Kultur gewesen, die freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung sowohl theoretisch als auch praktisch entwickelt zu haben. Beide Prozesse, der geistesgeschichtliche und der historisch-politische, bedingen einander; der eine wäre ohne den anderen nicht denkbar. Sie müssen jedoch getrennt untersucht werden, weil die Entwicklung nicht parallel verlief. Die politische Theorie eilte der Entwicklung voraus und blieb hinter ihr zurück. Ein seltener Höhepunkt war der 4. Juli 1776, als die politische Theorie, die den Inhalt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bestimmte, unmittelbar in die politische Praxis einging. Aus den mehr oder weniger unverbindlichen Ideen der politischen Denker und Philosophen war die Geburtsurkunde eines Staates geworden, der nach dem Ersten Weltkrieg zur stärksten Macht der Welt werden sollte.

Für unsere Betrachtung ist wichtig, daß die Prinzipien des modernen freiheitlichen Rechtsstaates schon vor mehr als 2000 Jahren in der klassischen Philosophie entwickelt worden sind. So wurde die Existenz eines präpositiven Rechts vertreten, das die politische Macht in bestimmte Grenzen verweist. Zwar müßte dieser Komplex im einzelnen näher differenziert werden, entscheidend ist jedoch der Gedanke, daß die Amtsinhaber kein absolut beliebiges Recht setzen dürfen. Bei Sokrates finden wir das Prinzip der Unabhängigkeit der Justiz. In der „Apologie" läßt Platon seinen Lehrer erklären: „Denn nicht dazu ist der Richter gesetzt, das Recht zu verschenken, sondern es zu beurteilen; und er hat geschworen, nicht sich gefällig zu erweisen wegen wen es ihn beliebt, sondern Recht zu sprechen nach den Gesetzen." Platon fordert mit seiner Formel „verantwortliche Monarchie" die Verantwortlichkeit der Amtsinhaber; er begegnet sich darin mit seinem Schüler Aristoteles, der außerdem für einen Wechsel in der Regierung, für Gewaltenteilung und für die Gesetzgebung durch das Volk plädiert.

Es ließe sich eine große Zahl weiterer Autoren anführen, die in der platonischen und aristotelischen Tradition stehen und der modernen freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung geistig den Weg bereiten. So etwa der Mönch Manegold von Lautenbach, der bereits um 1080 schreibt, das souveräne Volk könne mit dem Herrscher verfahren wie der Bauer mit dem Schweinehirten, den er, wenn er ungetreu ist, nicht lebenslänglich füttert, sondern unter Einbehaltung des Dienstlohnes von Hofe jagt Eine einschränkende Bemerkung erscheint jedoch erforderlich zu sein. Die moderne Demokratie ist auch in der politischen Theorie keineswegs bewußt und planmäßig geschaffen worden. Die einzelnen Autoren leisteten ihren Beitrag, formulierten ihre Ordnungsvorstellungen, und erst aus der Rückschau stellt man fest, daß die Beiträge vieler, wenn auch nicht aller Autoren, die in dieser Diskussion das Wort ergreifen, zur Theorie der repräsentativen Demokratien konvergieren. Eben darin liegt die von uns vertretene Logik, daß die genannten Prämissen folgerichtig entwickelt zu diesem Ergebnis hinführen müssen.

Auch außerhalb des Bereichs der griechisch-römischen Antike und der abendländischen Kultur finden wir Ansätze, die in diese Richtung weisen, womit sich die These von der Universalität der Natur des Menschen erneut bestätigt. Auf die altiranischen Mythen wurde bereits verwiesen. Um 1070 schreibt ein Jusuf aus Baläsäghün für den Khan von Käsghar ein didaktisches Gedicht, in dem der König Ilig die Gerechtigkeit, sein Sohn, Bruder und Wesir die anderen Tugenden verkörpern. In China sind es die Philosophen Menzius (372— 289 v. Chr.) und Tung Chung-shu (etwa 179— 104 v. Chr.), die ausdrücklich das Recht auf Widerstand bejahen Menzius erklärt: „Ich habe von der Hinrichtung des Tyrannen Fu und nicht von der Ermordung des Fürsten Fu gehört." Einige Jahrhunderte früher hatte sich Konfuzius für freie Rede und Kritik ausgesprochen. Die Möglichkeit der freien Rede liefert ihm sogar ein Kriterium der guten Regierung andererseits vertritt er eindeutig das autoritäre Regime. Wir stoßen damit wieder auf das Problem der Kongruenz der Ordnungsprinzipien, das zwar für das Zeitalter eines Konfuzius ohne Belang sein mochte, dem aber in der Gegenwart eine außerordentliche Bedeutung zukommt.

Die demokratischen Ansätze im außereuropäischen Bereich gelangten nicht zur Ausreifung. Zu stark waren andere, insbesonders religiöse Traditionen, die eine rationale Lösung der Ordnungsproblematik für Jahrtausende blokkierten. Gerade religiöse Vorstellungen können den politischen Prozeß äußerst negativ beeinflussen, wie dies auch im abendländischen Bereich festgestellt werden muß; sie können aber auch ein mächtiger Stimulans werden, wenn nämlich der Mensch als „Ebenbild Gottes" verstanden wird und daraus die Würde des Menschen und sein Anspruch auf personale Rechte geschlußfolgert werden.

Der historisch-politische Prozeß in England und in der Schweiz . . .

Die repräsentative Demokratie ist in der Theorie nicht planmäßig entwickelt worden, erst recht gilt dies für die politische Praxis. Die Formen der demokratischen Herrschaft, die politische Technik sozusagen, haben sich nur unter großen Schwierigkeiten herausgebildet. Dies zeigt etwa das Beispiel Englands, wo man noch im 18. Jahrhundert die politische Opposition häufig als staatsfeindlich denunzierte.

England und die Schweiz liefern das Beispiel einer im großen und ganzen kontinuierlichen Entwicklung zur Demokratie. Die Magna Charta Libertatum des Jahres 1215 wurde für England gleichsam zu einer Initialzündung, die zunächst der parlamentarischen und später auch der demokratischen Bewegung den Weg ebnete. Im Verlauf dieses Prozesses bildete sich eine Konstellation heraus, die wir in Ermangelung eines besseren Ausdruckes als Zwei-Fronten-Kampf bezeichnen wollen. Die aufständischen Barone, die Johann ohne Land die Privilegien der Magna Charta abtrotzten, hatten nicht im entferntesten daran gedacht, den nachfolgenden Schichten die gleichen Rechte zu gewähren. Sie kämpften zwar „nach oben" — dem König gegenüber — um eine Beteiligung an der Macht und um die Sicherrung personaler Rechte, waren aber „nach unten" bestrebt, die Exklusivität ihrer Stellung zu behaupten.

Die Commons — der Kleinadel und die Vertreter der Städte — tagten noch im 13. Jahrhundert unter nahezu konspirativen Vorsichtsmaßregeln, aber im Laufe der Zeit gelang es ihnen, immer stärker in die Privilegien der großen Barone einzudringen, eine Beteiligung am politischen Regiment und personale Sicherheitsgarantien zu erzwingen. Diese Gruppen vereinigten sich jedoch gegen die leibeigenen Bauern, wie die Niederschlagung des Aufstandes im Jahre 1381 bewies, als diese äußerst bedrängte Klasse eine Verbesserung ihrer Situation erreichen wollte. Während es die Commons im Verlauf des Hundertjährigen Krieges verstanden, durch geschickte Ausnützung des Steuerprivilegs ihren Einfluß und die Rolle des Parlaments insgesamt zu verstärken, verloren die unteren Volksschichten durch die Gesetze der Jahre 1429 und 1445 jede Möglichkeit, die Zusammensetzung des Parlaments mitzubestimmen. Die parlamentarische Bewegung — die man infolgedessen von der demokratischen Bewegung trennen muß — erlitt nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges, das den König von seiner permanenten Geld-not befreite, und besonders unter dem Regiment der Tudors einen empfindlichen Rückschlag; aber unter den Stuarts besannen sich die Commons auf das Erbe des Jahres 1215. Sie zogen hinaus auf die Schlachtfelder von Marstonmoor und Naseby, auf denen die Entscheidung über Karls I. Thron und Leben fiel. Die Restauration brachte noch einmal einen Aufschwung der absolutistischen Doktrin, der die Glorreiche Revolution von 1689 endgültig den Boden entzog. Im 18. Jahrhundert konnte sich das parlamentarische Regime ausbilden, dessen Sieg 1835 manifest wurde, als Wilhelm IV.den grundlos entlassenen Premierminister Melbourne erneut mit der Regierung betrauen mußte. In diesem Jahrhundert gelang es auch der demokratischen Bewegung, die Barrieren der Gesetze von 1429 und 1445 zu durchbrechen. Nadi der dritten Parlamentsreform von 1884, die der demokratischen Bewegung ihren bisher größten Erfolg brachte, und der Demokratisierung der lokalen Selbstverwaltung 1887 dauerte es allerdings noch bis 1918, als die letzten Einschränkungen für das Männerstimmrecht fielen, und bis 1929, als die Frauen das Stimmrecht zu denselben Bedingungen wie die Männer erhielten.

Auf die Schweizer Eidgenossenschaft läßt sich ebenfalls das Schema des Zwei-Fronten-Kampfes anwenden. Der berühmte Schwur vom Jahre 1291, die Freiheit mit „Leib und Gut" zu verteidigen — diese Formel kehrte in den eidgenössischen Bündnisverträgen immer wieder —, wurde zum Schlüssel für die eidgenössische Unabhängigkeit. Aber die schon vorhanden gewesene soziale Differenzierung verstärkte sich im weiteren Gang der Geschichte. In den eidgenössischen Orten bildeten sich führende Familien — „Gnädige Herren" — heraus. Während sie die Unabhängigkeit von Habsburg erkämpften, schlossen sie sich von den „Hintersassen" ab, die mehr oder weniger vollständig ihre politischen Rechte verloren. In den eroberten „Untertanenländern" traten die „Gnädigen Herren" an die Stelle der früheren Fürsten. 1749 wurden in Bern drei Personen hingerichtet, weil sie eine Bittschrift mit dem Ziel geplant (!) hatten, den Kreis der regierenden Familien zu erweitern. Im 19. Jahrhundert setzte sich aber auch in der Schweiz das demokratische Prinzip durch, wobei freilich die Einführung des Frauenstimmrechts unterblieb.

... und die Parallelen

Hierzu lassen sich zahlreiche und überraschende Parallelen finden: So erinnern etwa Württemberg und die dithmarsche Bauern-republik deutlich an die englische bzw. schweizerische Geschichte. Mit dem Tübinger Vertrag von 1514 gewann die städtische „Ehrbarkeit" einen starken Ausgangspunkt für die verfassungspolitischen Kämpfe der folgenden Jahrhunderte. Die „Ehrbarkeit" vereinigte sich jedoch mit dem Landesherrn gegen die aufständischen Bauern des Remstales, deren Bewegung den Vertragsabschluß erst ermöglicht hatte. Da sich aber in den Nachbarländern das autoritäre Prinzip durchsetzte und Württemberg im Reichsverband blieb, war ein voller Erfolg der parlamentarisch-demokratischen Bewegung auch im Laufe der Jahrhunderte von vornherein ausgeschlossen.

Die dithmarschen Bauern hatten mit der gleichen Vehemenz wie die Schweizer Eidgenossen ihre Unabhängigkeit und Freiheit erkämpft; sie erreichten aber nicht deren große politische Leistung, wirksame Bündnisse zu schließen. Da ihnen außerdem das Gelände nicht annähernd den Schutz bot, den die Eidgenossen durch die Berge erhielten, wurden sie trotz der tapfersten Gegenwehr zur Unterwerfung gezwungen, als ein überlegenes Heer Friedrichs II. von Dänemark und der holsteinischen Herzöge die Bauern 1559 mitten im Frieden überfiel. In Polen entriß der Adel dem Königtum Schritt für Schritt die Macht bei gleichzeitiger Unterdrückung der Bürger und vor allem der Bauern. Die Verfassung vom 3. Mai 1791 stellte einen ersten, wenn auch sehr bescheidenen Schritt zur Demokratisierung des Landes dar, sie konnte allerdings infolge der Intervention der Teilungsmächte nicht wirksam werden.

Ein besonderes Interesse verdienen Nowgorod und das eine ähnliche Organisation aufweisende Pskow. Die Nowgoroder Bojaren, die mit einer geradezu pedantischen Sorgfalt die Macht der Fürsten systematisch begrenzten, die lange vor den englischen Commons die Einkünfte des Fürsten aufs peinlichste kontrollierten, um seine Bewegungsfreiheit zu beschneiden, setzten konsequent die Entwicklung fort, die bereits im Kiewer Reich begonnen hatte. Hier wurde mit dem Votum des Wetsche Volkssouveränität praktiziert, und trotz der tatsächlichen Oligarchie war man damit weiter fortgeschritten als im zeitgenössischen Westeuropa. Bezeichnend ist die Absageurkunde, die die Nowgoroder dem Fürsten ins Haus schickten, wenn sie mit ihm unzufrieden waren: „Begib dich fort von uns; wir aber werden uns einen Fürsten verschaffen."

Hier bestand also eine Alternative zum Moskauer Reich, in dem es den Fürsten, durch verschiedene Umstände begünstigt, gelang, kontinuierlich ihre Macht zu erweitern. Als aber der unvermeidliche Kampf zwischen diesen beiden Ordnungskonzeptionen ausgetragen werden mußte, zerstörte der Sieg des autokratischen Prinzips den russischen Ansatz einer parlamentarisch-demokratischen Ordnung. Es mangelte Nowgorod an innerer Konsolidation, es fehlte eine weitsichtige Bündnispolitik, vor allem aber hatte man das militärische Potential vernachlässigt, das auch offensiv hätte eingesetzt werden müssen.

Innerhalb der Eidgenossenschaft hat es zwar ebenfalls heftige Auseinandersetzungen gegeben, doch blieb das Bündnissystem im wesentlichen funktionsfähig; das Heer zeigte sich selbst den berühmten Truppen von Karl dem Kühnen überlegen. Die Freiheit bedarf eben stets der militärischen Absicherung. Das Beispiel der Eidgenossen bewies, daß die freiheitliche Konzeption — zumindest auf dem Kontinent — nur dann eine Chance besaß, wenn sie von der Bereitschaft getragen wurde, „Leib und Gut" zu ihrer Verteidigung einzusetzen.

Diesen verfassungspolitischen Kämpfen ging sicherlich in den wenigsten Fällen eine theoretische Durchdringung der Ordnungsproblematik voraus. Als die Einwohner von Kiew 1068 den Großfürsten Izjaslaw verjagten und seinen Neffen Vseslaw auf den Thron setzten, hatten sie bestimmt nicht über die Verantwortlichkeit der Amtsinhaber reflektiert, aber gerade durch diese Ereignisse, durch die naive Anwendung demokratischer Prinzipien wird die politische Theorie verifiziert.

Die drei „Essentials"

Der Zwei-Fronten-Kampf endet, jedenfalls in seiner entscheidenden politischen Funktion, logischerweise dort, wo — paradox formuliert — alle privilegiert sind, wo alle Bürger die gleichen politischen Rechte und Möglichkeiten besitzen: in der Demokratie. Das Selbstwertgefühl der Menschen, das der demokratischen Theorie ihre Stärke verleiht, und das numerische Gewicht der Masse führen zwar nicht mit naturgesetzlicher, aber mit logischer Notwendigkeit zu diesem Ergebnis. Die historischen und verfassungspolitischen Parallelen, die man zwischen den verschiedenen europäischen Ländern und Stadtrepubliken erkennt, erklären sich aus der Universalität der menschlichen Natur, aus dem Streben nach Glück, Freiheit und Sicherheit, aus der immanenten Logik des Zwei-Fronten-Kampfes.

Trevelyan irrt, wenn er meint, die englische Demokratie resultiere aus einer besonderen Mentalität des englischen Volkes fast möchte man sagen, die englische und schweizerische verfassungspolitische Entwicklung waren der Normalfall, der leider die Ausnahme geblieben ist. England hatte das Glück, daß den starken Herrschern Heinrich II., Eduard I. und den Tudors die geeigneten Nach-folger fehlten; hinzu kamen günstige außen-politische Ereignisse — z. B. die Niederlage von Johann ohne Land in der Schlacht von Bouvines am 27. Juli 1214, die der bis dahin machtlosen Opposition ein Übergewicht über den König verschaffte — und talentierte Führer im Adel und Bürgertum, die nicht wie ihre französischen Zeitgenossen das äußerst wichtige Instrument der Steuerbewilligung aus der Hand gaben. Nicht zu vergessen ist die vorteilhafte geographische Lage, die ausländische Interventionen während der Verfassungskämpfe verhinderte. Für die Schweizer Eidgenossenschaft können ähnliche Gründe angeführt werden.

Aus dem historisch-politischen Prozeß ergeben sich drei „Essentials" als unerläßliche Voraussetzung dafür, daß ein Volk die demokratische Ordnung entwickelt: 1. die Ideen, bestimmte Rechtsüberzeugungen, die sich im geschriebenen oder ungeschriebe-nen Grundrechtskatalog niederschlagen, 2. die Menschen, die sich in den Dienst dieser Ideen stellen, Führungskräfte, die über Autorität verfügen und taktisch klug operieren, dabei ist es unwichtig, ob selbstsüchtige Motive im Vordergrund stehen, und 3. die Gunst des historischen Augenblicks, wenn bestimmte politische Konstellationen — etwa eine verlorene Schlacht oder ein Wechsel der Dynastie — die Stellung des oder der Machthaber beeinträchtigen.

Schließlich muß noch die geographische Lage erwähnt werden, die zumindest im statu nas-cendi der parlamentarischen Bewegung eine Rolle spielt, bis einmal ein irreversibles Faktum geschaffen ist, das anderen Ländern als Modell dienen kann. Eine weitere Differenzierung dieses Komplexes dürfte nicht möglich sein, weil die moralischen, intellektuellen, politischen und voluntaristischen Potenzen der engagierten Menschen so ineinander verschlungen sind, daß eine exakte Bestimmung und Bewertung der einzelnen Faktoren ausgeschlossen ist. Die Aufgabe, an der der eine scheitert, wird möglicherweise von dem anderen gerade noch gelöst werden. Den Faktoren „Mensch“ und „historischer Moment“ eignet demnach eine gegenseitige funktionale Abhängigkeit. Die angeführten Bedingungen, die Zusammentreffen müssen, damit eine Tradition der Freiheit entsteht, machen den scheinbaren Ausnahmecharakter der englischen und schweizerischen Entwicklung begreiflich. Zur Natur des Menschen als solcher gehört eben auch das Bestreben, die eigene Freiheit und die eigene Macht auf Kosten der anderen auszudehnen. Jede politische Einheit ist auf eine Führung angewiesen. Für die Akte, die die Führung setzt, spricht zunächst einmal die „Vermutung der Legalität“ (Carl Schmitt). Allein der Besitz staatlicher Macht bewirkt „einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutretenden zusätzlichen politischen Mehrwert, eine über-legale Prämie aus dem legalen Besitz der legalen Macht. .." Dieser „Mehrwert" folgt aus einer Loyalitätsbereitschaft der Rechtsunterworfenen, die jede politische Herrschaft voraussetzt.

Hinzu kommt, daß der oder die Machthaber in der Regel immer über eine Gruppe zuverlässiger und organisierter Parteigänger verfügen, deren Mentalität der Volksmund treffend mit dem Sprichwort umschreibt: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing." Demgegenüber steht ein unpolitisches Verhalten, das eher die Wirkungen als die Ursachen der Unterdrückung erkennt. Jetzt die Massenträgheit zu überwinden und im geeigneten Augenblick eine schlagkräftige Opposition aufzubauen, die unzufriedenen Geister zu organisieren, ist selbstverständlich ein schwieriges Unterfangen, das stets das Risiko eines Fehlschlages in sich birgt.

Reaktion und Fortschritt

Das Christentum hat die Macht der Fürsten überhöht durch den Glaubensgrundsatz, man müsse der von Gott verordneten Obrigkeit Gehorsam leisten. Sicher haben eine Reihe von Theologen wertvolle Beiträge zur Entwicklung der politischen Theorie geleistet, und häufig kamen gerade aus dem Christentum die Impulse zur Revolution, doch hat der Absolutismus aus der unkritischen Übernahme des erwähnten Glaubenssatzes bedeutende Vorteile gezogen. Die Kirche stand immer in der Versuchung, auf die Seite der Reaktion überzugehen, und dieser Versuchung ist sie oft genug zum Opfer gefallen.

Die Freiheit wurde von ihrer Negation stets begleitet. Es gab und gibt immer Menschen, denen das Wagnis der Freiheit schwerfällt; denn zweifellos ist die Freiheit mit der Anstrengung des Denkens verbunden. Auch in England fanden sich zahlreiche Stimmen, die für unbedingten Gehorsam und Unterwerfung der Kirche unter die Macht des Königs plädierten. Wenn also selbst in England der Geist des Absolutismus und des Cäsaropapismus wohl-bekannt waren, ist es verständlich, daß der vielfach vorhanden gewesene Keim der Freiheit häufig zertreten wurde, daß er sich dort nicht entfalten konnte, wo die politische Ordnung am kosmologischen Herrschaftsmodell orientiert war und die Diktatur der Tradition den Geist fesselte; es war aber auch nahe-liegend, daß von den vielen Anfängen der Freiheit dieser oder jener alle Schwierigkeiten Überstand.

Der Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit ist der Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion. Diese beiden Begriffe implizieren eine Entwicklung in der Geschichte, die sich einem bestimmten Ziel nähert; die Rationalität dieser Begriffe hängt folglich von der Natur des Zieles ab. Sie sind so lange unbrauchbar und rein agitatorische Polemik politisch Halbgebildeter, wie sie an einer immanenten Eschatologie ge-messen werden, von einem spekulativen und perfektionistischen Modell der Gesellschaft ausgehen, das die Probleme des menschlichen Daseins löst, das aber aller Erfahrung widerspricht. Unter dieser Voraussetzung gibt es so viele Reaktionen und Fortschritte wie immanente Eschatologien. Geht man jedoch davon aus, daß die Demokratie der Natur des Menschen gemäß die einzig richtige Ordnung darstellt, die zwar nicht die Defekte der menschlichen Natur und die daraus folgenden Konflikte beseitigt, sie aber in ihren politischen Konsequenzen auf ein erträgliches Maß reduziert und objektiv ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, erhalten die Begriffe Fortschritt und Reaktion einen durchaus realen Bezugspunkt, werden sie legitime Kriterien zur Einordnung politischer Tendenzen.

Das Problem der Stabilität

in der demokratischen Ordnung findet derZwei-Fronten-Kampf seine Lösung. Die repräsentative Demokratie ist eine — richtiger: die — objektiv stabile Ordnung, da sie der Natur des Menschen entspricht; aber zu der objektiven Stabilität muß auch eine subjektive treten, das heißt, die entsprechenden Rechtsüberzeugungen müssen zumindest von der überwiegenden Mehrheit des Volkes getragen werden. Alle anderen Formen politischer Herrschaft sind objektiv labil, weil nicht der Natur des Menschen gemäß, sie können aber eine subjektive Stabilität besitzen, wenn die diesen Ordnungen zugrunde liegenden Ideologien im großen und ganzen widerspruchslos hingenommen werden, wenn die Diktatur der Tradition unangefochten existiert.

Von einer relativen Stabilität ist zu sprechen, wenn sich Reaktion und Fortschritt die Waage halten, wenn in dem historischen Prozeß ein Stillstand eingetreten ist, weil die fortschrittlichen Kräfte entweder eine Niederlage erlitten oder Erfolge erzielt haben, die dem augenblicklichen Entwicklungsstand entsprechen. Wie die Geschichte zeigt, geben Mißerfolge der demokratischen Bewegung noch keinen Anlaß zum Pessimismus. Auch in England wechselten Erfolge und Niederlagen miteinander ab. Ein scheinbarer Stillstand in der politischen Entwicklung — eine relative Stabilität — gibt nicht den mindesten Anlaß zu der Meinung, die demokratische Bewegung habe überhaupt aufgehört zu existieren.

Die Stabilität einer jeden Ordnung, auch der demokratischen, ist gefährdet, wenn in einer oder mehreren Bevölkerungsgruppen ein Gefühl der Unterprivilegierung herrscht, wie dies zum Beispiel die Revolte der Farbigen in den USA im Sommer 1967 bewies. Die demokratische Ordnung wird weiter durch das Erbe Rousseaus bedroht, dessen Werk als ein Unglück für die politische Theorie betrachtet werden muß, weil wesentlich durch ihn die Demo-kratie zweideutig wurde. Die Demokratie nach Rousseau ist jene radikale Demokratie, die die politische Theorie seit Platon und Aristoteles verworfen hat. Man darf aber auch nicht die Gefährdung durch die mit Rousseaus Demokratie verwandten totalitären Kräfte übersehen. Während die intellektuelle Elite für Jahrhunderte um die Freiheit des Geistes gekämpft hat, finden sich heute Angehörige dieser Gruppe, die aus politischem Dilettantismus und ideologischer Verblendung die Grenze zwischen demokratischer Ordnung und Totalitarismus verwischen, die schließlich für den Totalitarismus selbst Partei ergreifen.

Solange aber nur eine Minderheit eine radikale Kritik übt, ist dies ungefährlich. Wer sich beispielsweise öffentlich und ohne Konsequenzen über vermeintliche Unfreiheit und Unterdrückung beklagt, führt sich selbst ad absurdum. In einer Gesellschaft, die auf Kontroverse angelegt ist, werden stets solche extreme Standpunkte vertreten werden. Diese im Grunde destruktive Kritik übt dann sogar eine positive Funktion aus, wenn sich nämlich die demokratischen Kräfte veranlaßt sehen, ihre Konzeption erneut zu durchdenken und überzeugender zu formulieren.

Gerade die Erfahrung des Totalitarismus liefert ein unwiderlegliches Argument. Wir sind heute durch die Praxis der beiden totalitären Varianten in die Lage versetzt worden, rein empirisch zur Verifizierung der naturrechtlichen oder seinsrechtlichen Prämissen der gerechten Ordnung zu gelangen. Dazu haben die modernen Massenvernichtungswaffen das Ordnungsproblem so radikal auf die Spitze getrieben, wie es nie zuvor in der Geschichte der Fall war. Die Frage der gerechten und richtigen Ordnung ist jetzt von der nationalen auf die internationale Ebene hinaufgehoben worden; auf beiden Ebenen müssen dieselben Prinzipien Geltung besitzen. Toleranz und Kom13 promißbereitschaft in den zwischenstaatlichen Beziehungen, die Beilegung von Streitfragen auf dem Verhandlungswege und der Verzicht, Ansprüche und Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen, korrespondieren mit dem Geist der demokratischen Ordnung innerhalb eines Landes und bieten heute erwiesenermaßen die einzige Möglichkeit, der Menschheit eine lebenswerte Zukunft zu sichern. Es bleibt nur eine präpositive, der Willkür des Menschen entzogene Norm zur Begründung der gerechten Ordnung übrig.

Nur die personalen Rechte des anderen schützen auch mich selbst. Die radikalen Ideologen begehen unter anderem den Fehler, zu übersehen, daß die Infragestellung der personalen Rechte des anderen einen Präzedenzfall schafft, der theoretisch bereits die eigene Existenz unterminiert; die stalinistischen „Säuberungen" lieferten die Probe aufs Exempel. Die Negation der demokratischen Prinzipien ist im Endergebnis nichts anderes als ein Akt selbstmörderischer Ignoranz. Nur aus Ignoranz leisteten die Massen dem Totalitarismus Gefolgschaft, da sie unfähig waren, die Konsequenzen dieser „Ordnung" zu übersehen, die ihren eigenen Lebensinteressen zutiefst widersprechen. Ohne die allgemeine Durchsetzung der demokratischen Prinzipien werden weder die einzelnen Völker noch die Menschheit insgesamt den Frieden finden, sondern zwischen Anarchie und den verschiedenen Formen der Unfreiheit umherirren.

Der destruktive Impuls der demokratischen Prinzipien

Die verfassungspolitische Entwicklung der europäischen Länder war für Jahrhunderte von dem Gegensatz zwischen Absolutismus und — vereinfachend gesagt — den Anfangsstadien einer parlamentarisch-demokratischen Ordnung bestimmt. Das Spannungsverhältnis mußte an Schärfe zunehmen, je mehr sich diese beiden Ordnungskonzeptionen ausprägten, je deutlicher die Zeitgenossen deren Unterschiede erfaßten und je mehr Menschen in den politischen Erkenntnisprozeß eintraten. Es war naheliegend, daß sich zwischen den Anhängern der absolutistischen Reaktion einerseits und der parlamentarisch-demokratischen Bewegung andererseits eine die Ländergrenzen überschreitende Interessenkoalition mit der Tendenz entwickelte, die den eigenen Wünschen entsprechenden Verfassungsinstitutionen des Nachbarlandes auf das eigene Land zu übertragen. Der Zwei-Fronten-Kampf wurde zu einer Komponente in den außenpolitischen Beziehungen.

Bereits der Konflikt der Schweizer Eidgenossenschaft mit den angrenzenden Mächten, insbesondere mit Österreich, trug einen wesentlich verfassungspolitischen Akzent. Das politische Gefälle, das aus dem fürstlichen Regiment in den habsburgischen Ländern und dem mehr oder weniger zu Recht bestehenden demokratischen Prestige der Eidgenossenschaft resultierte, erleichterte dieser erheblich die machtpolitische Expansion. Während aber hier kaum von einer Wechselwirkung gesprochen werden kann, weil die mit Habsburg sympathisierenden Kräfte nur selten eine politische Potenz besaßen — der Adel verhielt sich entweder loyal oder „emigrierte“ nach Österreich —, wird diese Wechselwirkung offensichtlich in den Beziehungen zwischen England und Frankreich.

Heinrich VII. äußerte ausdrücklich den Wunsch, wie der französische König zu regieren, und unternahm die ersten Schritte in dieser Richtung, die Heinrich VIII. dann fortsetzte. Der court of requests als außerordentliches Zivil-tribunal und die Sternkammer als außerordentlicher Verwaltungsund Kriminalgerichtshof waren die englischen Parallelen zum Conseil des parties und Grand conseil de la justice, die sowohl in England als auch in Frankreich im Mittelpunkt der oppositionellen Kritik standen. Die Übereinstimmung in der verfassungspolitischen Zielsetzung dürfte auch zum Austausch der ersten ständigen Gesandtschaften zwischen Heinrich VIII. und Franz I. beigetragen haben. Unter Elisabeth I. entstand ebenfalls nach französischem Vorbild das Amt eines Staatssekretärs mit dem Kommando über den Sicherheitsdienst und der Verfügung über den Haftbefehl; desgleichen versuchten die Stuarts, besonders Karl II., sich am kontinentalen Beispiel des Absolutismus zu orientieren.

Nach der Glorreichen Revolution kehrte sich das politische Gefälle um. Jetzt wurde Montesquieu von dem englischen Parlamentarismus zu einem Werk inspiriert, das nicht nur in Frankreich außerordentlichen Eindruck hervorrief und wesentlich zur Diskreditierung des Goltesgnadentums beitrug; die revolutionäre Bewegung in Frankreich, die Ludwig XVI. Thron und Leben kostete, schlug jedoch wieder zurück nach England und gab dort der demokratischen Reformbewegung einen machtvollen Auftrieb.

Die Wechselwirkung, die in den Beziehungen zwischen England und Frankreich zutage tritt, ist für die Länder des europäischen Kontinents, selbst zwischen den Orten bzw. Kantonen der Eidgenossenschaft vielfach zu belegen; sie führte häufig bis zur bewaffneten Intervention. Zusammenfassend kann man feststellen, daß in dem Konflikt zwischen autoritärer und freiheitlicher Konzeption die erstere in die Defensive gerät. Zwischen den Ländern, die diese beiden Ordnungskonzeptionen vertreten, entsteht ein politisches Gefälle, und zwar zuungunsten der autoritären Mächte. Sie sehen sich einer demokratischen Erosion ausgesetzt, weil das Beispiel einer rechtsstaatlichen und freiheitlichen Ordnung stimulierend wirkt auf jene Völker, die noch keinen Anteil nehmen an der Gestaltung ihres Schicksals, weil eben die demokratische Theorie und die demokratischen Prinzipien erfüllt sind von dem massiven Anspruch des sich seiner Würde bewußten Menschen. Insofern kann man von einem destruktiven Impuls der demokratischen Ordnung sprechen, wobei der Begriff Destruktion insofern einen positiven Akzent erhält, als sie die autoritäre Konzeption disqualifiziert und ihre Glaubwürdigkeit zerstört.

Freilich müssen die demokratischen Kräfte mit der Destruktion, der Zerstörung und Ablösung der alten autoritären Herrschaft, nicht zugleich auch befähigt werden, die konstruktive Aufgabe zu bewältigen, nämlich eine funktionierende demokratische Ordnung zu errichten. Die jüngste europäische Geschichte hat leider bewiesen, daß hier kein Automatismus besteht, daß je nach den konkreten Bedingungen der Übergang in ein neues autoritäres oder gar totalitäres Regime möglich ist. Damit beginnt aber der geschilderte Prozeß von neuem. Es entsteht wiederum ein politisches Gefälle, das die autoritären Machthaber in die Defensive drängt, wie zur Zeit die Vorgänge in Spanien erkennen lassen, während in Portugal die Entwicklung noch nicht so weit gediehen ist; ein Erfolg der demokratischen Bewegung in Spanien würde jedoch auch in Portugal nachhaltige Wirkungen hervorrufen. Auf Grund der vorangegangenen Analyse dürfte die These vertretbar sein, daß dieser Prozeß, die Erosion der autoritären Mächte durch die demokratischen Prinzipien, so lange währen wird, bis das politische Gefälle aufgehoben ist, bis sich die demokratische Ordnung in allen Ländern durchgesetzt haben wird.

Auch aus dem außereuropäischen Raum können wir Belege für den „destruktiven Impuls" der demokratischen Prinzipien, für die Erosion der autoritären Mächte anführen. Wir beschränken uns mit einem knappen Hinweis auf China und Japan. Von den westlichen Freiheitsideen waren vornehmlich Sun Yat-sen und seine Anhänger inspiriert, die 1912 den Rücktritt der alten Mandschu-Dynastie bewirkten, nachdem die Regierung schon 1910 nachgegeben und ein „Vorparlament" einberufen hatte. Der Versuch, auf Grund einer provisorischen Verfassung eine parlamentarische Demokratie zu etablieren, scheiterte allerdings an der Schwäche der demokratischen und der Stärke der reaktionären Kräfte. Der Bürgerkrieg schuf vielmehr günstige Voraussetzungen für die spätere Machtergreifung durch die Kommunistische Partei. Immerhin hat das Werk des Demokraten Sun Yat-sen ein geistiges Faktum geschaffen, das aus der Geschichte Chinas nicht mehr verbannt und in der Zukunft fruchtbar werden kann.

In Japan setzte im 19. Jahrhundert eine bemerkenswerte parlamentarisch-demokratische Bewegung ein, die ebenfalls aus europäischen Quellen gespeist wurde. Von den Repräsentanten dieser Bewegung sei nur Ueki Emori erwähnt, der 1876 in einem Zeitungsartikel mit der Überschrift „Das Staatsoberhaupt, das den Menschen zum Affen macht" energisch für die Freiheit von Wort und Schrift eintrat Nach heftigen Auseinandersetzungen schien im Juni 1924 endlich die Epoche der parlamentarischen Regierung und der Demokratisierung anzubrechen. Die Weltwirtschaftskrise aktivierte jedoch die reaktionären Gruppen, die 1932 nach mehreren Mordanschlägen das autoritäre Regime restituierten. Wie in Deutschland gab auch in Japan die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges der parlamentarisch-demokratischen Bewegung eine neue Chance.

Demokratie und Totalitarismus

Es war eine Katastrophe von historischem Ausmaß, daß der Marxismus die 1917 in Ruß-land zusammengebrochene autokratische Reaktion mit seiner zeitgemäßen pseudorationalen Ideologie von neuem belebte. Im Totalitarismus, dem linken und rechten Radikalismus, erreichte die Reaktion das antihumane Extrem. Während das traditionelle autoritäre Regime sich sozusagen mit der Herrschaft über die Leiber begnügt und zufrieden ist, die Opposition zu unterbinden, strebt der Totalitarismus auf Grund seines universalen Wahrheitsanspruches danach, auch des menschlichen Geistes Herr zu werden, nicht nur das Nein zu unterdrücken, sondern das Ja zu erzwingen.

Der Totalitarismus ist die gefährlichste Reaktion, weil er nach innen und außen über wesentlich mehr Macht verfügt als das traditionelle autoritäre Regime je besessen hat. Die für die demokratische Ordnung lebenswichtige Frage lautet jetzt, ob eine „friedliche Koexistenz" zwischen diesen Formen politischer Herrschaft möglich ist und — falls die Antwort negativ ausfällt — welche Chancen der Demokratie in diesem Konflikt zugebilligt werden können. Wenn es zutrifft, wie wir versucht haben zu belegen, daß die demokratische Ordnung das Ergebnis einer folgerichtigen Entwicklung ist, deren Antriebsquellen in der Natur des Menschen liegen, dann erhalten wir ein theoretisches Instrument für die Analyse des gegenwärtigen Konflikts zwischen Demokratie und Totalitarismus. Gilt die Konstanz der Natur des Menschen, so besitzt die demokratische Ordnung ein strategisches Übergewicht in der Auseinandersetzung mit der totalitären Herrschaft.

Der „gesetzmäßige Sieg des Sozialismus"

Im Marxismus-Leninismus spielt das ideologische Dogma der historischen Gesetzmäßigkeit eine entscheidende Rolle. Die Behauptung von Marx, daß zwischen Natur und Gesellschaft eine prinzipielle Identität bestünde, wird vom Marxismus-Leninismus uneingeschränkt übernommen: „Der Marxismus-Leninismus lehrt, daß sich nicht nur die Entwicklung der Natur, sondern auch die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nach objektiven, vom Willen des Menschen unabhängigen Gesetzen vollzieht." Etwas überspitzt formuliert läuft diese Behauptung darauf hinaus, daß von dem glühenden Gasnebel unseres Erdballes im statu nascendi und von den ersten Eiweiß-molekülen im Urmeer bis zu den Amtsinhabern im Kreml eine zwangsläufige und notwendige Entwicklung führte.

Die KPdSU — und das gilt für alle anderen herrschenden kommunistischen Parteien — hat demnach ein wissenschaftlich begründetes Anrecht auf die Macht. Sie hat notwendigerweise im Klassenkampf gesiegt, dessen Gesetzmäßigkeit Marx ebenfalls schon betonte; sie kennt „die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft" und „weist dem Volk die wissenschaftlich fundierten Wege des Fortschritts . .." Wenn aber den historischen Entwicklungsgesetzen die Qualität objektiver Naturgesetze eignet, dann müssen sie dieselbe universale Gültigkeit besitzen. Darum heißt es im Parteiprogramm der KPdSU: „Die welthistorische Wende der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus, die mit der Oktoberrevolution begonnen hat, ist ein gesetzmäßiges Ergebnis der Entwicklung der Gesellschaft. Der Marxismus-Leninismus hat die objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze entdeckt, die dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche, die Unvermeidlichkeit ihrer revolutionären Explosion sowie des Überganges der Gesellschaft zum Kommunismus aufgezeigt." Und darum heißt es im „Nationalen Dokument" der SED: „. . . der Sozialismus ist auch die Zukunft Westdeutschlands.. . Die Weltgeschichte macht um Westdeutschland keinen Bogen. Auch in Westdeutschland werden sich die Werktätigen der Fesseln des kapitalistischen und imperialistischen Regimes entledi-gen und zum Aufbau des Sozialismus übergehen"

Aus dem Marxismus-Leninismus folgt mit logischer Konsequenz ein Machtanspruch auf nationaler und internationaler Ebene; zwischen dem behaupteten gesetzmäßigen Sieg des „Sozialismus", der sogenannten Weltrevolution, und der innenpolitischen Machtausübung besteht ein unlösbarer Zusammenhang. Aus dieser Selbstbindung können sich die kommunistischen Parteien nicht lösen, und dieses Dogma könnte nicht preisgegeben werden, ohne zugleich der „führenden Rolle" der herrschenden Parteien die ideologische Basis zu entziehen. Die „friedliche Koexistenz" ist darum nichts anderes als „.. . eine Form des Klassenkampfes zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus . . ." Es geht bei der „friedlichen Koexistenz" um „. . . die Schaffung solcher Bedingungen im internationalen Leben, unter denen sich jedes Volk frei auf dem Wege des nationalen und sozialen Fortschritts entwickeln kann" das heißt, es sollen die machtpolitischen Voraussetzungen für den Vollzug der historischen Gesetzmäßigkeit geschaffen werden.

Den Verzicht auf die Unterstützung der kommunistischen Parteien bei ihrem Kampf um die Macht lehnen die Repräsentanten des kommunistischen Totalitarismus ab. Sie fordern die kommunistischen Parteien im Ausland nachdrücklich auf, sich auf den blitzschnellen Wechsel der „friedlichen" mit den „nichtfriedlichen Formen des Klassenkampfes" vorzubereiten und sichern ihnen Unterstützung zu

Der Sieg des „Sozialismus" steht nach der immanenten Logik des Marxismus-Leninismus auf der Tagesordnung der Geschichte. Es bleibt nur noch übrig, das Urteil zu vollstrecken.

Der „Skeptizismus"

Der universale Wahrheitsanspruch des kommunistischen Totalitarismus hat in dem Parteiprogramm der KPdSU eine geradezu klassische Formulierung erhalten: „Die Partei ist das Hirn, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche . . . (Sie genießt) beim Volk unbeschränkte Autorität . . Nicht nur in Politik, Wissenschaft und Kultur will also die Kommunistische Partei das letzte und entscheidende Wort sprechen, sie will zugleich die höchste moralische Autorität repräsentieren. Dieser universale Wahrheitsanspruch, aus dem die universale Inpflichtnahme des Menschen folgt, erfordert zur Absicherung gegen den kritischen Geist das Frageverbot. 1952 wurde es von einem führenden Funktionär der SED sehr prägnant formuliert: „Wer nicht parteilich ist, muß objektivistisch sein. Eine Haltung zwischen dem parteilichen und objektivistischen Standpunkt gibt es nicht. Wer objektivistisch ist, dient dem Klassenfeind (1). Der Objektivismus ist wie die Krebskrankheit.

Zuerst in einer Frage zweifeln, und dann zerfressen viele Zweifel, wie Unglauben an die Kraft der Arbeiterklasse, an die gerechte Sache unseres Kampfes und an den Sieg des Sozialismus, den ganzen Menschen."

Das totalitäre Regime strebt also und muß danach streben, die Konformität der Gesellschaft zu erzwingen. Die Konformität der Gesellschaft steht jedoch im Widerspruch zur Natur des Menschen. Die Geschichte liefert den eindeutigen Beweis, daß keine geistige Bewegung ihre Einheit behaupten konnte. Auch das Christentum, eine der ältesten und stärksten geistigen Mächte, hat sich im Zuge der Entwicklung in zahlreiche Gruppen und Sekten aufgesplittert. Dieses Ergebnis folgte aus dem Zweifel und dem Verlangen nach Erkenntnis, die beide in der Natur des Menschen liegen. Schon der chinesische Philosoph Chang Tsai (1020— 1077 n. Chr.) lehrte: „Wenn du dort zweifeln kannst, wo andere nicht zweifeln, bist du auf dem Wege zum Fortschritt."

Entscheidend ist, daß einmal die Diktatur der Tradition gebrochen wird, wie dies Platon in seinem Höhengleichnis so großartig symbolisiert hat, nachdem es Sokrates bereits vor-gelebt hatte. Die weltgeschichtliche Leistung der griechischen Philosphie war es, den Schritt vom rein praxisbezogenen Denken zur Forschung zu vollziehen. Die abendländische Kultur revolutionierte mit dem klassischen Erbe das materielle Sein, sie schuf das „Technische Zeitalter", die moderne Industriegesellschaft, und setzte damit einen Maßstab für die ganze Welt.

Nachdem aber auf Grund des rationalen, kritischen und selbständigen Denkens dieser außerordentliche Fortschritt auf vielen — wenn auch nicht auf allen — Gebieten des Lebens erzielt worden ist, ist es unmöglich, eine neue Diktatur der Tradition zu etablieren. Der Versuch, dem Menschen das selbständige Denken, Fragen und Zweifeln zu verbieten, stößt auf unüberwindliche Hindernisse. Die kindliche Neugier, die kindliche Wißbegierde möchten wir als einen Forschergeist im embryonalen Zustand bezeichnen. Wenn auch diese schöpferische Neugier nicht selten im Einerlei des Alltags erstickt wird, so bleibt sie doch bei einem mehr oder weniger großen Teil der Gesellschaft erhalten; sie muß sogar bestärkt werden — auch im totalitären Regime —, weil die moderne Leistungsgesellschaft dringend auf die Intelligenz des Menschen angewiesen ist. Eine Parzellierung der Intelligenz, das Aussparen bestimmter Probleme aus der Rationalität, läßt sich jedoch nicht erzwingen.

Das aus Mitteldeutschland vorliegende Material bestätigt eindeutig die unlösbaren Schwierigkeiten, die der Erziehung des „neuen, sozialistischen Menschen" entgegenstehen. Auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 wurde der ideologische Druck auf die Jugend, Intellektuellen und Künstler verstärkt. In wesentlicher Übereinstimmung mit dem Zitat aus dem Jahre 1952 ging es der SED-Führung darum, den universalen Wahrheitsanspruch der Partei erneut zu bekräftigen, die von der SED-Führung geforderte „Parteilichkeit" als absolut verbindliche Norm zu interpretieren. Vergleicht man die massiven Angriffe auf dem 11. Plenum gegen „Skeptizismus", „Kritizismus", „ideologische Sorglosigkeit" usw. mit früheren Aussagen über die Haltung der mitteldeutschen Bevölkerung und vor allem der Jugend, liegt der Beweis auf der Hand, daß das Erziehungsziel — Unterwerfung unter den Wahrheitsanspruch — trotz eines zwanzigjährigen Machtmonopols der SED in Mittel-deutschland nicht erreicht worden ist.

Wenn selbst führende Funktionäre den Mißerfolg ihrer politischen Erziehungsarbeit zugeben müssen, wofür sich eine große Zahl von Belegen anführen ließe, dar! dieses Eingeständnis Glauben finden. Damit ist allerdings das Argument noch nicht beantwortet, daß eine Opposition zur SED oder zur Person Ulbrichts nicht identisch sei mit dem Eintreten für die Ordnung in der Bundesrepublik. Ein Bundestagsabgeordneter erklärte im Januar 1966 auf der 14. Arbeitstagung der deutschen Burschenschaften in Berlin, die Zahl der Jugendlichen in der SBZ, die eindeutig für den Westen eintrete, gehe ständig zurück. Man könnte auch auf Professor Havemann verweisen, der sich trotz der Repressalien, die die SED gegen ihn ergriffen hat, als Kommunisten betrachtet.

Auflehnung gegen das Frageverbot

Es wäre zu einfach, dieses Argument mit dem Hinweis auf die zumeist jugendlichen Flüchtlinge zu beantworten, die unter Lebensgefahr die Grenzhindernisse überwinden. Es geht gar nicht um ein solches eindeutiges Bekenntnis zum „Westen", das man auch hier nicht überall findet. Eine kritische Haltung gegenüber der pluralistischen Demokratie bei den Menschen, die einer systematischen Desinformation unterliegen und sich nur beschränkt über die Probleme einer freiheitlichen Ordnung orientieren können, ist durchaus verständlich. Einbrüche der totalitären Ideologie und Propaganda in das Denken der ihr unterworfenen Menschen sind unvermeidbar aber das trifft nicht den Kern des Problems.

Auf das eigentliche Problem stößt die Bemerkung eines Studenten in einer Diskussion, die die mitteldeutsche Kulturzeitschrift „Sonntag“ im März 1964 durchführte: „Es ist nicht so, daß wir, wenn wir kritisch werden, unsere Republik, die Errungenschaften des Sozialismus antasten wollen. Aber warum sagt man uns, was im . Neuen Deutschland'stehe, müsse genügen? Wir langweilen uns in den Vorlesungen über Gesellschaftswissenschalt. . . . Wir sind ganz einfach neugierig, wir wollen alles wissen und vor allem selbst mitreden können." Mag das Bekenntnis zu den „Errungenschaften des Sozialismus" subjektiv ehrlich gemeint sein oder nicht, tatsächlich negiert der Student das Frageverbot der totalitären Herrschaft und damit diese selbst. Ebenso Havemann: Mag er sich als Kommunist fühlen oder nicht, indem er Informationsfreiheit und freie Diskussion fordert und indem er ausgesprochen revolutionäre Fragen seiner Studenten offen diskutiert hat er das Organisationsprinzip der demokratischen Ordnung übernommen. Aber das Wesen und das Organisationsprinzip einer Herrschaft müssen übereinstimmen. Wie sollte das scheinrationale Argument des Marxismus-Leninismus, der irrationale Machtanspruch der kommunistischen Partei, ihre politischen und ökonomischen Fehlentscheidungen einer freien Diskussion gewachsen sein?

In der Sowjetunion bestehen grundsätzlich dieselben Schwierigkeiten, mit denen sich die SED auseinandersetzen muß. Wertvolle Informationen vermittelt der repräsentative Bericht eines Lehrers für Staatsbürgerkunde in Moskau in dem es heißt: „Die Unterrichtsstunden in Staatsbürgerkunde verlaufen sehr bewegt es wird lebhaft diskutiert. Mitunter führt irgendeine Schwierigkeit, irgendein vom Pädagogen nicht in Betracht gezogenes Vorurteil der Schüler dazu, daß die Schwerpunkte bei der Behandlung bestimmter theoretischer Probleme anders verteilt werden müssen, als ursprünglich vorgesehen war. . . . Der Ablauf der Stunde wird durch komplizierte ideologische und psychologische Faktoren bestimmt, die man mitunter schwer von vornherein berücksichtigen kann. ... Es sei erwähnt, daß die Schüler Fragen stellten, die längst nicht immer zu den im Programm behandelten Themen gehörten. So wird beispielsweise häufig nach dem Verhältnis zwischen der historischen Gesetzmäßigkeit und dem Schicksal der Persönlichkeit gefragt; sie möchten wissen, was das Gewissen ist, wobei man keine Definition, sondern etwas über Wirken und Auswirkung des Gewissens hören möchte (1). Weiterhin werden oft folgende Fragen gestellt: Worin bestehen Ziel und Sinn des menschlichen Lebens? Was ist Unsterblichkeit, und lohnt es überhaupt zu leben und zu leiden, wenn man sowieso sterben muß? Warum kommt es so häufig vor, daß die Menschen das eine sagen und das andere tun? Viele Fragen betreffen das Wesen der Meinungsverschiedenheiten in der kommunistischen Bewegung, die Perspektiven des Wahlsystems in unserem Land (1), den Personenkult, das Oktoberplenum (auf dem Chruschtschow von seinen Ämtern als Parteiführer und Ministerpräsident abgelöst wurde) usw. ..."

Offensichtlich sind die Jugendlichen, von denen in diesem Bericht die Rede ist, nicht bereit, die Dogmatik des Marxismus-Leninismus und die parteioffizielle Interpretation aktueller politischer Ereignisse widerspruchslos zu akzeptieren. Die dem Denken eigentümliche Konsequenz ist ein wirksames Antriebs-moment, das die totalitäre Ideologie in ihrem Ansatz gefährdet. Das hat der genannte SED-Funktionär genau erfaßt: „Zuerst in einer Frage zweifeln, dann zerfressen viele Zweifel . . .den ganzen Menschen." Auch der Totalitarismus kann die moralische und intellektuelle Erfahrung, die die Menschheit in ihrer Geschichte gesammelt hat, nicht mehr auslöschen. Die Konstanz der Natur des Menschen verhindert die Transformation in einen utopischen „neuen, sozialistischen Menschen", der aus aller Tradition herausgetreten ist und einen wesentlichen Teil seines Menschseins — das kritische und rationale Denken — preisgegeben hat. Der Totalitarismus befindet sich in einem ausweglosen Widerspruch, da er die Prinzipien der repräsentativen Demokratie — Grundrechte, Volkssouveränität, Verantwortlichkeit der Amtsinhaber, manifestiert durch die periodischen Wahlen — nicht grundsätzlich negieren kann, sondern sie durch eine dialektische Umkehrung korrumpieren muß.

Wenn das autoritäre Regime noch bona fide ausgeübt werden konnte, so trifft dies nicht mehr für den Totalitarismus zu. Hängt die Integrität des Menschen ab von der Identität in Gedanke, Wort und Tat, gerät das Engage-ment für den Totalitarismus wegen der genannten Widersprüche in die gefährliche Nähe der moralischen Korruption, vor allem aber auch deshalb, weil sich die angebliche Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus unmöglich mit einem Frageverbot vereinbaren läßt.

Welche Rolle — und welch peinliche Rolle für die herrschende Partei, die sich doch selbst zur höchsten Instanz des Gewissens deklariert — das moralische Problem bei der Jugend in der totalitären Herrschaft spielt, wenn sie einmal kritisch zu denken beginnt, zeigt der zitierte Bericht des Moskauer Lehrers. Er fährt fort: „Interessant ist hierbei folgendes: Es entsteht der Eindruck, als interessiere sich die Jugend nicht nur oder, besser, nicht so sehr für die soziologische . Mechanik', als vielmehr für den sittlichen Gehalt des Geschehens. Unseres Erachtens erklärt sich dieser Akzent daraus, daß in diesen Lebensjahren (17 bis 25 Jahre) die Jugend eine eigene moralische Orientierung sucht, den Sinn des Lebens durchdenkt und alles Geschehen in der Welt eben von diesem Gesichtspunkt aus einschätzt." Der Autor schlägt vor, mehr Gewicht auf die „Analyse philosophischer und speziell ethischer Fragen" zu legen. Aber die Analyse muß den Konflikt nur vertiefen; denn eine Beantwortung dieser Fragen müßte zum Postulat der personalen Würde und personalen Rechte führen, sie wäre also ein subversiver Akt gegen das totalitäre Regime.

Die Chancen des Wandels

In dem Konflikt zwischen Demokratie und Totalitarismus ist die Demokratie durch die Qualität ihrer Ordnung strategisch überlegen, weil die totalitäre Herrschaft nur eine relative Stabilität aufweist. Der Totalitarismus besitzt dagegen eine gewisse taktische Überlegenheit, weil er auf die öffentliche Meinung keine oder kaum eine Rücksicht zu nehmen braucht, während man in der demokratischen Wohlstandsgesellschaft leicht geneigt ist, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Man vergißt hier des öfteren, daß die demokratische Ordnung das Ergebnis eines meist opferreichen Kampfes war und daß Opfer, die man nicht freiwillig bringt, von der Geschichte in einem weit höheren Maße erzwungen werden. Es kommt hinzu, daß einige der politischen Führungskräfte unfähig sind, das ideologische Denken des Gegners nachzuvollziehen und ihn deshalb nicht richtig einschätzen können.

Das totalitäre Regime hat durch die Gewährung verschiedener Privilegien und durch die Verteilung bestimmter Machtbereiche einen Apparat aufgebaut, der die von der Spitze geforderte Konformität nach unten durchzusetzen bestrebt ist. Gegen die unbeschränkte Funktionsdauer dieses Apparats und für die nur relative Stabilität des totalitären Regimes sprechen folgende Gründe:

Das Generationsproblem

Unter der Jugend finden sich stets Kräfte, die ihre Umwelt nicht als gegeben hinnehmen. So wurden und werden revolutionäre Bewegungen vornehmlich von der jungen Generation getragen, weil ihr das vorsichtige, alles Für und Wider kalkulierende Urteil weniger geläufig ist als den älteren Generationen. Die natürliche Oppositionslust der Jugend, die getragen wird von dem Bewußtsein personaler Rechte, die belebt wird von dem unauslöschlichen Verlangen nach einer gerechten Ordnung, wirkt in der autoritären und totalitären Herrschaft als ein Vehikel der Revolution. Wenn also eine Generation vor der „normativen Kraft des Faktischen" kapituliert hat, kommt unweigerlich eine neue Generation, die die vorgefundene Realität in Frage stellt. Die Aufgabe der Kader des totalitären Regimes ist es, die neue Generation wiederum dem Zwang der ideologischen Normen zu unterwerfen; aber kann diese Aufgabe beliebig oft gelöst werden?

Die Degeneration der Kader

Die Kader (Eliten, Führungskräfte) im totalitären Regime müssen ihre Führungsposition nicht im freien Wettbewerb erkämpfen und behaupten; sie sind nur nach oben verantwortlich. Exklusivität bewirkt aber den Ruin einer jeden Elite. Der freie Wettbewerb in der demokratischen Gesellschaft ist daher nicht nur systemlogisch, er entspricht auch einem Erfordernis der Vernunft. Die Degeneration der kommunistischen Kader versteht sich als Verlust des ursprünglichen revolutionären Elans und als Unvermögen, die eschatologische Spekulation von Marx nachzuvollziehen. Die Entwicklung zum Karrieristentum und zur Korruption ist unvermeidlich, aber Karrieristen sind nur bedingt zuverlässig — so lange wie der Einsatz profitabel erscheint.

überzeugend und mitreißend auf andere Schichten wirkt nur der echte Nachvollzug der eschatologischen Spekulation, den man mit einem partiellen Trancezustand vergleichen kann; aber durch die Institutionalisierung mit ihrer deutlichen Privilegierung wird dieser Nachvollzug außerordentlich erschwert. Ein Trancezustand ist kein Dauerzustand, zumindest liegt im Konflikt mit der Realität seine größte Gefährdung; ein Volk wacht immer einmal in seiner Geschichte auf. Die allgemein menschliche Erfahrung zeigt, wie schwierig es ist, in der Banalität des Alltags den einmal gewählten Idealen treu zu bleiben, erst recht trifft dies für ideologische Leitbilder zu.

Die Folgerung lautet: Der Marxismus-Leninismus kann zwar starke destruktive Kräfte entwickeln, es fehlen ihm aber — wie jeder Ideologie — die konstruktiven Qualitäten, um als Basis für das gesellschaftliche Zusammenleben zu dienen. An die totalitäre Ideologie werden bedeutend höhere Ansprüche gestellt als an die demokratische „Ziviltheologie“ (Voegelin), weil diese den Bürger seiner Freiheit überläßt, während jene mit einem provozierenden Pathos den Menschen unmittelbar zu erfassen sucht. Der Marxismus-Leninismus hat einen Auftrag übernommen, den er als immanente Eschatologie nicht erfüllen kann, er steht unter einem unauflösbaren anthropologischen Druck.

Die Krisenanfälligkeit des totalitären Regimes

Es ist eine ideologische und eine politische Krise zu unterscheiden, die natürlich Zusammenwirken und nun im einzelnen analysiert werden sollen.

1. Der Marxismus-Leninismus ist in einem gewissen Bereich variabel und manipulierbar. Es gibt aber bestimmte Minimalpostulate, die — wie das Frageverbot — notwendige und unverzichtbare Elemente darstellen, und zwar sind dies die „Wissenschaftlichkeit" der Ideologie und die historische „Gesetzmäßigkeit" (Zwangsläufigkeit des Klassenkampfes und „gesetzmäßiger Sieg des Sozialismus"). Diese Minimalpostulate rechtfertigen es, von dem Marxismus-Leninismus und von der kommunistischen Ideologie zu sprechen. Unter dem anthropologischen Druck und unter dem Einfluß der gesamten Entwicklung schreitet jedoch die Auflösung — die „Revision" — fort und beginnt auch diese notwendigen Elemente anzugreifen; Beispiele liefern Havemann und Kollakowski, um nur zwei Namen anzuführen. Die Parteiführung ist jetzt gezwungen, diese subjektiv engagierten Kommunisten auszuschließen und sich damit auch vor den Mitgliedern zu diskreditieren, wenn sie nicht die innere Zersetzung des totalitären Regimes riskieren will (wie dies anscheinend für Jugoslawien zutrifft!); solche Maßnahmen und Repressalien werden aber keinesfalls die ideologische Krise beseitigen.

Besondere Schwierigkeiten bereitet der Konflikt zwischen Moskau und Peking, weil er die „objektive Wahrheit" des Marxismus-Leninismus und die Prophezeiung von Marx, mit der Aufhebung der Klassengesellschaft im Innern falle auch die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander, eindeutig widerlegt. Wenn fernerhin eine weitere Ausbreitung der totalitären Herrschaft ausbleibt, muß die Selbstbindung, die der Marxismus-Leninismus bezüglich des innen-und außenpolitischen Machtanspruches eingegangen ist, die ideologische Krise noch verstärken

2. In jedem Regime sind politische und soziale Konflikte unvermeidbar. Ob sie zu einer die Stabilität der Ordnung gefährdenden Krise anwachsen, hängt vornehmlich von dem politi sehen Bewußtsein der Bürger ab. In Zeiten der Krise können latente Kräfte virulent werden, die vor allem die von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossenen Gruppen repräsentieren. In solchen Situationen pflegen gemäßigte Reformvorschläge von radikaleren Ideen überrollt zu werden. Es ist naheliegend, daß die Funktionäre des totalitären Regimes in der Krise Zugeständnisse machen, die einen irreversiblen Prozeß einleiten, entweder weil sie die Flexibilität ihres Regimes falsch einschätzen oder weil sie von einem Stellungswechsel persönliche Vorteile erwarten. Die wichtigsten potentiellen Krisenherde der Sowjetunion sind: a) Innerparteiliche Auseinandersetzungen, vor allem aber das unlösbare Problem bei der Nachfolge der Spitzenfunktionäre In jeder Partei treten Spannungen und Rivalitäten auf, die aus dem natürlichen Machtstreben der Funktionäre resultieren. In den demokratischen Parteien spielen sich die Auseinandersetzungen in einem bestimmten Rahmen, nämlich der Grundrechtsgarantien ab; als Ausweg bleibt die Spaltung der Partei. Diese parteiinternen Konflikte berühren den Staat nicht unmittelbar, da ja die demokratische Ordnung auf die Kontroverse angelegt ist und keine Partei gleichsam als Eigentümer des Staates auftritt. Wenn etwa die regierende Partei zerfällt, löst sie die Opposition ab.

Die Konflikte in der totalitären Partei, mithin auch in der KPdSU, besitzen einen anderen Stellenwert, sie werden sozusagen ohne Netz ausgetragen. Das Risiko der Kontrahenten erstreckt sich bis auf die Vernichtung der politischen, wirtschaftlichen und physischen Existenz. Die Opposition — welchen Motiven sie auch entspringen möge — muß schon deshalb ausgeschaltet und niedergekämpft werden, weil die Struktur der totalitären Herrschaft Konformität erfordert, die Konkurrenz von Parteien ausschließt. Eine Spaltung in der herrschenden Partei würde die Funktionsfähigkeit des totalitären Regimes zerstören. Da in der totalitären Herrschaft der Staat unmittelbar von der Partei abhängt, muß eine Krise in der Partei zur Krise des Staates werden.

Krisen in der Partei erschüttern den Wahrheitsanspruch des Totalitarismus. Wenn ein Spitzenfunktionär plötzlich abgelöst und heftig kritisiert wird, nachdem er jahrelang die „Linie" bestimmt hat, taucht zwangsläufig die Frage auf, warum diese Fehler nicht schon früher bemerkt worden sind und kritisiert werden durften

b) Der Widerspruch zwischen der ideologisch fundierten Politik der KPdSU, die mit der Politik des Staates identisch ist, und den nationalen Interessen der Sowjetunion, das heißt den ureigenen Interessen der sowjetrussischen Völker

c) Soziale Konflikte. Die KPdSU legitimiert ihre Herrschaft mit dem Versprechen, „der Sowjetstaat (wird) der ganzen Welt ein Beispiel wirklich vollständiger und umfassender Befriedigung der wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen geben." Wenn das der Kommunismus sein soll, wäre er jederzeit erreichbar: Die Partei brauchte nur zu dekretieren, daß die Bedürfnisse erfüllt sind. Die subjektiven Bedürfnisse des Menschen, die aus seinen stets wachsenden Ansprüchen folgen, können jedoch nicht normiert und generell nicht befriedigt werden. Allein das Beispiel der privilegierten Oberschicht muß neue Ansprüche erwecken, ganz abgesehen von dem Prestige des westlichen Lebensstandards, der eher überschätzt als unterschätzt wird. Es muß also stets eine Diskrepanz bleiben zwischen der sozialen Realität und dem, was die Partei möglicherweise als Kommunismus deklariert, und den tatsächlichen Ansprüchen. Diese Diskrepanz beeinträchtigt aber die Glaubwürdigkeit der totalitären Herrschaft als solche. Natürlich bleibt die Diskrepanz zwischen sozialer Realität und sozialen Ansprüchen auch in der demokratischen Ordnung, aber diese geht ja auch nicht die Verpflichtung ein, die Bedürfnisse des Menschen vollständig und umfassend zu befriedigen. Hier ist es primär die Aufgabe der Sozialpartner, einen einigermaßen gerechten Kompromiß herbeizuführen. Die Ansprüche aber, die sich an den Staat richten, kann die Oppositionspartei artikulieren.

Der destruktive Impuls der demokratischen Prinzipien

Auch in den Ländern, in denen sich der kommunistische Totalitarismus etabliert hat, sind die Quellen des selbständigen und rationalen Denkens nicht verschüttet worden. Hier besteht ein fundamentaler Widerspruch zwischen ideologisch begründeter Herrschaft und Rationalität der modernen Leistungsgesellschaft, zwischen unkontrollierter Machtausübung und kritischem Geist. Dieser Widerspruch erklärt das Taktieren der verantwortlichen Funktionäre in den genannten Ländern, das Pendeln zwischen „hartem" und „weichem" Kurs. Die Grundrechte der Gewissensfreiheit und der Meinungsfreiheit, die der demokratischen Herrschaft zugeordnet sind, lassen sich nicht ersticken; sie bewirken den vielfach zu beobachtenden Konflikt zwischen Partei und Intellektuellen oder Künstlern. Mögen sie sich infolge unzureichender Reflexion als loyale Anhänger der Kommunistischen Partei betrachten oder nicht — indem sie den Anspruch auf Grundrechte erheben, unternehmen sie eine revolutionäre, gegen den Totalitarismus gerichtete Aktion.

Die Begriffe demokratische Erosion und destruktiver Impuls sind daher auch anwendbar auf die Beziehungen zwischen Demokratie und Totalitarismus. Die totalitäre Herrschaft wird existentiell gefährdet durch das Beispiel einer Ordnung, in der die Menschen ohne Furcht leben können. Deshalb muß der Totalitarismus eine aggressive Haltung gegen die demokratische Ordnung einnehmen, weil sie ihn allein durch ihr Dasein widerlegt.

Für wen „arbeitet die Zeit"?

Diese Frage wird häufig in der populären Diskussion gestellt, und je nach Meinung der Diskussionsteilnehmer erfolgt die Antwort. Meinungen sind jedoch in diesem Zusammenhang völlig uninteressant. Man muß versuchen, durch Prüfung und Analyse des uns zugänglichen Materials zu fundierten Schlußfolgerungen zu gelangen.

Wir müssen einräumen, daß sichere Voraussagen über den Ausgang des Konflikts zwischen Demokratie und Totalitarismus nicht möglich sind, da das Handeln der Menschen keiner Determination unterliegt. Es können aber Faktoren ermittelt werden, die erweisen, daß die Zeit gegen den Totalitarismus und für die freiheitliche Konzeption arbeitet. Oben wurde gesagt, der Totalitarismus sei die gefährlichste Reaktion; er ist aber auch — wenn man das so formulieren darf — die letzte Ausrede der Reaktion. Der Totalitarismus ist nachweisbar unfähig, die Ordnungsprobleme weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene zu lösen; es ist der Geist der Intoleranz und der Gewalt, der die zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen vergiftet. Wir besitzen keine prophetische Gewißheit, aber die historisch legitimierte Hoffnung, daß der unauslöschbare Freiheitsanspruch einmal das Pendel über die Toleranzgrenze hinaus-treibt und der irreversible Prozeß der Demokratisierung beginnt. Die Geschichte zeigt, daß die Entwicklung zur Demokratie nicht stetig, sondern sprunghaft verlief. Perioden der Ruhe, der Apathie des Volkes und der Reaktion wechselten ab mit einem wachsenden politischen Engagement und der Beschleunigung des politischen Prozesses, bis schließlich ein Meilenstein auf dem Wege zur Freiheit gesetzt werden konnte. Allerdings vollzieht sich dieser Prozeß nicht automatisch; der Widerspruch zwischen Ideologie und Rationalität, zwischen Gewalt und Geist zwingt nicht zum Protest. Der Mensch kann sich mit der schizophrenen Situation abfinden und davon profitieren. Stets ist eine moralische Entscheidung erforderlich, der persönliche Einsatz für die Idee der Freiheit. Die Erfahrung lehrt, daß die Bereitschaft dazu in der Natur des Menschen angelegt ist

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Begriff „Frageverbot" stammt von Eric Voegelin. Vgl. Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959, S. 31 ff.

  2. Diesen Begriff verwendet Heinz Laufer in: Das demokratische Regime der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochen-zeitung „Das Parlament", Nr. 30/65, 28. Juli 1965.

  3. Jakob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1946, S. 65.

  4. Karl Löwith, Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1960, S. 160.

  5. Geo Widengren (Hrsg.), Iranische Geisteswelt. Von den Anfängen bis zum Islam, Baden-Baden 1961, S. 65.

  6. Viktor Cathrein, Die Einheit des sittlichen Bewußtseins der Menschheit, 3 Bände, Freiburg 1914.

  7. Das Problem genetischer Manipulationen blieb außer Betracht.

  8. Vgl. dazu Rene Marcic, Der unbedingte Rechts-wert des Menschen, in: Politische Ordnung und menschliche Existenz, hrsg. v. Alois Dempf, Fest-gabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag, München 1962.

  9. Ernst Topitsch, Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. v. Ernst Topitsch, Köln 1965 2, S. 27 f.

  10. Topitsch, a. a. O., S. 28.

  11. Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstands-recht, Darmstadt 1962 3, S. 216 f.

  12. Vgl. Gottfried-Karl Kindermann, Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus, Dokumente, Freiburg 1963.

  13. Konfuzius, Gespräche (Lun yü), XIV. 4.

  14. Kliutschewskij, Geschichte Rußlands, 2. Band, Berlin 1925, S. 75.

  15. G. M. Trevelyan, A Shortened History of England, Aylesbury 1963 4, S. 152.

  16. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 286. Schmitt entwickelt zwar diese Gedanken in bezug auf die parlamentarische Demokratie, sie treffen aber gerade für die anderen Typen politischer Herrschaft zu.

  17. Vgl. Horst Hammitzsch, Ueki Emori, ein Verfechter demokratischer Freiheiten in der Meiji-Zeit, in: Politische Ordnung und menschliche Existenz, hrsg. v. Alois Dempf, Festgabe für Eric Voegelin, München 1962.

  18. Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Lehrbuch, Berlin (Ost)

  19. Programm und Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, angenommen auf dem XXII. Parteitag der KPdSU, Oktober 1961, Berlin (Ost) 1961, S. 129.

  20. A. a. O„ S. 6.

  21. Das Nationale Dokument, Berlin (Ost) 1962, S. 49 f. Es ließen sich eine Fülle identischer Aussagen zitieren.

  22. L. I. Breshnew, Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XXIII. Parteitag 29. 3. -8. 4. 1966, Berlin (Ost) 1966, S. 36.

  23. A. a. O., S. 30.

  24. Parteiprogramm der KPdSU, S. 38.

  25. Breshnew, a. a. O., S. 23 f.

  26. Parteiprogramm der KPdSU, S. 129.

  27. Entnommen aus: Gerhard Möbus, Kommunistische Jugendarbeit, München 1957, S. 24. Mit einem höheren Anspruch an Wissenschaftlichkeit kommt zu dem gleichen Ergebnis: Herbert Lindner, Der Zweifel und seine Grenzen, Taschenbuchreihe Unser Weltbild, Band 51, Berlin (Ost) 1966.

  28. Kindermann, a. a. O., S. 87.

  29. Das auch überzeugte Gegner irregeführt werden können, hat der Autor selbst erlebt. Vgl. Hermann Flade, Deutsche gegen Deutsche, Freiburg 1963, S. 82.

  30. Entnommen aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 3. 1964.

  31. Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma?, Hamburg 1964, S. 52.

  32. A. a. O„ S. 152

  33. J. J. Powarkow, Zu Problemen der Staatsbürger-kunde, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissen-schaftliche Beiträge 11/1965, Berlin (Ost) 1965, S. 1195. P. scheint eine leitende Funktion zu bekleiden.

  34. Auch in der Oberschulklasse, die der Autor 1949 in der SBZ besuchte, wurde „lebhaft diskutiert". Vgl. Flade, a. a. O., S. 33.

  35. Powarkow, a. a. O., S. 1197 und 1199.

  36. Powarkow, a. a. O., S. 1199.

  37. Hier liegt eine über Ostasien hinausgehende Bedeutung, die dem Ausgang des Vietnam-Konfliktes zukommt.

  38. Das Nachfolgeproblem ist in dem totalitären Regime deshalb unlösbar, weil weder erbliche Privilegien existieren noch eine legale Opposition zugelassen werden kann. Im Statut der KPdSU heißt es ausdrücklich: „Ein unumstößliches Lebensgesetz der KPdSU ist die ideologische und organisatorische Einheit, die eherne Geschlossenheit ihrer Reihen, die hohe und bewußte Disziplin aller Kommunisten. Jede Erscheinung von Fraktionsmacherei und Gruppenbildung ist unvereinbar mit marxistischleninistischer Parteilichkeit, unvereinbar mit der Parteizugehörigkeit" (S. 135). Die Parteiführung kann daher jeden Versuch, sie abzulösen, als Fraktionsmacherei denunzieren und mit Sanktionen belegen.

  39. Eben dieser Gedanke steht hinter den Fragen, die — wie es Powarkow so schön formuliert — „den Personenkult, das Oktoberplenum" betreffen.

  40. Gemeint ist der Widerspruch zwischen dem Interesse, das alle Völker, auch die sowjetrussischen, an einer konstruktiven Friedenspolitik haben müssen, und der Politik des Kremls, die wesentlich für die internationalen Spannungen verantwortlich ist.

  41. Parteiprogramm S. 34.

  42. Um eventuelle Mißverständnisse auszuschließen, sei betont, daß hier eine theoretische Analyse des Ost-West-Konflikts versucht wurde; Aufgabe der praktischen Politik ist es, den Handlungsspielraum zu ermitteln, der ungeachtet der schwierigen Situation besteht.

Weitere Inhalte

Hermann Flade, Dr. phil., geb. 22. Mai 1932 in Würzburg, von 1950 bis 1960 Haft in Mitteldeutschland, von 1962 bis 1967 Studium: Vergleichende Kulturwissenschaft, Politische Wissenschaft, Osteuropäische und Neuere Geschichte; neben dem Studium Vortragstätigkeit. Veröffentlichungen: Deutsche gegen Deutsche. Erlebnisbericht aus dem sowjetzonalen Zuchthaus, Freiburg 1963; Die Chance der Freiheit (in Vorbereitung).