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Die Entstehungsgeschichte des Staates Israel | APuZ 2/1968 | bpb.de

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APuZ 2/1968 Die Entstehungsgeschichte des Staates Israel

Die Entstehungsgeschichte des Staates Israel

Hans-Helmut Röhring

Dieser Beitrag ist das erste Kapitel eines Sammelbandes mit dem Titel „Israel — Politik, Gesellschaft, Wirtschaft", der von Professor Kurt Sontheimer herausgegeben wird und in Kürze im Piper-Verlag, München, erscheint.

Der Vorabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Der hier nicht abgedruckte Anmerkungsapparat kann in dem Buch eingesehen werden.

1. Die Voraussetzungen des Zionismus

Palästina und das jüdische Volk in der Diaspora Unter dem Eindruck, der wachsenden Gefährdung des Judentums entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem Namen „Zionismus" eine jüdische politische Bewegung, die das Ziel verfolgte, dem jüdischen Volk in seiner historischen Heimat Palästina eine neue nationale Heimstätte zu errichten. Nahezu 2000 Jahre vorher war der jüdische Staat der Antike von der Bühne der Geschichte abgetreten. Im Jahre 63 v. Chr. wurde Judäa tributpflichtige Provinz des Römischen Imperiums, und nach einem Jahrhundert permanenter Rebellion gegen die Oberherrschaft Roms endete mit der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels (70 n. Chr.) und der anschließenden Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat die staatlich-politische Existenz des jüdischen Volkes. Palästina kam nach dem Zerfall des Römischen Reiches für mehr als zwei Jahrhunderte unter byzantinische Herrschaft, bis es im 7. Jahrhundert vorübergehend von den Persern und anschließend von den Arabern erobert wurde. Die arabische Herrschaft über Palästina wurde für ein Jahrhundert von den Kreuzrittern unterbrochen und mit der Eroberung des Landes durch die ottomanischen Türken 1517 beendet. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs blieb Palästina eine Provinz des Ottomanischen Reiches.

Nach der Verdrängung aus seiner Heimat lebte das jüdische Volk über die Kontinente zerstreut im Exil, von den Wirtsvölkern als Fremdkörper empfunden und durch Diskriminierung und Verfolgung zu immer neuen Wanderbewegungen gezwungen. In den achtzehn Jahrhunderten ihrer Diasporageschichte verließ die Juden nie die Sehnsucht nach Zion, der Stadt Gottes, die einst David zur Hauptstadt des Reiches und durch Einholung der Bundeslade zu dessen religiösem Zentrum machte, und nie verloren sie die Hoffnung, dorthin, in das Land der Väter, zurückzukehren. Diese Kontinuität der geistig-seelischen Verbindung des Judentums in der Diaspora mit Erez-Israel wurzelte im jüdischen Glauben, wonach unter allen Völkern und Ländern das Volk Israel und das Land Israel von Gott zu seinem Volk und seinem Land erwählt und miteinander verbunden wurden, mit dem unerfüllt gebliebenen, aber nur in ihrer Gemeinschaft zu vollziehenden Auftrag, den gerechten Staat Gottes zu verwirklichen.

Obgleich sich diese Verbindung durch die Jahrhunderte unerfüllter Hoffnung allmählich zum Teil „einer Art seelischen Routine" wandelte, blieb der Gedanke an die schließliche Wiedererrichtung des jüdischen Staates wenn auch nicht realpolitische, so doch zumindest messianische Erwartung. Diese Bindung an die historische Heimat äußerte sich in Wort und Sinn des täglichen Gebets und der Bedeutung der religiösen Feste ebenso wie in jüdischer Erzählung und Dichtung. Sie fand ihren Ausdruck aber auch in den niemals aussetzenden Bemühungen, im Lande der Väter zu siedeln. In jeder Generation zogen Juden einzeln und in Gruppen in das verheißene Land, um dort als Pilger zu beten, als Siedler ansässig zu werden, oder auch nur, um zu sterben und in der heiligen Erde begraben zu werden. Aber obwohl in den nach jüdischer Tradition geheiligten Städten Jerusalem, Tiberias, Hebron und Safed jüdische Gemeinden fortbestanden, blieben diese unorganisierten Rückwanderungen in die Heimat ohne politische Bedeutung. Sie mußten in dieser Hinsicht schon an der Weigerung der islamischen oder christlichen Herren Palästinas scheitern, Einwanderungen größeren Ausmaßes zu gestatten und den palästinensischen Juden ein Mindestmaß politischer Mitbestimmung zu gewähren. Gleichwohl richteten sich die Blicke der Judenheit in der Diaspora auf diese kleinen Gemeinden in Palästina, und es wurde als Verpflichtung empfunden, jene durch Spenden zu unterstützen, die an den heiligen Orten Israels für das gesamte Volk beteten und die heiligen Schriften studierten.

Der Volkscharakter der Judenheit manifestierte sich nicht nur in der Bindung an die historische Heimat, sondern kam bis zur Emanzipation der westeuropäischen Juden im ausgehenden 18. Jahrhundert auch in ihren äußeren Lebensverhältnissen zum Ausdruck. Abgesondert von der übrigen Bevölkerung ihrer Wirtsländer, wirtschaftlich auf einige spezifische Berufe — im wesentlichen den Geldverleih und den Kleinhandel — zusammengedrängt, lebten die Juden in eigenen Wohnbezirken, waren Sondergesetzen unterworfen und wurden von der Mehrheit ihrer christlichen Umwelt nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft angesehen. Innerhalb ihrer Gettos führten sie weitgehend ein „nationales" Eigenleben mit eigener Religion, Sprache, Sitte und in begrenztem Umfang auch mit eigenem Recht.

Emanzipation, Assimilation und Antisemitismus Erst mit der Entstehung des modernen Rechtsstaates in Europa, in der Folge der Französischen Revolution, wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert die Emanzipation der Juden eingeleitet, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in allen mittel-und westeuropäischen Ländern verwirklicht wurde. Die rechtliche Gleichstellung der Juden mit der nichtjüdischen Bevölkerung eröffnete eine entscheidende Phase der jüdischen Diasporageschichte. Nach dem Fall der Gettomauern in Westund Mitteleuropa hörten die Juden auf, einen „Staat im Staate" zu bilden. Das Gefühl der nationalen Andersartigkeit wurde zunehmend verdrängt, und an seine Stelle trat das Bemühen, sich der Umwelt so vollkommen wie möglich anzugleichen.

Zahlreiche Juden waren bereit, durch Taufe, Namensänderung und ein betont zur Schau getragenes Nationalbewußtsein ihres Wirtsvolkes ihre Vergangenheit zu verleugnen, um die Aufnahme in die christliche Gesellschaft zu erreichen. Aber auch unter der großen Mehrheit, die vor der Taufe zurückschreckte, fanden sich nicht wenige Juden von geistigem Rang, die sich nicht nur in den äußeren Formen und im Kulturstandard ihrer Umwelt anpaßten, sondern darüber hinaus begannen, „das Judentum als Volksindividualität moralisch zu diskreditieren und als inferior zu empfinden".

Der Assimilationsprozeß des westeuropäischen Judentums wurde zweifellos gefördert durch die Anziehungskraft der europäischen und namentlich der deutschen Kultur, deren damalige Hochblüte zusammenfiel mit einem Tiefstand jüdischen kulturellen Lebens. Doch wo die Assimilation nicht freiwillig erfolgte — als begeisterte Hinwendung zum modernen europäischen Denken, zu den Menschheitsidealen und revolutionären politischen Ideen —, da wurde sie erzwungen durch politischen und vor allem gesellschaftlichen Druck. Trotz formaler Gleichberechtigung war die Gesellschaft nur bereit, den Menschen, nicht aber den Juden zu akzeptieren. Als Gegenleistung für die Emanzipation wurde der Verzicht auf das jüdische Sonderdasein gefordert; die Juden hatten aufzuhören, Juden zu sein, um vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Die große Mehrheit der westeuropäischen Juden suchte dennoch den Weg zu gehen, durch schrittweise Integration in die Wirtsvölker deren Absperrung gegen die Juden zu überwinden und sich als Vollbürger Geltung in Staat und Gesellschaft zu verschaffen.

In Westeuropa folgte der Emanzipation die Auflösung des Judentums als national-religiöse Einheit; es blieb eine mehr oder minder praktizierte mosaische Konfession. Aber obgleich Juden seither eine führende Rolle im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben ihrer Wohnländer gespielt haben, brachte ihre bürgerliche Emanzipation nicht die Lösung der Judenfrage. Nach einem kurzen Höhepunkt des Liberalismus zeigte sich schon im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, daß die reibungslose Eingliederung der Juden in die nichtjüdischen Nationen auch nicht durch die Assimilation zu erreichen war. Die Feindschaft gegen die Juden und die Ablehnung ihrer sozialen Gleichstellung blieb bestehen. Mit der wachsenden Selbstnegierung der Juden wandte sich diese Feindschaft gegen deren „rassische" Eigenheit, gefördert durch einen zunehmend aggressiven Nationalismus der europäischen Völker, dessen Ideologie die deutliche Tendenz zeigte, die Juden als Fremdkörper aus den nationalen Gemeinschaften auszuschließen. Obgleich der Antisemitismus mit der wachsenden Assimilation noch an Intensität zunahm, vermochten die Juden die Ursache seines Fortbestehens über lange Zeit nicht zu erkennen. Die westeuropäische Judenheit hielt an der Assimilation als wirksames Mittel zu seiner Überwindung fest und sah in ihr unbeirrbar den einzigen gangbaren Weg in eine freie Zukunft als integrierter Bestandteil der europäischen Völker, Im Gegensatz zu den Westländern erfolgte die Emanzipation in Osteuropa, wo mehr als die Hälfte der Judenheit lebte, nur in Ansätzen. Unter dem zaristischen Absolutismus wurden die jüdischen Massen im alten Rußland in ihrem Pariadasein gehalten. Durch Einschränkungen des Wohnrechts in einigen Gegenden im Westen und Süden des Reiches zusammengedrängt, lebten sie in der Abgeschlossenheit ihrer Gettos zumeist in großer Armut, tiefer Unbildung und starrem religiösem Fanatismus. Mit der wachsenden physischen Not rückten sie noch enger zueinander, vertieften sich noch besessener in die Worte der Bibel und des Talmuds und suchten noch ausschließlicher Zuflucht aus der Verzweiflung im Glauben an die Verheißung. Während die Juden Westeuropas in dem Teufelskreis von Assimilation und Antisemitismus immer tiefer in die Selbstnegierung getrieben wurden, bewahrten die Ostjuden in der Bindung ihrer traditionellen religiösen und sozialen Organisation ihr Judentum.

In die geistige Erstarrung der osteuropäischen Judenheit kam Bewegung, als die Ideen der Aufklärung im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch in die Gettos in Rußland und Polen Eingang fanden. Die Haskala-Bewegung versuchte, mit dem Kampf gegen das orthodoxe Rabbinertum und der Propagierung der kulturellen Angleichung an die Wirtsvölker die Emanzipation auch der Ostjuden vorzubereiten. Während die Protagonisten der Haskala bei den Massen auf Mißtrauen und offene Feindschaft stießen, zeigte die sehr dünne begüterte Oberschicht unter ihrem Einfluß bald ähnliche Assimilationserscheinungen wie die Juden Westeuropas. Darüber hinaus bewirkten ihre Ideen, daß nicht wenige jüdische Intellektuelle die Unterdrückung und das Elend der Juden als Teil der allgemeinen Unfreiheit und Not, verursacht durch zaristische Despotie und kapitalistisches Wirtschaftssystem, deuteten und den Weg in die revolutionären Bünde Rußlands und Polens wählten.

Für die weitere Entwicklung des osteuropäischen Judentums war es jedoch von größerer Bedeutung, daß die „Apostel" der Haskala die moderne Medi europäische Bildung durch das -um der hebräischen Sprache verbreiteten, die, bis dahin dem sakralen Gebrauch vorbehalten, jetzt in steigendem Maße zur Unterrichts-und Literatursprache wurde. Die Wiederbelebung des Hebräischen und die Verbreitung der modernen europäischen Ideen haben einer modernen national-jüdischen Bewegung im osteuropäischen Judentum den Weg bereitet.

Die national-jüdische Bewegung Osteuropas Noch bevor die Haskala-Bewegung mit den Pogromen der achtziger Jahre die Aussichtslosigkeit ihrer Assimilationsbestrebungen vor Augen geführt wurde, erkannten einige ihrer prominentesten Verfechter, daß der beschrittene Weg nicht in die Befreiung führte, sondern die Haskala zur Fassade wurde, hinter der sich die Auflösung aller wesentlichen Inhalte des Judentums zu vollziehen drohte. In Reaktion auf die Selbstnegierung des westeuropäischen Judentums, aber auch unter Einfluß der europäischen Nationalismen suchten Denker und Schriftsteller wie David Gordon, Perez Smolenskin, Leib Lilienblum und Ben-Yehuda dem jüdischen Volk sein eigenes nationales Erbe und seine Hoffnungen und Ideale erneut ins Bewußtsein zu heben. War auch ihr primäres Anliegen die geistig-kulturelle Erneuerung des jüdischen Volkes, wobei ihnen die Wiederbelebung der hebräischen Sprache als wichtigstes Mittel galt, so wiesen sie mit der Propagierung der Rückkehr nach Zion doch gleichzeitig den Weg zu seiner nationalen Wiedergeburt. Unter dem Einfluß dieser Ideen bildeten sich in Osteuropa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die ersten zionistischen Kreise.

Als 1881 nach der Ermordung des Zaren Alexander II. Pogrome ausbrachen, die in Rußland von Zwangsumsiedlungen und weiteren Rechtseinschränkungen begleitet waren, erhielt die entstehende national-jüdische Bewegung starken Auftrieb aus der Jugend, die ihre Hoffnungen bis dahin in die Haskala gesetzt hatte. In zahlreichen jüdischen Zentren Ost-europas konstituierten sich unter dem Namen Choveve Zion (Liebende Zions) Gruppen, die nicht nur die Rückkehr nach Palästina, sondern auch die Rückkehr zur landwirtschaftlichen Arbeit als Mittel zur physischen und seelischen Erneuerung des jüdischen Volkes erstrebten. Aus ihren Reihen gingen die ersten zionistischen Siedler hervor, die 1882 unter dem Namen Bilu in kleinen Gruppen nach Palästina zogen und dort unter heute kaum vorstellbaren Schwierigkeiten die ersten zionistischen Siedlungen aufbauten.

Kurze Zeit nach ihrer Entstehung erhielt die Choveve-Zion-Bewegung mit Leon Pinsker, einem jüdischen Arzt aus Odessa, ihren unbestrittenen Führer, der ihr das geistige Funda-ment und das Rüstzeug zu einer überzeugenden politischen Argumentation lieferte. Auch Leon Pinsker kam aus der Haskala-Bewegung und hatte sich über mehrere Jahrzehnte der kulturellen Russifizierung der Juden als Mittel zur Lösung des jüdischen Problems gewidmet. Wie bei so vielen Anhängern der Haskala bedurfte es auch bei Pinsker erst der Pogrome des Jahres 1881, um ihn aus dieser Illusion aufzuschrecken: „ . . . angesichts des ausbrechenden Hasses sah er die Sinnlosigkeit der Integrationsbemühungen ein und wurde in die Eigenständigkeit des Judentums zurückgestoßen." In seiner 1882 anonym in deutscher Sprache erschienenen Schrift „Autoemanzipation. Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden" analysierte Pinsker den Antisemitismus und seine Ursachen. Ausgehend von der Erkenntnis, daß „die Juden . . . im Schoße der Völker, unter denen sie leben, tatsächlich ein heterogenes Element (bilden), welches von keiner Nation gut vertragen werden kann", postulierte er, „ein Mittel zu finden, durch welches dieses exklusive Element dem Völkerverbande derart angepaßt werde, daß der Judenfrage der Boden für immer entzogen sei". Dieses Mittel war für Pinsker „nicht die bürgerliche Gleichstellung der Juden in dem einen oder anderen Staate", sondern „einzig und allein die Autoemanzipation des jüdischen Volkes als Nation, die Gründung eines eigenen jüdischen Kolonistengemeinwesens, welches dereinst unsere ureigene, unveräußerliche Heimat, unser Vaterland werden soll".

Leon Pinsker, der die Frage nach der geographischen Lage des von ihm geforderten Territoriums, in dem das jüdische Volk seine Heimat finden sollte, zunächst offengelassen hatte, wurde im Kontakt mit der Choveve-Zion-Be- wegung sehr bald zu einem Verfechter der Palästina-Idee. 1884 berief er eine Konferenz der Choveve Zion nach Kattowitz ein, als deren Präsident er erklärte, daß Palästina das einzige Land sei, das die Zwecke und Erwartungen der Bewegung erfüllen würde. Auf der Kattowitzer Konferenz wurden die Grundsätze der Bewegung formuliert: Festigung des nationalen Gedankens unter den Juden, Förderung der Kolonisation Palästinas und der Nachbargebiete durch Gründung neuer und Unterstützung bestehender Kolonien, Verbreitung des Hebräischen als Nationalsprache, Hebung des moralischen, geistigen und wirtschaftlichen Niveaus der Juden, Gehorsam gegen die Staatsgesetze der Völker, unter denen die Mitglieder leben.

Unter dem zaristischen Absolutismus Rußlands war die national-jüdische Bewegung illegal; nur getarnt konnten die Choveve Zion sich versammeln und nur geheim konnten sie für ihre Ideen werben. In dieser Lage wählten sie häufig Studenten zu ihren Führern, die außerhalb des Landes, vor allem an den Universitäten Deutschlands, Österreichs und Englands, studierten. Nicht zuletzt deshalb konnte die Bewegung innerhalb weniger Jahre in vielen Teilen Europas und sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika Anhänger gewinnen. 1890 erreichte die Organisation unter dem Namen „Society for Support of Jewish Agri-culturalists and Artisans in Palestine and Syria" offizielle Anerkennung, und Leon Pinsker wurde auf der ersten Generalversammlung zu ihrem Präsidenten gewählt. Aber obgleich nach den Pogromen insgesamt etwa 3000 osteuropäische Juden als Siedler nach Palästina emigrierten, der ersten von den Biluim in Rishon le-Zion angelegten landwirtschaftlichen Siedlung weitere folgten und die Ideen der Choveve-Zion-Bewegung zunehmende Verbreitung fanden, vermochte Pinsker ihr „Abgleiten in den Philantropismus" nicht zu verhindern. Die Kolonisten kamen ohne landwirtschaftliche Erfahrungen und mit unzureichenden finanziellen Mitteln nach Palästina, und sehr bald nach ihrer Gründung gerieten die Siedlungen durch ungünstige Bodenverhältnisse und Klimabedingungen, Krankheiten und Mangel an Nahrungsmitteln, durch Über-fälle der Beduinen und Repressalien der otto-manischen Behörden in eine verzweifelte Lage.

Der Zusammenbruch des eben begonnenen Aufbauwerks konnte nur dadurch verhindert werden, daß es gelang, die Unterstützung eines der reichsten Männer unter den westeuropäischen Juden zu gewinnen. Der in Paris lebende Baron Edmond de Röthschild nahm das gesamte Ansiedlungswerk unter seinen Schutz und spendete Millionenbeträge für dessen Erhaltung und weiteren Ausbau. Er betraute landwirtschaftliche Instruktoren mit der Anleitung der Siedler und entsandte einen Stab von Beamten nach Palästina, die in seinem Namen die gesamte Verwaltung der Siedlungen übernahmen. Der Preis, den die Kolonisten für diese großzügige Hilfe zahlten, bestand in dem weitgehenden Verlust ihrer Unabhängigkeit und damit ihrer wirtschaftlichen Initiative. Zwar konnte das Eingreifen Rothschilds das Kolonisationswerk vor dem drohenden Zusammenbruch bewahren, der nationalen Idee vermochte die mit seiner Hilfe durchgeführte Kolonisation jedoch gerade wegen ihres philantropischen Charakters keine neuen Impulse zu geben.

Obgleich der Zionismus von einer echten Volksbewegung noch weit entfernt war, stieß er bereits in diesen Jahren innerhalb und außerhalb der Judenheit auf entschiedene Gegnerschaft. Im Jahre 1888 erließ die Regierung des Ottomanischen Reiches ein striktes Verbot jüdischer Einwanderung in ottomani-sches Territorium und begrenzte die Einreise ausländischer Juden nach Palästina auf dreimonatige Pilgerfahrten. Innerhalb der Judenheit wurde der Widerstand gegen die zionistischen Ideen vor allem von den assimilierten und assimilationswilligen Schichten, aber auch von orthodox-religiösen Kreisen getragen.

Die für die weitere Entwicklung bedeutsamste Kritik an dem säkularisierten, vornehmlich aus der Judennot entstandenen Zionismus kam von dem Philosophen Achad Ha-am, der in Odessa in enger Verbindung zu den Führern der Choveve-Zion-Bewegung stand. Er veröffentlichte 1889 unter dem Titel „Nicht dies ist der Weg" einen berühmt gewordenen Aufsatz, in dem er die bisherige Problemstellung zurückwies und mit Nachdruck den Vorrang der geistig-kulturellen Erneuerung des jüdischen Volkes vor den wirtschaftlich-sozialen und politischen Zielsetzungen betonte. Auch Achad Ha-am erstrebte die Begründung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina, sah aber in ihm vor allem ein geistiges, ein Kulturzentrum des jüdischen Volkes, das seine Funktion als organische Mitte eines lebendigen Weltjudentums erfüllte. Ein so verstandenes geistiges Zion hatte sich nicht durch die Quantität seiner Ansiedlungen, sondern durch Qualität, durch seine moralischen, seelischen und kulturellen Werte auszuzeichnen. Zwar konnte Achad Ha-am die fortschreitende, sich aus der wachsenden Gefährdung des Judentums ergebende Politisierung der zionistischen Idee nicht aufhalten, aber sein als „Kulturzionismus" bezeichnetes Denksystem hat dennoch nachhaltigen Einfluß auf die zionistische Diskussion gehabt und „das Abgleiten des Zionismus zu einer bloßen politischen Kategorie . . . verhindert".

Zunächst ließen jedoch die Krise der jüdischen Kolonie in Palästina und der Widerstand innerhalb und außerhalb der Judenheit eine Weiterentwicklung des Zionismus überhaupt fraglich erscheinen. Das Kolonisationswerk stagnierte und die Einwanderung hörte in den neunziger Jahren auf. Leon Pinsker, der führende Kopf und Motor der Bewegung, starb 1891 „nahezu verzweifelt". Dennoch hatte die Choveve-Zion-Bewegung der Idee einer nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seiner historischen Heimat zu wachsender Verbreitung im Judentum verhülfen und durch die Biluim die ersten konkreten Ansätze zu ihrer Verwirklichung geschaffen. Um näher an das große Ziel zu gelangen, bedurfte es anderer Dimensionen und anderer Methoden, als sie die national-jüdische Bewegung Osteuropas besaß. Ihre Basis war zu schmal und die Zahl ihrer Anhänger zu gering, um eine für das jüdische Volk wirklich repräsentative Organisation zu bilden; ihre Mittel waren zu begrenzt und ihre Methoden zu wenig gezielt, um wirksame Siedlungsarbeit im Sinne ihres Zieles zu leisten.

Vor allem aber fehlte ihr die Bereitschaft zur politischen Aktion. Palästina, das Objekt ihrer Bestrebungen, war kein weißer Fleck auf der politischen Weltkarte, sondern von arabischer Bevölkerung bewohntes Territorium des Otto-manischen Reiches, das zudem im Brennpunkt machtpolitischer Interessen europäischer Groß-mächte lag. Der Errichtung eines wie immer gearteten jüdischen Gemeinwesens in diesem Gebiet standen politische Hindernisse größten Ausmaßes entgegen, deren Überwindung zumindest die Bereitschaft voraussetzte, über das Judentum hinaus politisch auf die nichtjüdische Welt zu wirken.

2. Der politische Zionismus — Theodor Herzl

Die Staatsidee Herzls und das Instrument zu ihrer Verwirklichung Der notwendige Umschwung vollzog sich mit dem Auftreten Theodor Herzls, des Begründers des organisierten politischen Zionismus. Theodor Herzl entstammte einer assimilierten jüdischen Familie in Budapest, hatte in Wien Jura studiert und sich dort früh einen angese7 henen Namen als Schriftsteller erworben. Seine Stücke wurden am Burgtheater gespielt, seine Feuilletons in der „NeuenFreienPresse", der führenden deutschsprachigen Zeitung seiner Zeit, veröffentlicht. In den Wiener Studienjahren weckte die Begegnung mit antisemitischem Denken sein erstes, noch flüchtiges Interesse am Judentum. Aber noch 1891, als Herzl in der Eigenschaft eines ständigen Korrespondenten der „Neuen Freien Presse" nach Paris ging, konnte er als typischer Repräsentant jener assimilierten westeuropäischen Juden gelten, die jede tiefere Beziehung zu ihrem Judentum verloren hatten. Erst in Frankreich wandelte er sich durch die erneute Konfrontation mit dem Antisemitismus innerhalb weniger Jahre zu dem leidenschaftlich engagierten Juden, der in der Folgezeit eine der großen Führergestalten der modernen jüdischen Geschichte wurde.

Von entscheidender Bedeutung war für Herzl das Erlebnis der Dreyfus-Affäre. Er war Augenzeuge des Prozesses gegen den jüdischen Hauptmann im französischen Generalstab Dreyfus, der — wie sich später erwies — unschuldig als Landesverräter zur Verbannung verurteilt und im Januar 1895 öffentlich degradiert wurde. Was Herzl dabei zutiefst erschütterte, war die heftige antisemitische Hetze, die unter der Parole „Tod den Juden!" das Verfahren begleitete, und die Freude, mit der die Massen dem Schauspiel der Degradierung des Juden Dreyfus folgten. Dieser offene Judenhaß, dem er im liberalen Frankreich, von dem einst die Emanzipation ausgegangen war, begegnete, gab ihm den Anlaß, die Judenfrage ernsthaft zu durchdenken.

Nach seinem eigenen Bekenntnis ist Theodor Herzl durch den Dreyfus-Prozeß zum Zionisten geworden. Noch im gleichen Jahr konzipierte er eine Programmschrift, die er 1896 unter dem Titel „Der Judenstaat, eine moderne Lösung der Judenfrage" der Öffentlichkeit vorlegte. Der darin formulierte Vorschlag, die Judenfrage durch die Gründung eines jüdischen Staates zu lösen, ging von der Aktualität der Judenfrage aus, die für ihn dadurch gegeben war, daß die Juden überall, wo sie in merklicher Anzahl lebten, Diskriminierungen und Verfolgungen durch die Wirtsvölker ausgesetzt waren. Ähnlich wie vor ihm Pinsker, dessen Schrift er bei der Abfassung des „Judenstaates" noch nicht kannte, hielt er den Antisemitismus für unausrottbar und deshalb die Judenfrage durch das Mittel der Assimilation innerhalb der Wohnländer der Juden für nicht lösbar. Darüber hinaus war ihm, dem assimilierten Westjuden, klargeworden, was für Pinsker inmitten der jüdischen Massen in den Gettos Osteuropas eine Selbstverständlichkeit war: „Wir sind ein Volk, ein Volk." Aber anders als Pinsker zog er aus dieser Erkenntnis auch die Konsequenz: „Die Judenfrage ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird." Hatte Pinsker noch vorsichtig von einem „Kolonistengemeinwesen" gesprochen, so stellte Herzl zum ersten-mal die bis ins Detail durchgeformte Staats-idee in den Mittelpunkt der zionistischen Diskussion — die Anerkennung des Rechts auf nationale Existenz, die Gewährung der Souveränität über ein Territorium, in dem das jüdische Volk wie die anderen Völker sein Leben in Freiheit gestalten konnte — als einzige sinnvolle Antwort auf die Judenfrage und gleichzeitig als die das Volk bewegende Kraft, die es aus der „Umklammerung seines Exils" zu befreien vermochte. „Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben, und sie werden ihn verdienen." Damit hatte Herzl die für den Zionismus bahnbrechende Erkenntnis formuliert, daß die Juden ihre politische Passivität und ihre introvertierte Betrachtungsweise des Judentums überwinden und eine eigene aktive Politik machen mußten, um die Judenfrage lösen zu können. Dabei war es für ihn von sekundärer Bedeutung, wo dieser Judenstaat errichtet wurde; die Frage, ob in Palästina oder in einem anderen Land, war für Herzl vor allem eine Frage der Zweckmäßigkeit. Nicht der Erfüllung einer religiös bestimmten Zions-sehnsucht, nicht der Schaffung eines geistig-kulturellen Zentrums des jüdischen Volkes galt seine Idee, sondern die drängende Judennot war die ihn treibende Kraft und ihre Behebung sein Ziel. Wenn er dennoch für Palästina plädierte, so vor allem aus propagandistischen Gründen. Der Gefühlswert, den das Heilige Land für die jüdischen Massen besaß, machte es leichter, eine jüdische Volksbewegung zu erwecken.

Die Veröffentlichung des „Judenstaates" löste sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Während Herzls Plan vor allem bei Teilen des osteuropäischen Judentums lebhafte Aufnahme fand, wurde er von der überwiegenden Mehrheit der assimilierten westeuropäischen Juden zurückgewiesen oder gar verlacht. Allein die Juden als Volk zu bezeichnen erschien ihnen, die sich nur durch eine gemeinsame Konfession miteinander verbunden fühlten, als absurd. Darüber hinaus waren auch unter den engagierten Juden Westeuropas nicht wenige davon überzeugt, daß Herzls Idee „nur Wasser auf die Mühlen der Antisemiten sei". Aber auch unter den Choveve Zion Osteuropas fanden sich Gegner, die Reaktionen des Ottoma-nischen Reiches befürchteten und um den Bestand ihres Kolonisationswerks in Palästina bangten. So wäre von Herzls großer Idee, hätte er es bei der Publikation seiner Schrift belassen, wahrscheinlich nicht mehr geblieben als ein umstrittener Beitrag zur Diskussion der Judenfrage.

Aber Herzl ließ es nicht bei der theoretischen Konzeption bewenden; er schuf auch die Instrumente zur Verwirklichung seiner Idee. In unermüdlichem Einsatz betrieb er die politische Organisation des jüdischen Volkes. Schon im Sommer 1897 gelang es, einen „Zionistischen Kongreß" nach Basel zusammenzurufen, an dem nahezu 200 Delegierte aus fast allen Ländern, in denen Juden lebten, teilnahmen. Sie konstituierten sich unter der Führung Herzls „zur jüdischen Nationalversammlung, zum , Staat auf dem Wege'". Der Zionistische Kongreß, der zunächst jährlich und später alle zwei Jahre zusammentreten sollte, erklärte sich zur obersten Instanz einer Zionistischen Weltorganisation und wählte mit der Exekutive und dem Aktionskomitee seine ausführenden Organe. In der als „Baseler Programm" bekanntgewordenen Entschließung legte der erste Kongreß das Ziel der „Zionistischen Organisation" fest:

Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina. Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Kongreß folgende Mittel in Aussicht: 1. die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden; 2. die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen;

3. die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewußtseins, 4. vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.

Die vom Baseler Kongreß zur Erreichung des zionistischen Zieles in Aussicht genommenen Mittel sind in den folgenden Jahrzehnten das Fundament zionistischer Politik geblieben. Eine ausreichende jüdische Einwanderung zur Etablierung eines De-facto-Staates in Palästina sicherzustellen, die Mehrzahl der Judenheit für die zionistische Sache zu gewinnen und die Unterstützung nichtjüdischer Nationen für das zionistische Ziel zu erlangen: mit diesen Problemen sah sich der politische Zionismus bis zur Gründung des Staates Israel konfrontiert.

Jeder Jude, der das Baseler Programm anerkannte und den „Schekel" — einen jährlichen Beitrag, an den das Wahlrecht gebunden war --zahlte, gehörte der Organisation an. Die Zionistische Organisation untergliederte sich in Landesverbände und sogenannte „Sonderverbände" (Föderationen), die bestimmte ideologische Richtungen innerhalb der zionistischen Grundanschauung organisatorisch erfaßten.

Als besondere Instrumente der zionistischen Bewegung zum Erwerb des geeigneten Landes in Palästina und zur Finanzierung der Besiedlung wurden bereits auf dem ersten Kongreß ein Jüdischer Nationalfonds (Keren Kajemeth Lejisrael) und eine Jüdische Kolonialbank (The Jewish Colonial Trust Ltd.) projektiert und in den folgenden Jahren realisiert.

Die Politik der Herzl-Epoche und ihre Ergebnisse Die im Baseler Programm verwendete Formulierung „Heimstätte" anstelle des von Herzl offensichtlich gemeinten Staates war mit Rücksicht auf die Gegner des politischen Zionismus innerhalb der Bewegung und im Hinblick auf die türkische Regierung erfolgt, zu deren Herrschaftsbereich Palästina gehörte. Als erster Präsident der Zionistischen Organisation widmete sich Herzl in den Jahren nach dem Baseler Kongreß der von ihm als vorrangig erachteten Aufgabe, einen international garantierten „Charter" zur Kolonisierung Palästinas von der ottomanischen Regierung zu erwerben. Das zerrüttete, schwer verschuldete Otto-manische Reich war am Ende des 19. Jahrhunderts das Objekt imperialer Interessen der europäischen Großmächte. Den größten Einfluß hatten England, das zur Sicherung seiner See-und Landwege nach Indien den Bestand und die Unabhängigkeit des Reiches zu schützen suchte, und Deutschland, das erhebliche Kapitalien in den Bau von Eisenbahnen und andere Erschließungsprojekte investiert hatte.

Herzl versuchte zunächst, den deutschen Kaiser für seine Pläne zu gewinnen. Aber zwei Audienzen, die ihm der Monarch während seiner Palästina-Reise 1898 in Jerusalem und Konstantinopel gewährte, verliefen erfolglos, vor allem, weil Wilhelm II.den Protest Englands, Frankreichs und Rußlands befürchtete. Im Mai 1901 gelang es Herzl, beim Sultan Abdul Hamid II. empfangen zu werden, dem er als Gegenleistung für den begehrten „Charter" die Hilfe der Zionistischen Organisation bei der Sanierung der ottomanischen Staatsfinan-zen anbot. Obgleich der Herrscher ein gewisses Interesse an seinen Vorschlägen zeigte, gelang es Herzl weder den Widerstand der Hofkamarilla zu überspielen noch im geeigneten Moment die benötigten Geldmittel bereitzustellen. Nach diesen Fehlschlägen konzentrierte Herzl seine diplomatische Aktivität auf England, bereit, notfalls auch ein Territorium außerhalb Palästinas als Zwischenlösung zu akzeptieren. Im Oktober 1902 prüfte er in einem Gespräch mit dem britischen Außenminister Joseph Chamberlain die Möglichkeit, auf Zypern oder auf der nördlichen Sinai-Halbinsel Ansiedlungen zu errichten. In Verhandlungen mit dem Außenminister Lord Lands-down verdichtete sich der Sinai-Plan zwar zu einem konkreten Projekt, scheiterte dann aber am Widerstand des britischen Gouverneurs in Kairo.

Das rastlose Bemühen Herzls, nach dem vorläufigen Scheitern des Palästina-Plans auf irgendeinem Territorium einen „Charter" zu erlangen, wurzelte in seiner Überzeugung, daß die wachsende Not der jüdischen Massen in Osteuropa sofortige Hilfe von ihm erforderte.

„Die Judennot hat(te) ihn einst berufen, und in den sieben Jahren (war) ihr Ruf lauter, nicht leiser geworden." Die drängende Not der Juden Galiziens und Rumäniens, die, in die Massenarmut getrieben, zur Massenemigration gezwungen wurden, stand ihm vor Augen, als er mit Chamberlain über Zypern und die Sinai-Halbinsel verhandelte: „Now I have time to negotiate, but my people has not. They are starving in the pale. I must bring them an immediate help." Noch hoffte er, diese Hilfe in den Nachbargebieten Palästinas zu finden; aber schon ein Jahr später, als sich auch diese Hoffnung als aussichtslos erwies und das Ma-saker von Kischinew das Wiederaufflammen der Pogrome signalisierte, war er bereit, auch Uganda in Britisch-Ostafrika zu akzeptieren, das ihm Chamberlain angeboten hatte. „Wir müssen die Politik dieser Stunde machen", schrieb er im Juli 1903 an Nordau, „wir müssen eine Antwort auf Kischinew geben, und dies ist die einzige."

Doch gerade die Delegierten der osteuropäischen Juden, deren verzweifelte Lage Herzls Motiv war, das Uganda-Angebot zu akzeptieren, weigerten sich, dem bis dahin unangefochtenen Führer zu folgen. Auf dem VI. Kongreß im August 1903 traf Herzl auf die erbitterte Gegnerschaft der russischen Zionisten, die es ablehnten, das Uganda-Projekt auch nur ernsthaft zu prüfen. Herzl erklärte, daß Palästina das Endziel bleibe, daß Ostafrika nicht Zion ersetzen, sondern nur als „Kolonisationsaushilfe", als „Notstandsmaßregel" zur Abhilfe der drängenden Not der jüdischen Massen dienen sollte. In einer großen Rede assistierte ihm der angesehene Schriftsteller Max Nordau: Wenn auch Palästina das Endziel der Bewegung bleiben müsse, so könne Uganda doch ein „Nachtasyl" auf dem Wege dorthin, ein „Notbau für Hunderttausende unglücklicher Brüder" sein. Aber obgleich Herzl feierlich sein unerschütterliches Festhalten an Palästina beteuerte, gelang es ihm nicht, den Widerstand der russischen Zionisten zu überwinden. Zwar wurde mit knapper Mehrheit beschlossen, eine Untersuchungskommission nach Uganda zu entsenden, aber es bedurfte nicht erst ihres pessimistischen Berichts, um deutlich zu machen, daß der Judenstaat entweder in Palästina oder nirgendwo entstehen würde.

Die Auseinandersetzungen über das Ostafrika-Projekt beleuchteten die tiefe Kluft, die den Westjuden Herzl von den ostjüdischen Massen trennte. Auch er war im Kontakt mit der bestehenden nationaljüdischen Bewegung Ost-europas zum überzeugten Anhänger des Palästina-Gedankens geworden; dennoch hatte er nie die Überzeugung aufgegeben, die in seiner westlich-rationalen und politisch-staatlichen Denkweise wurzelte, daß vor allem so schnell wie möglich eine Zufluchtsstätte für die bedrängten Juden dort geschaffen werden mußte, wo sie geschaffen werden konnte. Dem religiös bestimmten spezifisch jüdischen Denken und Fühlen der Massen in den Gettos Ost-europas stand der Freidenker Herzl Zeit seines Lebens ohne wirkliches Verständnis gegenüber. Die Ostjuden waren ihm gefolgt, weil der politische Zionismus den Weg wies, die bei aller physischen Not stets lebendig gebliebene Zionssehnsucht mit modernen Mitteln zu verwirklichen. Die Sinai-Halbinsel hatten sie noch als einem „größeren" Palästina zugehörig verstehen können, als Herzl aber Ostafrika vorschlug, verweigerten sie bestürzt und befremdet die Gefolgschaft. Eine jüdische Nation ohne das „gelobte" Land, das ihnen als die tiefste Wurzel und das einzige Ziel ihres Glaubens bewußt geblieben war, erschien ihnen bedeutungslos.

Auf einer Sitzung des Aktionskomitees der Zionistischen Organisation im April 1904 konnte die drohende Abspaltung der russischen Zionisten unter ihrem Führer Ussischkin verhindert werden. Die endgültige Entscheidung über eine Kolonisation in Ostafrika wurde auf den VII. Kongreß vertagt, und Herzl erklärte in einem versöhnenden Schluß-B wort, er habe im Verlauf seiner zionistischen Arbeit eingesehen, „daß die Lösung für uns nur in Palästina liegt". So vermochte er die Einheit der zionistischen Bewegung zu wahren, er selbst aber war am Ende seiner rastlos aufgeopferten Kraft. Am 3. Juli 1904 starb Theodor Herzl im Alter von 44 Jahren in Endlach bei Wien.

Im Todesjahr Herzls war die Idee eines Juden-staates nicht mehr eine jeder praktikablen Chance bare Utopie. Bei der Eröffnung des I. Kongresses in Basel hatte Herzl einst die Aufgabe umrissen, „den Grundstein (zu) legen zu dem Haus, das dereinst die jüdische Nation beherbergen wird"; seither war nicht nur der Grundstein gelegt, sondern es waren die Fundamente erstellt worden, auf denen weiter-gebaut werden konnte. Innerhalb weniger Jahre war es Herzl gelungen, die politische Passivität des jüdischen Volkes zu überwinden, es politisch zu organisieren und wieder zum „handelnden Subjekt" zu erheben. Daß er aus vagen Anfängen eine politische Kralt formte, die von Ministern und Monarchen ernst genommen wurde und die —-wie das Uganda-Angebot zeigte — auf die Politik einer Großmacht einzuwirken begann, ist das historische Verdienst Theodor Herzls, den der Zionist Zangwill den „ersten jüdischen Staatsmann seit der Zerstörung Jerusalems" genannt hat.

Die Auseinandersetzungen über das Uganda-Projekt haben dazu beigetragen, die bis dahin von Herzl dominierte Zionistische Organisation zum Bewußtsein ihrer eigenen Kraft und ihres eigenen Willens zu führen, und sie damit befähigt, die nach dem Tod des überragenden Führers unvermeidliche Krise zu überwinden und dem gesteckten Ziel näherzukommen. Zunächst standen sich innerhalb der Bewegung zwei Fraktionen gegenüber: Die „Politiker", die wie Herzl die sofortige Lösung der Judenfrage mittels eines „Charters" für Palästina oder notfalls ein anderes Territorium in den Vordergrund stellten, und die „Praktiker", die ausschließlich Palästina als Ziel anerkannten und dabei der praktischen Kolonisationsarbeit den Vorrang gaben. Unter seinem neuen Präsidenten David Wolffsohn legte der VII. Zionistenkongreß (1905) das Uganda-Angebot zu den Akten und entschied sich „eindeutig und endgültig für den Kurs Palästina".

Gleichzeitig legten die Delegierten die künftige Marschroute fest; es wurde beschlossen, „daß parallel mit der politisch-diplomatischen Tätigkeit, als reale Unterlage und zur Stärkung derselben, entsprechend dem Punkt 1 des Baseler Programmes die systematische Ausgestaltung (der jüdischen) Positionen in Palästina erfolgen müsse". Chaim Weizmann, der spätere Führer der zionistischen Bewegung, formulierte die Forderung nach einer Synthese von politischem und praktischem Zionismus.

Auf dem VIII. Kongreß 1907 in Den Haag argumentierte er: „Wenn uns die Regierungen heute einen , Charter'ausstellen, wird es ein Stück Papier sein; anders, wenn wir in Palästina arbeiten, dann ist er geschrieben mit Schweiß und Blut, zusammengehalten durch einen Kitt, der sich nie lösen wird ... Unsere Stärke und unsere politische Überzeugungskraft wird proportional unserer Position in Palästina wachsen." Mit den Beschlüssen des VII. Zionistenkongresses und der von Weizmann geprägten Parole vom „synthetischen Zionismus" wurde die Aktivität der Zionistischen Organisation auf die praktische Kolonisationsarbeit in Palästina konzentriert. Zur Koordinierung der gesamten zionistischen Arbeit wurde 1908 in Jaffa ein dem Aktionskomitee direkt unterstelltes „Palästina-Amt" gegründet, das unter der Leitung des deutschen Soziologen Arthur Ruppin in den folgenden Jahren entscheidende Beiträge für die Kolonisierung des Landes leistete.

3. Die Anfänge der modernen jüdischen Besiedlung Palästinas

Bereits kurze Zeit nach seiner Gründung erwarb das Palästina-Amt aus Mitteln des Nationalfonds Grundstücke an der Stadtgrenze von Jaffa, auf denen es den neuen Wohnbezirk Achusat Bajit errichtete, aus dem sich später Tel Aviv als erste hebräische Stadt entwickelte. Gleichzeitig gründete das Amt eine besondere Organisation zum Erwerb und zur Verteilung und Entwicklung von Siedlungsland — die „Palestine Land Development Company". Diese Neuorientierung der zionistischen Arbeit gewann dadurch entscheidende Bedeutung, daß mit der Konsolidierung und dem wachsenden Einfluß der zionistischen Bewegung und infolge der erneuten Pogrome nach dem Scheitern der russischen Revolution eine neue Wanderbewegung vornehmlich osteuropäischer Juden nach Palästina einsetzte, der die ottomanischen Behörden keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzten. Diese Einwanderungswelle, die als zweite Aliya in die Annalen des Zionismus eingegangen ist, brachte in den Jahren von 1904 bis 1914 35 000 bis 40 000 Menschen in das Land. Sie rekrutierten sich zum größten Teil aus den Reihen jüdischer Sozialisten, die über die sozialrevolutionäre Bewegung Rußlands den Weg zum Zionismus gefunden hatten. Nach dem Fiasko der russischen Revolution kamen sie als „Vorkämpfer eines sozialistischen Zionismus" nach Palästina. Anders als die Kolonisten der Ersten Aliya waren sie in ihrer Mehrheit wirkliche Pioniere; mit einer dem Jischuw bis dahin unbekannten Arbeitsgesinnung schufen sie erst die Voraussetzungen der modernen jüdischen Besiedlung des Landes.

Im Verlauf der ersten von den Biluim eingeleiteten Aliya waren zwischen 1882 und 1903 etwa 25 000 Neueinwanderer nach Palästina gekommen. Die jüdisch-palästinensische Bevölkerung hatte sich dadurch auf 50 000 erhöht, was einem Anteil von 9 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. In diesem Zeitraum waren 19 Kolonien gegründet worden, in denen etwa 4500 jüdische Siedler lebten. Die Mehrzahl der Siedlungen stand unter der Kontrolle der „Jewish Colonization Association", die 1900 die Verwaltung der Rothschildschen Böden übernommen hatte. Mit ihrer Hilfe hatte sich die wirtschaftliche Lage der Kolonisten erheblich gebessert, aber gleichzeitig war unter ihrem Einfluß die Idee der Rückkehr zum Boden des Landes, unter der die Biluim einst angetreten waren, verblaßt. Für die Landarbeit beschäftigten die für die Verhältnisse des Landes wohlhabenden jüdischen Farmer im Gegensatz zur zionistischen Grundidee billige arabische Lohnarbeiter. Den Schutz ihrer Siedlungen gegen Überfälle der Beduinen übertrugen sie arabischen Wachmännern. Darüber hinaus waren die seit mehr als zwanzig Jahren bestehenden Kolonien überaltert. Häufig zogen die Söhne der Siedler in die Städte, nicht wenige verließen Palästina.

Dies war die Situation, als die jungen Idealisten der Zweiten Aliya ins Land kamen, erfüllt von der Idee, den Heimatboden ihres Volkes durch eigene Arbeit zu „erlösen". Ihr Nahziel sahen sie in der „Eroberung der Arbeit", der Ablösung der arabischen Arbeitskräfte in den bestehenden Kolonien. Aber infolge der extrem niedrigen Löhne, zu denen die Fellachen arbeiteten, und auf Grund der Tatsache, daß Arbeitsmöglichkeiten ohnehin nur während der Saison bestanden, konnte dieses Ziel nur zu einem geringen Teil verwirklicht werden. Der Zwang, Existenzmöglichkeiten zu schaffen, und der Wunsch, die eigenen sozialen Ideen zu verwirklichen, führte zur Gründung der ersten selbstverwalteten Gemeinschaftssiedlungen jüdischer Landarbeiter in Palästina. Entscheidende Hilfe leistete dabei das Palästina-Amt der Zionistischen Organisation in Jaffa. Im Jahre 1909 wurde eine erste Gruppe jüdischer Landarbeiter auf Böden des Nationalfonds südlich des Tiberias-Sees angesetzt. Das Palästina-Amt stattete die Siedler mit einem Lohnvertrag und dem notwendigen Betriebskapital aus und sicherte ihnen Selbstverwaltung zu. Die Gruppe organisierte die Verteilung der Arbeit selbständig, zahlte den für alle Mitglieder gleichen Lohn in eine gemeinsame Kasse und führte einen gemeinsamen Haushalt. Bereits nach einem Jahr erwirtschafteten die Pioniere den ersten Gewinn; der Lohnvertrag konnte abgebaut und die Siedlung verselbständigt werden. Die Siedler gaben ihrer Farm den Namen Degania; es war die erste Kwuza — die „Mutter der Kibbuzim". Nach dem Modetl der Kwuza von Degania errichteten die Pioniere der Zweiten Aliya mit Hilfe des Palästina-Amts auf Böden des Nationalfonds jene Kollektivsiedlungen, denen eine entscheidende Rolle bei der kolonisatorischen Erschließung und dem wirtschaftlichen Aufbau des Landes zukam. Unter härtesten Bedingungen wurde von diesen Gruppen der Boden des Landes in zähem Arbeitseinsatz „erobert". Indem sie versumpfte, durch Malaria verseuchte Täler trockenlegten, Wüstengebiete fruchtbar machten und verkarstete Einöden aufforsteten, schufen sie Voraussetzungen, ohne die der Staat Israel nicht hätte entstehen können. Von Einwanderern der Zweiten Aliya wurde in dieser Zeit auch die Keimzelle einer selbständigen jüdischen Militärorganisation geschaffen. Bereits 1907 hatte eine kleine Immigranten-gruppe eine Geheimorganisation mit dem Ziel der „Eroberung der Wache" gegründet, der es bald darauf gelungen war, in einigen Kolonien Galiläas, das besonders schwer von Raubüberfällen der Beduinen heimgesucht wurde, den Wachdienst zu übernehmen.

Zwei Jahre später wurde die Wächtervereinigung Haschomer gebildet: eine straff disziplinierte Eliteformation, die sich der gleichen Kampfmethoden wie die Beduinen bediente. Obgleich der Haschomer eine zahlenmäßig kleine Organisation blieb, gelang es ihm, die arabischen Wächter aus ihren Positionen zu verdrängen und unter schweren Opfern einen wirksameren Schutz der jüdischen Siedlungen zu gewährleisten. Darüber hinaus erfüllte er eine andere, vielleicht noch bedeutendere Funktion, indem er „der jungen Gemeinschaft erst das Bewußtsein der vollen . Normalität’ und das Vertrauen zu ihren eigenen Kräften (gab), das ihrer Selbstbehauptung unerläßlich war". Die Tradition des Haschomer ist bis in die Gegenwart in der israelischen Armee lebendig geblieben.

In den Jahren der Zweiten Aliya gelang nicht nur der Ausbau und die Festigung der jüdischen Positionen in Palästina, sondern auch die für die Neuformung der jüdischen Nation entscheidende Wiederbelebung der eigenen Sprache. Unter dem Einfluß des Spracherneuerers Ben-Yehuda und auf Grund der Kompromißlosigkeit eines großen Teils der Neueinwanderer in dieser Frage setzte sich das Hebräische allmählich als Umgangssprache durch.

In Tel Aviv wurde das erste hebräische Gymnasium gegründet; in der Mehrzahl der höheren Schulen, die von Hilfsorganisationen europäischer Juden getragen wurden, blieb aber zunächst noch Französisch, Deutsch oder Englisch alleinige Unterrichtssprache. Die Wende zeichnete sich 1913 ab, als der „Hilfsverein der Deutschen Juden" in Zusammenarbeit mit anderen jüdischen Organisationen auf Böden des Nationalfonds in Haifa eine Technische Hochschule errichtete und es ablehnte, Hebräisch als Unterrichtssprache einzuführen. Nach dieser Entscheidung trat die Mehrzahl der Lehrer und Schüler aller jüdischen Schulen in den Streik, mit dem Ergebnis, daß mit der finanziellen Hilfe der Zionistischen Organisation zahlreiche hebräische Schulen gegründet wurden und an der Technischen Hochschule das Hebräische als Unterrichtssprache eingeführt wurde. So wurde bereits zu dieser Zeit die Basis eines hebräischen Schulsystems gelegt, das von der Grundschule bis zur Universität alle Ausbildungsebenen umfaßte.

Für die innere Entwicklung der zionistischen Bewegung war es von grundlegender Bedeutung, daß sich in dieser Periode sowohl in der Zionistischen Organisation als auch in der jüdisch-palästinensischen Bevölkerung die ersten parteipolitischen Fronten bildeten. Innerhalb der Zionistischen Organisation traten in der Organisationsform eines Sonderverbandes unter dem Namen Misrachi die religiösen Zionisten auf, die „die Verwirklichung des Baseler Programms auf der Grundlage und im Sinne des traditionellen jüdischen Gesetzes" erstrebten. In der Föderation der Poale Zion (Zionsarbeiter) verbanden sich ihre radikal-sozialistischen Gegner, die „eine Synthese von Zionismus und klassenkämpferischem Sozialismus" zu verwirklichen suchten. Innerhalb des Jischuw organisierten sich die Einwanderer der Zweiten Aliya vor allem in den Arbeiterparteien Poale Zion und Hapoel Hazair (Der junge Arbeiter). Während die Poale Zion, ein Zweig des Sonderverbandes der Zionistischen Organisation, zunächst fest auf dem Boden der marxistischen Lehre standen, lehnten die gemäßigten Sozialisten der Hapoel Hazair den Klassenkampf ab und traten für die uneingeschränkte Solidarität aller jüdischen Kräfte in Palästina ein. Das Ziel des Zionismus bestand für die Anhänger der Hapoel Hazair in der „Erringung der Einheit von Land, Volk, Arbeit und Sprache"; die wichtigste Voraussetzung seiner Verwirklichung sahen sie in der „Eroberung aller Berufe durch jüdische Arbeit".

Trotz ihrer ideologischen Differenzen kamen beide Verbände in den wesentlichen praktischen Fragen meist zu gleichen Ergebnissen. Unter dem Zwang der elementaren Probleme, denen sie sich in Palästina gegenübergestellt sahen, haben sich beide Parteien im Laufe der Jahre immer mehr genähert und so zu der innenpolitisch bestimmenden Kraft des Jischuw entwickelt. Auch die Anfänge einer jüdisch-palästinensischen Gewerkschaftsbewegung wurden schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geschaffen. In gemeinsamer Arbeit beider Parteien entstanden 1911 in Judäa und 1912 in Galiläa die ersten Arbeitervereine; sie vereinigten sich zu einem jüdischen Landarbeiterverband, der bereits gewerkschaftliche Funktionen erfüllte. Im Jahre 1912 wurde die Arbeiterkrankenkasse Kupath Cholim geschaffen. Ein Jahr später gründeten die Poale Zion den „Arbeiterfonds", der in Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen Arbeitsvermittlungs-und Informationsbüros erichtete, Arbeiterküchen unterhielt und Volksbildungsarbeit leistete. Mit der Organisierung der selbständigen Landwirte Judäas und Galiläas im Jahre 1913 bildeten sich gleichzeitig die ersten Ansätze einer jüdischen Unternehmerschaft.

Die Zeit von 1904 bis 1914 brachte dem Zionismus zwar keine spektakulären diplomatisch-politischen Erfolge, aber in Palästina wurden in diesem Jahrzehnt, „ausgehend von kleinen und kleinsten Einheiten, alle Fundamente gelegt, auf denen der Staat Israel errichtet wurde und auf denen er nach seiner Etablierung weiterbauen konnte".

4. Die Balfour-Deklaration und das Palästina-Mandat

Die zionistische Politik 1914— 1917

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges lebten in Palästina etwa 85 000 Juden in einer Gesamtbevölkerung des Landes von 700 000. Die Zahl der landwirtschaftlichen Kolonien hatte sich auf 43 erhöht; sie lagen in ihrer Mehrheit auf Böden des Nationalfonds, die 1914 einen Umfang von 47 000 Dunam (1 Dunam = 1000 m 2) erreicht hatten. Der Kriegsbeitritt der Türkei an der Seite der Mittelmächte im November 1914 hatte für den Jischuw katastrophale Folgen. Die meisten palästinensischen Juden waren ausländische Staatsbürger. Bei Kriegsbeginn hob die türkische Regierung die soge-nannten „Kapitulationen" auf und entzog ihnen damit den Rechtsschutz, den die europäischen Mächte ihren Staatsangehörigen in Palästina gewährten. Mit Ausweisungen, Folterungen und Todesurteilen demonstrierte die türkische Militärverwaltung unter Djemal Pascha ihre Entschlossenheit, die Zionisten Palästinas als feindliche Volksgruppe auszurotten. Im April 1917 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung von Jaffa und Tel Aviv deportiert. Als im gleichen Jahr die im Dienste Englands stehende jüdische Spionageorganisation Nili entdeckt wurde, reagierten die Türken mit neuen Deportationen in die Wüsten Syriens und Anatoliens und mit neuen Verhaftungen, Folterungen und Hinrichtungen. Zu den Opfern dieser Verfolgungen kamen jene, die durch Seuchen, die kaum bekämpft wurden, ihr Leben verloren oder den Hunger-tod starben. In den Kriegsjahren war der Jischuw weitgehend von seinen wesentlichen Versorgungsquellen abgeschlossen; die Ausfuhr der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wurde verhindert und die Spendenzufuhr, von der ein Großteil der jüdischen Bevölkerung in den „heiligen Städten" Jerusalem, Hebron, Sa-fed und Tiberias abhängig war, unterbrochen. So dezimierten Verfolgung, Krankheit und Hunger die jüdische Bevölkerung; als die britische Armee unter General Allenby das Land im Jahre 1918 bis zu seiner nördlichen Grenze erobert hatte, lebten nur noch 56 000 Juden in Palästina.

Die Führungsgremien der Zionistischen Organisation wahrten während des Krieges strikte Neutralität; ein Exekutivbüro wurde in Kopenhagen eröffnet, die Zentrale des National-fonds nach Den Haag verlagert. Im Gegensatz zur offiziellen zionistischen Politik engagierten sich schon kurze Zeit nach Ausbruch des

Krieges einzelne Zionisten in den Ländern der Entente und eine oppositionelle Minderheit unter den palästinensischen Juden politisch und militärisch auf Seiten der Alliierten Mächte. Auf Initiative des russischen Juden Josef Trumpeldor, eines ehemaligen Offiziers der zaristischen Armee, wurde aus den Reihen der jüdischen Palästinaflüchtlinge in Ägypten ein Freiwilligenkorps zur Frontversorgung, das „Zion Mule Korps", gebildet. Die aus 600 Mann bestehende Einheit nahm 1915 bis 1916 an dem Gallipoli-Unternehmen teil, das die von den Mittelmächten gesperrten Meerengen sprengen und den Russen Hilfe bringen sollte. Nach dem Scheitern der Expedition wurde das Korps aufgelöst. 1917 war es Vladimir Jabotinsky, der sich seit 1914 bei den Engländern um die Aufstellung einer „Jüdischen Legion" bemüht hatte, gelungen, seinen Plan bei der britischen Regierung durchzusetzen. Er bildete aus in England lebenden russischen Juden das erste Regiment, dem sich bald darauf ein zweites anschloß, das sich aus jüdischen Freiwilligen aus den USA, Kanada und Argentinien rekrutierte. Im Februar 1918, zwei Monate nachdem die britische Armee den südlichen Teil des Landes eroberte und Jerusalem besetzt hatte, erreichten die jüdischen Truppen Palästina, wo palästinensische Juden aus den eroberten Landesteilen ein drittes Regiment bildeten und damit die Gesamt-stärke der Jüdischen Legion auf 5000 Mann erhöhten. Die Jüdische Legion kam noch bei den letzten Kämpfen um Palästina zum Einsatz und beteiligte sich anschließend an der militärischen Besetzung des Landes.

Von größerer Bedeutung für das Ziel der zionistischen Bewegung war die intensive politische Aktivität, die eine kleine Gruppe führender Zionisten während des Krieges in England entfaltete. In ihrem Mittelpunkt stand das Mitglied des großen „Aktions-Komitees" der Zionistischen Organisation, der Dozent für Chemie an der Universität Manchester, Chaim Weizmann (1874— 1952), der schließlich zur zweiten großen Führergestalt der modernen jüdischen Geschichte wurde.

Geboren und ausgewachsen in einer jüdischen Umwelt, in dem Städtchen Motoi in der Nähe von Pinsk im Westen Rußlands, erzogen in einem Elternhaus, dem jüdisches Leben als selbstverständlich galt, war Weizmann „nach Herkunft und Wesen der Antipode Herzls". Seit seiner Schulzeit mit den Ideen der Cho- veve Zion vertraut, schloß er sich wahrend seines Studiums in Darmstadt und Berlin der zionistischen Bewegung an. Als junger Privatdozent in Genf stellte er seine Zeit und seine Kraft in den Dienst für die Zionistische Organisation; als Verfechter der praktischen Palästina-Arbeit stritt er in den innerpolitischen Auseinandersetzungen der Bewegung auf der Seite der Opposition. 1904, im Todesjahr Herzls, ais die zionistische Bewegung einen Tiefpunkt, erreicht und er selbst sich in den Kämpfen für seine Überzeugung nahezu aufgerieben hatte, „flüchtete" er nach England, um seine vernachlässigte wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen und zu warten, „bis die Möglichkeiten für eine fruchtbare (zionistische) Arbeit wieder gegeben waren". Nach einer kurzen Zeit, nachdem er an der Universität Manchester ein Laboratorium und bald darauf auch einen Lehrauftrag bekommen hatte, nahm er seine zionistische Arbeit jedoch wieder auf. Ausgehend von der Überzeugung, daß England der stärkste potentielle Alliierte des Zionismus sei, warb er bei prominenten englischen Juden und führenden nichtjüdischen Politikern um Verständnis für die Ablehnung des Uganda-Projekts und um weitere Unterstützung für die zionistischen Bestrebungen.

Nach dem Ausbruch des Krieges setzte Weizmann offen auf die Karte der Alliierten Mächte und trennte sich von den Neutralisten der zionistischen Exekutive. Er trat in nähere Verbindung mit Arthur Balfour, den er bereits 1906, zur Zeit des Uganda-Konflikts, für den Zionismus interessiert hatte. Da Balfour zu dieser Zeit nicht der Regierung angehörte, war es von größerer Bedeutung, daß es Weizmann durch die Vermittlung des Herausgebers des Manchester Guardian, C. P. Scott, gelang, mit zwei einflußreichen Mitgliedern des britischen Kabinetts in Kontakt zu kommen. Im November 1914 wurde Weizmann gemeinsam mit Tschlenow und Nahum Sokolow — zwei führenden Zionisten des Kontinents, die sich ihm angeschlossen hatten — von den Ministern Lloyd George und Herbert Samuel empfangen. Beide Politiker zeigten Interesse an den zionistischen Bestrebungen und beide erklärten ihre Bereitschaft, sich für deren offizielle Unterstützung durch die britische Regierung einzusetzen. Damit war eine neue Offensive zionistischer Diplomatie zur Verwirklichung des im Baseler Programm formulierten Zieles in dem gleichen Vorfeld eröffnet worden, in dem einst Herzl die ersten Erfolge erzielt hatte. Weizmanns Verhandlungsposition wurde im Kriegsjahr 1916 erheblich gestärkt, als ihm im Auftrag der Munitionsabteilung der Admiralität mit der Entwicklung eines Verfahrens zur Massenproduktion von synthetischem Azeton eine entscheidende Erfindung für die britische Rüstungsindustrie gelang. Dieser wissenschaftliche Erfolg gab ihm Gelegenheit, mit den führenden Persönlichkeiten der britischen Politik in Kontakt zu kommen und sie für die Repatriierung der Juden nach Palästina zu interessieren. Als Direktor der Laboratorien der britischen Admiralität in London kam Weizmann vor allem mit Balfour, der als Nachfolger Winston Churchills Erster Lord der Admiralität geworden war, und mit Lloyd George, der das Amt des Vorsitzenden des Munitionsausschusses bekleidete, in enge Verbindung und hatte damit ständigen Kontakt mit dem prozionistischen Flügel im britischen Kabinett.

Im Oktober 1916 wurden die zionistischen Forderungen in einem Dokument präzisiert, das der britischen Regierung übermittelt wurde und als Basis für künftige Verhandlungen dienen sollte. Das „Programm für eine neue Regierung Palästinas in Übereinstimmung mit den Bestrebungen der zionistischen Bewegung" ging von der Annahme aus, daß Palästina unter die Oberhoheit Großbritanniens oder Frankreichs oder unter die gemeinschaftliche Kontrolle beider Regierungen kommen würde. Es sah die Anerkennung einer gesonderten jüdischen Nationalität oder nationalen Einheit in Palästina, deren Autonomie in ausschließlich jüdischen Angelegenheiten und die Errichtung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Organisation zur Kolonisation Palästinas durch jüdische Siedler vor. Im Dezember 1916 wurde Lloyd George als Nachfolger Asguiths Premierminister und Führer der zweiten Koalitionsregierung; Lord Balfour trat an die Spitze des Außenministeriums. Damit waren die Schlüsselpositionen im britischen Kabinett mit Befürwortern der zionistischen Bestrebungen besetzt. Als zwei Monate später auch Sir Mark Sykes, Sekretär des Kriegskabinetts und Leiter der Abteilung für Angelegenheiten des Mittleren Ostens im Außenministerium, für den Zionismus gewonnen wurde, traten die Bemühungen Weizmanns in ihre entscheidende Phase.

Unter geschickter Ausnutzung der politischen Konstellation gelang es Weizmann im Verband mit einer kleinen Gruppe gleichgesinnter Zionisten, im Verlauf des kritischen Kriegsjahrs 1917 jenes erste Ziel zu erreichen, für das Theodor Herzl sieben Jahre lang vergeblich gekämpft hatte. Während es Na-hum Sokolow in Paris und Rom gelang, die Zustimmung der mit Großbritannien verbündeten Mächte einzuholen und eine Sympathie-erklärung des Vatikans zu erreichen, konnte in den Vereinigten Staaten Präsident Wilson durch die Intervention des Oberrichters Brand-eis, des Führers der amerikanischen Zionisten, zur Unterstützung einer offiziellen prozionistischen Erklärung der britischen Regierung bewogen werden.

Die Balfour-Deklaration und ihre politische Problematik Im Juni 1917 erklärte Balfour seine Bereitschaft, von den Zionisten Vorschläge für eine offizielle Erklärung der britischen Regierung zur Unterstützung des Zionismus entgegen-zunehmen. Einen Monat später wurde Balfour ein Entwurf übermittelt, der den Grundsatz der Anerkennung Palästinas als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes enthielt und als wesentliches Mittel zu seiner Realisierung die Gewährung der inneren Autonomie für die Juden Palästinas und das Recht auf unbeschränkte jüdische Einwanderung und Kolonisation des Landes vorsah. Antizionistische Einwände, die von einflußreichen englischen Juden erhoben wurden, und Bedenken einzelner Kabinettsmitglieder gegen die starke Betonung des nationalen Moments führten zwar zu einer Modifizierung dieses Entwurfs, konnten die offizielle Anerkennung der zionistischen Bestrebungen durch die britische Regierung jedoch nicht mehr verhindern. Sie wurde am 2. November 1917, wenige Monate vor dem endgültigen Zusammenbruch der 400jährigen otto-manischen Herrschaft über Palästina, in der Form eines Briefes des Außenministers Lord Balfour an Lord Rothschild, dem Oberhaupt einer der prominentesten jüdischen Familien Englands, erteilt. In dieser vom Kabinett geprüften und gebilligten „Sympathie-Erklärung für die jüdisch-nationalen Bestrebungen" hieß es: „Seiner Majestät Regierung betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird die größten Anstrengungen machen (will use their best endeavours), um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei klar verstanden wird, daß nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und die politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Lande beeinträchtigen könnte."

Dieser als Balfour-Deklaration berühmt gewordene Brief beinhaltete weniger, als Weizmann und Sokolow angestrebt hatten. Nicht von der „Wiederherstellung Palästinas als der jüdischen nationalen Heimstätte", sondern von der „Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina" war die Rede. Trotz der elastischen, zudem mit einem doppelten Vorbehalt versehenen Formulierung bedeutete dieses offizielle Versprechen einer europäischen Großmacht einen Staatsakt von weitreichender historischer Bedeutung: „Der Akt eines Staates, der den Weg zum Entstehen eines anderen eröffnete". Die Balfour-Deklaration wurde als erster großer politischer Erfolg zionistischer Diplomatie von der Judenheit begeistert begrüßt; als die britischen Truppen unter General Allenby wenige Wochen später den südlichen Teil Palästinas besetzt und Jerusalem erobert hatten, wähnten sich nicht wenige Zionisten am Ziel ihrer Hoffnungen.

Die Motive, die das britische Kabinett 1917 zu seiner prozionistischen Haltung führten, lassen sich nicht in einer Formel zusammenfassen. Zweifellos waren bei Männern wie Balfour und Lloyd George, Smuts und Cecil humanitäre und religiöse Motive in hohem Maße mitbestimmend; andererseits waren es aber fraglos auch nüchterne Erwägungen britischer Realpolitik, die eine Unterstützung der zionistischen Bestrebungen empfahlen. Das Kriegsglück schien die Alliierten in jenem Herbst 1917 verlassen zu haben. Rumänien war überrannt, das russische Herr kriegsmüde und demoralisiert, die Italiener bei Caporetto geschlagen, und noch hatte keine amerikanische Armee das europäische Schlachtfeld betreten. In dieser Situation sah die britische Regierung in einer weltweiten Unterstützung der Entente durch die Judenheit und insbesondere durch die einflußreichen amerikanischen Juden eine wesentliche Hilfe für die Sache der Alliierten.

Welche Bedeutung die kriegführenden Mächte der Gewinnung der jüdischen öffentlichen Meinung zuordneten, zeigte die Eile, mit der die Mittelmächte in einer Erklärung der Regierung des Deutschen Reiches, die der Balfour-Deklaration ähnlich war, dem Zionismus ihr „volles Verständnis" und ihre „wohlwollende Unterstützung" bescheinigten. Neben propagandistischen Erwägungen haben Motive strategischer Art die britische Entscheidung gefördert, wobei sie allerdings in den Beratungen des Kabinetts eine geringere Rolle spielten als in den Planungsstäben einzelner Ministerien. Die Sicherung des Suezkanals und der Territorien, die den Weg nach Indien tangierten, war seit Jahrzehnten ein zentrales Ziel britischer Außenpolitik. Die Idee einer nationalen Heimstätte der Juden in Palästina, die die Anwesenheit britischer Schutztruppen erforderte und rechtfertigte, entsprach den britischen imperialen Interessen. Sie bot darüber hinaus das einzige Mittel, trotz der Anti-Annexionspolitik des amerikanischen Verbündeten die britische Einflußsphäre auf Palästina auszudehen.

Die in der Balfour-Deklaration verwendete Formulierung „nationale Heimstätte", ein der staatsrechtlichen Terminologie unbekannter Begriff, war in deutlicher Anlehnung an das Baseler Programm gewählt worden und bedurfte deshalb für die Zionisten keiner Definition. Auf dem Baseler Kongreß hatte Max Nordau den Begriff mit Rücksicht auf die otto-manische Regierung als diplomatische Umschreibung für den Judenstaat entworfen, und Theodor Herzl hatte Zeit seines Lebens bei aller Flexibilität in Einzelfragen niemals einen Zweifel daran gelassen, daß er das Ziel der zionistischen Bestrebungen in der Errichtung eines jüdischen Staates in des Wortes wahrer Bedeutung sah. An diesem Endziel der zionistischen Bewegung hatte sich seither nichts geändert, wenn auch in der Umgebung Weizmanns in London, aus Gründen der diplomatischen Taktik, nicht selten gegenteilige oder zumindest mißverständliche Erklärungen abgegeben wurden. Weizmann selbst vertrat die Auffassung, daß der Staat der Juden nur langsam und stufenweise, mit System und Geduld errichtet werden könnte. In klarer Erkenntnis der politischen Interessenlage und in realistischer Einschätzung der quantitativen Stärke des Zionismus und seiner Position in Palästina forderte er nicht unmittelbar den Judenstaat, sondern die Möglichkeit zu seinem allmählichen Aufbau.

Es steht außer Zweifel, daß in jenem Herbst 1917 ein starker Flügel im britischen Kabinett die Hoffnung der zionistischen Führer teilte, daß sich eine „nationale Heimstätte" in Palästina in der Zukunft zu einem jüdischen Staat entwickeln würde. Eine Royal Commission unter dem Vorsitz Lord Peels, die zwei Jahrzehnte später die Bedeutung der Balfour-Deklaration prüfte und ihre Hintergründe bis ins Detail untersuchte, sprach deutlich aus, daß „die Worte , die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina'das Ergebnis eines Kompromisses waren zwischen jenen Ministern, die die Errichtung eines jüdischen Staates beabsichtigten, und jenen, bei denen das nicht der Fall war". Lloyd George äußerte als Zeuge vor der Kommission, daß es beabsichtigt war, „that when the time arrived for according representative institutions to Palestine, if the Jews had meanwhile responded to the opportunity afforded them by the idea of a national hörne and had become a definite majority of the inhabitants, then Palestine would thus become a Jewish Commonwealth". In den ersten Jahren nach der Veröffentlichung der Balfour-Deklaration vertraten führende Staatsmänner des britischen Empire, unter ihnen Lord Balfour und General Smuts, Viscount Cecil, Herbert Samuel und Winston Churchill, in öffentlichen Erklärungen ähnliche Auffassungen.

Zwar hatten andere Regierungsstellen in den ersten Kriegsjahren mit anderen Einschränkungen auch den Arabern in geheimen Versprechungen Aussicht auf Palästina gemacht;

dennoch glaubte die britische Regierung 1917, mit dem in der Balfour-Deklaration ausgesprochenen Vorbehalt— „daß nichts geschehen darf, was die bürgerlichen und religiösen Rechte nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina . . . beeinträchtigen könnte" — etwaige Widerstände der arabischen Bevölkerung beschwichtigen zu können. Zur Zeit der Balfour-Deklaration teilten britische Kabinettsminister mit den Zionisten nicht nur die Hoffnung auf einen jüdischen Staat, sondern in unterschiedlichem Ausmaß auch „einen erstaunlichen Optimismus, daß die Umwandlung Palästinas von einem moslemischen, arabisch sprechenden Land in ein jüdisches, hebräisch sprechendes Land auf friedlichem Wege vollendet werden könnte". Wie sich bald nach dem Ende des Krieges erweisen sollte, wurzelten diese Auffassungen in einer gefährlichen Unterschätzung des erwachenden arabischen Nationalismus; sie übersahen die weitgehende Inkompatibilität der in der Balfour-Deklaration gegebenen Versprechungen und standen in einem latenten Gegensatz zu jenen, von anderen Regierungsstellen eingegangenen Verpflichtungen, die zumindest in ihren Interpretationsmöglichkeiten der Balfour-Deklaration widersprechen konnten. Die weitgehend unkoordinierte Doppelgleisigkeit britischer Nahost-Politik im Ersten Weltkrieg, die in anderer Form während der gesamten Dauer des Mandats fortgesetzt wurde, hat der spätere Premierminister des ersten Labourkabinetts, Ramsay MacDonald, im Jahre 1922 mit den Worten charakterisiert: „Wir haben die Araber zur Revolte gegen die Türkei ermutigt, indem wir ihnen ein Königreich mit Einschluß Palästinas versprachen. Zur gleichen Zeit haben wir den Juden für ihre Hilfe versprochen, ihnen Palästina zur Verfügung zu stellen, und gleichzeitig haben wir mit Frankreich im geheimen das Sykes-Picot-Abkommen geschlossen, welches eben dieses Territorium in zwei Teile teilt, das unser Generalgouverneur von Ägypten den Arabern versprach."

Diese doppelzüngige Politik barg bereits einen Keim jener blutigen Auseinandersetzungen, die den Frieden im Vorderen Orient auch nach dem Ende des Krieges verhinderten. Die Geister, die man im Kriege gerufen hatte, wurde man nach dessen siegreichem Ausgang nicht wieder los. Die arabische Nationalbewegung, während des Weltkrieges von den Alliierten entfacht und genutzt, forderte nach der Einstellung der Kampfhandlungen den ihr versprochenen Lohn.

Die Balfour-Deklaration und der arabische Nationalismus Die Forderungen der Araber stützten sich vor allem auf einen Briefwechsel aus dem Jahre 1915 zwischen dem britischen Hochkommissar in Ägypten Sir McMahon und Hussein, Scherif und Emir von Mekka und erblicher Beschützer der moslemischen heiligen Stätten von Mekka und Medina, in dem der Scherif als Gegenleistung für eine Kriegshilfe der arabischen Stämme gegen den Sultan die Unabhängigkeit der arabischen Länder zugesagt erhielt. Aber abgesehen davon, daß sich nur etwa 2600 Araber auf Seiten der Alliierten an den Kampfhandlungen beteiligten und sich darunter kaum palästinensische Araber befanden, hatte McMahon die „nicht rein arabischen Gebiete" westlich von Damaskus, Homs, Hama und Aleppo von seiner Zusage ausgenommen und darüber hinaus den Vorbehalt formuliert, daß die britischen Versprechungen nur insoweit Gültigkeit haben sollten, als sie nicht die Interessen des französischen Verbündeten verletzten. Die britische Regierung lehnte es unter Berufung auf diese Einschränkung ab, der späteren arabischen Interpretation der McMahon-Korrespondenz zu folgen, wonach Palästina zu jenen Ländern gehörte, denen die Unabhängigkeit versprochen worden war. Im Jahre 1922 wies der damalige Kolonialminister Winston Churchill die Ansprüche der Araber mit der pauschalen und durch den Text des Briefes nicht zu rechtfertigenden Behauptung zurück, daß „ganz Palästina westlich des Jordan . . . von den Verpflichtungen McMahons ausgenommen (war)". Die politische Situation wurde noch mehr kompliziert durch jenes Geheimabkommen zwischen Großbritannien und Frankreich, das im März 1916 von Sir Mark Sykes und M. Picot abgeschlossen worden war und für die Zeit nach dem Kriege die beiderseitigen Einflußsphären im Nahen Osten festlegte. Frankreich, das ohnehin nicht durch die Versprechungen McMahons gebunden war, glaubte auf Grund dieses Abkommens seine Kontrolle über Syrien auch auf Palästina ausdehnen zu können, das unter der ottomani-schen Herrschaft Bestandteil Syriens gewesen war. In der ersten Zeit nach der Zerschlagung des Ott omanischen Reiches wandte sich die arabische Nationalbewegung in dem Kampf um das ottomanische Erbe weniger gegen die Bestrebungen der Juden in Palästina als gegen die imperialistische Politik der Engländer und Franzosen im gesamten Nahen Osten. Für eine kurze Zeit schien sogar eine Verständigung zwischen der arabischen und der jüdischen Nationalbewegung möglich zu sein.

Als erstes praktisches Ergebnis der Balfour-Deklaration war eine Zionist Commission gebildet worden, die ein Bindeglied zwischen dem Jischuw und den britischen Militärbehörden in Palästina darstellen sollte. Die Kommission stand unter der Leitung Chaim Weizmanns und traf im April 1918 in Palästina ein. Weizmann, der die Hoffnung Herzls, für sein „Volk ohne Land" in Palästina ein „Lan ohne Volk" zu linden, seit langem als Illusion erkannt hatte, sah eine der wesentlichsten Aufgaben der „Zionist Commission" in der Herstellung freundlicher Beziehungen zu den Arabern, die mit 700 000 Einwohnern die überwältigende Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung stellten.

Noch im Jahre 1918 kam es in Transjordanien zu einer freundschaftlichen Unterredung zwischen Weizmann und dem damals bedeutendsten Wortführer des arabischen Nationalismus, Emir Feisal, dem Sohn des Scherifen Hussein von Mekka, in deren Verlauf Feisal den zionistischen Zielen mit Wohlwollen begegnete und eine jüdisch-arabische Zusammenarbeit auf der kommenden Friedenskonferenz begrüßte. Das Ergebnis der Verhandlungen wurde in einem Abkommen fixiert, das, im Januar 1919 von beiden Repräsentanten unterzeichnet, die Verwirklichung der Balfour-Deklaration vorsah; insbesondere sollten „alle Maßnahmen . . . getroffen werden, die geeignet sind, die Einwanderung von Juden in Palästina in großem Maßstab zu ermuntern und zu fördern und so schnell wie möglich ihre Einschichtung durch ländliche Siedlungen und Bebauung des Bodens durchzuführen". Im März 1919, während seines Aufenthalts bei der Pariser Friedenskonferenz, wiederholte Feisal in einem Brief an den amerikanischen Zionisten Felix Frankfurter seine Zustimmung zu den zionistischen Zielen und sein Bekenntnis zur arabisch-jüdischen Freundschaft: „Wir Araber, insbesondere die Gebildeten unter uns, blicken mit tiefster Sympathie auf die zionistische Bewegung . . . Wir wollen die Juden aufs herzlichste daheim willkommen heißen . . . Wir arbeiten zusammen für einen neugestalteten und wiederauflebenden Nahen Osten, und -unsere beiden Bewegungen ergänzen einander. Die jüdische Bewegung ist national und nicht imperialistisch. Unsere Bewegung ist national und nicht imperialistisch; und es gibt in Syrien Raum für uns beide. Ich glaube sogar, daß keine ohne die andere wirklichen Erfolg haben kann."

Diese Harmonie zwischen arabischer und jüdischer Diplomatie war von kurzer Dauer. Schon wenige Monate später entflammte der jüdisch-arabische Gegensatz, der sich sehr bald zu blutigen Auseinandersetzungen steigerte und der bis in die Gegenwart den Frieden und die Sicherheit der Völker des Nahen Ostens gefährdet. Es ist denkbar, daß dieser folgenschwere Konflikt hätte vermieden werden können, wenn es Hussein und Feisal gelungen wäre, ihre groß-arabischen Pläne zu verwirklichen. Daß dies nicht möglich war, lag nicht zuletzt an der Weigerung Frankreichs, in seinem Einflußbereich den britischen Wechsel auf die Unabhängigkeit der arabischen Länder zu honorieren. Auf der Pariser Friedenskonferenz, wo Feisal die arabische Unabhängigkeit zu erreichen erhoffte, wurde er von Clemenceau ignoriert und von dem an den Vorbehalt Mc-Mahons gebundenen Lloyd George mit dem bedeutungslosen Versprechen arabischer Autonomie unter geplanten britisch-französischen Mandaten vertröstet. Im Verlauf der Konferenz hatte Frankreich seinen Anspruch auf Palästina aufgeben müssen, um die britische Unterstützung für seine Forderungen gegenüber Deutschland zu erhalten. Britische Mandate wurden für Palästina und Mesopotamien (Irak), ein französisches für Syrien vorgesehen. Durch die Haltung der Alliierten in seinen Hoffnungen enttäuscht und in seinem Stolz verletzt, kehrte der Emir von Paris nach Damaskus zurück, wo er sich von dem „Arab National Committee" zum König von Syrien und Palästina proklamieren ließ. Doch schon nach wenigen Wochen wurde Feisal von französischen Besatzungstruppen aus Syrien vertrieben; ihre Bajonette setzten dem Traum von einem großarabischen Königreich ein Ende, noch bevor er reale Gestalt annehmen konnte.

Mit dem Scheitern der großarabischen Pläne Feisals gewannen die lokalen Führer des arabischen Nationalismus in Syrien und Palästina den beherrschenden Einfluß. Ihre gegen die Balfour-Deklaration gerichtete Propaganda stützte sich auf jene umstrittene Interpretation der McMahon-Korrespondenz; sie wurde gefördert durch die Haltung der britischen Militärverwaltung in Palästina, deren Beamten die Balfour-Deklaration ignorierten. Die britischen Offiziere und Beamten mochten die Absicht haben, eine unparteiliche Politik gegenüber Arabern und Juden zu verfolgen, in der Praxis nahmen sie jedoch in ihrer Mehrheit eine ausgesprochen feindliche Haltung gegenüber den zionistischen Bestrebungen ein.

Diese Auflehnung gegen die Politik der Zentralregierung ging soweit, daß sich Lord Balfour im August 1919 genötigt sah, die Militär-verwaltung in einer detaillierten Instruktion an die offizielle Politik der britischen Regierung zu erinnern und mit Nachdruck deren Durchführung zu verlangen. Der Außenminister wies in seiner Note darauf hin, „daß die amerikanische und französische Regierung gleichfalls der Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina ihre Unterstützung zugesagt haben und dieses Faktum den arabischen Führern gegenüber bei jeder Gelegenheit zu betonen sei."

Die Mahnung der Regierung in London hatte jedoch nur vorübergehende Wirkung; bereits wenige Monate später zeigte die ungehinderte arabische Agitation ihre ersten Ergebnisse. Im März 1920 inszenierte das Nationalkomitee in Damaskus, das ebenso gegen ein britisches Mandat über Palästina opponierte wie es sich den französischen Ansprüchen auf Syrien widersetzte, bewaffnete Überfälle auf die isolierten jüdischen Siedlungen Tel-Chai und Metulla im äußersten Norden Palästinas, bei denen sieben Juden, unter ihnen Joseph Trumpeldor, den Tod fanden. Nach antijüdischen Demonstrationen in Jerusalem und Jaffa folgten im April 1920 drei Tage anhaltende Angriffe bewaffneter Araber auf die jüdischen Wohnbezirke in der Jerusalemer Altstadt, die Juden und Arabern Tote und Verwundete kosteten. Obgleich die Militärbehörden von den Juden vor möglichen arabischen Übergriffen gewarnt worden waren, hatten sie es ab-gelehnt, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen; statt dessen wurden die Mitglieder der in aller Eile gebildeten jüdischen Selbstschutzorganisation verhaftet und ihr Organisator, Jabo-tinsky, von einem Militärgericht zu langjähriger Freiheitsstrafe verurteilt.

Das Palästinamandat und die britische Interpretation der Balfour-Deklaration Die Unruhen in Palästina beschleunigten die lange verzögerten Entscheidungen der Siegermächte über die politische Zukunft des Landes. Auf der Konferenz von San Remo beschloß der Oberste Rat der Alliierten am 24. April 1920, die Balfour-Deklaration zum Bestandteil des Friedensvertrages mit der Türkei zu erheben und Großbritannien das Völkerbundsmandat über Palästina zu übertragen. Damit waren die Voraussetzungen zur Ablösung der Militärverwaltung durch eine Zivilregierung geschaffen. Trotz des Widerstandes der Armeeführung wurde der Jude Herbert Samuel, ehemaliger Kabinettsminister und einer der Führer der Liberalen Partei, von der britischen Regierung zum ersten Hochkommissar von Palästina ernannt. Die Ernennung dieses für seine prozionistische Haltung bekannten Politikers wurde von den Juden mit Begeisterung ausgenommen; doch schon bald nach seinem Amtsantritt am 1. Juli 1920 sollte sich der Jubel als verfrüht erweisen.

Samuel mochte persönlich ein überzeugter Anhänger des Zionismus sein, aber die Juden scheinen übersehen zu haben, daß er nicht als Vertreter der zionistischen Bewegung, sondern als Repräsentant der britischen Regierung nach Palästina kam. In dieser Eigenschaft hatte er eine Politik zu verfolgen, die weder prozionistisch noch proarabisch sein konnte, sondern in erster Linie proenglisch sein mußte. Großbritannien aber sah die vorrangige Aufgabe seiner Palästinapolitik in der Förderung der britischen imperialen Interessen, die vor allem die Aufrechterhaltung von Ruhe und Stabilität im Vorderen Orient verlangten. Solange und soweit sich die Errichtung des jüdischen Nationalheims mit dieser Forderung vereinbaren ließ, war die britische Regierung um dessen Förderung bemüht; sobald sich aber arabische Opposition in blutigem Aufruhr erhob, der von britischen Truppen niedergeschlagen werden mußte, sah sie ihre imperialen Interessen durch die Entfremdung der arabischen Bevölkerung nicht nur Palästinas, sondern des gesamten Nahen Ostens bedroht. Dem gleichzeitigen Druck der Araber und der Juden ausgesetzt, suchte sie das Dilemma zu lösen durch den gegenseitigen Ausgleich beider Forderungen, die im Kern nicht miteinander zu vereinbaren waren. Indem die britische Politik sich nach beiden Seiten beugte, wurde sie keiner gerecht. Sie machte sich „die Juden zu Feinden und die Araber zu Gegnern"; beide Völker mußten sehr bald erfahren, daß — wie es Palmerston einst formulierte — „England keine dauernde Freundschaft, sondern nur dauernde Interessen kennt“.

Bereits die ersten Entscheidungen des Hoch-kommissars demonstrierten diese Politik des Ausbalancierens der divergierenden Kräfte in aller Deutlichkeit. Die Einwanderungsquote wurde erhöht und der bei den Jerusalemer Unruhen inhaftierte Jabotinsky befreit; gleichzeitig wurden arabische Extremisten begnadigt, einige betont antizionistisch eingestellte Beamten in die Verwaltung übernommen und der fanatische Judenfeind Amin el Husseini zum Mufti von Jerusalem ernannt. Die Ernennung Husseinis erwies sich bald als eine der folgenschwersten Entscheidungen der Mandatsregierung. Der Mufti, dem als geistlichem Oberhaupt der palästinensischen Araber beträchtliche Fonds zur Verfügung standen, nutzte das Amt und die finanziellen Mittel vor allem dazu aus, antijüdische Demonstrationen zu inszenieren und Mordaktionen gegen Juden und mit ihm verfeindete arabische Führer zu organisieren.

Die vorrangige Orientierung der britischen Palästinapolitik an imperialen Interessen zeigte sich auch, als Großbritannien eine Änderung des Entwurfs der Mandatssatzung in dem Sinne durchsetzte, daß die Balfour-Deklaration keine Anwendung auf das östlich des Jordans gelegene Gebiet Palästinas finden sollte und darüber hinaus Anfang 1921 Palästina dem Zuständigkeitsbereich des Kolonial-ministeriums zuordnete. Diese Aktionen schufen die Voraussetzungen, die es dem Kolonial-minister Winston Churchill im März 1921 ermöglichten, für den Bruder Feisals, Abdallah, ein unter britischer Kontrolle stehendes Emirat über Transjordanien zu errichten — eine Entscheidung, die jenem Ziel, die Ruhe und die Stabilität der politischen Verhältnisse im Nahen Osten zu erhalten, dienen sollte. Nach der Vertreibung Feisals aus Syrien war Abdallah mit Guerillatruppen in das Ostjordanland eingedrungen, um von dort aus Syrien zurückzuerobern. Großbritannien verhindert dieses seine Interessen bedrohende Unternehmen dadurch, daß es Abdallah mit dem Emirat über ein Gebiet „entschädigte", das ursprünglich zum Geltungsbereich der Balfour-Deklaration gehörte. Diese Politik des „Appeasement", die die Araber mäßigen sollte, zeigte jedoch den gegenteiligen Effekt, indem sie der arabischen Opposition gegen die Balfour-Deklaration neuen Auftrieb verlieh.

Im Mai 1921 kam es in . Jaffa aus nichtigem Anlaß zu blutigem Aufruhr. Araber, die sich durch eine jüdische Massenversammlung, deren Absichten sie mißdeuteten, bedroht fühlten, entfesselten blutige Unruhen, in deren Verlauf 47 Juden und 48 Araber den Tod fanden. Dieser schwere Zwischenfall veranlaßte Sir Herbert Samuel, eine zeitweilige Unterbrechung der jüdischen Einwanderung zu verfügen. Erst nach dieser Entscheidung, die den Hochkommissar das Vertrauen der jüdischen Bevölkerung kostete, wurde eine Kommission unter dem Vorsitz von Thomas Haycraft, des obersten Richters Palästinas, mit der Untersuchung der Ursachen des Aufruhrs beauftragt. Der Bericht der Kommission stellte fest, daß die tiefere Ursache der Unruhen in arabischen Beschwerden über die zionistischen Bestrebungen und deren Unterstützung durch die britische Regierung zu suchen sei; insbesondere wurde auf die hohe Zahl der in der Palästina-Verwaltung beschäftigten Juden und auf die ausgedehnten Machtbefugnisse der „Zionist Commission" verwiesen.

Eine Delegation palästinensischer Araber trug dem Kolonialministerium in London ähnliche Klagen vor und wiederholte die Forderung nach Annullierung der Balfour-Deklaration, die sie schon im März 1921 bei einem Besuch Winston Churchills in Jerusalem erhoben hatte. Die Araber fanden vor allem bei konservativen Parlamentariern und bei der einflußreichen Northcliffe-Presse aktive Unterstützung. Im Juni 1921 verabschiedete das Oberhaus mit großer Mehrheit einen Antrag, der auf eine Modifizierung des Mandatsentwurfs abzielte, deren Verwirklichung einer Zurücknahme der Balfour-Deklaration gleichgekommen wäre-, dies wurde jedoch dadurch verhindert, daß die Antizionisten der Konservativen Partei bei der anschließenden Abstimmung im Unterhaus eine entscheidende Niederlage erlitten.

Wenige Wochen später, am 24. Juli 1921, wurde nach dreijährigem Ringen um seine Gestaltung das Palästina-Mandat, das in seiner Präambel den Text der Balfour-Deklaration wiederholt, vom Völkerbund ratifiziert. Es trat am 23. September 1923 in Kraft. In „Anerkennung der historischen Verknüpftheit (historical connection) des jüdischen Volkes mit Palästina" erklärte es den Mandatar Großbritannien dafür verantwortlich, „daß das Land unter solche politische, administrative und wirtschaftliche Bedingungen gestellt, wird, welche die Errichtung der jüdischen nationalen Heimstätte . . . und die Entwicklung von Selbstverwaltungsinstitutionen sowie die Wahrung der bürgerlichen und religiösen Rechte aller Einwohner Palästinas, ohne Unterschied der Rasse und Religion, sichern."

Der Ratifikation des Mandats war am 30. Juni 1921 eine Interpretation der Balfour-Deklaration durch die britische Regierung vorausgegangen. Das aut eine Inititative Sir Herbert Samuels zurückzuführende „Churchill White Paper" definierte die beabsichtigte Mandats-politik Großbritanniens: „Wenn gefragt wird, was mit der Entwicklung des jüdischen Nationalheims in Palästina gemeint ist, so ist die Antwort, daß dies nicht bedeutet, daß den Einwohnern Palästinas insgesamt eine jüdische Nationalität auferlegt werden soll, sondern es bedeutet die Weiterentwicklung der bestehenden jüdischen Gemeinschaft unter Beihilfe von Juden in anderen Teilen der Welt . . . Damit aber diese Gemeinschaft die besten Aussichten auf freie Entwicklung hat . . ., ist es wesentlich, daß sie weiß, daß sie in Palästina kralt eigenen Rechts ist und nicht kraft Duldung." Darüber hinaus wurde in dem Dokument erklärt, daß sich die Einwanderung nach der „ wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit des Landes" zu richten habe. Das „Churchill White Paper", das nach Auffassung der britischen Regierung einen fairen Kompromiß zwischen den divergierenden Forderungen darstellte, sollte dem Ziel dienen, die Araber zu beruhigen, ohne die den Juden gegebenen Versprechungen zu verletzen. Aber indem es miteinander zu vereinbaren suchte, was im Kern einander widersprach, enttäuschte es die einen wie die anderen. Die Erklärung vermochte die arabischen Nationalisten, die einen Kompromiß gar nicht wollten, nicht zu mäßigen, und sie konnte nicht verhindern, daß die Zionisten eine Kursänderung der britischen Politik zu erkennen glaubten. Chaim Weizmann, seit 1921 Präsident der Zionistischen Organisation, sah in dieser Interpretation eine Verwässerung der Balfour-Deklaration; bei aller Enttäuschung war er aber bereit, das Dokument zu akzeptieren, weil es das Recht der Juden bekräftigte, eine nationale Heimstätte in Palästina zu errichten. Die erbitterte Kritik vieler Zionisten am „Churchill White Paper" übersah, was der politische Realist Weizmann erkannte: daß es die Ratifikation des Mandats durch den Völkerbund erleichterte, das Recht zur Kolonisation Palästinas anerkannte und trotz aller Einschränkungen den Weg nicht verschloß, das zionistische Ziel in Palästina zu vollenden.

5. Der Aufbau des jüdischen Nationalheims in Palästina

Die Schaffung der für den künftigen Staat grundlegenden Institutionen Nachdem mit der Balfour-Deklaration und dem Palästina-Mandat wesentliche politische und rechtliche Voraussetzungen für die Errichtung des jüdischen Nationalheims geschaffen worden waren, stellte sich die vorrangige Aufgabe, den praktischen Aufbau durch Massen-einwanderung und ökonomische Entwicklung des Landes zu deren Absorbierung voranzutreiben. Das Mandat verpflichtete die britische Palästina-Verwaltung, die „jüdische Einwanderung zu erleichtern und eine geschlossene Siedlung von Juden auf dem Lande mit Einschluß der nicht für öffentliche Zwecke erforderlichen Staats-und Brachländereien zu fördern". Es sollte sich jedoch bald erweisen, daß Großbritannien nicht bereit war, dieser Verpflichtung in der von den Juden erhofften Weise zu entsprechen. Die britische Palästina-Verwaltung hat die Masseneinwanderung und den Landerwerb, die beiden zur Verwirklichung des jüdischen Nationalheims zentralen Aufgaben, zunehmend erschwert und schließlich ganz zu verhindern gesucht.

In den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mußte die zionistische Bewegung außerdem die bittere Erfahrung machen, daß die nach ihren politischen Erfolgen allgemein erwartete Masseneinwanderung zunächst ausblieb. In den Jahren der Dritten.

Aliya von 1919 bis 1923 kamen nur etwa 35 000 Juden in das Land, darunter nicht wenige, die während des Krieges von den Türken aus Palästina vertrieben worden waren. Wie bei den vorangegangenen Aliyas kam der größte Teil der Neueinwanderer aus Rußland. Es waren junge zionistische Sozialisten, Mitglieder der während des Krieges von Joseph Trumpeldor gegründeten Vereinigung des Chaluz (Pionier), die infolge der Revolutionskämpfe und der sie begleitenden Pogrome ihr Wirtsland verlassen hatten, um sich in Palästina eine neue Existenz aufzubauen. Als in Sowjetrußland kurze Zeit nach Kriegsende der Zionismus zur „konterrevolutionären Bewegung" erklärt wurde und sich um die drei Millionen russischen Juden der Ring der Zwangsisolierung schloß, verebbte der Zustrom aus diesem Kräftereservoir der zionistischen Bewegung.

Obgleich sich die Zahl der jüdisch-palästinensischen Bevölkerung bis 1924 nur auf etwa 90 000 erhöhte, was einem Anteil von 12 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach, erzielte die landwirtschaftliche Kolonisation erhebliche Fortschritte. Die bedeutendste Leistung, die von der chaluzischen Einwanderung in diesen Jahren vollbracht wurde, war die Erschließung und Besiedlung des versumpften und von Malaria verseuchten Emek Jesreel, der Ebene von Esdraelon, die sich vom Karmelberg bis zu den Hügeln Untergaliläas erstreckt und die Haifabucht mit dem Jordantal verbindet. Die ersten Nachkriegsjahre, die nur eine bescheidene Erhöhung des jüdischen Bevölkerungsanteils brachten, waren für den Jischuw vor allem eine Zeit der inneren Konsolidierung.

Das Mandatsstatut hatte eine „Jewish Agency for Palestine" als Vertretung des jüdischen Volkes gegenüber der Mandatsverwaltung vorgesehen. Bis zu deren formeller Gründung im Jahre 1929 wurde die Zionistische Organisation von der britischen Mandatsregierung als Jewish Agency anerkannt. Obgleich die Jewish Agency nicht mit Regierungsgewalt ausgestattet war, entwickelte sie sich sehr bald zu einem außerordentlich leistungsfähigen und einflußreichen Organ, -sie mobilisierte die zur Finanzierung des Aufbauwerks erforderlichen Geldmittel, verhandelte mit der britischen Regierung über alle mit der Entwicklung des jüdischen Nationalheims zusammenhängenden Fragen und vertrat die Interessen des Jischuw vor den Organen des Völkerbundes. Ihre Palästina-Arbeit war vor allem „von vier grundlegenden Erwägungen bestimmt: Sicherheit, Ausbau der Landwirtschaft und der Industrie, Vergrößerung des Siedlungsbezirkes und Einrichtung aller administrativen Institutionen, welche die jüdische Bevölkerung zu einer unabhängigen Einheit machen konnten". Als Finanzierungsinstrumente dienten ihr der bereits im Jahre 1905 geschaffene Nationalfonds, Keren Kajemeth, und der im Jahre 1920 gegründete Aufbaufonds, Keren Hayes-sod.

Die Hauptaufgabe des Nationalfonds bestand darin, von den arabischen Großgrundbesitzern, denen etwa 40 Prozent der kulturfähigen Ländereien und last. 25 Prozent des gesamten Landes gehörten, Böden aufzukaufen, die dadurch in das unveräußerliche Nationaleigentum des jüdischen Volkes übergingen und gegen billigen Zins an jüdische Einzelsiedler oder Kollektive in Erbpacht gegeben wurden. Bis zum Ende des Mandats erwarb der Nat ionalfonds inPalä-stina etwa 1000 km-’ Land, auf dem 279 landwirtschaftliche Siedlungen errichtet worden waren. Neben dem Bodenerwerb betrieb der Nationalfonds die Aufforstung des nach Jahrhunderten des Raubbaus nahezu waldlosen Landes. Dem Aufbaufonds oblag vor allem die Finanzierung der Einwanderung und deren ökonomische Eingliederung in den Jischuw. In den ersten Nachkriegsjahren finanzierte er darüber hinaus in hohem Maße? das Erziehungswesen und den Aufbau leistungsfähiger Gesundheitsund Wohlfahrtseinrichtungen. In Zusammenarbeit beider Institutionen wurden zudem öffentliche Arbeiten zur Be-und Entwässerung und zur verkehrsmäßigen Erschließung des Landes finanziert. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges intensivierte der Keren Kajemeth Spenden in Höhe von über 13 Millionen Pfund Sterling in Palästina, während der Keren Hayessod für seine Aufgaben bis zum Ende des Mandats 19, 3 Millionen Pfund unter der Judenheit sammeln konnte.

Noch unter der britischen Militärverwaltung gewannen die Bestrebungen der jüdisch-palästinensischen Bevölkerung nach innerei Autonomie konkrete Gestalt. Im April 1920 fanden die Wahlen zur ersten Abgeordnetenversammlung des Jischuw, der Assefat Haniw-charim, statt, die ihrerseits den Waad Leumi als offizielle Repräsentanz der palästinensischen Juden wählte. In der ersten Assefat Haniwcharim stellten die beiden großen Arbeiterparteien Achdud Haawoda und Hapoel Hazair — die sich 1930 zur Mapai vereinigten — mit zusammen 111 Abgeordneten die stärkste politische Kraft, gefolgt von der in sich gespaltenen Rechten, die über insgesamt 67 Mandate verfugte, und den Religiösen, die 64 Sitze erhielten — eine politische Konstellation, die während der gesamten Dauer des Mandats keine entscheidende Änderung erfuhr.

Die wesentlichste Aufgabe der jüdischen Selbstverwaltungskörperschaften bestand in der Förderung des Landesaufbaus; sie entschieden in Fragen des Erziehungswesens, des Gesundheitsdienstes und der Wohlfahrtspflege und regelten Probleme der Kolonisation, der Einwanderung und des Selbstschutzes. Die Finanzierung ihrer Aufgaben erfolgte durch den National-und den Aufbaufonds und zu einem geringeren Teil durch Steuern und steuerähnliche Abgaben, die sie von der jüdischen Bevölkerung forderten. Von besonderer Bedeutung war die aktive Hilfe der amerikanischen Frauenorganisation Hadassah, die innerhalb weniger Jahre einen vorbildlichen Gesundheits-und Hygienedienst aufbaute und finanzierte, der Krankenhäuser, Polikliniken, Laboratorien und Mütterberatungsstellen in den meisten größeren Orten des Landes umfaßte.

Ende des Jahres 1920 gründeten die verschiedenen Gruppen der jüdisch-palästinensischen Arbeiterbewegung in gemeinsamer Aktion den allgemeinen Gewerkschaftsbund, die Hista- druth, der sehr schnell zur stärksten politisch-wirtschaftlichen Organisation des Jischuw wurde. Die Histadruth, die bald den überwiegenden Teil der jüdischen Bevölkerung Palästinas umfaßte, entwickelte sich zu einer Institution, für die sich in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung kein Beispiel findet. Sie erfüllte gleichzeitig die Funktionen einer Zentralgewerkschaft und einer Unternehmerorganisation, einer Arbeitsvermittlung und eines Pionierinstituts. Die Histadrutherrichtete Verkehrs-und Industrieunternehmen, Baugesellschaften und Konsumgenossenschaften, gründete Import-und Exportorganisationen und baute eine Krankenversicherung auf, die mit eigenen Kliniken die medizinischen Einrichtungen der Hadassah ergänzte und nahezu die gesamte Bevölkerung gesundheitlich betreute. Neben diesen für die Errichtung des Nationalheims grundlegenden Leistungen schuf und unterhielt sie ein weitverzweigtes Netz von Schulen, Einrichtungen zur Erwachsenenbildung, Theatern, Verlagen und Zeitungen und entwickelte sich damit zum wichtigsten Kulturträger des Jischuw.

Im Gründungsjahr der Histadruth wurde auch mit dem Aufbau einer jüdischen Verteidigungsorganisation begonnen, die einen wirksamen Schutz des Jischuw gegen Übergriffe arabischer Terroristen gewährleisten sollte. Die bewaffneten Überfälle auf jüdische Siedlungen und die blutigen Unruhen in Jerusalem hatten gezeigt, daß die britischen Militärbe-hörden nicht in der Lage oder nicht willens waren, ausreichende Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, und die zahlenmäßig kleine Wächtervereinigung Haschomer, die zum Schutz der landwirtschaftlichen Kolonien gegen Raubüberfälle der Beduinen organisiert worden war, nicht ausreichte, um die jüdische Bevölkerung gegen die politisch motivierten Überfälle der Araber zu schützen. Nach den Jerusalemer Unruhen wurde aus den Mitgliedern des Haschomer, der sich zu diesem Zweck im Mai 1920 auflöste, der Kader einer geheimen miliz-artigen Verteidigungsorganisation rekrutiert, der Haganah, die im Verlauf der Mandatszeit — von der Histadruth finanziert — zum schlagkräftigen militärischen Instrument der politischen Repräsentanz des Jischuw ausgebaut wurde. Die Haganah, der schließlich die Mehrheit der Jugend des Jischuw angehörte, konnte als Untergrundorganisation nicht wie eine reguläre Armee ausgerüstet und organisiert werden; dennoch bildeten ihre hervorragend ausgebildeten und disziplinierten Einheiten eine Verteidigungsorganisation von ständig steigendem militärischem Wert.

Der Aufbau dieser für den künftigen Staat grundlegenden Institutionen war von einem langsamen, aber stetigen Anwachsen der jüdischen Bevölkerung begleitet. AIs sich der Antisemitismus in den neuen Nationalstaaten Osteuropas verstärkte und gleichzeitig die Vereinigten Staaten von Amerika, die bis dahin der Hauptmasse der aus Osteuropa verdrängten Juden Zuflucht gewährt hatten, die Aufnahme jüdischer Emigranten erheblich beschränkten, erhielt die Einwanderung nach Palästina neuen Auftrieb. Die 1924 einsetzende Vierte Aliya brachte bis 1931 etwa 82 000 Immigranten, vorwiegend polnische Juden, ins Land und erhöhte den jüdischen Bevölkerungsanteil auf 17 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Neueinwanderer hatten in ihrer überwiegenden Mehrheit in Polen als Handwerker und Kleinhändler dem Mittelstand angehört. Durch die antijüdische Wirtschaftspolitik der polnischen Regierung aus ihren wirtschaftlichen Stellungen verdrängt, emigrierten sie nach Palästina, um sich dort eine neue Existenz zu schaffen. Aber im Gegensatz zu den Pionieren der vorangegangenen Aliyas kamen sie ohne jede Vorbereitung in das Land und waren zu einem freiwilligen Wechsel ihres Berufes und ihres Lebensstils nicht bereit. Das Gros der Vierten Aliya ließ sich als Handwerker und Händler in den Städten nieder, vor allem in Tel Aviv, das sich sehr schnell von einem kleinen Vorort Jaffas zu einer aufblühenden Stadt entwickelte, die 1926 bereits 45 000 Einwohner zählte. Diese Neueinwanderer, die über eigenes Kapital verfügten, leisteten mit dem Aufbau einer Kleinindustrie und mit der Ausweitung des Handels einen wesentlichen Beitrag zur ökonomischen Entwicklung des Landes.

Die einseitige Konzentration auf diese Wirtschaftszweige führte jedoch bald zu einer Überfülle von Betrieben, denen kein ausreichender Markt gegenüberstand. Diese aufgeblähte Mittelstandswirtschaft war einseitig von der Konjunktur in der Bauindustrie abhängig; sie konnte sich nur so lange halten, wie die Bautätigkeit in den Städten durch den ständigen Zustrom neuer Einwanderer, die mit eigenem Kapital ihre Häuser bauten, unvermindert anhielt. Als 1926 infolge der Inflation in Polen der Kapitalzustrom aussetzte und die Bautätigkeit aufhörte, kam es zu einer schweren Wirtschaftskrise, die im Februar 1927 mit 8000 Arbeitslosen ihren Höhepunkt erreichte und dazu führte, daß von den 62 000 Einwanderern, die in den Jahren von 1924 bis 1926 nach Palästina kamen, 11 500 das Land wieder verließen. Die Jewish Agency versuchte, durch Zahlung von Erwerbslosenunterstützung die Auswirkungen der Krise zu mildern. Doch schon 1928 gelang es den Selbstverwaltungskörperschaften des Jischuw in Zusammenarbeit mit der Mandatsregierung, die Arbeitslosigkeit durch umfangreiche öffentliche Arbeiten, Sanierung der Industrie und beträchtlichen Ausbau der Zitruspflanzungen zu überwinden. Die Unterstützungszahlungen der Jewish Agency konnten eingestellt werden. Die Zahl der Rückwanderer ging noch im gleichen Jahr so weit zurück, daß sie durch die der Neueinwanderer ausgeglichen wurde.

Die Verschärfung des jüdisch-arabischen Gegensatzes und die Reaktion der britischen Mandatsmacht Der wirtschaftlichen Depression folgte wenig später mit einer neuen Welle arabischer Agitation die politische Krise. Die blutigen Unruhen der Jahre 1920 und 1921 hatten sich seither nicht wiederholt. Die arabischen Großgrundbesitzer, die oft mit den Wortführern des arabischen Nationalismus identisch waren, hatten mit den Zionisten ausgezeichnete Geschäfte gemacht, indem sie dem Nationalfonds unbesiedelte und als unbebaubar geltende Böden zu überhöhten Preisen verkauften. Durch die ökonomische Entwicklung des Landes hatte sich der Lebensstandard auch der arabischen Bevölkerung verbessert. Vor allem aber hatte der wider Erwarten überaus langsame Anstieg des jüdischen Bevölkerungsanteils die Hoffnung der Araber genährt, daß sich der Jischuw niemals über den Status einer Minorität erheben würde. Diese Hoffnung wurde gedämpft, als die jahrelangen Bemühungen Weizmanns, dem Aufbauwerk durch die Einbeziehung von Nichtzionisten in die Jewish Agency eine breitere Unterstützung zu schaffen, konkrete Gestalt annahmen.

Im Sommer 1929 wurde auf dem XVI. Kongreß der Zionistischen Organisation in Zürich die erweiterte Jewish Agency als paritätisch aus Zionisten und Nichtzionisten zusammengesetztes Organ konstituiert. Damit war eine wesentliche Voraussetzung gegeben, um für den Ausbau der jüdischen Positionen in Palästina die Unterstützung der nichtzionistischen jüdischen Gemeinden in Europa und Amerika, vor allem aber der finanzstarken amerikanischen Hilfsorganisationen zu gewinnen. Die Araber sahen in dieser Entwicklung den Versuch der Weltjudenheit, die Verwirklichung des Nationalheims zu forcieren und eine jüdische Masseneinwanderung nach Palästina einzuleiten. Gleichzeitig erhielt der arabische Nationalismus in Palästina erheblichen Auftrieb durch die Erfolge der Nationalbewegungen in anderen arabischen Ländern.

Dem ägptischen Nationalismus machten die Engländer 1927 beträchtliche Konzessionen. Transjordanien wurde 1928 von der britischen Regierung mit geringfügigen Einschränkungen als unabhängiger Staat anerkannt, und im gleichen Jahr wurde deutlich, daß auch der Irak innerhalb kurzer Zeit die volle Selbständigkeit erhalten würde. Sogar die Franzosen arrangierten sich mit dem arabischen Nationalismus und beauftragten 1928 eine syrische konstituierende Versammlung mit der Ausarbeitung einer nationalen Verfassung. Allein der Status Palästinas blieb unverändert, während jedes seiner Nachbarländer wesentliche Fortschritte auf dem Wege in die souveräne Unabhängigkeit erzielte.

Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen setzte eine neue Welle nationalistischer Agitation der palästinensischen Araber ein. Der Mufti schürte die Flamme des religiösen und nationalen Fanatismus gegen die Juden mit der absurden Behauptung, sie wollten den Muslimen ihre heiligen Stätten in Jerusalem nehmen. In der letzten Augustwoche des Jahres 1929 kam es nach Zwischenfällen an der jüdischen Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt zu blutigen Unruhen, die sich wie ein Lauffeuer ausbreiteten und schon am nächsten Tag den größten Teil des Landes erfaßten. Innerhalb einer Woche wurden 133 Juden getötet und 39 verletzt, weit über hundert Wohnhäuser niedergebrannt und sechs isolierte Kolonien, die vor den angreifenden Arabern geräumt werden mußten, geplündert und zerstört. Die schwersten Opfer forderten die Ausschreitungen in den alten Städten Hebron und Safed, wo Juden und Araber seit Jahrhunderten in friedlicher Nachbarschaft gelebt hatten. Die dort stationierte Polizei bestand aus Arabern; sie sahen tatenlos zu, wie ihre moslemischen Brüder 80 wehrlose jüdische Bürger — Männer, Frauen und Kinder — ermordeten. Während der monatelangen Agitation hatte es der Hochkommissar Sir John Chancellor versäumt, die britischen Polizeikräfte zu verstärken; weniger als dreihundert Mann standen vor der unlösbaren Aufgabe, die Ruhe im Lande zu wahren. Als der Aufruhr losbrach, weigerte sich die Mandatsregierung aus Sorge vor einem Bürgerkrieg, die jüdischen Siedler zu bewaffnen und in den Städten jüdische Polizisten einzusetzen. Die Haganah aber war teilweise entwaffnet worden und zu jener Zeit ohnehin noch zu schwach, um Angriffen dieses Ausmaßes wirksam begegnen zu können. Erst eilig aus Ägypten herangeführte britische Truppen konnten das Massaker beenden und den Aufruhr niederschlagen. 116 Araber fanden bei der Bekämpfung der Unruhen den Tod, darunter sechs durch einen jüdischen Gegenangriff an der Stadtgrenze von Jaffa.

Zur Untersuchung der Ursachen des Aufruhrs entsandte die Labour-Regierung Ramsay McDonalds eine Kommission nach Palästina, der neben dem Vorsitzenden Sir Walter Shaw je ein Vertreter der drei großen britischen Parteien angehörte. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß „ein Nationalheim für die Juden, in dem Sinne, in dem es gemeinhin verstanden wurde, unvereinbar sei mit den Forderungen der arabischen Nationalisten, während die Befriedigung der Ansprüche des arabischen Nationalismus die Erfüllung des den Juden gegebenen Versprechens unmöglich machen würde". Neben dieser Inkompatibilität der beiden Nationalismen nannte die Shaw-Kommission die Sorge der Araber um ihre wirtschaftliche Zukunft als tiefere Ursache der Unruhen. Im einzelnen verwies ihr Bericht auf die jüdische Einwanderung und die jüdischen Landkäufe, die zur Vertreibung der arabischen Fellachen von ihrem Land und zur steigenden Arbeitslosigkeit unter der arabischen Bevölkerung führen würden.

Die wenig später nach Palästina entsandte Sachverständigenkommission, die unter der Leitung Sir John Hope Simpsons den gesamten Fragenkomplex der Einwanderung, Besiedlung und Erschließung des Landes zu prüfen hatte, bestätigte die Thesen der Shaw-Kommission. Ihr im Oktober 1930 veröffentlichter Bericht stellte fest, daß durch die jüdische Kolonisation eine große Zahl arabischer Bauern von ihrem Land vertrieben worden sei und, abgesehen von den bereits in jüdischem Besitz befindlichen Bodenreserven, „bei den gegenwärtigen Wirtschaftsmethoden der Araber kein Flecken Land für die landwirtschaftliche Besiedlung durch neue Einwanderer verfügbar" sei.

Gleichzeitig mit dem Bericht Sir John Hope Simpsons gab der britische Kolonialminister Lord Passfield ein amtliches Weißbuch heraus, das auf den Untersuchungsergebnissen beider Kommissionen basierte. Das „PassfieldWithe-Paper" wiederholte deren Auffassung, daß die Einwanderungs-, Landkaufund Siedlungspolitik der Zionistischen Organisation bereits die berechtigten Interessen der palästinensischen Araber verletzt habe und eine Fortsetzung dieser Politik ihnen weiteren Schaden zufügen würde. Mit dem Hinweis auf die in der Balfour-Deklaration gegebene „doppelte Zusicherung", die der britischen Regierung die Verpflichtung auferlege, auch die Interessen der nichtjüdischen Bevölkerung Palästinas zu schützen, kündigte das Weißbuch Maßnahmen zur Restriktion der jüdischen Einwanderung und weiterer jüdischer Landkäufe an.

Das „Passfield-White-Paper" erregte erbitterte Kritik bei den Zionisten, die darin eine Barriere gegen den weiteren Ausbau des jüdischen Nationalheims sahen, die sie als flagrante Verletzung des Völkerbundmandates deuteten. Chaim Weizmann, der stets eine enge Kooperation mit Großbritannien propagiert und praktiziert hatte, stellte demonstrativ sein Amt als Präsident der Jewish Agency zur Verfügung — ein Schritt, der auch von den nichtzionistischen Mitgliedern gebilligt wurde. Es begann „ein aufreibender Kampf gegen das Kolonialamt", bei dem die Zionisten von der parlamentarischen Opposition im britischen Unterhaus und von prominenten nicht-jüdischen Persönlichkeiten — unter ihnen die noch lebenden Mitglieder des Kriegskabinetts Lloyd George und General Smuts — in der britischen Öffentlichkeit unterstützt wurden.

Der vereinte Druck ihrer politischen Gegner und die gezielte Propagandaaktion der Zionistischen Organisation veranlaßte die Regierung zu einer „authentischen Interpretation"

des Weißbuches, die dessen umstrittenste Passagen revidierte.

Am 13. Februar 1931 wurde im Unterhaus ein Brief des Premierministers MacDonald an Weizmann verlesen, der ausdrücklich die sich aus dem Mandat ergebenden Verpflichtungen Großbritanniens gegenüber dem jüdischen Volk bestätigte und klarstellte, daß die Zusicherung, die wirtschaftlichen Interessen der Araber zu schützen, nicht ein Einfrieren des jüdischen Nationalheims auf dem gegenwärtigen Stand seiner Entwicklung bedeute. War bereits mit dem MacDonald-Brief „das Schlimmste abgewehrt", so erzielte die Zionistische Organisation einen weiteren Erfolg damit, daß der Premierminister nach Konsultationen mit Chaim Weizmann Sir Arthur Wauchope zum neuen Hochkommissar für Palästina ernannte.

Nach Weizmanns späterer Aussage hatte das Land während der Amtszeit Wauchopes die „größten Fortschritte" zu verzeichnen; er stand den Bestrebungen des Jischuw wohlwollend gegenüber, setzte einer Verstärkung der jüdischen Einwanderung geringere Schwierigkeiten entgegen als seine Vorgänger und ging entschieden gegen arabische Terroristen vor. So folgte der politischen Krise eine kurze Phase der Ruhe und des verstärkten Ausbaus der jüdischen Positionen in Palästina. Während 1931 nur etwa 4000 Neueinwanderer ins Land kamen, erhöhte sich ihre Zahl bereits im folgenden Jahr auf mehr als 9500; gleichzeitig stiegen die Kapitalinvestitionen, die eine weitere Verbesserung der Lebensverhältnisse auch der arabischen Bevölkerung zur Folge hatten. Demonstrationen und einzelne Gewaltakte der Araber, deren Hoffnung auf eine verschärfte antizionistische Politik der britischen Regierung durch den MacDonald-Brief enttäuscht worden war, blieben zwar nicht aus, aber sie konnten durch die energische Amtsführung Wauchopes in Grenzen gehalten werden. Die jüdische Masseneinwanderung nach 1933 und ihre Folgen Die Wende trat ein, als mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland die größte und grausamste Judenverfolgung der Geschichte begann und eine jüdische Massenflucht nach Palästina auslöste. Bereits 1933 stieg die Zahl der Neueinwanderer sprunghaft auf 30 000 an; sie erhöhte sich 1934 auf 42 000 und erreichte 1935, dem Jahr der Nürnberger Gesetze, mit 62 000 Immigranten ihren Höhepunkt. Insgesamt konnten während der Fünften Aliya, in den Jahren von 1932 bis 1939, etwa 265 000 jüdische Flüchtlinge mit oder ohne Zustimmung der britischen Mandats-behörden Palästina erreichen. Ende des Jahres 1939 zählte der Jischuw etwa 445 000 Menschen, das entsprach einem Anteil von 30 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes.

Der größere Teil der Neueinwanderer kam auch diesmal aus Osteuropa; dennoch brachte die Fünfte Aliya einen neuen, kulturell meist hochstehenden Einwanderertyp nach Palästina, durch den die gesamte Physiognomie des Landes verändert wurde. Unter den Immigranten, vor allem unter denen aus Deutschland, waren Wissenschaftler und Ingenieure, nicht selten Spezialisten von Weltruf, Finanz-und Geschäftsleute, oft mit beträchtlichen finanziellen Mitteln, die ihre Fähigkeiten und ihr Kapital in den Dienst des Landesaufbaus stellten. Sie bewirkten die schnelle Entwicklung der Industrie, die in diesen Jahren zu einem bedeutenden Faktor innerhalb der Gesamtwirtschaft des Landes wurde. Fast 80 Prozent der Neueinwanderer ließen sich in den Städten nieder; Tel Aviv entwickelte sich in wenigen Jahren zu einer Großstadt mit 150 000 Einwohnern, die jüdische Bevölkerung Haifas erhöhte sich bis 1936 auf 50 000, die Jerusalems auf 76 000 gegenüber 16 000 bzw. 53 700 jüdischen Bürgern, die vor Beginn der Fünften Aliya in diesen Städten lebten.

Die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung einsetzende jüdische Masseneinwanderung bewirkte die rapide Verhärtung der Gegenstäze zwischen Juden, Arabern und Briten in Palästina, so daß ein friedlicher Ausgleich der divergierenden Interessen in den Jahren nach 1933 kaum noch zu erreichen war. Vor dem Hintergrund einer vergleichslosen physischen Gefährdung der europäischen Judenheit mußte den Zionisten die Errichtung des jüdischen Nationalheims als Zufluchtsstätte für die Bedrängten und Verfolgten dringender als jemals zuvor erscheinen. Unter den Arabern — nicht nur Palästinas, sondern auch seiner Nachbarländer — entfachte die jüdische Masseneinwanderung einen Sturm des Protestes; zum ersten Male seit Beginn der zionistischen Kolonisation sahen sie sich mit der realen Möglichkeit konfrontiert, daß die Juden die Bevölkerungsmehrheit in Palästina erreichten und damit den entscheidenden Schritt zur Errichtung eines Judenstaates auf palästinensischen Boden vollzogen. Dies hatte die Radikalisierung des arabischen Nationalismus zur Folge; sie wurde gefördert durch die nationalsozialistische Propaganda, die seit 1934 im Nahen Osten wirksam wurde und den Arabern Deutschland als Bundesgenossen im Kampf gegen die Engländer und die Juden offerierte.

Für die Balancepolitik der Briten bedeutete die Verschärfung des Konflikts zwischen den rivalisierenden Nationalismen in Palästina eine zunehmend härter werdende Belastungsprobe. Ausgehend von der Überzeugung, daß die Zionisten ohne die Unterstützung Großbritanniens niemals ihr Ziel erreichen konnten, konzentrierten die arabischen Nationalisten unter der Führung des Mufti ihre Angriffe auf die Mandatsregierung. Bereits im Oktober 1933 kam es in Jaffa, Nablus, Haifa und Jerusalem zu schweren Ausschreitungen, die sich erstmals ausschließlich gegen die Briten richteten. Zwar führten die Unruhen auch diesmal nicht zur Abberufung des für sie verantwortlichen Mufti, aber die Mandatsregierung ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie nicht bereit war, sich der Gewalt zu beugen. Der Aufruhr wurde von britischen Polizei-kräften blutig niedergeschlagen; 26 Araber fanden den Tod, 187 wurden verletzt.

Erst die Reaktionen Großbritanniens und Frankreichs auf die aggressive Außenpolitik der Achsenmächte Deutschland und Italien verliehen den arabischen Extremisten neuen Auftrieb. Die „Demonstration der Schwäche", die Großbritannien während des Abessinien-krieges im Winter 1935 gab, das Stillhalten der Westmächte während der Rheinlandbesetzung Hitlers im März 1936 und die Konzessionen, die England in Ägypten und Frankreich in Syrien dem arabischen Nationalismus im gleichen Monat machten, bestärkten die arabischen Radikalen in Palästina in ihrem Willen, „das bedrohliche Anwachsen des Jischuw mit Gewalt aufzuhalten und von England die Unabhängigkeit eines arabischen Palästinas zu erzwingen".

Im November 1935 forderte eine Delegation aller arabischen Parteien Palästinas unter der Führung des Mufti von der britischen Mandatsregierung die sofortige und vollständige Sperre der jüdischen Einwanderung, ein Embargo weiterer jüdischer Landkäufe und die Einrichtung eines souveränen Parlaments, dessen Zusammensetzung die arabische Bevölkerungsmehrheit reflektierte.

Während die Regierung in London die arabischen Forderungen prüfte, übermittelte ihr Hochkommissar Wanchope den arabischen und zionistischen Führern in Palästina das Angebot, einen „Legislative Council" einzusetzen. Dieser Gesetzgebungsrat sollte zwar über das Recht verfügen, alle Gesetzentwürfe der Mandatsregierung zu debattieren und eigene Initiativen zu ergreifen, aber die letzte Entscheidung in der Gesetzgebung sollte dennoch in der Kompetenz des Hochkommissars verbleiben. Der Vorschlag wurde von den Arabern zurückgewiesen, da seine Annahme die Anerkennung des Mandats und damit der Balfour-Deklaration impliziert hätte. Aber auch die Zionisten lehnten das Angebot ab, weil von den geplanten achtundzwandzig Sitzen nur sieben für die Juden reserviert werden sollten und sie damit nur einen minimalen Einfluß auf die Resolutionen des Rates gehabt hätten. Im Januar 1936 beantwortete der britische Kolonialminister die Forderungen der arabischen Parteien vom November des Vorjahres mit der Erklärung, daß eine vollständige Sperre der jüdischen Einwanderung „nicht in Frage" komme, die britische Regierung aber bereit sei, mit den Arabern über eine gesetzliche Regelung weiterer jüdischer Land-käufe zu verhandeln. Zur Entsendung einer arabischen Verhandlungsdelegation nach London kam es jedoch nicht mehr; im April 1936 brachen in Palästina erneut blutige Unruhen aus, die sich sehr schnell zum allgemeinen Aufstand der Araber ausweiten.

Die arabische Rebellion und der Teilungsvorschlag der Peel-Kommission Der anschwellende Einwandererstrom, die gezielte Propaganda des nationalsozialistischen Deutschland und des faschistischen Italien und die hemmungslose Agitation arabischer Extremisten hatten die Atmosphäre in Palästina so weit erhitzt, daß im Frühjahr 1936 ein Funke genügte, um den Brand auszulösen. Am 15. April wurden in Jaffa auf offener Straße zwei Juden ermordet. Als es bei ihrem Begräbnis am 19. April in Tel Aviv zu antimoslemischen Demonstrationen kam, brachen blutige Unruhen aus, die innerhalb von zwei Tagen zwanzig Todesopfer unter der jüdischen Bevölkerung forderten. Das Geschehen in Tel Aviv war der Auftakt zur offenen Rebellion der Araber. Die vier moslemischen und die zwei christlichen arabischen Parteien schlossen sich zu einem „Arab Higher Committee" unter dem Vorsitz des Mufti zusammen, das noch im gleichen Monat den Generalstreik proklamierte und zur Steuerverweigerung aufrief, um von der Mandatsregierung das Verbot der jüdischen Einwanderung und weiterer jüdischer Landkäufe zu erzwingen. Organisierte Banden, die von Freischärlern aus Syrien und dem Irak unterstützt wurden, begannen eine Terrorkampagne, die sich gegen Juden wie Engländer und in zunehmendem Maße auch gegen die gemäßigten Araber richtete. Frucht-haine und Weinberge wurden vernichtet, Wälder und Getreidefelder niedergebrannt, Eisen-bahnlinien, Straßen und Wasserleitungen zerstört und die Pipeline zwischen den Ölquellen des Irak und dem Hafen von Haifa wiederholt durch Sprengstoffanschläge unterbrochen; jüdische Siedlungen wurden nachts unter Feuer genommen, britische Truppentransporte aus dem Hinterhalt überfallen und gemäßigte arabische Nationalisten ermordet.

Im Mai versprach die Regierung in London die Entsendung einer neuen Untersuchungskommission, sobald in Palästina die Ordnung wiederhergestellt sei. Die Ankündigung verfehlte jedoch die beabsichtigte Wirkung; mit unverminderter Gewalt wurde die Rebellion fortgesetzt. Da die arabischen Extremisten, von den faschistischen Mächten mit Geld und Waffen unterstützt, ihre Terroraktionen ständig ausweiteten und damit auch die britische Militärbasis in Palästina zunehmend gefährdeten, sah sich die Regierung im Herbst 1936 genötigt, den Aufständischen nachdrücklich entgegenzutreten. Im September wurden britische Truppen in Divisionsstärke in Haifa gelandet, die noch im gleichen Monat den Kampf gegen die organisierten Banden aufnahmen und den Aufstand innerhalb weniger Tage niederschlugen. Gleichzeitig gelang es Großbritannien, die arabischen Monarchen in Transjordanien, Irak, Saudiarabien und Jemen zum Eingreifen zu bewegen; sie appellierten an das „Arab Higher Committee", den Streik abzubrechen und auf „die guten Absichten unseres Freundes Großbritannien" zu vertrauen.

Am 12. Oktober erklärte das Komitee den Streik offiziell für beendet, und einen Monat später, am 11. November 1936, traf die angekündigte „Royal Commission" in Palästina ein, um unter dem Vorsitz Earl Peels die Ursachen des Aufruhrs zu untersuchen und Vorschläge zur Beseitigung begründeter Mißstände zu erarbeiten. Als Ergebnis ihrer Arbeit veröffentlichte die Kommission im Juli 1937 einen Report, der sich im Gegensatz zu den Berichten früherer Untersuchungsausschüsse durch Gründlichkeit und Objektivität auszeichnete. Der sogenannte Peel-Bericht stellte fest, daß die vorrangige Verpflichtung des Mandatars, die Errichtung eines jüdischen Nationalheims zu fördern, und jene andere, ebenfalls bereits in der Balfour-Deklaration enthaltene und in der Mandatssatzung wiederholte Verpflichtung Großbritanniens gegenüber den palästinensischen Arabern nicht miteinander zu vereinbaren seien. Er bestätigte die Berechtigung der zionistischen Bestrebungen, anerkannte aber gleichzeitig die Billigkeit der arabischen Forderungen. Ausgehend von der Erkenntnis, daß sich in Palästina „ein unüberwindlicher Konflikt zwischen den beiden nationalen Gemeinschaften" erhoben habe, kam der Bericht zu dem Ergebnis, daß das Mandat undurchführbar sei und die einzig gerechte Lösung in der Teilung des Landes in einen arabischen und einen jüdischen Staat liege. Während sich die britische Regierung im Prinzip mit dem Vorschlag einverstanden erklärte, löste der Teilungsplan in der zionistischen Bewegung eine ähnlich heftige Kontroverse aus, wie sie einst das Uganda-Angebot hervorgerufen hatte.

Auf dem XX. Kongreß der Zionistischen Organisation im August 1937 in Zürich lehnte eine starke Minderheit, an ihrer Spitze Menachem Ussischkin, jede Form einer Teilung des Landes aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Außerhalb der Zionistischen Organisation wurde der Widerstand gegen den Teilungsplan von den Revisionisten unter der Führung Jabotinskys getragen, die sich bereits 1935 von der Organisation getrennt hatten und seither als „Neue Zionistische Organisation" einen harten Oppositionskurs gegen deren offizielle Politik verfolgten. Die Mehrheit der Delegierten nahm jedoch unter der Führung Weizmanns und David Ben Gurions, des Vorsitzenden der Exekutive der Jewish Agency, eine positive Haltung gegenüber dem Teilungsvorschlag des Peel-Berichts ein.

Die Tatsache, daß die britische Regierung mit dem Teilungsvorschlag die Notwendigkeit einer Staatslösung offiziell anerkannte, die Aussicht, daß den bedrohten europäischen Juden mit der Errichtung eines jüdischen Staates eine Zufluchtsstätte gewährt werden konnte, und die Hoffnung, durch die Teilung des Landes zu einer Verständigung mit den Arabern zu kommen, wogen in den Augen Weizmanns und seiner Anhänger schwerer als der Zweifel, ob der projektierte Teilungsstaat, der nur den Küstenstreifen von Haifa (ohne die Stadt selbst) bis Tel Aviv, Galiläa und die Ebene von Esdraelon umfassen sollte, überhaupt lebensfähig war. Nach erbitterten Auseinandersetzungen bevollmächtige der Kongreß durch Mehrheitsentscheid das Exekutivkomitee, mit der britischen Regierung Verhandlungen über die Modalitäten der Errichtung eines jüdischen Staates aufzunehmen. Mit dieser Entscheidung befürwortete der Kongreß prinzipiell die Teilung Palästinas, verband damit aber den Auftrag an die Exekutive, auf die Vergrößerung des vorgesehenen jüdischen Staatsgebietes hinzuwirken.

Die leidenschaftlichen Debatten des zionistischen Kongresses sollten sich jedoch sehr bald als akademischer Disput erweisen. Das „Arab Higher Committee" lehnte den Teilungsplan ab, ohne die geringste Bereitschaft zum Kompromiß zu zeigen. Ein panarabischer Kongreß, der Anfang September in der syrischen Stadt Bloudan tagte, machte sich die extremen Forderungen des Mufti und des „Arab Higher Committee" nach einem unabhängigen arabischen Gesamtpalästina zu eigen und drohte Großbritannien unverhüllt mit der Parteinahme für die faschistischen Mächte, falls es seine Palästinapolitik nicht, im Sinne der arabischen Forderungen änderte. Die syrische Regierung übermittelte dem französischen Hochkommissar einen offiziellen Protest gegen die Teilung Palästinas, und die Regierungen Ägyptens und des Irak wandten sich in gleichlautenden Beschwerden an den Völkerbund.

Gleichzeitig flammten die Unruhen in Palästina wieder auf; noch deutlicher als in ihrer ersten Phase richteten sie sich ebenso gegen die Engländer wie gegen die Juden. Als im Oktober 1937 der britische Bezirksgouverneur in Galiläa von Terroristen unter dem Einfluß des Mufti ermordet wurde, reagierte die Mandatsverwaltung mit drastischen Maßnahmen. Der Mufti wurde seiner Ämter enthoben und konnte sich nur durch die Flucht in den Libanon einer Verhaftung entziehen; das „Arab Higher Committee" wurde aufgelöst, einige seiner Mitglieder verhaftet und deportiert und sämtliche arabischen nationalistischen Vereinigungen verboten. Dennoch weiteten sich die Terroraktionen zum Guerillakrieg aus; sehr schnell verbreiteten sich die Kämpfe und Mordanschläge über den größten Teil des Landes. Da die Mannschaften der britischen Armee und Polizei zur wirksamen Bekämpfung des Aufstands nicht ausreichten, mußte die Mandats-regierung auf die jüdischen Selbstschutzorganisationen zurückgreifen. Tausende ihrer Mitglieder wurden als „Hilfspolizisten" eingestellt, mit leichten Handfeuerwaffen ausgerüstet und zur Verteidigung jüdischer Siedlungen eingesetzt.

Die Haganah, die schon während der Unruhen des Vorjahres organisatorisch gestrafft worden war und seither über ein Landeskommando mit Stäben von Berufsmilitärs verfügte, wurde in dieser zweiten Phase des arabischen Aufuhrs zu einer Verteidigungsorganisation von schnell steigendem militärischem Wert ausgebaut. Ihre Einsätze beschränkten sich jedoch im wesentlichen auf Verteidigungsaktionen im strengen Sinne des Wortes. Bereits zu Beginn der Unruhen im Frühjahr 1936 hatte die Jewish Agency die Doktrin der Havlagah, der „Zurückhaltung", proklamiert, die es der Haganah untersagte, Gegenangriffe zu führen und Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen. Diese Doktrin wurzelte in der jüdischen Tradition, auf dem heiligen Boden des gelobten Landes die jüdischen Waffen „rein" (tahor) zu halten und sie nicht mit dem Blut von Menschen zu beflecken, deren Feindschaft nicht zweifelsfrei bewiesen war.

Neben dieser idealistischen Zielsetzung verfolgte die Politik der Havlagah den taktischen Zweck, der britischen Mandatsmacht den Friedenswillen des Jischuw zu demonstrieren und ihr die Handhabe für neue Restriktionsmaßnahmen gegen das Aufbauwerk zu nehmen. Obgleich diese Politik in jenen Vorkriegsjahren ein außerordentlich günstiges Echo in der öffentlichen Meinung Großbritanniens und vor allem Amerikas fand, vermochte sie nicht zu verhindern, daß die britische Regierung dennoch in ihren späteren Entscheidungen den arabischen Rebellen Konzessionen machte und den Zionisten Restriktionen auferlegte. So erleichterte die Verteidigungskonzeption der Jewish Agency den arabischen Terroristen das

Handwerk, ohne ihren taktischen Zweck zu erfüllen.

Unter dem Eindruck der Eskalation des Terrors empfanden nicht wenige Mitglieder der Haganah die „Zurückhaltung" als unzumutbare Forderung — dennoch wurde sie von der überwiegenden Mehrheit der Haganah-Einheiten befolgt. Eine Ausnahme bildeten die sogenannten Feldtruppen, die besonders in der zweiten Phase des Aufruhrs im Gegensatz zu den Instruktionen der Jewish Agency, aber mit stillschweigender Duldung der britischen Behörden zu einer „aggressiven Verteidigung" übergingen und bei einigen ihrer nächtlichen Gegenangriffe den arabischen Guerillas empfindliche Verluste zufügten. Im Sommer 1938 begann der britische Offizier Orde Wingate mit der Aufstellung der „Special Night Squads", einer mobilen Angriffstruppe, die sich aus einer kleinen Gruppe britischer Soldaten und ausgewählten Mitgliedern der Haganah zusammensetzte und der es innerhalb kurzer Zeit gelang, im Tal von Esdraelon und in weiten Teilen Galiläas Ruhe und Sicherheit wiederherzustellen.

Infolge der Verschärfung der internationalen Lage ging die Mandatsmacht im Herbst 1938 mit zunehmender Härte gegen die Aufständischen vor. Nach einer massiven Verstärkung der britischen Truppen konnte der Aufstand am Ende des Jahres gebrochen werden, obwohl sich die Gefechte in einigen Gebieten des Landes bis in die ersten Monate des Zweiten Weltkriegs hinzogen. Die Bilanz von drei Jahren Gewalt und Terror umfaßte nahezu 6000 Tote und Verletzte; 2287 Araber, 450 Juden und 140 Engländer waren getötet worden, wobei auch mehr als ein Viertel der arabischen Opfer das Konto der Rebellen belastete.

Trotz der kompromißlosen Zurückweisung des Teilungsplans durch die arabischen Nationalisten entsandte die britische Regierung im April 1938 eine „Teilungskommission" nach Palästina, die unter dem Vorsitz von Sir John Woodhead detaillierte Vorschläge für die Grenzen der geplanten Staatsgebiete erarbeiten sollte. Der im November veröffentlichte Bericht des Woodhead-Ausschusses lehnte die von der Peel-Kommission vorgeschlagene Gebietsverteilung ab, ohne jedoch eine klare Alternativlösung anzubieten. Dieses Unter-. suchungsergebnis wurde u. a. damit begründet, daß eine Teilung Palästinas in jüdisches und arabisches Territorium ohne die Zwangs-umsiedlung großer Bevölkerungsteile — die von der britischen Regierung ausdrücklich abgelehnt worden war — einfach nicht möglich sei. Wenige Wochen vor der Veröffentlichung dieses Berichts hatte in Kairo der „World Interparliamentary Congress of Arab and Moslem Countries tor the Defence of Palestine" getagt und in seinen Resolutionen erneut mit einer Allianz zwischen der arabischen Welt und den Achsenmächten gedroht. Der Woodhead-Bericht bot der britischen Regierung die vor dem Hintergrund dieser Drohung willkommene Möglichkeit, von den Vorschlägen der Peel-Kommission abzugehen und auf dem Verhandlungswege eine Kompromißlösung anzustreben.

Im Dezember 1938 berief die britische Regierung eine Round-table-Konferenz nach London ein, zu der Bevollmächtigte der Jewish Agency, der palästinensischen Araber und der arabischen Staaten Ägypten, Saudiarabien, Irak, Jemen und Transjordanien geladen wurden. Als die Londoner Konferenz im Februar 1939 eröffnet wurde, lehnten es die arabischen Delegierten jedoch ab, sich mit den Juden an einen Tisch zu setzen, so daß sich die Engländer gezwungen sahen, mit den Kontrahenten getrennt zu verhandeln. Bereits nach den ersten Verhandlungstagen wurde deutlich, daß es keine Basis für einen Kompromiß zwischen den verfeindeten Partnern gab. Während die Zionisten die Annahme des Teilungsvorschlags der Peel-Kommission als ihr äußerstes Zugeständnis bezeichneten, erklärten die Araber jede Lösung des Palästinaproblems für unannehmbar, die nicht ein vollständiges Verbot jüdischer Einwanderung und jüdischer Land-käufe einschloß. Nach einer Serie ergebnisloser Verhandlungen, die unter dem Vorsitz des Kolonialministers Malcolm MacDonald geführt wurden, in die aber auch der Premierminister Neville Chamberlain und der Außenminister Lord Halifax eingriffen, beendete die Regierung am 17. März die Konferenz und erklärte, daß sie eine eigene bindende Entscheidung treffen werde.

Die britische Palästinapolitik am Vorabend des Zweiten Weltkrieges — das Weißbuch von 1939

Zwei Monate später, am 17. Mai 1939, publizierte die britische Regierung das sogenannte „MacDonald White Paper", das die künftige britische Palästinapolitik festlegte. Als Ziel dieser Politik bezeichnete das Weißbuch die Errichtung eines von Arabern und Juden gemeinsam regierten, unabhängigen palästinensischen Staates innerhalb von zehn Jahren. Die jüdische Einwanderung wurde für die Dauer der nächsten fünf Jahre auf insgesamt 75 000 beschränkt; danach sollte jede weitere Immigration von Juden von der ausdrücklichen Zustimmung der palästinensischen Araber abhängig sein. Der jüdische Bodenerwerb sollte in bestimmten Gebieten des Landes untersagt, in anderen einer strengen Regulierung unterworfen werden; entsprechende Vollmachten für den Hochkommissar wurden angekündigt. Das „MacDonald White Paper" erregte nicht nur den erbitterten Widerstand der Zionisten, sondern die einmütige Empörung nahezu der gesamten jüdischen Welt. Die Juden sahen in der Weißbuchpolilik eine eklatante Verletzung der Mandatsbestimmungen — eine Auffassung, die von der Mehrheit der Ständigen Mandatskommission des Völkerbunds geteilt wurde —, die sich als „Kapitulation vor dem arabischen Terrorismus" und als „Verrat" an ihrem Volk deuteten. Aber auch in der öffentlichen Meinung Großbritanniens stieß diese Beschwichtungspolitik gegenüber den Arabern auf heftige Kritik. Der Erzbischof von Canterbury bezeichnete das Weißbuch als ein „Dokument des Wortbruchs". Churchill verurteilte es im Unterhaus als „eindeutigen Bruch einer feierlichen Verpflichtung", und Morrison nannte es als Sprecher der Labour-Opposition „ein Vergehen gegen die Ehre Großbritanniens". Was die Juden am meisten erbitterte, war jene Klausel, die die jüdische Einwanderung während der nächsten fünf Jahre auf 75 000 begrenzte.

Die Konferenz von Evian im Juli 1938 hatte gezeigt, daß die freie Welt nicht bereit oder nicht fähig war, den vom nationalsozialistischen Deutschland bedrohten Juden Zuflucht zu gewähren. Damals hatte allein die Dominika31 nische Republik moralische und politische Courage bewiesen und sich bereit erklärt, in großem Umfang jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, während die übrigen dreißig auf der Konferenz vertretenen Staaten — einschließlich Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika — es abgelehnt hatten, den bedrängten europäischen Juden ihre Grenzen zu öffnen. Seither blieb den Bedrängten und Verfolgten, deren verzweifelte Lage spätestens in der „Kristallnacht" offensichtlich geworden war und deren Zahl sich nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei noch erhöht hatte, nur die Hoffnung auf Palästina. Als Großbritannien in dieser Situation den Flüchtlingen auch die Tore Palästinas bis auf einen schmalen Spalt verschloß und damit eine unbekannte Zahl europäischer Juden, denen die Flucht damals noch möglich gewesen wäre, dem Verhängnis preisgab, konnte es nicht überraschen, daß viele Juden mit erbitterter Feindschaft reagierten und der britischen Regierung auch im Rückblick auf ihre bisherige Palästinapolitik den ehrlichen Willen zu einer für die Zionisten annehmbaren Lösung absprachen.

Gleichwohl erscheint es zweifelhaft, ob die Auffassung gerechtfertigt ist, nach der die Chamberlain-Regierung bereits 1938 zu der im Weißbuch niedergelegten Politik fest entschlossen war und die Londoner Konferenz demnach nur eine Farce darstellte, weil die Regierung schon vor ihrem Beginn wußte, daß sie scheitern würde. Die Politik des Appeasement, die die britische Außenpolitik vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kennzeichnete, bedeutete für Neville Chamberlain die Wahrung des Friedens durch die „methodische Beseitigung der hauptsächlichen Reibungsursachen in der Welt"; sie beruhte nicht zuletzt auf dem naiven Glauben des britischen Premiers, daß jedes der Probleme dieser Welt durch ein „ruhiges Gespräch bei einer Tasse Tee" beigelegt werden könnte. Diesem Glauben entsprach seine Hoffnung, auf einer jüdisch-arabischen Konferenz, die bis dahin niemals zustande gekommen war, doch noch eine für alle Beteiligten annehmbare Kompromißlösung zu erreichen. Erst nach dem Scheitern der Londoner Konferenz war es offensichtlich, daß die Appeasement-Politik nur auf Kosten eines der beiden verfeindeten Partner auf das Palästinaproblem angewendet werden konnte.

Die Frage, wer dieser Partner sein würde, war für die britische Regierung in dem Augenblick entschieden, als mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in die „Rest-Tschechei" im März 1939 die Gefahr eines europäischen Krieges akut geworden war. In diesem Krieg würden die Juden nicht wählen können, welche Seite sie unterstützten, so daß der Regierung die Rücksichtnahme auf die jüdische Weltmeinung kein zwingendes Gebot zu sein schien. Dagegen hatten die wiederholten Solidaritätserklärungen der arabischen Staaten mit den Forderungen der palästinensischen Araber — zuletzt auf den panarabischen Kongressen in Bloudan und Kairo — gezeigt, daß die Androhung einer Allianz der arabischen Welt mit den Achsenmächten keineswegs nur Polemik palästinensischer Extremisten war, sondern eine konkrete Gefahr darstellte.

Am Vorabend eines europäischen Krieges war die Abwendung dieser Gefahr für Großbritannien ein Gebot politischer Vernunft; die See-und Landwege nach Indien führten durch arabisches Gebiet, wichtige Militärbasen und Flottenstützpunkte lagen auf arabischem Territorium, und die kriegswichtige Ölversorgung war zum großen Teil von den in arabischen Ländern gelegenen Quellen abhängig. So entschied sich die britische Regierung ohne Rücksicht auf moralische Erwägungen, allein unter dem Gesichtspunkt der britischen Interessen, für die Beschwichtigung der Araber auf Kosten der Juden.

Obgleich das „MacDonald White Paper" keineswegs auf die einmütige Zustimmung der Araber stieß — vor allem wegen der nicht vollständig verbotenen jüdischen Einwanderung —, erfüllte es bis zu einem gewissen Grade den von der britischen Regierung beabsichtigten Zweck. Die Weißbuchpolitik entzog den arabischen Extremisten die Grundlage für ihre Agitation, mit der Folge, daß sich in Palästina der arabische Aufruhr gegen die Mandatsmacht während des Krieges nicht wiederholte. Sie trug dazu bei, daß sich Transjordanien als zuverlässiger Alliierter der Briten erwies und Saudiarabien während der gesamten Dauer des Krieges wohlwollende Neutralität wahrte, die ihrerseits die öffentliche Meinung in den übrigen arabischen Ländern positiv beeinflußte. Die ernsthafteste Bedrohung der britischen Positionen im Nahen Osten war der Versuch Deutschlands, in Verbindung mit dem Putsch Rashid Alis im Jahre 1941 vom Irak und Syrien Besitz zu ergreifen. Der Versuch scheiterte nicht zuletzt an der Schwäche der prodeutschen Parteien und an der probritischen Einstellung eines Teils der öffentlichen Meinung. Es ist zweifelhaft, ob die politische Kräfteverteilung in diesen Ländern die gleiche gewesen wäre und das Unternehmen den gleichen Ausgang genommen hätte, wenn Großbritannien in jenen Jahren eine prozionistische Politik betrieben hätte. Aber auch unter Berücksichtigung aller dieser Fakten kann das Weißbuch von 1939 vor dem Hintergrund der verzweifelten Lage von Millionen europäischer Juden, für die Palästina die letzte Hoffnung bedeutete, nicht moralisch gerechtfertigt, sondern nur als „notwendige, aber unbarmherzige Kriegsmaßnahme" erklärt werden.

Die zionistische Politik im Zweiten Weltkrieg Als der Krieg im September 1939 ausbrach, entschieden sich die Zionisten für eine Politik, die David Ben Gurion in die Worte faßte. „Wir kämpfen im Krieg auf der Seite Englands, als ob es kein Weißbuch gäbe. Und wir kämpfen gegen das Weißbuch, als ob es keinen Krieg gäbe." Dem Appell der Jewish Agency und des Waad Leumi folgend, ließen sich bereits in den ersten Monaten des Krieges nahezu 120 000 palästinensische Juden als Kriegsfreiwillige registrieren. Die Engländer gingen jedoch zur zögernd auf das Hilfsangebot der Zionisten ein; sie legten der Mobilisation palästinensischer Juden ein System von Hindernissen in den Weg und weigerten sich lange Zeit, besondere jüdische Kampfeinheiten unter jüdischen Feldzeichen aufzustellen. Erst nach wiederholten Interventionen Winston Churchills, der im Mai 1940 Premierminister einer Koalitionsregierung geworden war, gab die britische Heeresleitung im Herbst 1944 ihr Einverständnis zur Aufstellung einer Jüdischen Brigade, die etwa 5000 Soldaten umfaßte und unter der blauweißen Flagge mit dem Davidstern an der italienischen Front zum Kriegs-einsatz gelangte. Die Gesamtzahl der palästinensischen Juden, die entweder in britischen Einheiten oder in der Jüdischen Brigade an der Seite der Engländer gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpften, erhöhte sich bis gegen Ende des Krieges auf etwa 32 000. Darüber hinaus leistete der Jischuw einen bedeutenden Beitrag zu den Kriegsanstrengungen dadurch, daß er seine Techniker und Ingenieure, seine wissenschaftlichen Einrichtungen und vor allem seine Industrie für die Versorgung der britischen Streitkräfte zur Verfügung stellte. Präzisionsinstrumente, Medikamente und medizinische Geräte, Uniformen, Fallschirme und Landminen, Panzer-motoren und sogar kleinere Schiffseinheiten wurden in Palästina produziert, so daß die in Nordafrika kämpfende Armee und die im Mittelmeer operierende Flotte über ein außerordentlich leistungsfähiges Nachschubdepot in unmittelbarer Nähe ihrer Einsatzgebiete verfügten. Das Meteorologische Institut in Jerusalem lieferte den britischen See-und Luftstreitkräften Wetterberichte für den gesamten Nahen Osten, die Hebräische Universität organisierte in Zusammenarbeit mit der Hadassah für britische Sanitätsoffiziere Kurse in Tropen-medizin und Kriegschirurgie, und die Technische Universität in Haifa und das Forschungsinstitut in Rehovot stellten ihre Laboratorien für kriegswichtige wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfügung.

Der gleichzeitige Kampf gegen die Weißbuchpolitik, an der die britische Regierung ungeachtet der Kriegshilfe des Jischuw festhielt, wurde in verschiedenen Formen durchgeführt, deren wichtigste die illegale Einwanderung war — die Einschleusung jüdischer Flüchtlinge, die nicht im Besitz von Einwanderungszertifikaten waren. Die Revisionisten hatten bereits 1937 mit dem systematischen Ausbau der illegalen Einwanderung begonnen, und die von ihnen gegründete extremistische Untergrundorganisation Irgun Zwai Leumi — die später unter dem Namen Ezel bekannt wurde — hatte das Kommando über Transport-und Landungsoperationen übernommen. Im Frühjahr 1939 nahm die Leitung der Zionistischen Organisation die aktive Unterstützung der illegalen Einwanderung auf, und seither trug die Haganah die Hauptlast dieser Aktionen. Obgleich die Engländer Kriegsschiffe, Flugzeuge und Küstenpolizei gegen die illegale Einwanderung einsetzten, gelang es im Verlauf des Jahres 1939 etwa 20 000 jüdischen Flüchtlingen, mit Hilfe der Haganah die Blok-kade zu brechen. Die Mandatsregierung antwortete zunächst mit der im Weißbuch angekündigten Maßnahme; sie reduzierte die zugelassene Einwanderungsquote um die geschätzte Zahl der illegalen Immigranten. Für das Halbjahr Oktober 1939 bis März 1940 wurde die Einwanderung vollständig verboten, mit der Begründung, daß die Einwanderungsquote bereits durch die illegale Einwanderung gedeckt sei. Als die illegale Einwanderung trotz dieser Maßnahme andauerte, verstärkte die Mandatsmacht die Blockade und erklärte gleichzeitig ihre Absicht, die Passagiere aufgegriffener Blockadebrecher künftig nach einer britischen Kolonie zu deportieren und dort für die Dauer des Krieges zu internieren. Ungeachtet dieser Drohung setzten die Flüchtlinge ihre verzweifelten Versuche fort, auf oft seeuntüchtigen und weit über ihre Kapazität beladenen Schiffen die Küste Palästinas zu erreichen. Eine unbekannte Zahl jüdischer Flüchtlinge ging mit diesen „Sargschiffen" unter; diejenigen, die ihr Ziel erreichten, wurden zumeist von britischen Patrouillen aufgegriffen und nach Mauritius oder Zypern deportiert; nur einem kleinen Teil gelang es mit Hilfe der Haganah, unentdeckt an Land zu gehen und in einer der Kollektivsiedlungen unterzutauchen.

Während sich die Haganah in ihrem Kampf gegen das Weißbuch für die Dauer des Krieges auf die illegale Einwanderung beschränkte, ging der Ezel im Januar 1944 zu Terroranschlä-gen auf britische Polizeistationen und Einrichtungen der zivilen Mandatsverwaltung über. Noch rücksichtsloser in der Wahl ihrer Mittel war die Lechi, eine zahlenmäßig kleine, von dem ehemaligen Ezelmitglied Abraham Stern gegründete Untergrundorganisation, die sich zu dem Grundsatz des individuellen Terrors bekannte. Die Lechi verübte während des Jahres 1944 eine Serie von Gewaltakten, die mit einem mißglückten Attentat auf den britischen Hochkommissar Sir Harold MacMichael im August 1944 und mit der Ermordung des britischen Staatsministers in Kairo, Lord Moyne, im November des gleichen Jahres ihre Höhepunkte erreichte.

Unter dem Eindruck der rigorosen Anwendung der Weißbuchpolitik verstärkten sich innerhalb der Zionistischen Organisation die Stimmen, die eine Neuorientierung der zionistischen Politik forderten. David Ben Gurion, der Vorsitzende der Exekutive der Jewish Agency, und die ständig an Einfluß gewinnenden amerikanischen Zionisten drängten auf einen härteren Kurs gegen die britische Regierung und auf eine klare Formulierung der zionistischen „Kriegsziele". Diese Forderungen fanden ihren Ausdruck auf einer außerordentlichen Zionistenkonferenz, die im Mai 1942 im Biltmore-

Hotel in New York stattfand und an der neben 600 Delegierten der amerikanischen Zionisten die führenden Repräsentanten der Zionistischen Organisation, unter ihnen Chaim Weizmann, David Ben Gurion und Nahum Gold-mann, teilnahmen. Am 11. Mai 1942 nahm die Konferenz ohne Gegenstimmen, aber bei Stimmenthaltung der palästinensischen Mapai-Delegation, eine von Ben Gurion eingebrachte Resolution an, in der gefordert wurde, „daß die Tore Palästinas geöffnet werden, daß die Jewish Agency mit der Kontrolle der Einwanderung und der notwendigen Amtsgewalt für den Landesaufbau betraut wird . . . und daß Palästina als ein jüdisches Gemeinwesen in die Struktur der neuen demokratischen Welt integriert wird". Im November des gleichen Jahres wurde die Deklaration von der Exekutive der Zionistischen Organisation bestätigt und damit zum offiziellen Programm der zionistischen Bewegung erhoben. Zwei Jahre später, am 16. Oktober 1944, richtete die Exekutive der Jewish Agency auf der Grundlage des Biltmore-Programms ein Memorandum an die britische Regierung, in dem der jüdische Staat als logische Konsequenz der ursprünglichen Absichten der Balfour-Deklaration gefordert wurde. Mit der gleichen Forderung wandte sich Chaim Weizmann zunächst in einer persönlichen Intervention und später in einem weiteren Memorandum an Premierminister Winston Churchill. Doch stets wurde die mit Nachdruck geforderte Entscheidung über die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina mit dem Hinweis auf die ungeklärte internationale Lage vertagt.

6. Der Zusammenbruch des Palästina-Mandats und die Proklamation des Staates Israel

Als nach dem Zusammenbruch des deutschen Reiches das volle Ausmaß der systematischen Massenmorde, die das Hitlerregime an den europäischen Juden verübt hatte, bekannt wurde, erwarteten die Zionisten zumindest eine sofortige Einwanderungserlaubnis für die überlebenden der Katastrophe. Aber weder das Ende des Krieges noch die Ablösung der Koalitionsregierung Churchills durch ein Labourkabinett unter Clement Attlee im Juli 1945 brachte die Aufhebung der Einwanderungsbeschränkungen. Obgleich die Labour-Partei wiederholt ihre Solidarität mit der zionistischen Sache betont und noch im April 1945 freie Einwanderung für die Juden und die Gründung eines jüdischen Staates gefordert hatte, hielt auch sie nach der Übernahme der Regierung an der Politik des „MacDonald White Paper" fest. Während in Europa 700 000 überlebende Juden heimatlos waren und nahezu 100 000 von ihnen in den „Displaced Persons’ Camps" vegetieren mußten, weigerten sich Attlee und sein Außenminister Bevin, monatlich mehr als 1500 Juden die Einreise nach Palästina zu gestatten.

Es konnte nicht überraschen, daß sich in dieser Situation die Haltung der palästinensischen Juden und der zionistischen Organisationen zunehmend radikalisierte. Während die zionistischen Organisationen auf politischer Ebene in London und Washington gegen die Weißbuchpolitik kämpften, richtete sich der Kampf der Jewish Agency mit Hilfe der Haganah und der Histadruth darauf, die illegale Einwanderung mit allen Kräften zu fördern. Mit einem über ganz Europa ausgebreiteten Agentennetz gelang es der Haganah, einen erheblichen Teil der am Leben gebliebenen Juden Zentral-und Osteuropas nach Westeuropa und von dort an die Küsten des Mittelmeeres zu bringen, wo sie von Schiffen, die die Jewish Agency zu diesem Zweck charterte, übernommen wurden. In den Jahren 1946/47 konnten 36 dieser Flüchtlingsschiffe den Blockadering der Engländer vor der Küste Palästinas brechen und insgesamt 43 500 illegale Einwanderer ins Land bringen. Ein großer Teil der Schiffe wurde jedoch von Einheiten der britischen Kriegsmarine aufgebracht und nach Haifa eskortiert, wo die unglücklichen Passagiere auf Militärtransporter verladen wurden, die sie nach Zypern deportierten.

Die Verfolgung und Deportation der illegalen Einwanderer hatte die weitere Verschärfung der englandfeindlichen Haltung des Jischuw zur Folge. Der Ezel und die Lechi nahmen ihre Terroraktionen in erhöhtem Umfang wieder auf; Truppentransporte und Militärlager wurden angegriffen, Eisenbahnlinien, Straßen und militärische Nachrichtenverbindungen durch Sprengungen unterbrochen. Gleichzeitig ging auch die Haganah zu bewaffneten Kampfmaßnahmen über; ihre Einheiten griffen Polizei-lager an, zerstörten Brücken und sprengten Radarstationen der Küstenpolizei. Die Gewaltakte der jüdischen Kampforganisationen führten zu Gegenmaßnahmen der Mandatsbehörden, die wiederum mit Vergeltungsaktionen beantwortet wurden. Im Juni 1946 wurden die in Palästina befindlichen Führer der Jewish Agency und eine große Zahl der politischen Amtsträger des Jischuw in einer Blitzaktion verhaftet. Zwei Wochen später antwortete der Ezel mit der Sprengung eines Flügels des King-David-Hotels in Jerusalem, in dem sich das Hauptquartier der britischen Palästina-truppen befand. Dem Anschlag war — nach Angaben der Terroristen — eine rechtzeitige Warnung vorausgegangen, die jedoch unbeachtet blieb; 91 Personen — Engländer, Araber und Juden — fielen dem Attentat zum Opfer. Nach einer Intervention Chaim Weizmanns stellte die Flaganah im August 1946 ihre bewaffneten Aktionen ein und konzentrierte sich allein auf die Durchführung der illegalen Einwanderung.

Unterdessen zeigte der von den zionistischen Organisationen mit propagandistischen und diplomatischen Mitteln geführte Kampf gegen die Weißbuchpolitik seine ersten Erfolge. Am 31. August 1945 forderte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Harry S. Truman, den britischen Premierminister auf, 100 000 Juden aus den DP-Lagern in Deutsch-B land und Österreich die Einwanderung nach Palästina zu gestatten. Am 17. Dezember des gleichen Jahres beschlossen beide Häuser des amerikanischen Kongresses, für die unbehinderte jüdische Einwanderung und die Verwirklichung des jüdischen Nationalheims in Palästina einzutreten. Die Reaktion der britischen Regierung auf die amerikanischen Initiativen bestand in der Einsetzung einer anglo-ameri-kanischen Untersuchungskommission, der die Aufgabe übertragen wurde, die Einwanderungsfrage sowohl im Hinblick auf die Situation in Palästina als auch unter Berücksichtigung der Lage der Juden in den europäischen DP-Lagern zu prüfen. Im April 1946 veröffentlichte die Kommission ihren Untersuchungsbericht, der die sofortige Gewährung von 100 000 Einwanderungszertifikaten für jüdische DPs, die Aufhebung der Landkaufbeschränkungen und die Aufrechterhaltung des Mandats empfahl. Während die amerikanische Regierung diesen Empfehlungen zustimmte, konnte sich die britische Regierung zu ihrer Durchführung nicht entschließen.

Wenige Monate später legte die Attlee-Regierung nach einer Konferenz britischer und amerikanischer Regierungsvertreter einen neuen Teilungsplan vor, der zwar die Selbstverwaltung des jüdischen wie des arabischen Kantons vorsah, jedoch die Entscheidung über die Einwanderung bei der britischen Regierung beließ. Der „Morrison-Plan", wie er nach dem Vorsitzenden der vorangegangenen Konferenz benannt wurde, stieß auf die Ablehnung der Araber und der Juden. Die Jewish Agency beharrte auf der Forderung nach der sofortigen Gewährung von 100 000 Einwanderungszertifikaten und auf der „Errichtung eines lebensfähigen jüdischen Staates in einem entsprechenden Teil von Palästina". Die jüdische Bevölkerung Palästinas und die öffentliche Meinung Amerikas reagierten mit Erbitterung auf den Versuch, den Empfehlungen der angloamerikanischen Kommission auszuweichen; aber auch in der britischen Öffentlichkeit wuchs die Kritik an der Palästinapolitik der britischen Regierung. In Palästina verschlimmerte sich die Lage von Monat zu Monat. Terror und Gegenterror schufen einen Zustand der Rechtlosigkeit, der keine Möglichkeit der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung erkennen ließ. Anfang des Jahres 1947 sahen sich die Engländer gezwungen, englische Frauen, Kinder und abkömmliche Zivilpersonen aus dem Lande zu evakuieren und die verbleibenden Regierungsbeamten in befestigte Sicherheitszonen in den Städten einzuweisen.

Die Einschaltung der UN und die Proklamation des Staates Israel In dieser Situation entschloß sich die britische Regierung, das Palästinaproblem vor die Vereinten Nationen zu bringen; eine Entscheidung, die Außenminister Bevin am 18. Februar 1947 im britischen Unterhaus bekannt-gab. Am 28. April trat die UN-Vollversammlung zu einer Sondersitzung zusammen, die am 15. Mai mit der Einsetzung eines „Special Committee on Palestine" (UNSCOP) endete.

Der UNSCOP gehörten Delegierte von elf in der Palästinafrage neutralen Staaten an — Australien, Guatemala, Holland, Indien, Iran, Jugoslawien, Kanada, Peru, Schweden, Tschechoslowakei und Uruguay. Nach intensiven Untersuchungen, die in den europäischen DP-Lagern, in den arabischen Staaten und vor allem in Palästina in der Form von „hearings" durchgeführt wurden, empfahl die UNSCOP einstimmig die Beendigung des Mandats und den Abzug der britischen Truppen und Zivil-behörden. Zur Frage der künftigen staatlichen Gestaltung des Landes legte sie zwei Resolutionen vor. Die Mehrheitsresulution schlug die Teilung Palästinas in einen unabhängigen arabischen und einen unabhängigen jüdischen Staat mit einem Sonderstatus für Jerusalem vor, wobei die wirtschaftliche Einheit des ganzen Landes gewahrt bleiben sollte. Die Minderheitsresolution der Staaten Iran, Indien und Jugoslawien empfahl dagegen die Gründung eines Bundesstaates mit einem autonomen arabischen und einem autonomen jüdischen Gliedstaat. Der Untersuchungsbericht der UNSCOP wurde am 1. September 1947 vorgelegt und am Ende des Monats auf die Tagesordnung der UN-Vollversammlung gesetzt. Zwei Monate dauerten die Debatten über die Mehrheits-und Minderheitsvorschläge. Während sich Großbritannien gegen die Teilung Palästinas aussprach, lehnten die arabischen Staaten beide Vorschläge ab. Die Sowjetunion befürwortete zur allgemeinen Überraschung die Mehrheitsresolution, die auch von den Vereinigten Staaten von Amerika unterstützt wurde. Die amerikanische Delegation intervenierte darüber hinaus bei den Vertretern der lateinamerikanischen Länder, um die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Schlußabstimmung sicherzustellen. Am 29. November 1947 wurde der Mehrheitsvorschlag der UNSCOP von der UN-Vollversammlung mit 33 gegen 13 Stimmen bei 10 Enthaltungen angenommen. Die Gegenstimmen wurden von den zehn arabischen bzw. moslemischen Mitgliedstaaten sowie von Kuba, Griechenland und Indien abgegeben; Großbritannien enthielt sich der Stimme.

Der Teilungsplan sah in der von der Vollversammlung angenommenen Form etwa 55 °/o der Bodenfläche Palästinas für den jüdischen Staat vor, wobei mehr als die Hälfte des Territoriums aus den Sandwüsten des Negev bestand. Der Teilungsbeschluß der Vereinten Nationen wurde von der jüdischen Bevölkerung Palästinas mit Begeisterung begrüßt, obgleich die Jewish Agency erklärte, daß sie der geplanten Gebietsverteilung nur widerstrebend um des Friedens willen zustimme. Dagegen verkündeten die Delegierten Saudiarabiens, Syriens, Pakistans, des Jemen und des Irak unmittelbar nach der Annahme des Teilungsplanes, daß der UN-Beschluß ungesetzlich sei und ihre Staaten nicht verpflichte. Einen Tag später, am 30. November, nahmen die Araber den bewaffneten Widerstand gegen den Teilungsplan auf. In Palästina rief das neu gegründete „Arab Higher Committee" den Generalstreik aus, und in allen Teilen des Landes kam es zu Feuerüberfällen und Bombenanschlägen auf jüdische Siedlungen und Wohnbezirke. Aus Syrien und Transjordanien infiltrierten bewaffnete Banden und Freischärler in ständig steigender Zahl nach Palästina. Jerusalem wurde durch die Abriegelung einiger zentraler Straßen zur geteilten Stadt, deren jüdischer Sektor monatelang von den Arabern belagert wurde.

Die Zuspitzung des Konflikts wurde dadurch begünstigt, daß die Mandatsmacht nicht willens oder nicht fähig war, ihrer Verpflichtung zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Sicherheit mit Entschlossenheit nachzukommen, obwohl sie mit 100 000 in Palästina stationierten britischen Soldaten über die dazu notwendigen Machtmittel verfügte. Bereits vor dem Teilungsbeschluß der UN-Vollversammlung hatte Großbritannien erklärt, daß es sich zwar jeder Entscheidung der Vereinten Nationen beugen werde, aber nicht an der praktischen Durchführung einer Entscheidung mitwirken könne, die nicht die Zustimmung sowohl der Juden als auch der Araber habe. Mit dem Hinweis auf diese Erklärung weigerte sich die Mandatsregierung, die mit der praktischen Durchführung des Teilungsbeschlusses beauftragte „Implementation Commission" der Vereinten Nationen zu unterstützen, und lehnte es ab, deren Mitgliedern auch nur die Einreise nach Palästina zu gestatten. Als die britische Regierung im Dezember 1947 ihre Absicht erklärte, am 15. Mai des folgenden Jahres das Mandat zu beenden und ihren Verwaltungsapparat aus Palästina abzuziehen, nahm die Lage im Lande chaotische Formen an. Die Überfälle und die Gefechte zwischen den arabischen Guerillabanden und den jüdischen Kampfverbänden weiteten sich zum Bürgerkrieg aus, in dessen Verlauf beide Seiten immer mehr Kräfte mobilisierten.

Während die britischen Militär-und Polizeikräfte die vorwiegend jüdischen bzw. arabischen Bezirke zu räumen begannen, ging die Haganah dazu über, das im Teilungsplan für den jüdischen Staat vorgesehene Gebiet zu erobern und militärisch zu besetzen. Während die Mandatsmacht in ihrer „neutralen" Haltung verharrte und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sich vergeblich um einen Waffenstillstand bemühte, bereiteten die Jewish Agency und der Waad Leumi systematisch den Aufbau einer jüdischen Staatsverwaltung vor. Bereits im November 1947 hatten beide Organe eine gemeinsame Planungskommission für die ersten vorbereitenden Maßnahmen zur Staatsgründung gebildet. Im März 1948 wurde ein „Volksrat" konstituiert, der sich aus den 14 Mitgliedern der Exekutive des Waad Leumi, elf palästinensischen Mitgliedern der Exekutive der Jewish Agency und zwölf Repräsentanten derjenigen Parteien und Gemeinschaften, die nicht in den beiden Exekutiven vertreten waren, zusammensetzte. Gleichzeitig wurde eine aus 13 Mitgliedern bestehende „Volksadministration" gebildet. In den folgenden Wochen bereiteten die designierten Minister die Organisation ihrer Ministerien bis in die Einzelheiten vor. Damit verfügte der Jischuw über ein provisorisches Parlament und über eine provisorische Regierung, die vorbereitet waren, ihre Funktionen im Augenblick der Staatsgründung zu übernehmen. Alle anderen Organe und Einrichtungen, die eine Staatsmaschinerie zur Not funktionieren lassen, waren bereits seit Jahren vorhanden. Am 22. April setzte die Jewish Agency die Vereinten Nationen davon in Kenntnis, daß der durch den Teilungsbeschluß der Vollversammlung autorisierte jüdische Staat im Augenblick der Beendigung des Mandats proklamiert werde und die jüdische Regierung unmittelbar nach dem Abzug der britischen Verwaltung die Amtsgeschäfte übernehmen werde. Am Morgen des 14. Mai wurde am Sitz der britischen Mandatsregierung in Jerusalem der Union Jack eingeholt, und wenige Stunden später verließ der letzte britische Hochkommissar, Sir Alan Cunningham, Palästina. Am Nachmittag dieses 14. Mai 1948 verkündete David Ben Gurion vor den versammelten Mitgliedern des „Volksrates" in Tel Aviv die Gründung des Staates Israel: „. . . Wir, die Mitglieder des Volksrates, die Vertreter der jüdischen Bevölkerung Palästinas und der Zionistischen Bewegung, sind . . . heute, am Tage der Beendigung des britischen Mandats über Erez Israel, zusammengetreten und proklamieren hiermit kraft unseres natürlichen und historischen Rechtes und auf Grund des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Errichtung eines jüdischen Staates in Erez Israel, des Staates Israel. .

In der Nacht, die diesem Tage folgte, überschritten die regulären Armeen Ägyptens, Transjordaniens, Syriens, des Libanon und des Irak die Grenzen des neuen Staates. So begann die Geschichte des Staates Israel mit dem Kampf um seine Existenz.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans-Helmut Röhring, Dipl. -Politologe, geboren 1939 in Bremen, Studium der Politischen Wissenschaften in Berlin, 1965 Studienaufenthalt in Israel, bis Oktober 1967 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Insti-tut der Freien Universität Berlin, seither wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.