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Föderalismus. III. Föderalismus als Bundesstaatsidee in Deutschland | APuZ 5/1968 | bpb.de

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APuZ 5/1968 Föderalismus. III. Föderalismus als Bundesstaatsidee in Deutschland

Föderalismus. III. Föderalismus als Bundesstaatsidee in Deutschland

Ernst Deuerlein

1. Zeitgenössische Beurteilungen des Rheinbundes

Inhalt dieser Ausgabe

Die letzten Auseinandersetzungen über das staatsrechtliche Verständnis des Reiches und die freilich nur allmählich bekanntgewordenen Vorgänge bei der Konstituierung der Vereinigten Staaten von Amerika nahmen auf die politischen und staatsrechtlichen Erörterungen Einfluß, die nach dem Ende des Reiches verstärkt einsetzten. Diese verzichteten in den meisten Fällen auf den Gebrauch des Begriffes Föderalismus; sie gaben den Bezeichnungen „Staatenbund" und „Bundesstaat" den Vorzug. Die Problematik des Föderalismus in Deutschland schlug sich zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nieder in den Erwägungen über Formen, Möglichkeiten und Vor-und von „Staatenbund" „Bundes -Nachteile und staat". Der noch nicht endgültig bestimmte Begriff Föderalismus erhielt dadurch eine Einengung, die mit dazu beitrug, daß er mehr und mehr in Vergessenheit geriet und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als er häufiger gebraucht wurde, als neuer Terminus verstanden wurde.

Die politisch-staatsrechtliche Erörterung über den Rheinbund, bemüht, die von Napoleon geschaffene politische Organisation zu erklären, bediente sich föderativer Vorstellungen und Bezeichnungen. Die Zeitschrilt „Der Rheinische Bund" gebrauchte fast durchweg den Begriff Bundesstaat — der im Sinne späterer Interpretation nicht ohne weiteres anwendbar zu sein scheint. Brie ist der Ansicht, die Bezeichnung Bundesstaat, sei in der kurzen Zeitspanne des Rheinbundes nicht nur vorbereitet, sondern auch geprägt worden

Eine allgemeine Verwendung des Begriffes vorher wurde bisher nicht nachgewiesen. Sein Gebrauch zwischen 1806 und 1813 bedeutete, daß er nicht in seinem späteren Sinn verstanden, jedoch mit einer historischen Situation belastet wurde. Der wegen seiner Begeisterung für Napoleon bekannt gewordene Prof. Zinserlich unterschied in seiner 1809 in Heidelberg erschienenen Schrift „Le Systeme federatif des anciens mis en parallele avec celui des modernes" zwischen der „confederation politique" und dem „gouvernement federatif". Unter „confederation politique" verstand er das ungleiche, auf Abhängigkeit eines Teils beruhende, aus einer Politik der Vergrößerung hervorgehende Bündnis. Als „gouvernement federatif" betrachtete er den auf Gleichheit beruhenden und gegenseitigen Schutz bezweckenden wirklichen Staatenverein Die deutschen Staatsrechtslehrer K. S. Zachariä, G. H. von Berg und vor allem W. J. Behr versuchten, die zum Ausgang des Reiches verbreiteten Ansichten fortzuentwickeln.

Zachariä wurde durch seine Angriffe auf den politischen Charakter des alten Reiches bekannt, von dem er sagte, es sei kein Völker-staat, sondern ein bloßer Völkerbund gewesen. Der zunächst weitverbreiteten Auffassung, der Rheinbund sei ein Staat, trat von Berg in seinen „Abhandlungen zur Erläuterung der Rheinischen Bundesakte" entgegen, indem er auf den beschränkten Zweck und die weithin uneingeschränkte Souveränität der Bundesgenossen des Rheinbundes verwies. Die Aufgabe der Sicherheit gegen äußere und innere Feinde konnte nach der Ansicht Bergs kein Grund dafür sein, dem Rheinbund den Charakter eines Staates zuzusprechen. Berg erklärte, die Bundesversammlung im Staatenbund sei eine politische Behörde zur Erhaltung des Friedens unter den verschiedenen Souveränen, aus denen der Bund bestehe. Er betonte mit großem Nachdruck, der Rheinbund sei kein Bundesstaat, sondern nur ein Staatenbund, eine Gesellschaft unabhängiger Staaten zur Erhaltung ihrer äußeren und inneren Ruhe. Er verwies gleichzeitig darauf, daß die falsche Annahme einer eigenen Souveränität des Rhein-bundes eine „aus der aufgehobenen Reichsverfassung herstammende Idee sei"

An diese Auffassungen knüpfte Behr in seiner systematischen Darstellung des Rheinbundes an. Er verzichtete auf die Einführung des Be-griffes Bundesstaat und unterschied zwischen Staatenbund und Völkerstaat. Das wahre Wesen des Staatenbundes besteht nach Behr in der „Vereinigung mehrerer unabhängiger Staaten als solcher, zur gemeinsamen Verfolgung des Zwecks rechtlicher Sicherheit unter sich und gegen außen", während der Völker-staat für Behr ein Verein von Staaten ist, welche einer, allen gemeinschaftlichen höchsten Gewalt und einem Oberhaupte unterworfen sind. Das Oberhaupt des Völkerstaates bezeichnet Behr als ein „in einer Menschen-person gewähltes, sichtbares und physisches (Oberhaupt)"; die höchste Gewalt im Völker-staat ist für ihn eine „wirkliche Staatsgewalt, welche daher aus gesetzgebender, richterlicher und exekutiver Gewalt bestehen müsse." Diese Auffassungen erläuterte Behr in einer eingehenden historisch-politischen Betrachtung der Unterschiede zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und dem Rheinbund

Hinter diesen vordergründigen Erörterungen und Bestimmungen stand der Wunsch, auf Grund der Erfahrungen mit dem alten Reich und der Beobachtungen der politisch-staatsrechtlichen Veränderungen in-und außerhalb Deutschlands zu einer politisch-staatsrechtlichen Lehre zu kommen, die die divergierenden Elemente zusammenfaßte, in ein System brachte und vergleichbar machte. Der Prozeß des Neubedenkens der politischen und staatsrechtlichen Gegebenheiten war nicht auf die Gründungszeit der Vereinigten Staaten von Amerika beschränkt. Die Erörterungen zwischen dem Ausgang des Deutschen Reiches und dem Beginn des Deutschen Bundes sind für die Entwicklung des politischen und des staatsrechtlichen Denkens der Deutschen von großer, bisher noch nicht ausreichend gewürdigter Bedeutung. Es vollzog sich in einer Generation der Abschied von einer jahrhundertealten politischen und gesellschaftlichen Ordnung, der zunächst jedoch keine, für längere Zeit gültige neue Ordnung nachfolgte. Zwischen der Auflösung des Reiches und dem Anfang des Deutschen Bundes, zwischen dem 6. August 1806 und dem 8. Juni 1815, liegt eine Zwischenphase, deren Auseinandersetzungen die Mentalität des deutschen Volkes nachhaltig beeinflußt haben. Die Erörterungen über den Charakter sowohl des alten Reiches als auch des Rheinbundes haben die Entscheidungen des Wiener Kongresses bestimmt; sie haben auch grundsätzliche Überlegungen veranlaßt.

2. Die Diskussionen während des Wiener Kongresses

Der Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768 bis 1834) hielt am 24. März 1814 vor der Akademie der Wissenschaften in Berlin einen Vortrag „über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen" Er gab zunächst einen Über-blick über die Entstehung des Staates, wobei er auf die Nachteile der Polis für die politische Entwicklung Griechenlands verwies: „Die einzelnen griechischen Staaten vergingen alle als Märtyrer für diese kleinliche Form des politischen Daseins, bei der ein loses föderatives Band sie nicht zu schützen vermochte." Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen beschäftigte sich Schleiermacher vor allem mit der Frage nach der Bildung eines die Gesamtheit eines Volkes umfassenden Staates. Durch Zusammenwachsen von kleinen Staaten oder, wie Schleiermacher es formulierte, von Staaten der untersten Stufe entstehe ein Staat höherer Ordnung: „Das erste, und wohl das einzige, was auf ruhigem Wege erfolgen kann, wird dann wohl sein, daß die Einheit des Volkes nur dargestellt wird in einer repräsentativen Versammlung von Abgeordneten der einzelnen Staaten, und so entsteht der föderative Staat, oder die Republik der höheren Ordnung." Schleiermacher vertrat die Auffassung, die Gefährdungen sowohl des Bundesstaates als auch des Staatenbundes durch partikulare Interessen würden nur durch ein monarchisches Element, das Provinzial-und Kantonalinteressen in feste Grenzen zurückweise, überwunden. Der aristokratische König müsse unumschränkt sein, um seinem Volk die Freiheit zu geben; denn die Freiheit aller sei nur in der festen Einheit des Ganzen: „Lebt aber und handelt erst der Teil des Volkes, den ein solcher König unmittelbar beherrscht, mit ihm und durch ihn ganz in dem Gefühl der großen Volkseinheit, dann wird auch die Kraft nicht fehlen, die noch vereinzelten Teile plötzlich oder nach und nach mit dem, in welchem die Idee schon lebt, zu verbinden, und der Staat der höchsten Ordnung ist im Werden, bis zuletzt das ganze Volk unter ein großes und vollkommenes Band zusammengefaßt ist." Schleiermacher beschrieb im Anschluß die Beschaffenheit des Staates der höchsten Ordnung. Dabei führte er über die Wechselbeziehungen zwischen diesem und dessen Bürgern aus: „Jedes lebendige Dasein, das durch die Form des Gegensatzes bedingt ist, kann nur in einer zwiefachen Reihe von Tätigkeiten begriffen werden, deren eine in dem Gliede des Gegensatzes anfängt und in dem anderen endet, die andere aber umgekehrt. Denn ohne diese gegenseitigen Einwirkungen würden die Glieder des Gegensatzes auseinanderfallen und die Einheit des Daseins aufhören; wie denn unser eigenes Leben in dem Gegensatz von Leib und Seele gedacht in sich schließt eine Reihe von Tätigkeiten, die im Leibe anfangend in der Seele enden, wie die materiellen Elemente der Wahrnehmung und des Gefühls in der Seele endend Gedanke werden und Empfindung, und eine andere Reihe solcher, die in der Seele anfangend am Leibe enden, wie die geistigen Elemente des Wollens und des Gefühls erst am Leibe endend Tat werden und Ausdruck; und wie jedes einzelne Leben im Gegensatz gegen das allgemeine gedacht aus einer Reihe von Tätigkeiten besteht, welche in ihm anfangend nach außen enden und ein Leiden irgendeines anderen durch das einzelne darstellen, und aus einer andern, welche von außen anfängt und ein Leiden des einzelnen wird, wobei es nur gegenwirkend ist, nicht ursprünglich. Wenden wir nun dies auf den Staat an: so wird auch sein Leben in zwei verschiedenen Arten von Tätigkeiten zu begreifen sein, einer, die in der Peripherie am Leibe, das heißt bei den Untertanen anfängt und im Regenten endigt, und einer andern, die im Regenten, dem Geist und Mittelpunkt, anfängt und im Umkreise bei den Untertanen endet." Schleiermacher interpretierte seine Auffassung von den ab-und aufsteigenden Wechselbeziehungen zwischen dem Regenten und dem Volke, wobei er den einmaligen persönlichen Charakter jedes geschichtlich gewordenen Staates betonte.

Schleiermacher sah im föderativen Staat, den er als Republik der höheren Ordnung verstand, eine Durchgangs-und Zwischentorm der Entwicklung vom Staate der niederen Ordnung zum Staate der höchsten Ordnung. Er bezeichnete die Zusammenschlüsse griechischer Poleis zu Staatenbünden als föderative Formen, hielt diese jedoch für unzureichend. Er wies dem Föderalismus eine zeitlich und sachlich beschränkte und begrenzte Funktion zu; er trug damit zur Verbreitung der Auffassung bei, föderative Ordnungen seien unvollkommen und unbeständig. Schleiermachers Betrachtung gehört zum theoretischen Hintergrund der dem Wiener Kongreß vorausgegangenen und auf dem Wiener Kongreß erfolgten Diskussionen über die Verfassungsstruktur Deutschlands.

Im Dezember 1813 beantwortete Wilhelm von Humboldt (1767— 1836) in einer Denkschrift für Karl Reichsfreiherrn vom und zum Stein (1757 bis 1831) die Frage, ob Deutschland eine wahre Verfassung erhalten soll, mit der Bemerkung:

„Sprechen zu der Zeit, wo die Frage entschieden werden muß, Haupt und Glieder aus, daß sie Haupt und Glieder sein wollen, so folge man der Anzeige und leite nur und beschränke.

Ist das aber nicht, verlautet nichts als das kalte Verstandsurteil, daß ein Band für das Ganze da sein muß, so bleibe man bescheiden beim geringeren und bilde bloß einen Staaten-verein, einen Bund." Im weiteren Verlauf seiner Darlegung ging Wilhelm von Humboldt auf die Grundtatsachen und Schwierigkeiten einer Verfassung für Deutschland ein. Er verwies dabei vor allem auf die Beziehungen zwischen Österreich und Preußen, deren Gestaltung die Voraussetzung der Wohlfahrt des gesamten Deutschlands sei

Stein erklärte in seiner Stellungnahme zu der Verfassungsdenkschrift Humboldts: „Die Bildung eines Staatenvereins in Deutschland ist nach der gegenwärtigen Lage der Sache leichter als die Wiederherstellung der ehemaligen Reichsverfassung mit einer vergrößerten Gewalt des Reichsoberhauptes, der Verein befriedigt mehr die Ansprüche der größeren deutschen Mächte, von denen nur Hannover geneigt ist, die seinigen aufzugeben. Er stimmt ferner, wie es scheint, mit den Ansichten des Wiener Kabinetts überein, das abgeneigt sein soll, seinem Souverän zu der Wiederannahme der deutschen Kaiserkrone zu raten. Dem Wunsch der Nation ist die Bildung einer, sie gegen äußere Gewalt und inneren Druck schützenden kräftigen Verfassung am meisten angemessen; stehen seiner Erfüllung aber große Schwierigkeiten entgegen, die teils in dem Individuellen der handelnden Personen, teils in dem Verhältnis der verbündeten Staaten liegen, so muß man sich mit dem leichter erreichbaren begnügen, und dieses ist eine Bundesverfassung. Sie bleibt der Idee, Deutschland in vier oder fünf größere, voneinander unabhängige Staaten zu zerstückeln, bei weitem vorzuziehen."

Zur Verwirklichung der Empfehlung Steins, in Deutschland einen Staatenverein, einen Staatenbund, zu bilden, trug der erste Pariser Friedensvertrag vom 30. Mai 1814 bei; er bestimmte: „Die deutschen Staaten sollen unabhängig sein und durch ein föderatives Band miteinander verbunden." Damit war ein Staatenbund für Deutschland präjudiziert. Der preußische Entwurf für eine deutsche Bundesverfassung, den der preußische Staatskanzler Karl August Fürst Hardenberg (1750— 1822)

dem Wiener Kongreß vorlegte, nahm darauf Rücksicht. Sein Artikel 1 lautete: „Alle Staaten Deutschlands vereinigen sich durch einen feierlichen Vertrag, den jeder Teilhaber auf ewige Zeit schließt und beschwört, in einem politischen, föderativen Körper, der den Namen Deutscher Bund führt und aus dem niemand heraustreten darf. Verletzungen des Bundes-vertrages werden mit Acht bestraft."

Die sehr mühsamen Verhandlungen des Wiener Kongresses bewegten sich über die organisatorische Gestalt und verfassungsmäßige Zuständigkeit des zu errichtenden Deutschen Bundes — eines Staatenbundes. Die Bundesakte vom 8. Juni 1815 nahm dazu ausführlich Stellung. Die souveränen Fürsten und die Freien Städte Deutschlands vereinigten sich, wie es darin heißt, „zu einem beständigen Bunde, welcher der Deutsche Bund heißen soll". Als Zweck dieses Bundes wurde angegeben: „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten."

Die Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820 erläuterte eingehend die verfassungsrechtliche Struktur des Deutschen Bundes:

„Artikel 1: Der Deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit ihrer im Bunde begriffenen Staaten und zur Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit Deutschlands.

Artikel 2: Dieser Verein besteht in seinem Innern als eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten mit wechselseitigen, gleichen Vertragsrechten und Vertragsobliegenheiten, in seinen äußeren Verhältnissen aber als eine in politischer Einheit verbundene Gesamtmacht.

Artikel 3: Der Umfang und die Schranken, welche der Bund seiner Wirksamkeit vorgezeichnet hat, sind in der Bundesakte bestimmt, die der Grundvertrag und das erste Grundgesetz dieses Vereins ist. Indem dieselbe die Zwecke des Bundes ausspricht, bedingt und begrenzt sie zugleich dessen Befugnisse und Verpflichtungen." In weiteren Artikeln legte die Wiener Schlußakte die Zuständigkeiten des Deutschen Bundes eingehend fest; sie gab damit eine sehr genaue Beschreibung der Ordnung eines Staatenbundes.

Die Fürsten Deutschlands und ihrer Regierungen hielten angesichts des Gegensatzes zwischen Österreich und Preußen den Staatenbund, den Deutschen Bund, für die einzig mögliche Form der Repräsentation der Einheit

Deutschlands. Dieser Ansicht war nicht der Teil des deutschen Volkes, der die Entwicklung zwischen 1789 und 1815, zwischen dem Ausbruch der Französischen Revolution und dem Ende des Wiener Kongresses, bewußt erlebt hatte und einen stärkeren Zusammenschluß des deutschen Volkes forderte. Seine Abneigung gegen den Deutschen Bund, der sich als föderativer Körper verstand, übertrug sich auf den noch konturlosen Begriff Föderalismus.

3. Zur Beurteilung des Deutschen Bundes

In der ersten Sitzung der Versammlung des Deutschen Bundes, des „Bundestages", am 5. November 1816 nahm der österreichische Präsidialgesandte, Johann Rudolf Reichsgraf von Buol-Schauenstein, zu der deutschen Situation Stellung. Er ging zunächst auf die Auswirkung der Auflösung des Reiches ein und gab anschließend eine Charakteristik der politischen Eigenschaften des deutschen National-charakters: „Im Deutschen als Menschen, auch ohne alle willkürliche Staatsformen, liegt schon das Gepräge und der Grundcharakter desselben als Volk; aber auch umgekehrt, die Eigentümlichkeit der öffentlichen bürgerlichen Verhältnisse, worin sich der Deutsche befindet, ist sichtbar im Wesen und Privatleben der einzelnen ... Im Deutschen als Menschen liegt Liebe zu den Wissenschaften, zu den abstrakten, zu den streng gelehrten, sowie zu denjenigen Erfahrungs-und positiven Wissenschaften, deren praktische Anwendung unmittelbar sich im Verkehr der Menschen zeigt."

Buol-Schauenstein erging sich in einer Aufzählung der kulturellen Leistungen und Neigungen der Deutschen und stellte anschließend die Frage: „Im Resultat sei es daher mit Wahrheit ausgesprochen: Würden die Deutschen im Reiche der Wissenschaft, der Kunst, der Erfindungen, der Gewerbe, des Handels; würden sie im Besitze des ersten Nationalmuseums der Welt sein, wie sie es jetzt sind, wenn nur Eine Hauptstadt wäre, nur Ein Fürst über diese Bevölkerung von mehr als 30 Millionen Menschen regierte. Ist nicht jenes ebenso Folge von diesem? Die größere Regsamkeit und Mannigfaltigkeit im Privatleben, ist sie nicht ebenso Folge der verschiedenen freien politischen Formen, sowie hingegen auch diese ihre große Stütze in jenem freien Charakter der Deutschen zu finden? Führte nicht jene Liebe zur Wissenschaft und Kunst auch zu der Eigentümlichkeit desselben, daß er im Reich des Wissens keine Nationalität erkennt? Der Deutsche achtet und ehrt, er strebt nach dem und eignet sich an, was er für gut und wissenswert hält, es kommt aus welcher Zone, von welchem Volke es wolle. Er ist gerecht gegen jedes Verdienst; und so wie auch diese Eigenschaft desselben in den verschiedenen bürgerlichen Formen ihre Stütze findet, so führt auch selbige zu jener Eigenheit, das in dieser Hinsicht die Bescheidenheit oft in ihrer größeren Ausartung, der Selbstverleugnung zeigt."

Im Anschluß daran erklärte der österreichische Präsidialgesandte, die Deutschen seien ein Urstamm in der Reihe der Nationen, hätten aber nur für kurze Zeit einen einigen wahren Staat gebildet: „Die älteste Urabteilung in mehrere Volksstämme auf Germaniens Gesamtboden führte schon in erstem Keime zum späteren Bild". Buol-Schauenstein streifte die deutsche Entwicklung und bezeichnete als deren Ergebnis: „Deutschland schon seit der frühesten Zeit in mehrere Staaten zerlegt, aber vereint im großen Band der Nationalität, deren sichtbares Symbol die deutsche Kaiserkrone war, erreichte in dieser Art kaum den Anfang des 19. Jahrhunderts."

Buol-Schauenstein ging auf die tiefgreifenden Veränderungen zwischen 1803 und 1814 ein und feierte die Unterzeichnung der Deutschen Bundesakte, den 8. Juni 1815, als den Anfang einer neuen Zusammenfassung aller deutschen Staaten zu einem Bund. Im Anschluß daran bemerkte er: „So also erscheint Deutschland wieder als Ganzes, als eine politische Einheit; wieder als Macht in der Reihe der Völker." Anschließend gab der österreichische Vertreter in der Bundesversammlung des Deutschen Bundes eine weitere Definition der politischen Eigenschaften und der politischen Aufgaben der Deutschen: „Deutschland war im Laufe der Zeit weder berufen, die Form einer Einherrschaft oder auch nur eines wahren Bundes-staates zu gewähren, ebensowenig aber ent-sprach es den Bedürfnissen der allwaltenden Stimme der Zeit, ein bloßes politisches Schutz-und Trutzbündnis zu schließen; sondern in der Zeitgeschichte ist Deutschland dazu berufen, einen zugleich die Nationalität sichernden Staatenbund zu bilden. Dieses ist Deutschlands Bestimmung, dieses der Standpunkt der deutschen Nation in der Reihe der übrigen Völker Europas."

Diese Ansprache des österreichischen Präsidialgesandten bei der Konstitution der Bundesversammlung des Deutschen Bundes verdient aus mehreren Gründen Erwähnung. Sie bringt eine Absage sowohl an einen Einheitsstaat als auch an einen Bundesstaat. Sie ist ein nachdrückliches Bekenntnis zu einem Staatenbund; sie gebraucht eine Argumentation, deren sich auch Goethe in einem Gespräch mit Eckermann über die Einheit Deutschlands bedient hat: „Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde . . . Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander! . . . Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige Residenz habe und diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwicklung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum. Wodurch ist Deutschland groß, als durch eine bewunderungswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reiches gleichmäßig durchdrungen hat? Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur beide Residenzstädte Wien und Berlin oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände!"

Der Historiker A. L. Heeren stellte in seiner 1817 geschriebenen Studie „Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem Europäischen Staatensystem; bei Eröffnung des Bundestages dargestellt" zwar die Frage nach den Vorzügen von Staatenbund und Bundesstaat, gab sich jedoch mit der Erkenntnis zufrieden, der Deutsche Bund sei als eine politische Einheit, als eine Gesamtmacht in seinen Beziehungen zum Ausland konstituiert und gehe somit über eine bloße Allianz hinaus. In einem 1821 geschriebenen Nachwort gab Heeren zu, die vom Deutschen Bund nicht erfüllten Erwartungen vieler hätten auf der falschen Vorstellung beruht: „Statt den Bund für das anzusehen, was er ist; wofür er sich selber gleich bei der Eröffnung des Bundestags erklärt, für einen Staaten-verein, wollte man das in ihm sehen, was er nicht ist, und der Natur der bestehenden Ver-hältnisse nach nicht sein oder werden kann, einen Staat; wozu die Vergleichung, die map zwischen ihm und Nordamerika, zwischen dem Congreß, der nach eigener Vollmacht, und dem Bundestag, der nach den Instruktionen seiner Committenten handelt, stillschweigend anstellte (statt daß man sie etwa mit der Schweiz, und der Schweizer Tagsatzung hätte anstellen sollen), beitragen mochte."

Heeren bezeugte mit dieser Bemerkung, daß die bundesstaatlichen Verhältnisse der Vereinigten Staaten von Amerika bekannt und vertraut waren und daß an ihnen die Gegebenheiten des Deutschen Bundes gemessen, bewertet und beurteilt wurden. Er warnte vergebens vor der allgemeinen Erwartung, daß der Deutsche Bund vom Staatenbund zum Bundesstaat umgewandelt werde. Diese Hoffnung brachten zahlreiche Gelehrte und Publizisten zum Ausdruck.

Der Philosoph Jakob Friedrich Fries (1773 bis 1843) vertrat in seiner 1816 in Heidelberg erschienenen Betrachtung „Vom Deutschen Bund und Deutscher Staatsverfassung. Allgemeine staatsrechtliche Ansichten" die Auffassung, es sei unerheblich, was der Deutsche Bund sei. Wichtig sei, was der Deutsche Bund werden solle. An diese Bemerkung knüpfte er die Forderung an: „Für diese kräftige Einigkeit Deutschlands wünschen wir also nicht nur einen schlaffen Staatenbund, sondern einen fest vereinigten Bundesstaat, jedoch so, daß unsere Verfassung mit getrennten Provinzialstaaten beibehalten werde." Fries verlangte eine wahre, höchste Regierung des Bundes, vorzüglich eine Bundesgesetzgebung auch über die inneren Angelegenheiten der Einzelstaaten. In den Forderungen nach einer höchsten Regierung und nach einer Gesetzgebungskompetenz auch über die inneren Verhältnisse der Gliedstaaten schienen ihm die wichtigsten Axiome eines Bundesstaates zu liegen.

Die Diskussion über die erwartete Entwicklung des Deutschen Bundes zum Bundesstaat bestimmte die politische Situation Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Indem die im Deutschen Bund zusammengeschlossenen Regierungen der Einzelstaaten jeden Schritt zur Fortentwicklung des Staaten-bundes in Richtung eines Bundesstaates ablehnten, gerieten sie in immer stärker hervortretenden Gegensatz zu den Hoffnungen der Träger der öffentlichen Meinung, zu den Vorstellungen des größeren Teiles des deutschen Volkes und den Notwendigkeiten der einsetzenden industriellen Entfaltung. Das föderative Prinzip wurde sowohl von den Befür-wortern des Deutschen Bundes als auch von den Vertretern der Forderung nach dessen Umgestaltung in einen Bundesstaat in Anspruch genommen; es geriet dadurch noch vor seiner Verbreitung und Durchsetzung ins Zwielicht.

4. Bahnbrecher der Bundesstaatsidee: Gagern — Pfizer — Welcker

An den freilich bereits im Ansatz schon zum Scheitern verurteilten Bemühungen, den Deutschen Bund im Sinne eines durch Föderalismus gemäßigten Zentralismus auszubauen, beteiligten sich vor allem der Präsidialgesandte Österreichs, Johann Rudolf Reichsgraf von Buol-Schauenstein, der Vertreter Bremens zum Bundestag, Johann Smidt, und der Vertreter Luxemburgs, Plans Christoph Reichsfreiherr von Gagern. Der älteste Sohn des letztgenannten Gesandten Luxemburgs zur Bundesversammlung, Friedrich Freiherr von Gagern (1794— 1848), hatte während der Dienstleistung bei seinem Vater Gelegenheit, sich eingehend mit den anstehenden politischen und staatsrechtlichen Fragen zu befassen. Er schrieb 1825 oder 1826 einen Dialog „Unitarier und Föderalisten" der aus mehrfachen Gründen bemerkenswert ist. Bereits in der Überschrift werden Bezeichnungen verwandt, die verhältnismäßig selten in der zeitgenössischen Diskussion anzutreffen sind.

Wie eingangs bemerkt, setzte sich der Begriff Föderalismus nur langsam durch. Mit noch größerer Verzögerung wurde die Bezeichnung Unitarier im politischen Sprachschatz Deutschlands heimisch. Überschrift und Inhalt des erfundenen Dialogs Friedrich von Gagerns machen deutlich, daß Unitarismus und Föderalismus als Gegensätze verstanden und auf die deutsche Situation angewandt worden sind. Das Gespräch zwischen einem Unitarier und einem Föderalisten greift eine Vielzahl grundsätzlicher und zeitbedingter Fragen auf. Als Ziel bekennt der Unitarist: „Ich sehe keine Rettung für uns, als die Vereinigung aller deutschen Staaten in ein einziges Reich. Es ist der allgemeine Wunsch!" Der Föderalist bemerkt darauf: „Ich begreife weder, wie das zu erreichen ist, noch warum in dieser Einheit alles Heil liegen soll!" Die beiden Gesprächspartner erörtern nach einem Disput über die Zustände in Frankreich und Großbritannien die Frage einer deutschen Hauptstadt. Der Föderalist: „Aber wir werden schon deshalb auf die Einheit verzichten müssen, weil wir keine an-erkannte Hauptstadt haben." Der Unitarist darauf: „Kehren Sie den Satz lieber um; wir müssen eine Hauptstadt anerkennen, weil wir sonst auf die Einheit verzichten müssen." Auf die Frage des Föderalisten: „Und welche großen Vorteile hoffen Sie denn von dieser Einheit?", erwidert der Unitarist: „Vor allem Ehre, Macht und Ansehen der Nation, die schönere Entwicklung derselben; ihren größeren Einfluß im europäischen Staatensystem; Ersparnisse, Gleichförmigkeit der Gesetzgebung und Verwaltung in allen Stücken, wo diese Gleichförmigkeit wünschenswert und vorteilhaft ist; freie Tätigkeit des Handels."

Der weitere Dialog dreht sich um die Imponderabilien des Deutschen Bundes und die Funktionen der Gesandten zur Bundesversammlung. Der Unitarist faßt seine Meinung über den Deutschen Bund in dem Urteil zusammen: „Aber a posteriori sehen Sie, daß Niemand an Ihrem Bunde hängt; die Großen sehen ihn nur als ihr Instrument an; die Mittleren suchen ihn zu vereiteln, weil sie darin nicht herrschen können und auch nicht beherrscht sein wollen; die Kleinen fühlen sich gekränkt und zurückgesetzt; — in der ganzen Nation ist Niemand, den er befriedigt." Der Föderalist bemerkt darauf: „Ich bekenne gern, daß ich diesen Bund nie für vortrefflich, nie für die beste Verfassung hielt, wohl aber für die beste, die unter den gegebenen Umständen ohne Bürgerkrieg und ungeheures Blutbad zu erlangen wäre. Ich halte ihn noch jetzt für besser als die Zwei-herrschaft und die Fünfherrschaft, und darüber ist, wie mir scheint, Jedermann einverstanden." Nachdem der Unitarist dies mit „Gewiß" bekräftigt hat, fährt der Föderalist fort: „Und soll ich meine Meinung ganz sagen: Ich sah in der Entwicklung des Bundes, wenn die Nation lebhafteren Anteil daran genommen hätte, ein Mittel, vielleicht nach und nach in der fernen Zukunft unblutig dasselbe Ziel zu erreichen, wohin Sie durch so gewaltsame und gefährliche Mittel gelangen wollen. Wir wollen in Deutschland immer gleich das Ziel, aber nicht den Weg zum Ziel." Abschließend versichert der Unitarist: „Das ist allerdings das Stärkste, was Sie noch gesagt haben. Aber dieser Weg ist nun verfehlt und das Ziel dürfen wir nicht aufgeben." Friedrich von Gagern stand aut der Seite des „Unitaristen"; er versuchte jedoch, den Erwägungen und Einwänden des „Föderalisten"

Rechnung zu tragen. Dessen Auffassung näherte er sich in seiner Ende 1833 geschriebenen Denkschrift „Vom Bundesstaat". Gagern stellte an den Anfang des ersten Kapitels eine Begriffsbestimmung: „Der Bundesstaat ist die Vereinigung mehrerer Staaten, welche sich zur vollkommenen Erreichung des Staatenzwecks einer gemeinschaftlichen Staatsgewalt unterwerfen, ohne daß die Regenten der einzelnen Staaten allen inneren Hoheitsrechten entsagen." Nach sehr eingehenden Darlegungen über die Kompetenzverteilung zwischen Bundesstaat und Gliedstaat machte Friedrich von Gagern den Standort des Bundesstaates aus. Er erklärte: „Der Bundesstaat steht also zwischen dem einfachen Staat und dem Staatenbund in der Mitte, und in der Erfahrung kann es oft schwer sein, scharf zu unterscheiden, ob er der einen oder der anderen Kategorie angehört;

weil sowohl ein einfacher Staat, in welchem Provinzialständen verschiedene und große Rechte zustehen, als auch ein Staatenbund, in welchem der Bundesgewalt ausnahmsweise gegen die eigentliche Natur des Staatenbundes nach Stimmenmehrheit eine große Macht gegeben ist, sich beide dem Begriff des Bundes-staats sehr nähern, ja fast mit demselben zusammenfließen können. — Die Geschichte so wenig als die Natur kennt scharf begrenzte Klassen; die Übergänge sind unmerklich; die Klassen sind ein Produkt der Abstraktion. Zu verwundern aber ist es, daß die Geschichte so wenig Beispiele von zweckmäßig geordneten dauernden Bundesstaaten aufzuweisen hat, da doch diese Form so sehr geeignet scheint, die Vorzüge zu gewähren, welche großen Staaten eigen sind, ohne die Vorteile kleiner Staaten zu verlieren. Denn im Bundesstaat liegt das Mittel, in auswärtigen Verhältnissen mit Ansehen und Macht aufzutreten, Angriffe und Beeinträchtigungen großer Nachbarstaaten mit Erfolg abzuwehren, im Innern die Hindernisse wegzuräumen, welche Lokalinteressen dem Gemeindebesten in den Weg legen, kurz alles das zu erreichen, was nur durch das Zusammenwirken großer und vieler Kräfte erreicht werden kann, während den kleineren Territorien doch hinreichende Selbständigkeit bleibt, um ihre eigenen Angelegenheiten nach Lokal-bedürfnissen und Rücksichten zu ordnen, die Tätigkeit und Teilnahme aller Staatsbürger zu wecken, und in freier Entwicklung der Individualität Mannigfaltigkeit und Wetteifer zu erhalten." Nach Darlegung der Ausgabenteilung zwischen Bundesstaat und Gliedstaaten erklärte Friedrich von Gagern: „Die Frage, was vorzüglicher sei, Bundesstaat oder Staatenbund, muß zugunsten des ersteren entschieden werden, weil dieser dem Zweck des Staats, — einen möglichst vollkommenen und gesicherten Rechts-zustand zu begründen, — am meisten entspricht. Allerdings ist in dem bloßen Staatenbund die Freiheit und Selbstbestimmung der einzelnen Staaten viel weniger beschränkt, aber auf Gefahr des Ganzen, und eine zweckmäßige Verfassung des Bundesstaats leistet hinlänglich Gewähr, daß eine Beschränkung nur stattfindet, wo es das allgemeine Beste erheischt. Nur die durch den Bundesstaat begründete oberste Staatsgewalt und Reichshoheit wird die Einheit und Kraft haben und nachhaltig entwickeln, welche die Nationalität mit Würde gegen das Ausland vertreten und im Innern solche Einrichtungen schaffen kann, welche den Aufwand der vereinten Kräfte erfordern; Einrichtungen, welchen im Staatenbund der Egoismus und die Eifersucht der einzelnen Regierungen unübersteigliche Hindernisse in den Weg legen. Und selbst wo das Interesse gefördert würde, da sträubt sich noch und hindert die Eitelkeit. Diese Eitelkeit tut lieber Dinge, wovon sie allein das Lob erntet, als solche, deren Verdienst sie mit andern teilen muß. Diese Übel kann nur eine oberste Staatsgewalt heben, welche die Mittel hat, ihren Geboten Nachdruck zu geben."

Im zweiten Kapitel seiner Denkschrift untersuchte Gagern die Bedingungen der Entstehung des Bundesstaates. Im dritten Kapitel skizzierte er die „Verfassung für den Bundesstaat". Friedrich von Gagern schrieb zwar eine Theorie des Bundesstaates; er dachte dabei stets an die Verhältnisse in Deutschland, an deren Lösung er brennend interessiert war.

In Gagerns Denkschrift „Vom Bundesstaat"

klangen Auffassungen und Vorstellungen an, die der württembergische Politiker Paul A.

Pfizer (1801— 1867) in seinem 1831 erschienenen „Briefwechsel zweier Deutscher" geäußert hatte. Pfizer führte darin aus, das künftige Schicksal Deutschlands hänge von der Lösung des Gegensatzes des Theoretischen und Praktischen ab. Er setzte seinem republikanischen Föderativsystem als der idealistischen Hoffnung die Forderung einer Neugestaltung Deutschlands durch die Initiative und durch das Protektorat Preußens entgegen, womit er das politische Denken und die politische Entscheidung seines Jahrhunderts nachhaltig beeinflußte. Pfizer war gleichzeitig bestrebt, die theoretischen Voraussetzungen und Klärungen für die von ihm befürwortete Losung der deutschen Frage zu bieten. Im Jahre 1835 legte er eine Studie „Uber die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung des Bundes" vor, in der er für seine Vorstellung von der Lösung der deutschen Frage durch ein Protektorat Preußens über das außerösterreichische Deutschland die Bezeichnung Bundesstaat empfahl. Einheit und Freiheit in engster Verbindung miteinander seien die durch die Lehren der deutschen Geschichte vorgezeichneten Losungsworte für die Zukunft des deutschen Volkes. Zu ihrer Erreichung sei der Staatenbund völlig ungeeignet, weil dieser die Staaten und die Regierungen nur als Vereinsgenossen anerkenne und die inneren Verhältnisse der Gliedstaaten unberührt lasse. Der Bundesstaat sei dagegen in der Lage, das Bedürfnis und Verlangen nach nationaler Einheit und Freiheit durchaus zu befriedigen, da er sich auf alle Elemente erstrecke, deren Zusammenfassung für die Gesamtheit, wünschenswert sei. Vor allem schaffe er unter den Bürgern der Gliedstaaten rechtliche Beziehungen, die den Erwartungen des deutschen Volkes entsprächen.

In der Ausdehnung des Staatszwecks auf alle Bereiche der nationalen Wohlfahrt und in der Gleichstellung aller Bürger der Gliedstaaten sah Pfizer die charakteristischen Elemente des Begriffes vom Bundesstaat. Er räumte ein, der Bundesstaat könne gleich dem Staatenbund republikanisch organisiert werden, sprach sich jedoch angesichts der deutschen Gegebenheiten für die Oberhoheit des mächtigsten Fürsten über die minder mächtigen aus. Das Bedürfnis der Einheit verlange, erklärte er, daß die handelnde und vollziehende Gewalt Preußen als der rein deutschen Großmacht anvertraut werde, während die gesetzgebende Gewalt vom Bundestag in Gemeinschaft mit einer Nationalvertretung auszuüben sei. Bundestag bedeutete die Vertretung der Gliedstaaten, das Organ der Einzelstaaten, den späteren Bundesrat. Als Nationalvertretung war das von allen Bürgern des Bundesstaates gewählte Parlament, der nachmalige Reichstag, gemeint.

Die Volksvertretung sollte mit umfassenden konstitutionellen Befugnissen ausgestattet werden, sie sollte die Repräsentanz der Einheit des deutschen Volkes und das Organ der Freiheit der Bürger sein.

Pfizer zeichnete die Konturen der Verfassung des späteren Norddeutschen Bundes und Deut-sehenReiches. Er erfüllte den sich allmählich formenden Begriff Bundesstaat mit klaren Vorstellungen, die nicht das Ergebnis theoretischer Überlegungen, sondern der Berücksichtigung der deutschen Gegebenheiten waren. Bei dem Versuch, diese miteinander in ein Regierungssystem zu vereinen, entwickelte er eine föderative Struktur, die er als Bundesstaat verstand. Die deutsche Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts brachte im Bereich politischer Überlegungen und staatsrechtlicher Erwägungen die Neuentdeckung und wissenschaftliche Festlegung des genossenschaftlichen und des föderativen Prinzips. Darauf nahmen, wie bereits bemerkt, die Vorgänge in Nordamerika und auch die schweizerischen Bundesreformbestrebungen Einfluß.

Der in Kiel, Heidelberg, Bonn und Freiburg im Breisgau tätige Staatsrechtslehrer Carl Theodor Welcker (1790— 1869) faßte als erster die zeitgenössischen Erkenntnisse und Vorstellungen über bundesstaatliche Ordnungen zusammen. Das von Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker, den beiden Führern der süddeutschen Liberalen, 1836 herausgegebene „Staats-Lexikon" oder „Encyklopädie der Staatswissenschaften" enthält einen 41 Seiten umfassenden Beitrag von C. T. Welcker über „Bund, Bundesverfassung, Staaten-oder Völkerverein, oder Föderativsystem, insbesondere: Staatenbündnis, Staatenbund, Bundes-oder Staatenstaat, Grenzen der Gewalt, Politik und Verfassung der Bundesvereine im allgemeinen"

Welcker gab in diesen Stichworten zunächst eine Entwicklungsgeschichte des Begriffes der Bundesvereine, nahm danach eine Einteilung der Bundesvereine vor und beschrieb die wesentlichen Aufgaben der verschiedenen Staatenvereine. Als Ergebnis der darin vorgenommenen Definition des Bundesstaates erklärte Welcker: „Der rechtliche Grundcharakter des Bundesstaates . . . besteht .. . darin, daß in ihm mehrere unvollkommene souveräne Staaten und Regierungen zu einer wahren moralischen Persönlichkeit oder Universalitas, und zwar zu einer staatsrechtlichen oder zu einer gemeinschaftlichen höheren Staatsverfassung vereinigt und ihr untergeordnet sind."

Bei der Charakterisierung der Merkmale des Bundesstaates stellte Welcker den Zweck des Bundesstaates vor. Er unterschied zwischen Staatszweck und Nationalzweck und verwies auf den Menschheitszweck der Nation. „Dieser Zweck ist jedoch", versicherte Welcker, „andererseits nur insoweit Bundeszweck, als dessen Forderung und Schätzung nicht genügend schon von besonderen Staaten bewirkt werden kann. Nur insoweit dieses nicht der Fall ist, soll der Bundesstaat für die einzelnen, in besondere Staaten geteilten Stämme einer Nation dasselbe sein, was der Staat für die einzelne Familie ist. Eine Beschränkung der einzelnen Staaten durch die Bundesgewalt wird nur insoweit anerkannt, ist nur insoweit vernünftig."

Welcker betonte mit großem Nachdruck, der Bundesstaat begründe nicht bloß äußerlichen, sondern moralischen und innerlichen (oder nationalen) höchsten Zweck und Lebensgesetz und als eine moralische persönliche Einheit der verschiedenen Staaten eine innerliche und äußerliche Vereinigung aller Bundesglieder zu einem wahren und zugleich zu einem souveränen die Gemeinwesen. Er erinnerte an Vorgänge der amerikanischen Verfassung, würdigte die Beschränkung des Bundesstaates durch die allgemeine rechtliche Freiheit aller Gesellschaftsglieder und verteidigte die Selbständigkeit der Einzelstaaten. Gleichzeitig pries er den Bundesstaat als die eigentümliche Entsprechung nationaler Forderungen und Vorstellungen der Einzelbürger: „Der Bundesstaat ist so, wie die griechischen und der nordamerikanisce, und so wie, freilich leider unvollständiger, das ehemalige Deutsche Reich und die Schweiz, ein unmittelbarer Verein auch aller Bürger und mit denselben. Er begründet also für sie ein wahres nationales oder Bundesbürgerrecht neben dem Landesbürgerrecht. Der Bundesstaat ist nicht, so wie in neuerer Zeit immer vollständiger der Deutsche Bund, bloß ein Verein der Regierungen. Die Bürger sind durch das gemeinschaftliche nationale Lebensgesetz und für dasselbe verbunden. Ihre unmittelbare Teilnahme an der Nationalvereinigung ist sogar der Regel nach älter als die jetzigen besonderen Staaten und Regierungen. Die Bundeszwecke und Bundes-pflichten und Rechte betreffen sie nach dem schon entwickelten unmittelbar, so daß auch in Nordamerika wie im Deutschen Reich die Bundesgesetzte ohne besondere Aufnahme und Publikation im Lande von selbst und als Bundesgesetze die Bürger verpflichten, und alle entgegenstehenden Landesgesetze von selbst (ipso jure) ungültig sind."

Welcker faßte seine Untersuchungen über den Bundesstaat in die Beantwortung der selbst-gestellten Frage nach dessen wesentlicher Natur und Aufgabe und nach der Grundidee der Gründung zusammen: „Offenbar soll der Bundesstaat a) nicht ein bloß völkerrechtlicher Staatenbund, sondern ein zur engeren Einheit des Staates organisierter Verein sein. Solcher Gestalt soll er die Kräfte aller Bürger und aller Regierungen der Vereinsstaaten für den Gesamtzweck äußerlich wie innerlich vereinigen und sie vermittels der Bundesgewalt als Bundeseinheit innerlich und äußerlich repräsentieren. In dem so organisierten Bundesverein aber soll nun b) das allgemeine nationale Lebenselement des Volkes in der allgemeinen, freien Wechselwirkung und Verbindung erhalten und gestärkt werden. Ohne diese doppelte Absicht hätten ja die verschiedenen Vereins-staaten getrennt eine besondere Souveränität behaupten müssen. Sie wollten aber dieses nicht und schlossen als Bundesstaat selbst eine bloß äußerliche Verbindung eines Staaten-bundes aus. Der Bundesstaat soll aber auch c)

das besondere Leben und Bestehen, die besonderen Eigentümlichkeiten der einzelnen besonderen Staaten und ihrer Regierungen erhalten und befriedigen. Es soll also auch das partikuläre (nach schweizerischem Ausdruck das örtliche oder das kantonale) Lebenselement erhalten werden. Dieses partikuläre Interesse und die allgemeine Nationaleinheit und Nationalfreiheit sollen stets harmonisch vermittelt werden. Hätte man dieses nicht gewollt, so hätten ja die einzelnen Bundesstaaten ihre besondere Existenz aufgegeben und sich zu einem einfachen Staat vereinigt. Der Bundesstaat schließt aber dieses oder den einfachen Staat ebenso entschieden aus, als die Trennung und als selbst der bloße Staatenbund, das nationale freie Leben, das partikuläre Staatenverhältnis in kräftiger Bundes-einheit. Dieses sind die drei Hauptbestandteile, Aufgaben und Lebensrichtungen des Bundesstaates. Alle drei müssen in ihm vertreten werden, soll er nicht untergehen entweder in einem Staatenbund, wo das erste, oder in einem einfachen Staate, wo das zweite, oder in Anarchie, wo das dritte keine kräftige Repräsentation findet."

Die von Welcker entwickelten Vorstellungen über den Bundesstaat nehmen ständig Bezug auf die Verhältnisse im ehemaligen Deutschen Reich, das mit Einschränkungen als Bundesstaat apostrophiert wird, auf die Gegebenheiten der Vereinigten Staaten von Amerika und auf die Situationen der Schweiz. Sie legen sowohl die Voraussetzungen als auch die Bedingungen der Entwicklung eines Bundesstaates fest und stellen den Bundesstaat in die Mitte zwischen dem einfachen Staat, das heißt zentralisiertem Einheitsstaat, und dem Staatenbund. Welcker rechtfertigte den Bundesstaat mit der Feststellung: „Es war mithin wahrlich nicht ein sonderbarer Zufall, sondern die tiefe Natur der Sache und die Vernunft, welche die verschiedensten gebildeten Nationen bestimmte, in ihren Bundesverfassungen auf eine so merkwürdig gleiche Weise gerade nach solchen drei Hauptorganen zu streben, die vorzugsweise sich eignen, jene äußere National-einheit, die allgemeine Nationalfreiheit und die Besonderheit aller einzelnen Bundesstaaten in allseitiger Vermittlung zu erhalten."

Die Darstellungen Friedrich von Gagerns, Paul A. Pfizers und Carl. T. Welckers — nicht als Beiträge zur Idee des Bundesstaates, sondern als Empfehlungen zur Lösung der deutschen Frage, das heißt zur Verwirklichung der deutschen Einheit unter den gegebenen Umständen gedacht — bestimmten die rasch breiter werdende Diskussion der politischen Lage Deutschlands und die verstärkte Beschäftigung mit föderativen Staatsorganisationen. Sie fanden Eingang in zahllose Aufsätze und Artikel; sie lösten Untersuchungen über die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse nicht nur in Deutschland aus; sie weckten die allgemeine Aufmerksamkeit für die Situation sowohl der Vereinigten Staaten von Amerika als auch der Schweiz; sie schlugen in den Forderungen und Plänen des Revolutionsjahres 1848 und der Ersten Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main 1848/1849 durch.

5. Die Entscheidung der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 für eine bundesstaatliche Ordnung Deutschlands

In der dem Ausbruch der Revolution von 1848 vorausgegangenen Auseinandersetzung wandten sich die Anhänger eines Staatenbundes, die Verfechter und Verteidiger des Deutschen Bundes, gegen die, wie sie sagten, „verkehrten und verdrehten Idealforderungen von der politischen Einheit Deutschlands, von einem deutschen Bundesstaate, wie ihn einige Literaten sich ausgedacht hatten", während die Vertreter der Forderung nach einer festeren und engeren Einheit Deutschlands, Staatsrechtslehrer, Politiker, Publizisten und Studenten, der Überzeugung waren, eine bundesstaatliche Ordnung allein sei in der Lage, sowohl das Ziel des nützlichen Strebens des deutschen Volkes zu verwirklichen als auch den in Deutschland bestehenden Verhältnissen Rechnung zu tragen. Die Unfähigkeit des Deutschen Bundes, die anstehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen, begünstigte nicht nur die Hinwendung zum Bundesstaat, sie diskreditierte auch den Staatenbund in den Augen der an nationaler Einheit interessierten Deutschen. Die Idee des Bundesstaates verbreitete sich rasch. Ihre Befürworter und Parteigänger erwarteten von ihrer Verwirklichung die Erfüllung der nationalen Sehnsucht des deutschen Volkes. Eine breite, von großen Hoffnungen begleitete Bewegung für einen deutschen Bundesstaat nahm ihren Anfang.

Das im Sommer 1847 in der „Deutschen Zeitung" veröffentlichte Verfassungsprogramm sprach die Erwartung aus, die Entwicklung werde dazu führen, „bei einer ersten ernsten Gelegenheit und größeren Zeitforderung die schlaffen staatenbündlichen Bestimmungen in bundesstaatliche anzuziehen". Das „Heppenheimer Programm" der südwestdeutschen Liberalen enthielt zwar nicht expressis verbis die Forderung nach einer bundesstaatlichen Ordnung; das von ihm entworfene Bild einer Zusammenfassung, Vereinheitlichung und Straffung der deutschen Verhältnisse stimmte jedoch mit den Vorstellungen über die Errichtung eines Bundesstaates weithin überein

Der vor Ausbruch der Februar-Revolution in Frankreich von Friedrich D. Bassermann (1811 bis 1855) vorgelegte Antrag auf eine Vertretung der deutschen Städtekammern beim Bundestag zur Erreichung gemeinsamer Gesetzgebung und einheitlicher Nationaleinrichtungen forderte die Umwandlung des deutschen Staatenbundes in einen deutschen Bundesstaat

In den nach dem Ausbruch der Revolution in Deutschland im März 1848 allenthalten erhobenen und veröffentlichten Vorstellungen wurde die Errichtung einer bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland direkt oder indirekt gefordert.

In den zwischen dem Ausbruch der Revolution und dem Zusammentritt der ersten deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main entwickelten und veröffentlichten Empfehlungen und Vorschlägen finden sich die Ansichten, die Gagern, Pfizer, Welcker und in ihrer Nachfolge zahlreiche Staatsrechtslehrer und Publizisten entwickelt hatten. In der Verwirklichung eines deutschen Bundesstaates sah die breitangelegte Bewegung des Jahres 1848 ihr politisches Ziel. Sie erstrebte keinen zentralistischen Einheitsstaat, wie ihr unzulässigerweise bisweilen unterstellt wurde, sondern einen die deutschen Verhältnisse berücksichtigenden Bundesstaat. Dagegen sprachen sich die äußerste Linke und die äußerste Rechte aus.

Die äußerste Linke forderte nach dem Vorbild der republique un et indivisible einen nationalen Einheitsstaat. Sie rechnete mit der Beseitigung aller Herrscherhäuser, vor allem der Dynastie der Habsburger und der Dynastie der Hohenzollern. Sie wollte das innere Gefüge Deutschlands in dem von ihr angestrebten Einheitsstaat von Grund auf neu gestalten.

Sie befürwortete einen radikalen Unitarismus, in dessen Verwirklichung sie allein die Voraussetzung für eine Neugestaltung der deutschen Verhältnisse sah. Die extreme Linke war zahlenmäßig klein. Ihre Vertretung in der Frankfurter Nationalversammlung bestand nur aus der „Fraktion Donnersberg". Sie war sich darüber im klaren, daß ihre Ziele nicht durch Beschlüsse der Nationalversammlung, sondern nur durch innere Auseinandersetzungen, durch einen Bürgerkrieg, erreicht werden konnten. Auch die extreme Rechte war zahlenmäßig klein. Sie besaß in der Nationalversammlung kein Gewicht, um ihre Vorstellungen durchsetzen zu können. Ihre Vertreter hingen einem konservativen Partikularismus an. Sie waren Befürworter sehr entschieden protestantisch-preußischer oder süddeutsch-katholischer Auffassungen. Sie hielten den Deutschen Bund, das heißt eine staatenbündliche Organisation Deutschlands, für ausreichend, auch wenn sie dem Geschmack der Zeit entsprechend von einem „Bundesstaat" sprachen. Sie meinten damit einen Typus des Bundesstaates mit entschiedenen föderativen Elementen, die die Eigenstaatlichkeit und einen sehr weit gespannten Kompetenzbereich der Länder garantierten. Dadurch, daß die Anhänger des Deutschen Bundes sich für die Vertretung ihrer Forderungen der Bezeichnung eines Bundes-staates bedienten, geriet der Begriff Bundesstaat in das Zwielicht lange anhaltender Mißverständnisse und Mißdeutungen.

Von der Mehrheit der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung wurde für die staatliche Neugestaltung Deutschlands die Schaffung eines Bundesstaates gefordert. Die Vorstellungen über dessen innere Struktur gingen allerdings auseinander. Die liberale Gruppierung sprach sich für einen Bundesstaat mit unitarischem Charakter aus, die Abgeordneten des linken Zentrums und vor allem der Rechten empfahlen einen Bundesstaat mit förderativem Charakter. Die liberalen Abgeordneten wünschten einen nationalen Bundesstaat, der eine unitarische Legislative, eine unitarische Exekutive und eine unitarische Jurisdiktion erhalten sollte. In administrativer Hinsicht sollte das Reich seine föderative Struktur beibehalten. Vor allem waren es die in der Frankfurter Nationalversammlung so zahlreich vertretenen Professoren, die für diese Ausstattung des zu errichtenden Bundes-staates eintraten. Sie ließen sich dabei von der Überzeugung leiten, nur durch die Schaffung eines Bundesstaates des unitarischen Typus würden die Erwartungen und Hoffnungen des deutschen Volkes nach nationaler Einheit befriedigend erfüllt werden. Die gemäßigten Konservativen und ein Teil der linken Mitte plädierte für einen föderativen Bundesstaat.

Sie billigten zwar dem nationalen Gesamtstaat die Souveränität zu, wünschten jedoch, daß den Ländern ein Höchstmaß an Kompetenz zugestanden werde.

Zwischen diesen vier Möglichkeiten — nationaler Einheitsstaat, Bundesstaat des unitarischen Typus, Bundesstaat des föderativen Typus und Bundesstaat mit starken föderativen Elementen, also Staatenbund oder Staaten-verein — gab es zahlreiche Zwischenformen, die das Bild der verfassungsrechtlichen Zielsetzungen der Frankfurter Nationalversammlung verwirrte.

Die Auseinandersetzung fiel zwischen den zwei Hauptrichtungen eines Bundesstaates.

Die Diskussion darüber war überlagert und entscheidend beeinflußt von dem Gegensatz zwischen Preußen und Österreich, vor allem von der Frage der Stellung Österreichs in dem zu schaffenden deutschen Bundesstaat. Diese im Vordergrund stehende Diskussion erregte in besonderem Maße die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Zahlreiche Abgeordnete versuchten, diese von der politischen Problemstellung auf die verfassungsrechtliche Fragestellung hinzulenken. Sie setzten sich in ihren Gesprächen und Beratungen mit den möglichen Formen eines Bundesstaates in Deutschland auseinander, wobei sie unter bewußter Bezugnahme auf die Vorgänge bei der Konstituierung der Vereinigten Staaten von Amerika grundsätzliche Anmerkungen zur Gliederung eines Bundesstaates machten.

Der am 20. Oktober 1848 erstattete Bericht des Verfassungsausschusses der Frankfurter Nationalversammlung führte über den Gedanken des Bundesstaates aus: „Eine neue Bundes-form, die zwischen der Einheitsregierung und der bisherigen Form des Staatenbundes in der Mitte steht, die Form des Bundesstaates, kann nach der allgemeinen Ansicht allein den Forderungen genügen, nur sie kann zunächst den bestehenden Verhältnissen und Interessen Deutschlands entsprechen. Nach dieser Form erscheinen die Einzelstaaten als Individuen, die zu einem mächtigen Staat sich verbanden, so daß jeder einer gemeinschaftlichen Staatsgewalt, die auf der Bundesverfassung beruht, sich unterwirft. Jene Bundesgewalt leitet zu einem Ziele, sie schützt gegen außen, sie verwirklicht jene Anstalten im Innern, die durch gemeinschaftliche Interessen in das Leben gerufene Bedingungen der Einheit Deutschlands sind. Die Gesetze jener Bundesgewalt werden nicht erst für den Bürger jedes einzelnen Staates verbindlich, wenn die Regierung dieses Staates sie verkündigt; jeder Bürger jedes Einzelstaates, sowie er ein Reichsbürgerrecht mit großen Vorteilen neben seinem Staatsbürgerrecht gewinnt, ist auch als Bürger des großen Vaterlandes den Gesetzen des Reiches von dem Augenblick an unterworfen, als das Gesetz von der Reichsgewalt verkündet ist." über die Struktur des geforderten und empfohlenen Bundesstaates bemerkte der Bericht des Verfassungsausschusses: „Dieser Bundesstaat beruht auf einer herrlichen Vereinigung von zwei Elementen, dem nationalen Element der Gemeinsamkeit und dem Elemente partikularer Eigentümlichkeit. In weiser Verteilung erhält jedes Element das, was ihm notwendig zugehört. Der Einzelstaat ist frei und ungehindert in seiner Entwicklung, soweit nicht die Gesamtheit Opfer verlangt; aber er ist als Glied dem Ganzen unterworfen. Die Bundes-gewalt verwirklicht den Nationalwillen, aber sie ist beschränkt durch organische Gesetze, welche nach dem Zwecke der Bundesverfassung die Grenzen der Macht bestimmen; sie fordert Gehorsam von jedem Einzelstaate, soweit dies notwendig zur Erreichung des Bundeszweckes ist.“

Der Bericht verwies auf eine Übereinstimmung zwischen den Gegebenheiten in den Vereinigten Staaten von Amerika und den Verhältnissen in Deutschland. Er führte dazu aus: „In unserem aus so verschiedenen Staaten bestehenden Deutschland wird sich unter der Form des Bundesstaates der durch Erfahrung von Nordamerika nachgewiesene Vorteil bewähren, daß, während bei größeren Staaten der Sitz der Regierung gleichsam die Hauptsache ist, und die entfernteren Provinzen verlassen sind, während der Geist der Zentralisation die unzerstörbar wirkenden lokalen Elemente zu vernichten droht, und daher wie in Frankreich beständiges Ankämpfen gegen den übermächtigen Mittelpunkt erzeugt; in einem Bunde verschiedener Staaten dagegen jeder Einzelstaat ein kleiner Mittelpunkt der Kultur, der Wissenschaft und der Kunst ist; und während den lokalen Bedürfnissen Rechnung getragen werden kann, geht zugleich die Verbesserung an die kleinsten Einzelheiten, bei dem Bürger wächst die Lust, Opfer für die nächste Heimat zu bringen, und entfaltet sich bei rascher Bewegung mehr Lebensfähigkeit in allen kleinen Kreisen, mehr Genuß der Freiheit und leichterer Widerstand; und so macht sich ein Wettkampf der Einzelstaaten geltend, in Verbesserung, Bildung, Sorge für Lokalinteressen innerhalb weiser, durch die Macht der Bundesgewalt und Verwirklichung der Gesamtinteressen gezogener Schranken."

Der Bericht des Verfassungsausschusses erinnerte an die Vorstellungen der amerikanischen Publizisten Hamilton, Jefferson, Story, Kent, Rawle, Serjeant, warnte jedoch vor einer kritiklosen Nachahmung sowohl des amerikanischen als auch des Schweizer Vorbildes: „Der sorgfältige Staatsmann aber hütet sich vor dem blinden Bewundern des Fremden, dessen Nachahmung unter verschiedenen Verhältnissen leicht Gefahr bringt. Er weiß, daß die Lage Amerikas, welche es vor dem Kriege mit fremden Staaten schützt, ebenso wie der Umstand, daß hier ein Bund von Freistaaten vorliegt, Eigentümlichkeiten herbeiführt, die zur vorsichtigen Prüfung bei Nachahmung amerikanischer Einrichtungen in Deutschland, unter Verhältnissen eines Bundes von Monarchien, auffordern."

Der Bericht nahm auch Bezug auf die nach dem Beispiele der Vereinigten Staaten von Amerika erfolgte Errichtung eines Bundesstaates in der Schweiz: „Belehrend wirkt endlich noch das Studium der Bundesverfassung der Schweiz, jenes Landes, das, die verschiedenartigsten Bundesformen durchführend, die Nachteile der Zentralisation in ihrer helvetischen Republik, das Ungenügende seiner Mediationsakte und die Lückenhaftigkeit seiner Bundesverfassung von 1815 kennenlernte, und durch die neue Bundesverfassung von 1848 endlich den Bundesstaat zu verwirklichen strebt." Mit Nachdruck empfahl der Bericht des Verfassungsausschusses abschließend die Schaffung eines Bundesstaates in Deutschland. Er sprach dabei die Erwartung aus, der Bundesstaat werde in einem einigen Volke eine mächtige Grundlage haben

Gegen die sich im Winter 1848/49 abzeichnende Entscheidung zugunsten eines Bundes-staates des unitarischen Typus erhoben die Regierungen der deutschen Gliedstaaten vor und nach Verkündigung der Reichsverfas-sung Bedenken und Einwände. Diese richteten sich sowohl auf die äußere Form als auch auf die innere Struktur des beabsichtigten Bundes-staates. Preußen äußerte sich am 23. Januar 1849 in einer Zirkulardepesche an die preußischen Gesandten bei den deutschen Regierungen zu der Lage in Deutschland, wobei es ausführlich auf die Stellung Österreichs, des mächtigsten Gliedes des Deutschen Bundes, in Deutschland einging. Im Zusammenhang mit der Darlegung der Beziehungen Österreichs zu Deutschland kam die preußische Zirkulardepesche auf die damit für die Gestaltung der inneren Verfassung der Monarchie der Habsburger verbundenen Schwierigkeiten zu sprechen. Sie verwies auf die Auswirkungen der für Österreich eintretenden Notwendigkeit, dem in Deutschland zu schaffenden Bundesstaat fernzubleiben, um einer Einschränkung der Souveränitätsrechte zugunsten einer kräftigen Zentralgewalt des Bundes zu entgehen.

Die preußische Zirkulardepesche bemerkte dazu: „Es würde aber daraus noch nicht der Schluß zu ziehen sein, daß Deutschland ausschließlich zu den wesentlichen Grundlagen des Staatenbundes zurückkehren, und daß der mit Begeisterung erfaßte Plan einer bundesstaatlichen Verbindung gänzlich verlassen werden müsse. Vielmehr würde sowohl die Aufrechterhaltung und Entwicklung des Deutschen Bundes — Österreich, sowie das deutsche Gebiet der Niederlande und Dänemarks eingeschlossen —, als die Erhaltung der dem österreichischen Kaiserhause gebührenden Stellung in Deutschland vollkommen vereinbar sein mit dem Zusammentritt der übrigen deutschen Staaten zu einem engeren Vereine, zu einem Bundesstaate, innerhalb des Bundes. So wie innerhalb des Bundes der Zollverband nicht nur einen engeren Verein für Handel, Gewerbefleiß und Verkehr darstellen, sondern auch die Wurzeln zu einer gemeinsamen handelspolitischen Vertretung nach außen in sich tragen, entstehen oder bestehen konnte, ohne den Bund selbst und das Verhältnis zwischen den dem Zollverein angehörenden und der demselben nicht angehörenden Bundesgliedern zu stören, so kann auch ein noch weitere Interessen umfassender Verein unter der Mehrzahl der Bundesglieder geschlossen werden und innerhalb des Bundes bestehen." Preußen befürwortete mit diesen Ausführungen den Plan, in Deutschland zwei Organisationen zu schaffen, einen Bundesstaat und einen Staatenbund. Der Bundesstaat sollte die Gebiete des nachmaligen Deutschen Reiches umfassen, während der Staatenbund den Bundesstaat mit Österreich und den deutschen Gebieten Dänemarks und der Niederlande verbinden sollte. Weil die Strömung der Zeit einen Bundesstaat unitaristischen Typus erstrebte, nahm sie ihre Zuflucht zu einer Ordnung Mitteleuropas, die aus einem inneren und einem äußeren Kreis, einem Bundesstaat und einem Staatenbund, bestand.

Die Diskussion darüber nahm, wie zahlreiche Veröffentlichungen belegen, Bezug auf die Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika und auch in der Schweiz und trug zur Verbreitung föderativer Vorstellungen bei. Da die Abgrenzung zwischen Bundesstaat und Staatenbund nicht eindeutig war und die Gepflogenheit bestand, sowohl den Staatenbund als auch den Bundesstaat als Bund zu bezeichnen, kamen unklare und unbestimmte Vorstellungen über den Bundesstaat — und damit über den Föderalismus — auf.

Die österreichische Regierung verwarf die Empfehlung zur Schaffung eines Bundesstaates in Deutschland in ihrer an den Bevollmächtigten bei der Reichszentralgewalt in Frankfurt, von Schmerling, gerichteten Depesche vom 4. Februar 1849. Sie bekannte sich darin zu dem Bedürfnis der Wiedergeburt Deutschlands, lehnte jedoch die Gestaltung eines unitarischen Staates, eines Bundesstaates, ab, „weil diese nicht ausführlich für Österreich, nicht wünschenswert für Deutschland"

sei. Als Folge der Errichtung eines deutschen Bundesstaates nannte sie die Ausschließung der deutschen Lande Österreichs, mit anderen Worten Verstümmelung Deutschlands oder aber Lösung der so innig verbundenen und untereinander verwachsenen Bestandteile Österreichs, welche fortan nur mehr der dünne Faden der Personalunion zusammenhalten soll; dies sind die beiden Endpunkte, zu welchen die Begründung des sogenannten Bundes-staates — der eben alles andere eher als ein Bundesstaat ist — Deutschland und Österreich mit folgerichtiger Notwendigkeit führen müßte"

Während die preußische Regierung nur in der Schaffung eines Bundesstaates die Erfüllung des Einheitswunsches des deutschen Volkes sah, betrachtete Österreich die Errichtung eines deutschen Bundesstaates als die Zerreißung der größeren Einheit des deutschen Volkes. Föderativ-unitarische Zusammenfassung oder föderativ-partikulare Gliederung, engerer Bund oder weiterer Bund, Bundesstaat oder Staatenbund — diese Alternative stellte sich den Erwägungen, Beratungen, Ver-Handlungen und Entscheidungen 1848/49. Während es den Vereinigten Staaten von Amerika bei der Verabschiedung ihrer Verfassung gelang, durch Entwicklung und Entfaltung des föderativen Prinzips die sich der Erhaltung einzelstaatlicher Gewalt und der Bildung einer gesamtstaatlichen Ordnung entgegenstehenden Schwierigkeiten zu überwinden, war angesichts der historischen Gegebenheiten in Deutschland das föderative Prinzip nicht in der Lage, die deutsche Frage in einer alle Erwartungen und Wünsche befriedigenden Weise zu lösen. Dieser Umstand trug mit dazu bei, daß die föderativen Vorstellungen in Deutschland diskreditiert waren, bevor sie allgemein bekannt wurden.

Die Mehrheit der Frankfurter Nationalversammlung sprach sich schließlich für einen engeren Bund, einen Bundesstaat aller deutschen Länder ohne Österreich, aus. Sie sah jedoch in der zwangsläufigen Hegemonie des Königs von Preußen oder des preußischen Staates ein nicht überwindbares Hindernis für die Verwirklichung des Bundesstaates. Der Historiker Heinrich von Treitschke sagte noch in seinem Rückblick auf die verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen 1848/49: „Die Hegemonie widerspricht dem Wesen des Bundes-staates." Die Umgestaltung Preußens, das so oft geforderte „Aufgehen Preußens in Deutschland", schien der einzige Ausweg dafür zu sein. Dazu verstand sich jedoch Preußen nicht. Es beantwortete die Offerte der Nationalversammlung mit einem eigenen Vorschlag.

Die am 28. März 1849 verkündete Verfassung des Deutschen Reiches, das Ergebnis der Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung, entsprach, wie Siegfried Brie es formulierte, „in allen Hauptpunkten der in der Opposition zum bisherigen Deutschen Bund ausgebildeten Lehre: Der Bundesstaat wurde aufgefaßt als ein zur Verwirklichung der nationalen Gesamtinteressen bestimmter Staat; die Einzelstaaten sollten als Glieder dem Ganzen unterworfen sein, demselben Gehorsam schulden, aber ihre Selbständigkeit und alle staatlichen Hoheitsrechte behalten, soweit nicht die Reichsverfassung Beschränkungen und Ausnahmen festsetze; die einzelnen Attribute der Reichsgewalt wurden aufgezählt; ihr jedoch andererseits die Möglichkeit neuer Betätigungen, welche das Gesamtinteresse Deutschlands in Zukunft erfordern werde, ausdrücklich zugesagt. Während die völkerrechtliche Vertretung Deutschlands und der einzelnen Staaten mit geringen Modifikationen der Reichsgewalt ausschließlich übertragen wurde, wurden derselben auch zur Realisierung der inneren Wohlfahrt höchst ausgedehnte, in die Verhältnisse der Einzelstaaten tief eingreifende Befugnisse beigelegt; die Bürger der Einzelstaaten sollten einerseits durch die Gesetze des Reiches unmittelbar verpflichtet werden, andererseits aber ein Reichsbürgerrecht mit großen Vorteilen, namentlich mit den umfassendsten Freiheitsrechten, gewinnen; die Organisation des Reiches endlich wurde, wenn auch erst nach harten Kämpfen und mannigfachen Schwankungen, so geordnet, daß die Einheit ihre scharfe Ausprägung in einem erblichen Reichsoberhaupt erhielt, welchem ein aus zwei Häusern, einer Vertretung der deutschen Staaten und einer Vertretung des deutschen Volkes, zusammengesetzter Reichstag zur Seite treten sollte."

Die Reichsverfassung vom 28. März 1849 fand nur in einem Teil Deutschlands Unterstützung und Zustimmung. Die Regierung Österreichs lehnte wegen der damit verbundenen Konsequenzen für Österreich die Schaffung eines Bundesstaates in Deutschland ab. Aber auch die Regierungen anderer deutscher Staaten erklärten sich mit der Verfassungsstruktur des geforderten Bundesstaates nicht einverstanden.

Die bayerische Regierung ließ in der 207. Sitzung der Nationalversammlung am 28. April 1849 eine Erklärung abgeben, in der sie sich ausführlich mit der inneren Ordnung des durch die Reichsverfassung vom 28. März 1849 vorgesehenen Bundesstaates auseinandersetzte. Sie sprach der Nationalversammlung das Recht ab, die deutsche Verfassung einseitig, das heißt ohne Zustimmung der Regierungen festzusetzen. Sie wandte sich scharf gegen die in der Verfassung niedergelegten Einheitstendenzen, wobei sie erklärte: „Eine solche Zentralisierung eines großen Volkes ist auch nach dem Zeugnisse der älteren und neuesten Geschichte das Grab seiner gleichmäßigen Entwicklung und Bildung, seiner inneren Ruhe und selbst seiner Freiheit. Sie unterwirft das ganze Volk dem Zentralpunkte fast willenlos und gibt es den Stürmen preis, welche die Leidenschaft und Herrschsucht der in der Hauptstadt sich bekämpfenden Parteien unaufhörlich hervorrufen. Ganz besonders zuwider ist endlich eine soche Zentralisation dem innersten Wesen des deutschen Volkes, dessen geistige Bedeutung vorzüglich aus seinem reich entfalteten Stammesleben hervorgegangen ist." Die bayerische Regierung versicherte in den weiteren Darlegungen ihrer Erklärung, sie verkenne keineswegs, daß die deutsche Nation einer kräftigeren Einigung als bisher bedürfe und auch fähig sei. Sie fuhr danach fort: „Allein, — es darf auch nicht unbeachtet blei-ben, daß jedem Volke in der Weltgeschichte sein besonderer Beruf zukommt, daß die politische Macht nach außen weder die einzige noch die edelste Aufgabe eines Volkes ist, daß der Grund desselben nicht bloß durch die Verfassung, sondern auch durch das Gebiet und den Geist des Volkes bedingt wird und zu dem inneren Glücke des Volkes nicht selten in umgekehrtem Verhältnisse steht. Nachdem selbst die dermalige Gesamtverfassung Deutschlands ungeachtet ihrer Mangelhaftigkeit sich seit einem Jahre stark genug gezeigt hat, um die äußeren und inneren Feinde siegreich zu bekämpfen, kann man sich überzeugen, daß Deutschland nicht völlig zentralisiert zu werden braucht, um eine starke Gesamt-regierung zu erhalten."

Im weiteren Verlauf ihrer Erklärung verwarf die bayerische Regierung die Trennung Deutschlands von Österreich und nahm zu Einzelfragen der Verfassung Stellung. Indem sie dabei die Fragen des Finanzausgleichs zwischen dem Bundesstaat und den Gliedstaaten ansprach, berührte sie ein für die Geschichte des angewandten Föderalismus in Deutschland entscheidendes Problem.

Die Erklärung der bayerischen Regierung vom 28. April 1849 brachte zusammengefaßt die Bedenken zum Ausdruck, die im Frühjahr 1849 und auch später — man ist versucht zu sagen, bis zum heutigen Tage — nicht nur gegen einen zentralistischen Einheitsstaat, sondern auch gegen einen unitarischen Bundesstaat vorgebracht wurden.

Die Errichtung eines Bundesstaates anstelle des bisher bestandenen Staatenbundes schlug auch die preußische Regierung im Frühjahr 1849 vor. Der preußische Außenminister Arnim-Heinrichsdorff erklärte in seiner Zirkulardepesche an die preußischen Gesandtschaften bei den deutschen Regierungen vom 3. April 1849, der preußische König sei, dem inneren Rufe Folge leistend und eingedenk der Ansprüche, welche ihm Preußens Stellung in Deutschland gewährt, entschlossen, an die Spitze eines Deutschen Bundesstaates zu treten, der aus denjenigen Staaten sich bilde, welche demselben aus freiem Willen sich anschließen möchten. Die Formen dieses Bundes-staates würden wesentlich davon abhängen, wie viele und welche Staaten sich demselben anschließen.

Graf Arnim-Heinrichsdorff wies die preußischen Gesandten an, die Regierungen, bei denen sie beglaubigt sind, autzufordern, Bevollmächtigte in Frankfurt am Main zu bestellen und diese zu ermächtigen, bindende Erklärungen über drei Fragen abzugeben, nämlich 1. über den Beitritt zum Bundesstaat, und die Bedingungen, unter denen er erfolge, 2. über die Stellung, welche die solchergestalt zu einem Bundesstaate zu vereinigenden Regierungen demnächst zu der Deutschen Nationalversammlung und den von ihr bereits gefaßten Beschlüssen einzunehmen haben, und 3. über das Verhältnis zu denjenigen deutschen Staaten, welche diesem Bundesstaat nicht beitreten

Die in Frankfurt tagende Nationalversammlung verstand sich als Vertretung des deutschen Volkes. Der von ihr geplante Bundesstaat hatte unitarischen Charakter, der von Preußen vorgeschlagene sollte von den Regierungen der Gliedstaaten bestimmt werden. Die Entwicklung einer Form des Bundesstaates, in der die Interessen Preußens, der Gliedstaaten und die Forderungen des Gesamtvolkes ausgeglichen und vereinigt waren, mißlang. Die Lösung wurde nicht gefunden, die den „Herrscher des mächtigen Einzelstaates zum Träger der Exekutivgewalt des Reiches" erhob, „ohne daß das übrige Deutschland und die übrigen Staaten zu fürchten brauchten, von Preußen erdrückt zu werden, und ohne daß Preußen das Opfer seiner Auflösung zu bringen hatte"

6. Die Diskussion über den Begriff „Bundesstaat"

Die zunehmenden Kenntnisse der föderativen Struktur der Vereinigten Staaten von Amerika, die Errichtung eines Bundesstaates in der Schweiz und die Entscheidung der in Frankfurt am Main tagenden Nationalversammlung für eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland lösten eine intensive publizistische Beschäftigung sowohl mit der Struktur eines Bundes-staates als auch mit dem föderativen Prinzip aus.

Der Theologe, Sprachforscher und Diplomat Christian Karl Freiherr von Bunsen (1791 bis 1860), der Preußen von 1824 bis 1838 beim Hl. Stuhl, von 1839 bis 1841 in Bern und von 1842 bis 1854 in London vertrat, gab in seinem ersten, zwischen dem 7. und 11. Mai 1848 niedergeschriebenen „Sendschreiben an die zum Deutschen Parlamente berufene Versammlung" eine Analyse über „Die deutsche Bundesverfassung und ihr eigentümliches Verhältnis zu den Verfassungen Englands und der Vereinigten Staaten von Amerika" Er verwies damit auf die Vorgänge bei der Konstituierung der Vereinigten Staaten von Amerika, deren Beachtung und Berücksichtigung er den deutschen Parlamentariern empfahl. Er verglich die Einrichtungen der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und die entsprechenden Empfehlungen des Siebzehnerentwurfes, wobei er die letztgenannten Vorschläge als durchaus organisch und naturgemäß bezeichnete und rechtfertigte.

Der Staats-und Völkerrechtslehrer Johann Kaspar Bluntschli (1808— 1881), der 1848 an der Universität München und 1861 an der Universität Heidelberg einen Lehrstuhl übernahm, setzte sich sowohl in einer politisch-verfassungsrechtlichen Broschüre als auch in seinen Untersuchungen über das schweizerische Bundesrecht mit dem Problem des Bundesstaates auseinander.

In den 1848 veröffentlichten „Bemerkungen über die neuesten Vorschläge zur deutschen Verfassung. Eine Stimme aus Bayern" untersuchte Bluntschli •— unter Bezugnahme auf Ausführungen Bunsens — zunächst die gängigen, jedoch nicht klar voneinander geschiedenen Begriffe „Staatenbund, Bundesstaat, Staatenreich". In den sich anschließenden Darlegungen ging er von zwei Feststellungen aus, nämlich von der Tatsache, daß Deutschland noch in Einzelstaaten geteilt ist, und von der Einsicht, daß die Volkserhebung im Frühjahr 1848 den Bestand der Einzelstaaten nicht aufgehoben habe. Die provisorische Zentralgewalt habe indessen eine provisorische Regierung zur Leitung der gemeinsamen deutschen Angelegenheiten geschaffen. Es bestünden in Deutschland die Einzelstaaten und eine Zentralgewalt. Bluntschli bemerkte dazu: „Wer die Zerfleischung Deutschlands nicht will, ist somit genötigt, jene beiden Tatsachen zugleich anzuerkennen, und beiden die gebührende Achtung zuzuwenden." Zur Überwindung dieser Situation forderte er: „Partikularität und Nationalität müssen sich also vereint zusammenfinden, da keine von beiden in Deutschland sich sel-ber genügt,keine von beiden tür sich allein Bestand und Kraft hat."

Auf die Begriffe Staatenbund, Bundesstaat, Staatenreich eingehend, verglich Bluntschli zunächst Staatenbund und Bundesstaat miteinander. „Der Gegensatz von Staatenbund und Bundesstaat besteht nicht etwa wesentlich darin, wie man oft sagt, daß in jenem die Zentral-gewalt schwach, in diesem stark sei, noch darin, daß in jenem die Einzelstaaten in höherem, in diesem in geringerem Maße selbständig seien, obwohl allerdings die eine Staatsform die eine, die andere Staatsform die andere Erscheinung begünstigt. Die beiden Staatsformen sind nicht durch ein bloßes Mehr oder Weniger, sie sind in der Art des Organismus selbst verschieden. In dem Staatenbund sind die verbündeten Einzelstaaten zwar auch zu einem Staatsganzen verbunden — im Gegensatz zu bloßer völkerrechtlicher Allianz —, aber dieses Staatsganze ist, wenn auch in ihm einzelne gemeinsame Organe vortreten, doch nicht selber wieder als ein von den Einzelstaaten verschiedener nationaler Staat organisiert. In dem Bundesstaate dagegen gibt es nicht bloß organisierte Einzelstaaten, sondern auch einen selbständig organisierten Gesamt (Zentral) staat."

Bluntschli erinnerte an das frühe Beispiel des Achäischen Bundes und das entscheidende Vorbild des 18. Jahrhundets: „Das großartigste Beispiel eines republikanischen Bundesstaates sind die Vereinigten Staaten Nordamerikas; diesem Vorbild ist die Schweiz während des Jahres 1848 gefolgt. Dasselbe in monarchischer Form in Deutschland nach-und fortzubilden ist der Grundgedanke der Bunsen'schen Sendschreiben." über die Unterschiede zwischen Staatenreiche und Bundesstaaten führte Bluntschli aus: „Das Staatenreich setzt die Einheit des Ganzen voraus, und erzeugt entweder oder erkennt die Einzelstaaten an. Der Bundesstaat setzt das Nebeneinanderstehen der Einzelstaaten voraus, und verbindet sie zum Ganzen."

Vor dem Hintergrund dieser Begriffsbestimmungen erörterte Bluntschli die deutschen Verfassungsverhältnisse, wobei er von einem aus der Zeitsituation verständlichen gewissen Schwanken zwischen Bundesstaat und Staaten-reich sprach. Er bemerkte dazu: „Nicht bloß liegt der Übergang aus dem Staatenbund in dem Bundesstaat näher, als der Übergang aus dem Staatenbund in das Staatenreich, so sehr, daß die aus Föderalismus und Nationalität gemischte Form des Bundesstaates als Zwischenstation betrachtet werden kann auf dem Weg vom Staatenbund zum Staatenreich. Auch die Frankfurter Nationalversammlung hat sich bereits im Prinzip für die Form des Bundes-staates als die geeignetste in der nahen Zukunft erklärt." Bluntschli gebrauchte den Begriff Föderalismus in einem aufschlußreichen Zusammenhang. Er verstand „Föderalismus und Nationalität”, Erhaltung der Einzelstaaten und Schaffung eines (nationalen) Gesamtstaates, als Synthese der Gegensätze zwischen den politischen Gegebenheiten und den politischen Forderungen in Deutschland. Er gab damit eine entscheidende Wegweisung zur Lösung der deutschen Frage.

Der von Bluntschli vorgetragenen Ansichten, Vorstellungen und Forderungen bemächtigten sich zahlreiche Staatsrechtslehrer, Historiker, Publizisten und Politiker.

Der Rechtsphilosoph und Politiker Friedrich Julius Stahl (1802— 1861), der an den Universitäten Erlangen, Würzburg und Berlin tätig war, veröffentlichte 1849 seine Untersuchung:

„Die deutsche Reichsverfassung nach den Beschlüssen der Deutschen Nationalversammlung und nach Entwürfen der drei königlichen Regierungen" Er folgte darin der Unterscheidung Bluntschlis zwischen einem Bundesstaat und dem Reich, wobei er den Bundesstaat als die Form der ursprünglichen und vollständigen Einheitlichkeit, das Reich als die Form der Einigung aus ursprünglich getrennten Staaten, „welche dann auch in der Einigung eine Sphäre der Getrenntheit und absoluten Selbständigkeit behaupten", bestimmte. Im Bundesstaat sei der Zentralgewalt und der Einheit von vornherein eine Grenze gesetzt, welche beide niemals überschreiten könnten. Im früheren Deutschen Reich habe es keine solchen Vorbehalte gegeben, weil dieselben auch mit dem Begriff des Reiches unvereinbar seien. Von der Behauptung, im Bundesstaat gebe es eine reservierte, unantastbare Sphäre der Unterworfenheit, sagte Stahl, sie beruhe auf einem mißverständlichen Hinweis auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, die der konstituierenden Gewalt des Kongresses eine bestimmte Grenze setze.

Joseph Maria von Radowitz (1797— 1853), vertrauter Berater des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., Führer der katholischen Konservativen in der Frankfurter Nationalversammlung, tür wenige Wochen vom 26. September bis 2. November 1850 preußischer Außenminister, erklärte nach dem Scheitern der preußischen Unionsbestrebungen, Voraussetzung des Bundesstaates sei, daß die Zentralgewalt die ihr verfassungsmäßig zustehenden Rechte stets selbst — nicht durch Einzel

Staaten •— ausübe. Siegfried Brie ist der Auffassung, die Versicherungen Radowitz, die preußische Regierung habe in ihren bundesstaatlichen Plänen stets an diesem Grundsatz festgehalten, überzeugten nicht. Vielmehr sprächen zahlreiche Anzeichen dafür, daß erst die im Verlauf der Unionspolitik gemachten Erfahrungen zu dessen Formulierung und Annahme geführt hätten

Die hier an einzelnen Beispielen erläuterte Diskussion über Staatenbund, Bundesstaat und Staatenreich wurde im wesentlichen von einem sich nicht vergrößernden, sondern verengenden Kreis von Staatsrechtslehrern, Politikern und Publizisten bestritten. Die Öffentlichkeit wandte sich in ihrer Enttäuschung über das Scheitern der Bemühungen um die Herstellung der deutschen Einheit von diesen Erörterungen ab, deren unmittelbaren Wert zu erkennen sie nicht in der Lage war. Die Auseinandersetzung über die politische Ordnung Deutschlands wurde zu einer Fachsimpelei — ein Umstand, der zu einem beunruhigenden Mangel des deutschen Volkes an verfassungsrechtlichen Kenntnissen und zu einer bis heute nicht behobenen Unkenntnis des weitgreifenden Problembereiches des Föderalismus geführt hat. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.

Die Enttäuschung über das Scheitern der Bemühungen der Frankfurter Nationalversammlung war groß und nachhaltig. Sie verursachte im deutschen Volke ein zunehmendes Desinteresse an politischen und verfassungsrechtlichen Fragen. Die gleichzeitig einsetzende wirtschaftliche Umwandlung Deutschlands, verbunden mit einer vielfältigen Umschichtung der Sozialstruktur, begünstigte die Abkehr von dem politischen Engagement vor 1848. Es setzte sich auch im außerösterreichischen Deutschland die Überzeugung durch, nicht das Volk, nur die Fürsten seien in der Lage, die Einheit Deutschlands zu verwirklichen. Von der durchaus richtigen Einsicht geleitet, darauf keinen bestimmenden oder überhaupt keinen Einfluß ausüben zu können, überließ die Öffentlichkeit die Erörterung der damit verbundenen Fragen den Staatsrechtslehrern, Politikern und Publizisten. Während in den Vereinigten Staaten von Amerika Politiker und Publizisten die Ideen und Möglichkeiten des Föderalismus in die Öffentlichkeit trugen und darüber ihre Wähler aufklärten, zogen sich in Deutschland die damit Beschäftigten in zunehmendem Maße aus der Öffentlichkeit zurück. Die Diskussion über den Föderalismus wurde ein Dialog zwischen den Vertretern der Staatswissenschaften und den Repräsentanten der daran unmittelbar interessierten Regierungen.

7. Die von Georg Waitz entwickelte Bundesstaatstheorie

Die Veröffentlichung des zweiten Bandes der Gesammelten Schriften von Joseph von Radowitz im Jahre 1852, in dem dessen Vorstellungen über die Struktur des Bundesstaates in Deutschland ihren Niederschlag fanden, veranlaßte den in Kiel lehrenden Historiker Georg Waitz (1813— 1886), den bedeutendsten Schüler Leopold von Rankes, der in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 als Führer der erbkaiserlichen Partei hervorgetreten war, zu grundsätzlichen Erörterungen und Bestimmungen, die er zunächst (1853) als Aufsatz unter dem Titel „Das Wesen des Bundes-staates /Reden und Betrachtungen von J. v. Radowitz (Gesammelte Schriften Bd. 2), Berlin 1852", in der (Kieler) „Allgemeinen Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur" und später (1862), geringfügig verändert, in der Einführung seines Werkes „Grundzüge der Politik" veröffentlichte. Brie nennt die Darlegung Waitz eine epochemachende Abhandlung; sie bezeichne in mehrfacher Hinsicht eine Wende der staatstheoretischen und politischen Diskussion über die Gestalt der deutschen Einheit im 19. Jahrhundert, sie zeige zugleich die im Ringen darum befindlichen Einflüsse und Kräfte.

Die Studie von Georg Waitz „Das Wesen des Bundesstaates" ist, wie deren Untertitel ausweist, eine Auseinandersetzung mit Joseph von Radowitz. In dessen Ausführungen über den Bundesstaat sah Waitz eine Bestätigung seiner eigenen Anschauungen und Auffassungen. Gleichzeitig betonte er jedoch, selbst in wesentlichen Punkten über das, was für den Bundesstaat überall erforderlich sei, nicht mehr auf dem Standpunkt zu stehen, den er in der Frankfurter Nationalversammlung für sich und im Auftrag des Verfassungsausschusses vertreten habe.

Er erwähnte die von Bluntschli verfaßte Flugschrift des Jahres 1848 „Bemerkungen über die neuesten Vorschläge zur deutschen Verfassung. Eine Stimme aus Bayern", nahm Bezug auf Veröffentlichungen von Stahl, Brucken (genannt Vock) und Bunsen und versicherte danach: „Am meisten hat mich Tocquevilles scharfsinnige Auseinandersetzung über das Wesen der nordamerikanischen Verfassung belehrt. Erst später habe ich Welckers Auf-sätze gelesen; ich bekenne gerne, daß er damit vor Jahren schon einen dankenswerten Anfang gemacht, die herrschende Unbestimmtheit und Verwirrung der Begriffe zu beseitigen, während man freilich die rechte Schärfe und Einfachheit in der Beweisführung der eigenen Ansicht vermissen wird."

Nach diesen einleitenden Bemerkungen versuchte Waitz, den Begriff des Bundesstaates abzugrenzen und im einzelnen darzulegen. Durch Tocqueville mit den amerikanischen Vorstellungen und Vorgängen vertraut gemacht, gelangte er, die deutschen Diskussionen des Vormärzes und der Revolutionsjahre hinter sich lassend und überwindend, zu der Auffassung, die in den Vereinigten Staaten von Amerika gefundene Lösung sei auch für Deutschland der Fingerzeig, um das bestehende Dilemma der Begriffe und der Verhältnisse zu überwinden. Er übernahm die Theorie Tocquevilles, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika kenne die Selbständigkeit sowohl der Zentralgewalt als auch der Einzelstaaten. Er zeigte sich besonders fasziniert von dem Hinweis Tocquevilles auf das unmittelbare Verhältnis des Gesamtstaates oder der Zentralgewalt zum Volke — den Umstand, den Tocqueville als das eigentümliche Moment des Bundesstaates bezeichnet hatte.

Waitz erklärte: „Der Bundesstaat ist diejenige staatliche Bildung, wo ein Teil der staatlichen Aufgaben, des staatlichen Lebens, gemeinsam ist, ein anderer den einzelnen Teilen als selbständigen Staaten zusteht. Es findet eine zwiefache Organisation des Volkes zum Staate statt, teils in Gesamtheit, teils nach selbständigen Teilen." Waitz bekannte sich zu der Auffassung Tocquevilles, daß der Gesamtstaat und der Einzelstaat auf der nationalen Grundlage ruhten, das Gebiet der Staatstätigkeit jedoch zwischen ihnen geteilt sei. Innerhalb ihres besonderen Bereiches seien beide gleichmäßig souverän. Die vollständige Selbständigkeit sowohl der Zentralgewalt als auch der Einzelstaatsgewalt war für Waitz eine Konsequenz ihrer Eigenschaften als Staatsgewalten.

Die von Waitz uneingeschränkt zugegebene Abhängigkeit seiner Bundesstaatsidee von der Interpretation der amerikanischen Verfassungsverhältnisse durch Tocqueville beweist den Einfluß der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika auf das staatsrechtliche und politische Denken Deutschlands zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1874 bemerkte darüber Brie: „Die von dem französischen Denker aus der Verfassung der VerB einigten Staaten von Nordamerika abstrahierte Doktrin ist durch Waitz’ Vermittlung die hauptsächliche Grundlage der bis auf die neueste Zeit in Deutschland vorherrschende« Theorie des Bundesstaates geworden. Ihr bestimmender Einfluß auf Waitz und die große Autorität, welche sie in der von Waitz gegebenen präziseren Ausprägung und allgemeineren Fassung fortdauernd übte, erklärt sich vornehmlich aus dem Zusammentreffen ihres wesentlichen Inhalts mit den überwiegenden praktischen Eindrücken der deutschen Bewegung und mit der bereits angebahnten Umbildung der Lehre vom Bundesstaate."

Waitz übertrug die Gedanken und Vorstellungen Tocquevilles auf Deutschland, wobei er in deren Fortentwicklung und Anpassung den Begriff des „monarchischen Bundesstaates" prägte und formulierte. Waitz fand, der Begriff des Bundesstaates und der Begriff des Königtums stünden an sich nicht im Widerspruch. Er gab seiner Überzeugung von der Möglichkeit des monarchischen Bundesstaates Ausdruck, verwies jedoch auch auf die Schwierigkeiten seiner Durchführung und vor allem seiner ersten Einführung.

Waitz beschloß seinen Aufsatz mit einem Ausblick auf die Zukunft: „Den eigentlichen Fortschritt in dem Verfassungsleben der Völker überhaupt hat Amerika eben durch seine Bundesverfassung gemacht. Flier ist, wie wir zeigten, ein neues Prinzip großartig durchgeführt. Die Weisheit seiner Staatsmänner hat nicht auf dem Wege theoretischer Betrachtung, sondern in praktischer Erfassung dessen, was das Bedürfnis forderte, Grundsätze aufgestellt, die eine allgemeine Bedeutung haben. Wenn es Wert hat, sich dieser vollständig und bis ins einzelne bewußt zu werden, so gilt es darum noch keineswegs, sie überall nachzuahmen. Unsere ganze Vergangenheit ruht auf monarchischer Entwicklung, und wir werden, auch wenn wir einer besseren Zukunft entgegenstreben, niemals denken dürfen, uns von den alten Wurzeln des politischen Lebens loszureißen. Die Vereinigung zum Staatenbund ist stets eine vorübergehende Phase in dem Leben der Völker gewesen: entweder zum Einheitsstaat wie in den Niederlanden oder zum Bundesstaat hat sie hingeführt. Dieser trägt die Bedingungen festerer Dauer in sich, schon deshalb, weil er ein wirkliches gemeinschaftliches Staatsleben gewährt. Er ist die Form, welche dem staatlichen Bedürfnis eines Volkes entspricht, das bei einem lebendigen Bewußtsein nationaler Einheit doch zugleich einen solchen Reichtum verschiedener Lebensverhältnisse ausgebildet hat, daß es gar nicht oder nur vorübergehend sich zu einer vollen Staatseinheit erheben kann, während der Staatenbund nur da am Platze zu sein scheint, wo verschiedene Völker oder Völkerteile in einer gewissen Gemeinschaft des politischen Lebens zu treten Veranlassung haben. Halten wir deshalb den Gedanken fest, daß es unserer Nation gelingen müsse, die Verfassungsform zu finden, welche ihrem eigensten Geiste entspricht, und brauchen wir dafür fortwährend mit einigem Vertrauen den Ausdruck, daß es in der Form des monarchischen Bundesstaates geschehen werde, so erkennen wir zugleich, daß es sich dabei wesentlich um eine Vermittlung und Vereinigung derjenigen Prinzipien handelt, welche das politische Leben Deutschlands von Anbeginn her beherrschen, des Königtum und der Volksfreiheit, der Einheit der Nation und der Mannigfaltigkeit ihrer Glieder."

Selten bewirkte eine Buchrezension — denn als solche war der Aufsatz angelegt, auch wenn er 36 Druckseiten umfaßte — eine vergleichbare Beeinflussung des politischen und verfassungsrechtlichen Denkens. Die Darlegungen des politisch engagierten Historikers fanden außerordentliche Beachtung. Sie bezeichnen den Anfang der neueren Lehre vom Bundesstaat in Deutschland.

8. Verbreitung der Bundesstaatstheorie

Die von Waitz vorgetragene Bundesstaatstheorie wurde von einem Teil der deutschen Staatsrechtslehrer fortgeführt, modifiziert und variiert, von einem anderen Teil teilweise oder ganz verworfen. Die Auseinandersetzungen führten zu einer Propagierung vornehmlich der Anschauungen Tocquevilles über den in den Vereinigten Staaten von Amerika geschaffenen Bundesstaat.

Hermann Schulze legte in seinem 1865 erschienenen „System des Deutschen Staats-B rechts" besonderes Gewicht auf die Feststellung von Waitz, daß im Bundesstaat die Einzelstaaten nicht Untertanen der Zentralgewalt seien, sondern die Souveränität dem Gesamtstaat und dem Einzelstaat jedem gleichmäßig innerhalb seines Bereiches zustehe. Er schloß sich auch der Polemik Waitz'gegen die Auffassung an, das ehemalige Deutsche Reich sei ein Bundesstaat gewesen, und vertrat demgegenüber die Ansicht, das Reich, dieser „aus den Fugen gegangene Feudalstaat", den man als Staatenstaat oder Staatenreich bezeichnen könne, sei als Typus einer generellen Form der Staatenverbindung anzusehen

C. F. von Gerber hatte in der ersten, 1865 erschienenen Auflage seiner „Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts" den Bundesstaat als „eine zwar auf einen gewissen Kreis beschränkte, innerhalb desselben aber wirkliche Staatsgewalt mit unmittelbarer Beherrschung des Volkes" bezeichnet. In der zweiten, nach der Errichtung des Norddeutschen Bundes erschienenen Auflage befaßte er sich ausführlich mit dem Bundesstaat, wobei er vor allem auf die, wie er sagte, „bekannten Ausführungen von Waitz" verwies. Als charakteristische Merkmale des Bundes-staates nannte er eine der Bundesgewalt zustehende wirkliche Staatsherrschaft und „ein in dieser politisch geeinigtes Volk". Von der Zentralgewalt sagte Gerber, sie sei eine souveräne, aber fragmentarische Staatsgewalt, während den Partikularstaaten die von der Zentralgewalt nicht beanspruchten Hoheitsrechte verblieben als eine ebenso selbständige, „im ganzen vollständig getrennte Sphäre der Wirksamkeit". Die von Gerber gewählte Bezeichnung der „fragmentarischen Staatsgewalt" erinnert, wie Brie zu bedenken gab, an die von Tocqueville geprägte Formel „gouvernement national imcomplet"

Der Rechtsphilosoph Heinrich Ahrens (1808 bis 1878), der vor allem an den Universitäten Paris, Brüssel, Graz und Leipzig lehrte, schloß sich in seiner Untersuchung „Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates" den Darlegungen von Georg Waitz an. Während Waitz aber die Entstehung des Bundesstaates als Konsequenz der politischen Gegebenheiten verstand, entwickelte Ahrens das föderative Prinzip als ein Postulat menschlicher Existenz. Er vertrat in seiner Lehre von der Stufenfolge der vollständigen, das Leben nach allen Seiten erfassenden Persönlichkeitskreise und von der föderativen Entstehung und Organisation der Staaten Vorstellungen und Forderungen des Subsidiaritätsprinzips Robert von Mohl hatte sich zwar in der 1824 veröffentlichten Jugendarbeit mit dem Bundes-staatsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika befaßt, der Möglichkeit dessen Anwendung für die Lösung der deutschen Frage jedoch keine Beachtung geschenkt, In seinem Werk über „Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften", dessen erster Band 1855 erschien, hatte er sowohl den Sammelband „The Federalist" als auch Tocquevilles Darstellung der Demokratie in Amerika gerühmt. In der zweiten, 1872 erschienenen Auflage der „Enzyklopädie der Staatswissenschaften" befaßte er sich ausführlich mit dem Wesen des Bundesstaates. Auch Mohl ging von der Darstellung von Waitz aus, die er als vorzüglich pries. In der Teilung der Souveränität zwischen der bundesstaatlichen Zentral-gewalt und den Gewalten der Gliedstaaten, in dem Nebeneinanderbestehen von zwei wirklich voneinander abhängigen Staatsgewalten, sah er das eigentliche Wesen des Bundes-staates: „Die Zuständigkeit dieser Staatsgewalt (der bundesstaatlichen Zentralgewalt) ist aber wesentlich und notwendig eine beschränkte und umfaßt nicht die gesamte Aufgabe eines Rechtsstaates, denn ein bedeutender Teil dieser Zwecke verbleibt den einzelnen Bundesgliedern in selbständigem Rechte. Es sind also zweierlei leitende und befehlende Gewalten nebeneinander: die über das ganze Bundesgebiet sich erstreckende Zentralgewalt, und die örtlichen Gewalten der verschiedenen Gliedstaaten je in ihrem besonderen Gebiete. Beide sind in ihrem verfassungsmäßigen Wirkungskreis unabhängig voneinander und beide haben, als wirkliche Staatsgewalten, ihre eigenen Organe und ihre selbständige Tätigkeit. Es besteht für die Gliedstaaten keine beschränkte, sondern eine geteilte Souveränität."

Vom historischen und politischen Standpunkt aus befaßte sich der Historiker Heinrich von Treitschke (1834— 1896) mit der Problematik „Bundesstaat und Einheitsstaat". Er veröffentlichte über dieses Thema 1865 einen umfangreichen Essay. Darin untersuchte er zunächst die Frage, ob der Plan, die deutschen Monarchien zu einem Bundesstaat zu vereinigen, möglich und eines großen Staates Wert sei. Seine Abneigung gegen eine in der Beschlußfassung und in der Ausführung ihrer Beschlüsse von den Einzelstaaten abhängigen Zentralgewalt und seine Überzeugung von der Verwerflichkeit der im Deutschen Bund bestehenden „Mediatisierung der Nation" machten ihn aufgeschlossen für die Vorstellungen, die Waitz entwickelt hatte. Treitschke war davon so sehr überzeugt, daß er erklärte, der alte Streit über die Begriffe Staatenbund und Bundesstaat sei durch die Darlegungen von Waitz abgeschlossen. Treitschke war jedoch auch der Auffassung, die von Waitz ausgestellten Empfehlungen seien gegenüber den in Deutschland bestehenden Verhältnissen praktisch undurchführbar. Er sah sich dadurch nicht veranlaßt, die von Waitz entwickelten Vorstellungen zu revidieren, sondern sprach sich gegen einen deutschen Bundesstaat aus. Er frage: „Unerledigt bleiben die beiden verhängnisvollen, von Waitz nur leicht berührten Fragen: ist ein Bundesstaat als dauernder Zustand mit den gegebenen Machtverhältnissen und Verfassungsformen der deutschen Staaten verträglich? sodann: sind wir nach dem Gang unserer Geschichte zu der Erwartung berechtigt, daß eine föderative Staatsform den nationalen Abschluß der deutschen Einheitskämpfe bilden werde?"

Auf Grund eingehender Überlegungen, die sich an den in Deutschland und Italien bestehenden Gegebenheiten orientierten, kam Treitschke zu dem Ergebnis: „Wenn wir uns an den Geist der Geschichte halten und uns nicht blenden lassen durch die leeren Namen . Staatenbund’ und . Bundesstaat’, so ist unbestreitbar, daß die Entstehung der Bundes-staatsverfassung in der Union und der Eidgenossenschaft für Deutschland kein Vorbild sein kann. Dort ruht der Föderativstaat auf dem Selfgovernment. Der Deutsche Bund dagegen ist dynastisch, er ruht auf dem Grundgedanken, daß eine Anzahl fürstlicher Häuser von Gottes Gnaden die Befugnis haben, jede Beschränkung ihrer Souveränität zu verweigern. Dort ist der Bundesstaat wohl begründet in der Demokratie, in dem bescheidenen Umfange der Staatstätigkeit, in der Gleichheit der Macht der Einzelstaaten, endlich in dem durch eine lange Geschichte bewährten eidgenössischen Rechtsgefühle der Bürger. Deutschland hingegen ist monarchisch, es bedarf einer vielseitigen Staatstätigkeit und enthält unter einer Fülle kleiner Staaten eine halbfertige Großmacht, welche den Anspruch auf die Hegemonie nicht aufgeben kann. Der erbkaiserliche Bundesstaat aber legt dem Selbstgefühle der Stämme schwerere Opfer auf als der Einheitsstaat. Unsere Geschichte berechtigt nicht zu der Erwartung, daß die Dynastien die Schmälerung ihrer Souveränität, welche ein Bundesstaat fordern muß, freiwillig gewähren werden. Noch mehr, Deutschlands Entwicklungsgang ist nicht die Geschichte einer Föderation, er zeigt vielmehr, gleich wie die Geschichte Italiens, die nachhaltige, zuletzt immer erfolgreiche, Tendenz, unbrauchbare Kleinstaaten zu größeren Staatskörpern zusammenzuschweißen. Endlich und vor allem, wir sind eine Nation; die neuere Geschichte Europas aber, vornehmlich Italiens und der Niederlande, lehrt, daß eine Nation mit lebendigem Gesamtbewußtsein sich auf die Dauer nicht mit einer hündischen Einigung begnügen kann."

Diese Überlegungen veranlaßten Treitschke, sich am Ende seines Essays leidenschaftlich für die unitarische Einigung Deutschlands unter preußischer Führung auszusprechen: „Nur die Macht des größten deutschen Staats kann die Macht der kleinen Höfe zur Unterwerfung unter eine nationale Zentralgewalt zwingen.

Selbst den Bundesstaat — dies geringste, was wir zu fordern berechtigt sind — werden wir nie erreichen, wenn die Nation nicht den Mut besitzt, im äußersten Falle kühnlich weiterzuschreiten und den Einheitsstaat zu schaffen, welchen beim Morgengrauen der Befreiungskriege Deutschlands größter Patriot, Karl vom Stein, für das Vaterland ersehnte."

Treitschke hielt zwar die von Waitz entwickelte Theorie für gut, bezeichnete jedoch deren Anwendung und Durchführung für unmöglich. Er war mit dieser Auffassung nicht allein; ein Teil der Kritiker der Bundesstaatstheorie von Waitz folgte ihm, ein anderer Teil lehnte diese aus unterschiedlichen Erwägungen grundsätzlich ab. Dieser bezweifelte, daß in Deutschland die Voraussetzungen für die Verwirklichung einer bundesstaatlichen Ordnung gegeben wären. Er hielt diese für inkongruent mit den in Deutschland vorhandenen Gegebenheiten und Möglichkeiten.

Als Brie 1874 die Überzeugung äußerte, Waitz habe den Durchbruch der Bundesstaatsidee in Deutschland herbeigeführt, war die Ablehnung der Vorstellungen von Waitz bereits in vollem Gange Gerhard Anschütz nannte 1899 die Waitzsche Bundesstaatstheorie, die bis zu der Schaffung der Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reiches 1871 bestimmend gewesen sei, eine „im wesentlichen rein doktrinäre Schablone, verfertigt nach dem Vorgang anderer"

Gegen diese Verurteilung der Waitzschen Bundesstaatsidee wandte sich Friedrich Meinecke mit großer Entschiedenheit. Er lehnte die Bemerkung Anschütz ab und führte über die Waitzsche Bundesstaatstheorie aus: „Sie hat natürlich auch ihre ausländischen Vorbilder, aber sie ist doch zum guten Teil mit aus dem praktischen Problem erwachsen, wie man den preußischen Staat in den deutschen Bundesstaat eingliedern könne, ohne diesen durch jenen zu erdrücken, wie man einen Bundesstaat schaffen könne ohne Hegemonie des mächtigen Staates. Dieses Problem löste er (Waitz) dann eben im unitarischen Sinne. Der , Gesamtstaat'im Bundesstaate ist auf den Gebieten, die ihm zugewiesen sind, ein einfacher, geschlossener Einheitsstaat, dessen Zentralgewalt einheitlich sein muß, weil sie frei sein muß in ihrer Sphäre. Dieser Waitzsehe Bundesstaat ist nun gewiß nicht schlechthin identisch mit dem Frankfurter Bundesstaate von 1849; er läßt den Einzelstaaten in ihrer Sphäre eine wirkliche Selbständigkeit, wie sie ihnen in der Frankfurter Versammlung nicht gegönnt war. Aber der unitarische Grundgedanke, eine einheitliche, von den Gliedstaatsgewalten unabhängige Zentralgewalt zu schaffen, ist ihnen gemeinsam." Meinecke gab anschließend eine überzeugende Begründung des unitarischen Grundgedankens: „Das Mißtrauen gegen den größten Staat, gegen Preußen, ist eine Hauptwurzel dieses Unitarismus. Ebenso unzweifelhaft stecken aber in diesem Unitarismus, wie paradox es auch klingen mag, auch noch partikularistische Motive."

Meinecke trug mit diesen, leider wenig beachteten Ausführungen entscheidend zu einer sachbezogenen und gerechten Beurteilung der Bedeutung der Waitzschen Bundesstaatstheorie für die Entwicklung des föderativen Prinzips in Deutschland bei. Deren Undurchführbarkeit lag in der Forderung nach unitarischer Gestaltung der Bundes-oder Zentralgewalt. Waitz wollte die Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaaten trennen. Er wünschte die Bundesgewalt unitarisch organisiert. Die Verwirklichung dieser Forderung scheiterte am Widerstand der deutschen Staaten. Indem Bismarck bei der Norddeutschen Verfassung und bei der Verfassung des Deutschen Reiches auch die Bundesgewalt föderativ organisierte, überwand er die in der Diskussion über die Empfehlungen von Waitz als unüberwindbar angesehenen Schwierigkeiten. Waitz dachte und forderte politisch, nicht juristisch — eine Erkenntnis, die Hans Nawiasky in der seiner 1920 veröffentlichten Untersuchung „Der Bundesstaat als Rechtsbegriff" angefügten Über-sicht „Der Bundesstaatsbegriff in der Literatur" aussprach. Indem sich Waitz in dem von ihm postulierten Bundesstaat für die Beseitigung der Hegemonie Preußens aussprach, zeigte er vorausschauendes Verständnis für die Lage Deutschlands und tiefe Einsicht in die Bedingungen der Entwicklung des föderativen Prinzips.

IV. Die Schweiz als Bundesstaat

Während der leidenschaftlichen Auseinandersetzungen und Verhandlungen der Ersten Deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt am Main über eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland konstituierte sich in dessen unmittelbarer Nachbarschaft, in der Schweiz, ein Bundesstaat. Dessen Errichtung nahm nachhaltigen Einfluß sowohl auf die politischen Vorstellungen und Forderungen 1848/49 als auch auf die sich danach anschließenden verfassungsrechtlichen Diskussionen und Kontroversen. Anhänger der bundesstaatlichen Idee beriefen sich auf das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz.

Die im Kampfe unterlegene Alte Eidgenossenschaft durchlief von 1798 bis 1848 eine exemplarische verfassungsrechtliche Entwicklung. Unter dem Einfluß des revolutionären Frankreichs verwirklichte die „Helvetik" einen auf naturrechtlichen Ideen beruhenden Einheitsstaat, die „Republique helvetique une et indivisible". Dieser Einheitsstaat, in seiner Organisation der französischen Direktorialverfassung von 1795 nachgebildet, gliederte sich in 22 zum Teil den alten Orten angepaßte, zum Teil neu gebildete Kantone, die sich ihrerseits in Distrikte und Gemeinden aufteilten. Die gesetzgebende Gewalt der auf Volkssouveränität beruhenden Repräsentativdemokratie wurde durch zwei aus indirekten Wahlen hervorgegangene Kammern, von denen der Senat mit vier, der Große Rat mit acht Abgeordneten eines jeden Kantons gebildet wurde, ausgeübt. Die vollziehende Gewalt lag bei einem fünfköpfigen Direktorium, dem in Kantonen Statthalter, in den Distrikten Unterstatthalter in den Gemeinden Agenten unterstanden. und Gegen den gewaltsamen Versuch, auf dem Gebiet der Alten Eidgenossenschaft einen durchgegliederten Einheitssstaat zu errichten und durchzusetzen, erhob sich eine rasch wachsende Gegenbewegung, die die Rückkehr zu der angestammten föderativen Struktur forderte. Diese wurde so stark und so einflußreich, daß Napoleon I. sich veranlaßt sah, in der „Mediationsakte" den Kantonen die Sou-veränität zurückzugeben. Die „Mediationsakte"

bestimmte zwischen 1803 und 1813 die politischen Verhältnisse der Schweiz. Sie garantierte den Kantonen die Souveränität. Der bundesstaatliche Charakter trat nur schwach hervor. Der Vorort, das heißt der Sitz der Führung der gemeinsamen Staatsgeschäfte, wechselte jährlich zwischen Freiburg, Bern, Solothurn, Basel, Zürich und Luzern. Das jeweilige Standesoberhaupt war der mit Exekutivgewalt ausgestattete Landammann der Schweiz. In der gemeinsamen Vertretung der Kantone besaß jeder Kanton mit weniger als 100 000 Einwohnereine, jeder Kanton mit über 100 000 Einwohner zwei Stimmen.

Der Sturz Napoleons I. machte die „Mediationsakte" hinfällig. In der Neuordnung der staatsrechtlichen Verhältnisse wurde eine Verbindung zwischen einem extremen Föderalismus und konservativer Restaurationstendenz angestrebt. Nach schwierigen Verhandlungen schlossen 1815 die 22 souveränen Kantone einen Bundesvertrag, der zur Wiederherstellung des vor 1798 bestehenden losen Staatenbundes mit Tagsatzung und wechselndem Vorort als Bundesorgan führte. Der neue Staatenbund kannte als Organ die Tagsatzung und den Vorort, der im zweijährigen Turnus zwischen Zürich, Bern und Luzern wechselte. Die 1832/33 unternommenen Versuche einer Revision des Bundesvertrages scheiterten am entschiedenen Widerstand der konservativ-föderalistischen Mehrheit.

Die Gegensätze zwischen den Befürwortern eines weithin handlungsunfähigen Staatenbundes und Vertretern liberaler Einheitsbestrebungen wurde durch religiös-kirchenpolitische Ereignisse verschräft. Diese führten schließlich 1845 zur Bildung des Sonderbundes der sieben katholischen Kantone. In der Auseinandersetzung zwischen dem Sonderbund und den übrigen Kantonen der Schweiz standen sich katholisch-konservativer Föderalismus und radikaler Zentralismus gegenüber. Die Tagsatzung beschloß die Auflösung des Sonderbundes und die Bundesexekution gegen ihn. General Dufour besiegte bei Gislikon das Hauptheer des Sonderbundes und besetzte Luzern (1847). Versuche der europäischen Großmächte, zugunsten der Unabhängigkeit der Kantone zu intervenieren, wies die Tagsatzung zurück. Die von ihr gebildete Kommission zur Ausarbeitung von Gutachten und Anträgen über die Revision des Bundesvertrages nahm im Februar 1848, nach der Niederwerfung des Sonderbundes, ihre Beratungen auf. Sie erstellte den Entwurf einer Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft. Nach der Abgabe von Stellungnahmen der kantonalen Großen Räte begann die Tagsatzung am 11. Mai 1848 ihre Verhandlungen. Bei der Schlußabstimmung am 27. Juni sprachen sich die Gesandten von 13 Kantonen und einem Halbkanton für die Annahme der Verfassung aus. Bei deren Beratung in den Kantonen stimmten 15 Kantone und ein Halbkanton mit einer Gesamtbevölkerung von 1 897 887 Personen dafür. Sechs Kantone und ein Halbkanton mit einer Bevölkerung von 292 371 Personen lehnten die Bundesverfassung ab. Am 12. September nahmen die Gesandtschaften von 16 Kantonen und zwei Halbkantonen den Beschluß „betreffend die feierliche Erklärung über die Annahme der neuen Bundesverfassung der Eidgenossenschaft" an. Die Vertreter der ablehnenden Kantone enthielten sich der Stimme. Die Schweiz war ein Bundesstaat.

Alle Schweizer Autoren, Politiker, Staatsrechtslehrer und Historiker sprechen mit Worten höchster Anerkennung von dem Ergebnis der Entwicklung der Schweiz von 1798 bis 1848. Die einen nennen die Bundesverfassung von 1848 „die glücklichste und bedeutendste unserer Geschichte", andere bezeichnen sie als „eine der glücklichen Schöpfungen schweizerischen Staatswillens".

In seiner 1931 erschienenen „Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates 1848— 1918"

stellte Hans Schneider über die Bundesverfassung von 1848 fest: „Wohl war sie, selbst von der Idee des Bundesstaates und der praktischen Zweckmäßigkeit aus gesehen, kein vollkommenes, endgültiges Werk. Aber ein solches zu schaffen, gedachten und vermochten ihre Schöpfer auch nicht. Manche Radikale und Liberale, wie Jakob Stämpfli in Bern, Alfred Escher in Zürich, Ferdinand Curti in St. Gallen, hätten ihr mehr Einheit des Planes und Stiles, größere Festigkeit des Fundaments und des Mauerwerks gewünscht. Nach Curtis Ansicht hatte die Tagsatzung den . großen blanken Vollmachtsbrief’, über den sie nach dem Bürgerkrieg verfügte, nicht richtig ausgenützt.

Aber eine Verfassung ist, wie Gottfried Keller einmal sagt, , keine stilistische Examenarbeit', in der alle Gedanken restlos ausgeführt und alle Teile aufeinander harmonisch abgestimmt sind. Dafür bedeutete die Bundesverfassung von 1848 den für die Zeit nötigen und möglichen Fortschritt: ein höheres Lob aber gibt es für eine Verfassung überhaupt nicht. Sie zum erstenmal schmiedete die bisher souveränen und so oft eigenwilligen Glieder des Bundes zu einem wirklichen Staatswesen, dem schweizerischen Volksstaat, zusammen, vereinigte die nach Sprache, Kultur und politischer Struktur verschiedenartigen Völkerschaften zu einem souveränen Volke, dem schweizerischen Staats-B volke, und gab ihm auch die Organe zum Ausdruck und Vollzug seines souveränen Willens: in der Bundesversammlung das Parlament, das im Zweikammersystem nach amerikanischem Vorbild die dem Wesen des demokratischen Bundesstaates wie der geschichtlichen Entwicklung gemäße Organisation bekam; im Bundesrat die ständige Bundesregierung, die starker und rascher Kraftentfaltung fähig war, und endlich im Bundesgericht die richterliche Behörde, die den früheren eidgenössischen Rechtsgang, das unzulängliche schiedsrichterliche Verfahren, ersetzte und, da ihr die Ahndung von Verbrechen gegen die Eidgenossenschaft und die Kantone und von Vergehen gegen das Völkerrecht oblag, größere Gewähr für die innere Ruhe gab und eine eigentliche Lücke ausfüllte. Unter einem glücklichen Stern der Ausgleichung und Versöhnung'war die , Abrechnung zwischen Bundes-und Kantonengewalt erfolgt. Die Kantone, die Vorschulen und Versuchs-felder eidgenössischer Politik, bestanden als staatliche Gebilde fort. Ihnen fiel als den , Herdfeuern des geistigen Lebens'auch fürderhin die Aufgabe zu, für den edleren Teil des menschlichen Daseins zu sorgen und darin zu wetteifern'. Die Verfassung beschränkte ihre Selbständigkeit nur insoweit, als es die äußere Sicherheit und das wirtschaftliche Gedeihen des Landes verlangten. Indem sie die drei Hauptsprachen der Eidgenossenschaft als Nationalsprachen des Bundes erklärte, gab sie der freien Entfaltung der sprachlichen Eigenart die rechtliche Grundlage und sicherte so der Schweiz mit der fruchtbaren Mannigfaltigkeit ihrer Kulturen einen wertvollen Ausgleich für die Kleinheit ihres Gebietes und die Enge ihres politischen Lebens. Die verfassungsmäßige Gleichstellung der Nationalitäten und die gerechte und kluge Politik der deutschsprechenden Mehrheit, die der sprachlichen Minderheit von Anfang an den ihrer Stärke gemäßen Anteil an der Bundesexekutive gewährte, erleichterte die Bildung der schweizerischen Staatsnation und des schweizerischen Nationalgefühls und löste, in Verbindung mit der föderativen Gestaltung des Bundes, im Grunde bereits das Nationalitäten-problem, soweit das von außen her mit den Mitteln der Rechtsordnung und der politischen Praxis erreichbar ist."

Edgar Bonjour befaßte sich in seinem Beitrag „Geschichte der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert" zu der 1938 veröffentlichten „Geschichte der Schweiz" ausführlich mit dem „Ausbau des Bundesstaates". Er bemerkte dabei über die Bundesverfassung von 1848: „Sie ist nicht das Werk einheitlicher aufbauender Logik, wie etwa die helvetische Verfassung, sondern das Ergebnis einer Verständigung der Gegensätze, herbeigeführt durch den gesunden Menschenverstand. Es spricht aus ihr der Wille zum gerechten Ausgleich zwischen staatlicher Autorität und persönlicher Freiheit. Dies hat ihr langdauernde Lebenskraft verliehen. Die weise Mäßigung der siegreichen Partei und die durch die europäische Lage erzwungene Zurückhaltung des Auslandes haben das Zustandekommen des Kompromißwerkes ermöglicht. Es ist bis in die Gegenwart wohl mehrfach revidiert und ausgebaut, aber nie ganz ersetzt worden."

Bonjour verwies in seinen weiteren Darlegungen auf die exemplarische Bedeutung der Schaffung eines schweizerischen Bundesstaates sowohl für die Entwicklung der Schweizer Eidgenossenschaft als auch für die Verbreitung der bundesstaatlichen Idee: „Zum ersten Mal faßte die Schweiz aus eigenem Willen die bisher selbständigen, nach Sprache, Konfession und Kultur auseinanderstrebenden Kantone zu einem souveränen Bundesstaat zusammen. Politische Einsicht, gereift an den Lehren der eigenen Vergangenheit und an der europäischen Wirrnis der Gegenwart, verlangte den Nationalstaat mit fester Bundesgewalt, gleich wie die zunehmende Industrialisierung nach, dem einheitlichen Wirtschaftsgebiet drängte. Unter diesen Einwirkungen löste man die Schicksalsfrage nach dem Verhältnis von Föderalismus und Zentralismus, von historischem kantonalem Staatsrecht und neuem zeugungsfähigen Bundesrecht."

Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen erläuterte Bonjour die Struktur des Bundesstaates: „Aber die Staatsgewalt wurde tatsächlich geteilt: was nicht der Obgewalt des Bundes unterstand, fiel in den Tätigkeitsbereich der Kantone. Dabei kamen die Kantone materiell gut weg, staatsrechtlich jedoch weniger, da nur die Bundesrechte namentlich aufgezählt wurden. Auch im gesetzgebenden Körper sollten die Kantone eine Ausdrucksmöglichkeit finden. Wohl bestand die Absicht, in geradliniger Weiterbildung die Tagsatzung zur nationalen Versammlung umzuwandeln und so das Einkammersystem einzuführen. Aber schon in der Regenerationszeit hatten liberale Staatsrechtslehrer darauf hingewiesen, daß der Einheitsstaat mit einer Kammer die Staaten, der Staatenbund die Bürger aus dem Staat ausschließe. Deshalb schuf der Bundesstaat in Anlehnung an die amerikanische Verfassung neben dem Nationalrat, als der direkten Ver27 tretung des Gesamtvolkes, die zweite gleichberechtigte Kammer des Ständerates, als ein Organ der Kantone. Während in der ersten Kammer der Wille des sich als Nation fühlenden Volkes zum Ausdruck kam, sollten im Ständerat die Gegensätze von kleinen und großen Kantonen einen Ausgleich finden, konnten die kleinen Stände vor dem Versinken in völlige Bedeutungslosigkeit geschützt werden."

Bonjour äußerte die Überzeugung, durch die Schaffung von zwei Kammern, einer Vertretung des Gesamtvolkes und einer Vertretung der Kantone oder Staaten, sei eine Abgrenzung zwischen Zentralismus und Föderalismus erfolgt, die sich seither als ein für das nationale Leben der Eidgenossenschaft fruchtbares Spannungsverhältnis erwiesen habe. Bonjour beschloß seine eingehende Beschreibung des 1848 geschaffenen Schweizer Bundesstaates mit einer grundsätzlichen Würdigung: „Die Bundesverfassung bedeutete einen tiefgreifenden Umbruch in der fünfhundertjährigen Entwicklung schweizerischen Staatsrechts. Sie schuf in klarer Erkenntnis des praktisch Erfüllbaren durch eine Verbindung der alten und neuen Kräfte den Bundesstaat. Seine Schöpfer waren seit Jahren im politischen Kampf gestanden und hatten sich trotz entschiedenen Erneuerungswillens die Achtung vor der Tradition und föderalen Eigenart des Landes bewahrt. Ihr Werk beweist ihren ausgeprägten Sinn für die staatlichen Möglichkeiten damaliger Zeit. Freilich waren extreme Partikularisten mit dem Verfassungswerk unzufrieden, das ihnen die Souveränität der Kantone zu stark beschnitt und wovon sie die Erdrosselung der kantonalen Selbständigkeit befürchteten. Aber auch im Lager der Radikalen gab es Enttäuschte. Sie hatten sich nach ihrem Sieg die Errichtung eines streng unitarischen Nationalstaates erträumt. Nun mußten sie auf die Revisionsmöglichkeit der Verfassung und ihre Anpassungsfähigkeit hingewiesen werden. Schließlich überwogen aber doch der Verständigungswille und die Bereitschaft zu gemeinsamer aufbauender Arbeit am verjüngten Gesamtvaterland."

Wie die Vereinigten Staaten von Amerika das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Einzelstaaten und der zu schaffenden Zentral-gewalt sind, so ist der Schweizer Bundesstaat von 1848 das Ergebnis des auf Achtung vor den gegebenen Verhältnissen und aus Einsicht in die Notwendigkeiten entstandenen Ausgleiches zwischen partikularen Sonderinteressen und unitarischem Einheitsstreben. Der Föderalismus als Strukturelement erwies dabei erneut seine Fähigkeit, indem er eine Form des Bundesstaates entwickelte, die zwar nicht alle, aber einen bemerkenswerten Teil aller Wünsche erfüllte.

Die Schaffung eines schweizerischen Bundes-staates war der erste erfolgreiche Versuch, die bei der Konstituierung der Vereinigten Staaten von Amerika gemachten Erfahrungen auf europäischem Boden zur Anwendung zu bringen. Sie wurde gleichzeitig zu einem Anstoß für die in Deutschland leidenschaftlich geführte Diskussion über die Lösung der deutschen Frage.

V. Der Föderalismus als allgemeines Strukturprinzip

1. Die föderativen Vorstellungen des Pierre Joseph Proudho

Der französische Sozialist Pierre Joseph Proudhon (1809— 1865) beschäftigte sich vornehmlich mit den Auswirkungen der Industrialisierung. Er bekämpfte sowohl wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Ausbeutung als auch politische Unterdrückung. Am bekanntesten wurde sein mißverständlicher Ausspruch: „Eigentum ist Diebstahl." Proudhon verwarf damit nicht das Privateigentum, sondern dessen geltendes Recht und zugleich die Verteilung, kraft derer den Eigentümern in Gestalt von Zins oder Rente die Früchte anderer zufließen. Diesen Mißstand wollte er durch ein neues Geld-und Kreditsystem beseitigen. Eine Tauschbank sollte an die Produzenten auf Wunsch für ihre Produkte Tauschbonds im Betrag der aufgewendeten Arbeits-und Materialkosten ausgeben. Die Tauschbonds sollten, mit dem Akzept der Bank versehen, wie Geld umlaufen und das bisherige Geld ersetzen. Proudhon wollte auf diese Weise die von ihm erstrebte neue Gesellschaftsordnung der Gegenseitigkeit erreichen.

Im politischen Bereich sprach er sich für die Anarchie aus, ohne jedoch Anarchist im heutigen Sinne zu sein. Von der Durchsetzung seiner Forderung einer neuen Gesellschaftsordnung der Gegenseitigkeit, Gleichheit und Solidarität erwartete er, daß sie sowohl in der Wirtschaft als auch in Regierung und Verwaltung Veränderungen herbeiführe, da sie Herrschaftsausübung entbehrlich mache. An die Stelle der Gesetzgebung werde der Abschluß freier Verträge unter den Gruppen und Verbänden treten. Das bisherige Regierungssystem, das nur die besitzenden Klassen begünstigt habe, komme damit in Wegfall. Verwaltung und Polizei könne man den einzelnen Gruppen überlassen. Proudhon übersah bei diesen Forderungen nicht, daß Freiheit nicht in völliger Ungebundenheit, sondern nur in sozialer Ordnung bestehen könne. Diese Auffassung führte ihn schließlich dazu, die von ihm vertretene Form der Anarchie, das heißt des Absterbens des Herrschaftssystems, aufzugeben..

Angeregt und beeinflußt von Alexis de Tocqueville entwickelte Proudhon eine sehr weitgespannte Auffassung des föderativen Prinzips. Er wollte diese nicht nur im Bereich der Politik, sondern auch in den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft angewandt wissen. In seinem erstmals 1863 erschienenen Essay „Du principe federatif" faßte er seine Vorstellungen über den Föderalismus zusammen. Ausgangspunkt ist die Ablehnung der Zentralisierung. „Die erste Ursache aller Unordnungen", versicherte Proudhon, „die die Gesellschaft heimsuchen, der Unterdrückung der Bürger und des Verfalls der Nationen besteht in der einzigen und hierarchischen Zentralisation der öffentlichen Gewalten; es ist not, sobald als möglich diesem ungeheuren Parasitismus ein Ende zu machen."

Proudhon vertrat in diesem Zusammenhang die Ansicht, die Begrenzung der Aufgabe des Staates sei eine Frage auf Leben und Tod für die Freiheit — für die kollektive und für die individuelle. Er stellt dem Staat nicht den einzelnen an sich, sondern den einzelnen im organischen Zusammenhang seiner Gruppe entgegen. Die Gruppe verstand er aus dem freiwilligen Zusammenschluß der Individuen. Die Überzeugung, daß das Individuum nur gesichert sei, wenn der Zentralismus niedergehalten werde, bestimmte Proudhon, seinen Antizentralismus immer stärker zu betonen und ausführlicher zu begründen. Er stellte dem Zentralismus den Kommunalismus und Föderalismus gegenüber. Er hoffte, die Zentralisation „durch föderalistische Institutionen und kommunale Sitten ersetzen zu können". Proudhons Ziel war eine Erneuerung der Gesellschaft. Den Weg dazu sah er nicht in einer industriellen Vermassung, n einem wirtschaftlichen Zentralismus, sondern im Föderalismus. Proudhon unterschied zwei Strukturen, die nach seiner Überzeugung ineinandergreifen: die wirtschaftliche als die Föderation der Werkgruppen, die er die „agrar-industrielle Föderation" nannte, und die politische, die auf einer Dezentralisation der Macht, auf der Teilung der Gewalten, auf der Gewährung eines möglichst hohen Maßes der Souveränität an die Kommunen und die regionalen Verbände, auf der möglichst weitgehenden Ersetzung der Bürokratie für eine lockere, direkte, sich von der natürlichen Gruppe aus aufbauenden Führung der Geschäfte beruht

Martin Buber führte in seinem Essay über Proudhon dazu aus: „Die , Verfassungswissenschaft'läßt sich nach Proudhon in drei Sätze zusammenfassen: es gilt , 1. mäßige verhältnismäßig souveräne Gruppen zu bilden und sie durch einen Akt der Föderation zu vereinen; 2. in jedem föderierten Staat die Regierung nach dem Gesetz der Trennung der Organe organisieren, das will sagen: innerhalb der öffentlichen Gewalt alles trennen, was getrennt werden kann, alles bestimmen, was bestimmt werden kann, unter verschiedene Organe oder Funktionäre alles verteilen, was getrennt und bestimmt worden ist, diese in der Ungeteiltheit belassen, die öffentliche Verwaltung mit allen Bedingungen der Öffentlichkeit und der Kontrolle umgeben; 3. anstatt die föderierten Staaten oder provinzialen und munizipalen Behörden in einer Zentralbehörde aufgehen zu lassen, die Befugnisse dieser auf die einfache Aufgabe allgemeiner Initiative gegenseitiger Garantie und Überwachung zu beschränken'. Die organische Neustrukturierung der Gesellschaft ist das Ziel, das Proudhon anstrebte: , Durch die Gruppierung der individuellen Kräfte und die Wechselbeziehung der Gruppen gewinnt die ganze Nation körperliche Gestalt.'Aus den Völkern konstituiert sich nach Proudhon eine wirkliche Menschheit als eine Föderation von Föderationen."

Proudhon hatte eine tiefe Abneigung gegen alle von oben kommenden, dem Volk auferlegten, mit Vorrechten ausgestatteten Strukturen und Gesellungen. Er befürchtete die Ausbreitung neuer kollektiver Egoismen, die ihm gefährlicher erschienen als individuelle Egois-men. Proudhon machte die Gerechtigkeit, in der Freiheit und Ordnung miteinander verbunden sind und einander ausgleichen, zum Kriterium eines echten Sozialismus. Die Struktur-form, in der sich der Ausgleich von Freiheit und Ordnung darstellt, nannte er Föderalismus. Seine Auflassung ist von dem rein verfassungsrecht lieh orientierten Föderalismus des 18. Jahrhunderts sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten von Amerika weit entfernt. Proudhon bejahte und vertrat beide Richtungen des Föderalismus — den Föderalismus als Bundesstaatsidee und als Strukturprinzip. Von der Funktionsausgabe des Föderalismus überzeugt, erklärte er: „Das zwanzigste Jahrhundert wird die Ära der Föderation einleiten oder die Menschheit wird erneut ein tausendjähriges Fegefeuer durchmachen.'1 Er war aber auch der Überzeugung: „Das eigentlich zu lösende Problem ist in Wirklichkeit nicht das politische, sondern das wirtschaftliche Problem."

2. Der Sozialföderalismus des Karl Georg Winkelblech

Eingehende Beschäftigung mit den sozialen Verhältnissen seiner Zeit veranlaßte Karl Georg Winkelblech zur Niederschrift umfangreicher „Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie" und zur Propagierung einer Auffassung des Föderalismus, in der er ein Mittel zur Über-windung der bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und sozialen Spannungen sah.

Winkelblech, der seine Darlegung unter dem Pseudonym Karl Marlo veröffentlichte, wurde am 11. April 1810 in Ensheim bei Wörstadt in Rheinhessen geboren. Sein Vater war in diesem Dorf zunächst Hauslehrer und später Pfarrer. Winkelblech wurde von seinen Eltern für den Beruf eines Apothekers bestimmt, nachdem er vornehmlich durch Hauslehrer eine den Besuch der höheren Schule ersetzende Ausbildung erhalten hatte. Durch den Besitzer der Wörstädter Apotheke, Tosetti, erhielt er eine ausführliche Einweisung in die Aufgaben eines Apothekers und die Voraussetzungen, um 1829 in Marburg unter Hofrat Wurzer Pharmazeutik und Chemie zu studieren. Ihn begleitete auf dem Weg zur Alma Mater Philippina Emil Touton, Sohn eines Lehrers Winkelblechs, der für ihn Freund, Hausgenosse und Mitarbeiter war. Nach sechsjährigem Studium, im Jahre 1835, reichte Karl Georg Winkelblech der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg sein Gesuch um Promovierung ein. Er verband damit die Bitte um Verleihung der venia legendi. Die Promotion wurde mit dem Prädikat egregia cum laude beendet. Die Philosophische Fakultät sprach sich dafür aus, diese auch als Habilitation gelten zu lassen. Die Ernennung zum Privatdozenten öffnete Winkelblech den Zugang zu einer akademischen Laufbahn. Diese wurde jedoch bereits nach wenigen Jahren unterbrochen. Zwar sprach sich im Januar 1839 der Akademische Senat der Universität Marburg in einem Bericht dafür aus, daß Winkelblech Nachfolger seines Lehrers Wurzer in der Leitung des Chemischen Instituts werde. Am 7. August 1839 schlug das Kasseler Ministerium dem Regenten vor, den bisherigen Lehrer der Chemie an der höheren Gewerbeschule zu Kassel, Robert Bunsen, als Extraordinarius nach Marburg zu versetzen und Karl Georg Winkelblech die Stelle des Lehrers der Chemie an der höheren Gewerbeschule in Kassel zu verleihen. Der Regent erklärte sich mit diesem Vorschlag einverstanden. Bemühungen, Winkelblech für die Universität Marburg zu erhalten, scheiterten. Dieser mußte die zwangsweise vorgenommene Versetzung, die für ihn der Abschied vorn akademischen Lehramt bedeutete, hinnehmen

Winkelblechs Interesse an der naturwissenschaftlichen Forschung erlahmte nach seiner Übersiedlung nach Kassel. Seine Aufmerksamkeit wandte sich allgemeinen Problemen des öffentlichen Lebens zu. Entscheidend dafür war ein von ihm selbst geschildertes Erlebnis während einer Studienreise nach Norwegen im Jahre 1843. Bei einem Besuch des Blaufarbenwerks von Modum sah er sich mit der Lage der Arbeiter konfrontiert. Im Vorwort zum zweiten Band („Geschichte und Kritik der Ökonomischen Systeme") seines sozialtheoretischen Werkes „Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie" berichtete er darüber: „Als ich eines Morgens von einem Hügel die mit den schönsten Alpenländern wetteifernde Gegend überschaute, trat ein deutscher Arbeiter — den Landsmann in mir erkennend — mit der Bitte zu mir, ihm einige Aufträge in der Heimat zu besorgen. Durch meine Bereitwilligkeit beredt gemacht, entwarf er mir eine ergreifende Schilderung seiner Erlebnisse und der Dürftigkeit, in welcher er samt seinen Genossen schmach-tete. Worin liegt der Grund, fragte ich mich, daß das vor meinen Augen ausgebreitete Paradies so viel Elend birgt? Ist die Natur die Quelle dieser Leiden, oder ist es der Mensch, der sie verschuldet? — Ich hatte von jeher, wie so viele Naturforscher, meine Blicke in den Werkstätten der Industrie nur auf Öfen und Maschinen, nicht auf Menschen, nur auf die Produkte des menschlichen Fleißes, nicht auf die Produzenten gerichtet, und war deshalb völlig fremd in dem großen Reiche des Elends, welches die Grundlage unserer geschminkten Zivilisation bildet. Die überzeugenden Worte des Arbeiters ließen mich die Nichtigkeit meiner wissenschaftlichen Bestrebungen in ihrem ganzen Umfang fühlen, und vor wenigen Augenblicken war der Entschluß in mir gereift, die Leiden unseres Geschlechts, deren Ursachen und Heilmittel zu ergründen."

Das Erlebnis beim Besuch des norwegischen Blaufarbenwerkes von Modum wurde für Winkelblech zur Wende seiner wissenschaftlichen Bemühungen. Er beschäftigte sich in den folgenden Jahren ausschließlich mit den Problemen der wirtschaftlichen und sozialen Situation, worüber er umfangreiche Untersuchungen vorlegte. Diese befaßten sich sowohl mit den festgestellten Verhältnissen als auch mit den Möglichkeiten, diese zu verändern. Winkelblech gab eine Beschreibung aller ihm bekannten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen und Bewegungen. Er rechnete dabei die ganz-und halbliberale Schule und die Systeme des Kommunismus mit der Begründung den sozialen Utopien zu, der Liberalismus stelle die politischen Fragen in den Vordergrund, während der Kommunismus die sozialen Aspekte betone. Wirtschaftliche und soziale Gesundung erwartete Winkelblech allein von der von ihm entwickelten Vorstellung des Föderalismus, die eine gewisse Verwandtschaft mit der von Proudhon vertretenen föderativen Auffassung zeigt.

Im Föderalismus soll nach Winkelblech „die wirkliche Freiheit und Gleichheit, die reale Entfaltung der Persönlichkeit" durchgeführt werden. Den Kern der bürgerlichen Ordnung bildet nach seiner Ansicht das Eigentumsrecht — das föderale Eigentumsrecht. Die Erwerbsfreiheit gebe jedem nur die Erlaubnis zur Arbeit, nicht aber die unentbehrlichen Hilfsmittel. Der Föderalismus gestehe aber jedem auch ein Recht auf die ganze Naturkraft zu und garantiere so viel, wie der indivi-duellen Arbeitskraft entspringe. Haben alle Anteil an der Herrschaft über die Natur, können auch alle zu ungeschmälertem Genuß ihrer Arbeitsfrüchte gelangen: „Wir haben ein Recht zur Sache, d. h. zur Benutzung der Naturkraft, und ein Recht auf die Sache, d. h. auf den Gebrauch unserer Arbeitsprodukte. Diese doppelte Befugnis macht den Inhalt des föderalen Eigentumsrechts aus."

Winkelblech unterscheidet zwischen einer politischen und einer sozialen Ordnung des Föderalismus. In der politischen Ordnung des Föderalismus läßt er die demokratische Staatsform vorherrschen; die Herrschaft wird von der Gesamtheit des Volkes ausgeübt. Die Regierungsform ist „synarchisch": „Die verschiedenen Regierungskörper, an deren Spitze ein erwählter Präsident steht, sind organisch verbunden, die gesetzgebenden Organe bestimmen die vollziehenden Organe. Neben der National-vertretung bestehen Provinzialkammern. Uber die Bekleidung öffentlicher Ämter entscheidet nur die Befähigung. Die . Justizverfassung läßt keine Sondergerichte zu und kennt nur eine Instanz. Die gesamte Verwaltung ist in zehn Zweige aufgeteilt." In der sozialen Ordnung des Föderalismus befürwortet er eine strenge Umschreibung der politischen und sozialen Geschäfte. Er entwickelt ein eingehend gegliedertes System des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Sein Ziel ist die Sicherung der Freiheit des einzelnen und die Erhaltung der Ordnung der Gemeinschaft.

Winkelblech war von der Richtigkeit der, wie er sagte, „neuen Rechtsidee des Föderalismus" überzeugt. Er vertrat die Meinung, wer einer neuen Rechtsidee Eingang verschaffen wolle, müsse zunächst, statt zu den Waffen zu greifen, durch Wort oder Schrift auf die Überzeugung der Menschen einwirken: Erst wenn eine neue Lehre im Innern einer Nation Wurzel gefaßt, habe, lasse sich zu deren Anwendung schreiten, die bei gehöriger Reife mit Sicherheit, sei es auf friedlichem, sei es auf gewaltsamen Wege, erfolge. Seine Wirtschafts-und Sozialpolitik war im wesentlichen, wenn auch nicht ausschließlich, Mittelstandspolitik. Winkelblech wollte die überlieferte Wirtschaftsgruppe zwischen industriellen Unternehmungen und den allein auf ihre Arbeitskraft angewiesenen Proletariern im Interesse der Gesamtheit des Volkes erhalten und stärken. Er wandte sich deshalb gegen Kapitalismus und Kommunismus, so wie er beide sah und verstand. Die der Entwicklung angepaßte Zunft-ordnung, die er nicht nur den Handwerkern, sondern dem gesamten sozialen und wirtschaftlichen Bereich geben wollte, nannte er Föde-ralismus. Er blieb bei der Erklärung dessen, was er unter Föderalismus verstand, jedoch nicht bei seiner Empfehlung für die wirtschaftliche und soziale Situation stehen. Seinen Föderalismus betrachtete er als ein allgemeines Prinzip, das in der Lage sei, die entstandene Unordnung zu überwinden und eine neue Ordnung zu begründen.

Winkelblech unternahm auch Versuche, seine Ideen denen vorzutragen und nahezubringen, denen sie den Weg aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit weisen sollten. Er trat wiederholt auf Handwerker-und Arbeiterkongressen der Jahre 1848/49 auf. Auf dem Handwerkerkongreß in Hamburg Anfang Juni 1848 trug er, von einer Kasseler Volksversammlung entsandt, seine Ansichten und Forderungen vor. Er fand dafür zwar die Zustimmung der versammelten Handwerksmeister, konnte diese jedoch nicht bewegen, seine Ansichten über die Beziehungen zwischen Handswerksmeistern und Gesellen anzunehmen. Beim zweiten Handwerkerkongreß, der am 14. Juli 1848 in Frankfurt am Main eröffent wurde, weigerten sich die Handwerksmeister, Gesellen zuzulassen. Es sei überflüssig, versicherten sie, weil die Gesellen von den Meistern wie Söhne von ihren Vätern mitvertreten würden. Die Gesellen waren mit dieser Entscheidung nicht einverstanden. Sie beriefen einen eigenen Kongreß nach Frankfurt, zu dem sie auch Winkel-blech einluden. Der Frankfurter Gesellenkongreß nahm zahlreiche Überlegungen und Empfehlungen Winkelblechs in seinen Beschlüssen auf. Er sprach sich gegen Liberalismus und Kommunismus und für eine soziale Ordnung, die er Föderalismus nannte, aus. Winkelblechs Idee faßte Boden und schien sich durchzusetzen. Auf dem am 28. Februar 1849 in Heidelberg veranstalteten Arbeiterkongreß kam es zu einer geschichtlich bedeutsamen Kontroverse. Stephan Born sprach sich im Namen der von ihm in Leipzig gegründeten Arbeiterverbrüderung für einen gemäßigten Marxismus, Karl Georg Winkelblech für den von ihm entwickelten sozialen Föderalismus aus. Born obsiegte. Der Heidelberger Arbeiterkongreß beschloß, den Frankfurter Verein in den Leipziger Verein aufgehen zu lassen. „Die Trennung der Handwerksgesellen von den Handwerksmeistern, ihre Vereinigung mit der allgemeinen Arbeiterklasse, war damit entschieden, der kommunistische Gedanke hatte über den föderalistischen den Sieg davongetragen."

Ricarda Huch, die in ihrer Darstellung „ 1848. Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland" auf Winkelblech verweist, spricht mit Achtung und Mitgefühl von dessen Scheitern. Sie ist der Ansicht, Winkelblech habe den Kampf allzu schnell aufgegeben und sich deshalb aus dem Kampf zurückgezogen, um das große Werk, in dem er seine Ideen niederlegte, zu Ende zu bringen. Sie betont jedoch, auch diese Hoffnung habe fehlgeschlagen. Im Anschluß daran verweist Ricarda Huch noch einmal auf das Anliegen Winkelblechs, das er als Föderalismus verstand: „Der einzige Versuch, die ganze Nation in Korporationen zusammenzufassen, den Mittelstand zu befestigen und dadurch sowohl Kapitalismus wie Kommunismus auszuschalten, ging unbemerkt vorüber in einer Zeit, wo der gebildete Mittelstand alles Heil vom parlamentarischen Konstitutionalismus erwartet, und wo die Verhältnisse, welche die Scheidung in Geld, Adel und Proletariat bedingten, schon den Grad von Kraft hatten, der ihre volle Entfaltung unausbleiblich machte. Es ist merkwürdig, daß der Versuch des protestantischen Pfarrersohnes, die Schäden der Zeit durch eine Mittelstandspolitik zu bekämpfen, fast nur von katholischer Seite anerkannt und fortgesetzt wurde. Die Katholiken bewahrten die mittelalterliche Abneigung gegen Kapitalismus und Industrialismus, hielten fest an dem mittelalterlichen Prinzip der Zwangsteilung, in der Kapital und Arbeit, Unternehmer und Arbeiter vereinigt waren, im Prinzip des abgestuften Besitzes und überwiegenden Mittelbesitzes. Die Katholiken hatten den Mut, die religiöse Idee der Gerechtigkeit und Liebe auf wirtschaftliche Verhältnisse anzuwenden und das geschäftliche Leben danach zu regeln. Die Protestanten dagegen standen allem, was an mittelalterliche Verhältnisse erinnerte, feindlich gegenüber, sie hatten vergessen, daß sie ebenso wie die Katholiken aus dem Mittelalter hervorgegangen sind und nahmen vielmehr die Ideen der Aufklärungszeit als ihre Tradition an."

Enttäuscht über die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen, seine Ideen nicht nur bekannt-zumachen, sondern auch zu verwirklichen, wandte sich Winkelblech der Niederschrift seiner Vorstellungen und Vorschläge zu. Politische Verfolgung und geistige Erkrankung, die eine vorübergehende Einweisung in die Irrenanstalt Illenau notwendig machte, verdunkelten sein weiteres Leben. Er starb, 54 Jahre alt, am 10. Januar 1865 in Kassel. Seinen Vorstellungen blieben Beachtung, Verbreitung und Verwirklichung versagt.

3. Das von Konstantin Frantz vertretene föderative System

Während die Vertreter des Föderalismus als Bundesstaatsidee diesen ausschließlich politisch-verfassungsrechtlich verstanden, sahen Proudhon und Winkelblech sowie ihre Anhänger im Föderalismus ein allgemeines Struktur-prinzip, von dessen Anwendung sie in erster Linie eine Lösung der sozialen Frage erwarteten. Konstantin Frantz versuchte, in der von ihm entwickelten Vorstellung über den Föderalismus beide Auffassungen zusammenzufassen und den Föderalismus philosophisch, staats-und sozialphilosophisch, zu begründen und zu rechtfertigen. Seine zahlreichen Veröffentlichungen dazu veranlaßten seine Parteigänger,, ihn als „Lehrer des Föderalismus", ja als „Begründer des Föderalismus in Deutschland" zu apostrophieren.

Konstantin Frantz, 1817 in Oberbörnecke bei Halberstadt geboren, studierte von 1836— 1839 an der Universität Halle Philosophie und Naturwissenschaften. Er bekannte sich dabei zum rechten Flügel der Schule Hegels. Nach 1839, nachdem er nach Berlin übersiedelt war, empfand er Sympathien für den linken Flügel der Schule Hegels, wobei er sich den sogenannten Freien, einem Kreis von liberal-radikalen Literaten, Journalisten und Studenten, anschloß. Im Organ dieser Gruppe, dem „Athenäum", veröffentlichte er seinen ersten Aufsatz zur sozialen Frage: die „Uber Stellung der Fabrikarbeiter". Wahrscheinlich geriet er um 1841 in den Bannkreis Schellings, dessen Vorlesungen er besucht haben dürfte, und wurde dadurch auf die staatsphilosophischen Vorstellungen des Christentums verwiesen. Frantz bekannte später, dabei die für seinen Lebensweg entscheidende innere Wandlung erfahren zu haben. Mit großem Eifer versuchte er, die ihm vorgetragenen Ideen aufzunehmen und weiterzuentwickeln. 1844 wurde Frantz von Minister Eichhorn im preußischen Kultusministerium als referierender Literat angestellt. Im gleichen Jahr veröffentlichte er die Studie „Versuch über die Verfassung der Familie. Ein Mittel gegen den Pauperismus". Von den sozialen Erwägungen und philosophischen Anregungen aus geriet er zu den Fragen der Tagespolitik. In der 1846 veröffentlichten Betrachtung „über Gegenwart und Zukunft der preußischen Verfassung" erwähnte er zum erstenmal den Begriff Föderalismus, mit dem er sich dann in zunehmendem Maße beschäftigte. In der 1848 publizierten Broschüre „Polen, Preußen und Deutschland" verstand er den Föderalismus als völkerrechtliches Prinzip, das in der Lage sei, einen Bund zwischen Polen, Preußen und den übrigen deutschen Staaten zu tragen. Im Revolutionsjahr verlor er seine Staatsstellung. 1851 trat Frantz erneut mit den Männern der preußischen Politik in Beziehung. Für dieses Jahr ist auch seine Bekanntschaft mit Bismarck nachweisbar. Er erbat dessen Unterstützung bei der Anstellung als Geheimer Sekretär im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten. Bevor er dort seinen Dienst antrat, unternahm er eine große Reise durch Österreich, die Schweiz und Frankreich. Wo immer ihm sich die Möglichkeit bot, trat er mit den leitenden Staatsmännern in Gedankenaustausch. Als Zeuge des Staatsstreiches in Paris (2. Dezember 1852) empfand er leidenschaftliche Begeisterung für Louis Napoleon, den nachmaligen Kaiser Napoleon III. Dieser Einstellung wegen wurde er 1853 an das preußische Generalkonsulat für Spanien und Portugal in Barcelona versetzt. Frantz fühlte sich kaltgestellt. Er kehrte 1856 eigenmächtig nach Berlin zurück. Meinungsverschiedenheiten und Schwierigkeiten führten 1858 zu seiner erneuten Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst. Frantz stand in dieser Zeit in engen Beziehungen zu Bismarck. Er war überzeugt, nur dieser sei in der Lage, der preußischen Politik eine kräftige Wende zu geben. 1859 erreichte er erneut eine Anstellung im preußischen Ministerium für auswärtige Angelegenheiten. Er erhielt dadurch Gelegenheit, sich auch von Amts wegen mit der deutschen Frage zu befassen, über die er in den vorausgegangenen Jahren zahlreiche Untersuchungen und Betrachtungen geschrieben hatte. Bismarck bemühte sich nach seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten, Constantin Frantz als politischen und publizistischen Mitarbeiter zu gewinnen. Dieser lehnte jedoch entsprechende Angebote ab, da er sich als grundsätzlicher Gegner der Vorstellungen Bismarcks zur Lösung der deutschen Frage bekannte. Die Folge war eine endgültige Entzweiung. Bereits Ende 1862 wurde Constantin Frantz zur Disposition gestellt. Er schied endgültig aus dem preußischen Staatsdienst aus. Die bittere Enttäuschung über Bismarck und der erzwungene Verzicht auf eine amtliche Tätigkeit dürfen bei der Betrachtung und Beurteilung der Vorstellungen und Ansichten von Constantin Frantz nicht übersehen werden. Sie schlagen in seinen politischen Überlegungen immer wieder durch.

Beunruhigt über die Entscheidung des Jahres 1866 wandte sich Frantz denen zu, die wie er Bedenken und Besorgnisse über die Vormachtstellung Preußens in Deutschland hegten. Er nahm Beziehungen zu den nachmaligen Gründern der Zentrumspartei auf, stand im Gedankenaustausch mit August Reichensperger, kannte Hermann von Mallinckrodt und diskutierte mit Ludwig Windthorst. Er lehnte das am 18. Januar 1871 proklamierte Deutsche Reich, das Werk Bismarcks, entschieden ab, dessen baldigen Sturz, verbunden mit einer Gefährdung der Existenz des deutschen Volkes, er voraussagte. Seine 1871 erfolgte Übersiedlung von Berlin nach Blasewitz bei Dresden verstand er als eine Demonstration gegen das kleindeutsche Reich preußischer Observanz. Trotzdem unternahm er immer wieder Versuche, in die politische Arena zurückzukehren. 1875 erließ er einen „Aufruf zur Gründung einer föderativen Partei". Eine im Herbst des gleichen Jahres in Prag erfolgte Zusammenkunft politisch Gleichgesinnter war erfolglos. Frantz mußte erkennen, daß die Teilnehmer der Besprechung weder die von ihm entwikkelte Idee noch die praktische Möglichkeit des Föderalismus erfaßten. Er hatte noch die Genugtuung, den Sturz Bismarcks zu erleben. Kurze Zeit später, am 2. Mai 1891, starb er in Blasewitz. Frantz geriet vorerst in Vergessenheit. Während des Ersten Weltkrieges setzte dann eine intensive Beschäftigung mit Constantin Frantz ein, dessen Ideen und Vorstellungen sowohl in der Krise des monarchistischen Staates als auch in der kurzen Zeitspanne der Republik von Weimar, in den zwölf Jahren des Unheils und erneut nach 1945 als Heilmittel und Wegweisungen der deutschen Politik angepriesen und angeboten wurden. Eine umfassende und kritische Darstellung des Lebens und der Vorstellungen von Constantin Frantz fehlt. Die vorliegenden Veröffentlichungen zeigen, daß die Auffassungen über Constantin Frantz starken Wandlungen unterworfen sind. Sein literarisches Werk, das außerordentlich umfangreich ist, entbehrt jedoch durch-und überschaubarer Systematik. Beide Umstände erklären die unterschiedlichen Beurteilungen Frantz. Obwohl sein Denken ausschließlich um den Föderalismus kreiste und er 1879 eine Betrachtung unter dem Titel „Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland" schrieb, gab er keine systematische Darstellung seiner Ansichten; „formelle Systematik" und „schulmäßige Definitionen" lehnte er ab, weil diese seiner lebendigen Vorstellung vom Föderalismus nur im Wege stünden.

Für Frantz ist der Föderalismus kein verfassungsrechtliches Ordnungselement, sondern ein gemeinschaftsordnendes und gemeinschaftsgestaltendes Prinzip. Es besitzt nach seiner Ansicht die Fähigkeit, alle menschlichen Lebensverhältnisse bildend zu gestalten, so daß es von den Aufgaben der Ökonomie bis an die Geheimnisse der Religion heran-reicht. Es ist „ein allgemeines Prinzip". Frantz knüpft unbewußt an die Bundtheologie des 16. und 17. Jahrhunderts und bewußt an den Sozialföderalismus Winkelblechs an. Seine philosophischen und politischen Interpretationen des Föderalismus beruhen auf der Feststellung: „Der Bund ist die Grundidee des Föderalismus". Im Bund sieht Frantz die Verklammerung und den Aufbau von Individualität und Gemeinschaft. Der Föderalismus fasse beide Pole, Individualität und Gemeinschaft, gleichzeitig ins Auge und sei dadurch gewissermaßen ein zweiseitiges Gespräch — ein Dialog. Mit dieser Deutung schafft Frantz dem Föderalismus eine eigene Grundlage. Er entwickelt eine Ideologie des Föderalismus. Von diesem sagt er, er sei nichts Seiendes, sondern Einzuverwirklichendes, nicht ein Zustand, sondern eine Forderung. Als Urform des Bundes, als Prototyp des Föderalismus, bezeichnet er die Familie. Sie lasse weder die Individualität untergehen noch löse sie die Gemeinschaft auf. Sie achte die Individualität in ihrer Eigentümlichkeit, aber immer nur als Glied des größeren Ganzen, als Vater, als Mutter, als Kind. Von diesen grundsätzlichen Erwägungen aus sieht Frantz den Staat, der für ihn die Behörde der Gesellschaft ist. Bei der Festlegung der Gesellschaft folgt er der Auffassung Robert Mohls, daß Gesellschaft die Mittelwelt und der Mittelbereich zwischen Individuum und Staat sei. Die starke Betonung von Familie und Gesellschaft machen die Kritik Frantz sowohl an den sozialen Schäden seiner Zeit als auch an dem gesellschaftsfeindlichen Staatsabsolutismus verständlich. Die Heilung von beiden erwartet Frantz vom Föderalismus, dem er auch die Fähigkeit zuweist, die Verbin-düng zwischen Ethik und Politik herzustellen. Vor allem forderte Frantz eine föderative Gliederung Deutschlands. Er ging dabei von der Überzeugung aus, Universalität sei der tatsächliche Charakter der Deutschen. Bei anderer Gelegenheit versicherte er, der universale Typ gehöre zur nationalen Eigentümlichkeit der deutschen Nation. Die Bismarcksche Reichs-gründung kommentierte er mit dem entrüsteten Ausruf: „Dem Deutschtum ist Gewalt angetan." Da nach seiner Meinung Deutschland ein mit dem ganzen Kontinent verwachsener Körper sei, müsse das deutsche Problem von der Reichsidee her gelöst werden. Ein innerstaatlicher Zentralismus führe in Deutschland zwangsläufig zu einer Machtkonzentration, die ihrerseits eine Abwehr der Umwelt herausfordere. Lediglich ein praktischer Föderalismus in der deutschen Innen-und Außenpolitik ermögliche eine friedliche Entwicklung sowohl Deutschlands als auch der Nachbarstaaten.

Das Reich versteht Frantz als Völkerordnung, nicht als deutschen Nationalstaat. Das Deutsche Reich nach der ReichsVerfassung vorn 16. April 1871 ist für ihn vergrößertes Preußen, nicht Reich. Für ihn besteht die Eigentümlichkeit des Reiches darin, daß es Staat und Gesellschaft zusammenfaßt, so daß beide Elemente zwar in ihrer besonderen Sphäre selbständig bleiben, aber sich gegenseitig ergänzend ineinandergreifen, wie in einem Bund stehend. Das Reich überschreitet nach Struktur und Aufgabe die Funktion eines bloßen Staates. Es ist für Frantz ein europäisches Ordnungsprinzip. Er sieht das Reich auf einer christlichen Grundlage, weshalb er sich für einen allgemeinen und überkonfessionellen Kirchenbund ausspricht. Die Bindung des Reiches an das Christentum ist für ihn dessen Auszeichnung und Erhöhung. „Wo gibt es", fragt Constantin Frantz, „ein Land, welches die Völker und in den Völkern die Stände und die Individuen so eng verbände als die Religion, das heißt der Bund der menschlichen Seele mit Gott?"

Frantz war ein entschiedener Antisemit. Er befindet sich mit seinen Vorstellungen in Übereinstimmung mit dem bürgerlichen Denken seiner Zeit. Sein Antisemitismus beruht zwar nicht auf biologischen Ansichten, sondern auf (pseudo-) religiösen und gesellschaftspolitischen Überlegungen. Er lehnte zwar Gewalt-maßnahmen gegenüber Juden ab, forderte jedoch bereits 1844 für diese einen Sonderstatus. Später betonte er, mit der Entziehung des Staatsbürgerrechts der Juden sei auch deren freie Berufswahl aufgehoben.

Die antisemitischen Vorstellungen von Frantz wurden zwar zwischen 1933 und 1945 herausgestellt, jedoch vor 1933 und nach 1945 entweder bagatellisiert oder überhaupt nicht erwähnt. Ihre Unterdrückung verändert jedoch die geistesgeschichtliche Position von Frantz, denn dessen Antisemitismus gehört wesentlich zu seiner pseudoreligiös-mythischen Reichsvorstellung, die nicht die geschichtliche Wirklichkeit des hohen Mittelalters, sondern die romantische Vorstellung des 19. Jahrhunderts darüber reflektiert.

Zwischen den Darlegungen Georg Waitz über das Wesen des Bundesstaates, die an die Ansichten Tocquevilles über das Federalgovernment der Vereinigten Staaten von Amerika anknüpfen, und den von Constantin Frantz entwickelten Auffassungen über den Föderalismus als das „leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation" bestehen nach Herkunft, Begründung, Beurteilung und Verwirklichung unüberbrückbare Gegensätze. Weil aber die Ansichten beider, von Waitz als auch von Frantz, der Geschichte des Begriffes Föderalismus zugeordnet werden, erreicht die Breite der Ansichten darüber Dimensionen, die die Gemeinsamkeit in Frage stellen. Die unsystematischen und auf weiten Gebieten unwirklichen Vorstellungen von Frantz lassen eine gegensätzliche Interpretation zu, deren Problematik sich in der Unklarheit und Unsicherheit über den Begriff Föderalismus niederschlägt.

Die häufig zu beobachtende Abstützung des föderativen Gedankens durch Verweise auf Constantin Frantz ist nicht nur unvollständig, sie ist auch problematisch. Frantz ist nicht, wie immer wieder versichert wird, der Schöpfer des föderativen Prinzips. Er ist dessen engagierter Propagandist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weil Frantz mit seinen Ansichten über den Föderalismus seine Auffassungen über das Bismarcksche Reich verband und wirklichkeitsfremde Zukunftserwartungen hegte, hat er der Entfaltung des föderativen Gedankens nicht nur genützt, sondern auch geschadet: Weil er, der leidenschaftliche Prediger des Föderalismus, ein entschiedener Gegner des Bismarckschen Reiches war, geriet der Föderalismus in den Verdacht der Reichsgegnerschaft und Reichsfeindschaft, wodurch seine Verbreitung und das Verständnis für ihn erschwert wurden. Diejenigen, die den Föderalismus wegen der Haltung von Frantz gegenüber dem Reich Bismarcks ablehnten, übersahen darüber, daß dessen Errichtung nur durch Anwendung des föderativen Prinzips möglich war.

4. Die föderativen Auffassungen des Julius Fröbel

Im Mai 1861 besuchte ein im Dienste der österreichischen Regierung stehender Publizist Berlin, um, wie er betonte, Constantin Frantz kennenzulernen. Dessen „Untersuchungen über das europäische Gleichgewicht" hatten ihn lebhaft interessiert, weshalb er mit ihm in Briefwecksei trat. Einer der Briefe, die Constantin Frantz an ihn richtete, war Anlaß zu seiner Schrift „Die Forderung der deutschen Politik" Julius Fröbel, um ihn handelt es sich bei dem Besucher Constantin Frantz’, kleidete seine Darlegung in die Form eines offenen Schreibens an den Gleichgesinnten. Fröbel fand in Constantin Frantz „einen scharfsinnigen, durchaus selbständigen Beurteiler der politischen Weltlage, aber krankhaft gereizten Mann mit vielen Wunderlichkeiten". Auf Grund des Gedankenaustausches stellte Julius Fröbel fest, „daß ein aus innerer Übereinstimmung des beiderseitigen Wesens hervorgehendes Zusammenwirken . . . trotz allem Zusammentreffen unserer Gedankenrichtung nicht wohl möglich sein werde". Er fügte hinzu: „Bei einer nochmaligen Zusammenkunft in Kissingen haben sich wesentliche Gegensätze unserer Weltansicht noch schärfer herausgestellt. Wir hegten bei unserer publizistischen Wirksamkeit verschiedene Hintergedanken, welche im Gespräch nicht ganz verborgen bleiben konnten. Meine Achtung vor dem geistvollen politischen Schriftsteller ist aber dadurch nicht verringert worden. In das Lehrsystem einer Partei haben seine zahlreichen Schriften freilich zu wenig gepaßt, daß sie hätten gebührende Beachtung finden können" Julius Fröbel gehört zu den eigenwilligsten und schillerndsten Erscheinungen des 19. Jahrhunderts. 1805 in Griesheim bei Stadtilm geboren, wurde er in der Erziehungsanstalt Keilhau seines Onkels, des Pädagogen Friedrich Fröbel, erzogen. 1833 wurde er Lehrer an der Industrieschule, 1836 Professor der Mineralogie an der Universität Zürich. 1840 übernahm er den Verlag „Literarisches Compoir", der vor allem Schriften deutscher Schriftsteller, die die Staaten des Deutschen Bundes wegen Zensur-schwierigkeiten hatten verlassen müssen, verlegte. 1842 verzichtete Fröbel auf seine Professur in Zürich und kehrte nach Deutschland zurück. Er nahm in Dresden seinen Wohnsitz.

Nach Ausbruch der Revolution im März 1848 betätigte Fröbel sich zunächst journalistisch im republikanisch-demokratischen Sinne. Er hatte Anteil an der im Juni 1848 erfolgten Gründung der „Demokratischen Partei". Im Oktober 1848 in die Erste Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am Main entsandt, begab er sich zusammen mit Robert Blum nach Wien, um den Aufständischen eine Sympathieadresse der Linken der Frankfurter Paulskirche zu überbringen. Blum und Fröbel wurden wegen ihrer Parteinahme für die Aufständischen zum Tode verurteilt. Blum wurde hingerichtet, Fröbel begnadigt. Grund dafür war seine im gleichen Jahr erschienene Schrift „Wien, Deutschland und Europa", in der er sich für die Beibehaltung der österreichischen Monarchie ausgesprochen hatte. Das Wiener Erlebnis hatte nachhaltige Auswirkungen auf sein politisches Denken. Nach Frankfurt zurückgekehrt, beteiligte er sich an den Sitzungen des Rumpfparlaments in Stuttgart und am Aufstand in Baden. Wie viele Teilnehmer an dieser Erhebung wanderte auch Fröbel in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Von 1849 bis 1857 bereiste er den nordamerikanischen Kontinent, von dessen Größe und Großzügigkeit es fasziniert war.

Seit 1857 wieder in Deutschland, war er zunächst freier Schriftsteller, trat jedoch sehr bald in den Dienst der österreichischen und später der württembergischen Regierung. Seine politischen Veröffentlichungen befürworteten eine Reform des Deutschen Bundes unter der Führung Österreichs. Seine Denkschrift „Die Leitung der großdeutschen Angelegenheiten"

war die Grundlage der österreichischen Politik, die zur Einberufung des Frankfurter Fürsten-tages 1863 führte. Entscheidenden Einfluß hatte er auf den „Reformverein", dem Gegenstück zum „Nationalverein". Im Gegensatz zu vielen Gleichgesinnten erkannte Fröbel die militärische und politische Entscheidung des Jahres 1866 an. Von 1867 bis 1873 leitete er in München die „Süddeutsche Presse", in der er sich für den Gedanken eines kleindeutschen Nationalstaates aussprach. 1873 trat er in den Reichsdienst. Er wurde zunächst Konsul in Smyrna, später in Algier. 1888 trat er in den Ruhestand. Fröbel, in dessen Lebenslauf sich die politischen Widersprüche und Gegensätze der deutschen Politik seit 1840 spiegeln, hinterließ ein umfangreiches publizistisches Werk — persönliche Schilderungen, Beobachtungen und Erfahrungen seiner Reisen und theoretische Darlegungen über Fragen der Politik. Während Konstantin Frantz starr an seinen Vorstellungen festhielt, überraschte Julius Fröbel immer wieder durch Veränderungen seiner Standorte und bisweilen auch seiner Standpunkte. Sowohl in seinen praktischen I Empfehlungen für die anstehenden politischen Entscheidungen als auch in seinen theoretischen Darlegungen über Aufgabe und Ordnung des Staates vertrat Fröbel eine föderalistische Grundeinstellung Als Souveränität des Staates verstand er die Übermacht gegenüber anderen untergeordneten Mächten aus eigener Machtvollkommenheit. Die Übermacht schloß die Annahme untergeordneter Machtbildungen im Staate ein, die als legitim gelten.

Fröbel nannte die untergeordneten Machtbildungen „Autonomien": „Jeder Staat ist also ein System von Mächten, die sich einander über-und unterordnen, oder, was dasselbe sagt, ein System von Autonomien". Jeder Staat ist nach Fröbel letzthin eine Föderation (von Mächten oder Autonomien). Die föderalistische Ausgestaltung eines Staates kann nur bestehen als ein „Zustand anerkannter Macht".

Bei der Darlegung und Begründung seiner Auffassung vom Föderalismus ging Fröbel von hochentwickelten Staaten aus, in denen der Ausgleich von Macht und Recht bereits vollzogen ist. Er unterschied in dem Ablauf hoher organisierter Staaten einen doppelten Strom politischer Willensbildung. Der eine Strom geht von der Regierung, der andere Strom vom Volke aus. Bei allen Gliedern eines solchen Staates setzte Fröbel zumindestet den einheitlichen Willen zum Staate überhaupt voraus: „Aus der Einheit dieses Willens entspringt die Einheit der Macht, aus dieser die Einheit des Rechts und so die Einheit der Souveränität." Der Wille des Menschen zum Staat ist nach Fröbel so entschieden, daß ihm eine Despotie lieber ist als ein staatloser Zustand. Völker werden erst durch die Regierungen zu wahren Völkern, das heißt zu staatlichen Organismen. Der Begriff des Volkes bedingt nach Fröbel unbedingt den Begriff der Regierung: „Ein Volk ist eine Gesamtheit von Menschen unter ihrer Regierung."

Für die untrennbare staatliche Einheit, die im Wechselverhältnis des Stromes von der Einheit zur Vielheit und von der Vielheit zur Einheit besteht, benutzt Fröbel unter Berufung auf den englischen Sprachgebrauch den Begriff Nation. Sie ist Volk und Regierung. Diese organische Zuordnung von Regierung und Volk im Staate führt nach Fröbel zu einem System von Rechten, die beide aufeinander haben und die, da sie selbst natürliche Organe des Staates sind, natürlich und unentziehbar sind. Eine Sphäre von Volksrechten steht einer Sphäre von Regierungsrechten gegenüber. Volksrechte sind: Menschenrechte, Berufsrechte Standes-rechte, Ortsrechte, Staatsbürgerrechte. Regierungsrechte sind: Recht auf Vertretung des Staates nach außen, Recht des Krieges und des Friedens, Recht des diplomatischen Verkehrs, das Recht, Bündnisse und Staatsverträge abzuschließen, Kriegshoheit, Amtshoheit, Gerichts-hoheit, Polizeihoheit, Finanzhoheit, Gesetzgebungshoheit.

Besondere Beachtung schenkt Fröbel unter den Volksrechten den sogenannten Ortsrechten. Es sind die Rechte, die „an örtliche Zwecke und Lebensformen" gebunden sind. Aus diesen Lokalzwecken leitet er das Recht auf Selbstregierung ab, wobei er ausdrücklich betonte, daß er dabei an ein „Selfgovernment" im englischen und nordamerikanischen Sinne dachte. Er fuhr fort, in Deutschland habe man dafür das Wort Autonomie geprägt. Damit war Fröbel von dem Bereich des Rechtes zur Wurzel des von ihm vertretenen Föderalismus vorgedrungen: „Im Grunde genommen hat damit der Föderalismus bei ihm einen doppelten Ursprung: Recht und Macht. Da diese aber nur die prinzipielle und die tatsächliche Seite von ein und derselben Art menschlicher Beziehungen sind, und als solche den höheren kulturell fortgeschrittenen Staat schaffen, können wir annehmen, daß für Fröbel der Föderalismus integrierender Bestandteil eines jeden vollkommenen Staates sein soll. Fröbel selbst bestätigt uns die Annahme, wenn er sagt:

Die Bundesgenossenschaft oder das Föderativ-system ist überhaupt die volksmäßige Bildungsform größerer Staatsganze — die freiheitliche Form des Großstaates im allgemeinen . .

Fröbel formulierte sein föderalistisches Prinzip wie folgt: „Innerhalb der Grenzen, welche auf der einen Seite durch die Menschenrechte, Berufsrechte und Standesrechte, auf der anderen durch das Gesamtinteresse des Staates und die Einheit seiner Souveränität vorgezeichnet sind, soll die Haushaltung, die Gemeinde, die Provinz, die Landschaft frei über die eigenen Mittel für die eigenen Zwecke gebieten." Fröbels föderalistische Vorstellung gleicht dem Aufbau eines Struktursystems vom Individuum bis zum Gesamtstaat. Der größere Lebenskreis ist nach Fröbels Auffassung verpflichtet, den kleineren Lebenskreis in seiner Eigenart nicht zu beeinflussen, sondern ihm im vollsten Umfang Autonomie zu belassen. Fröbel betonte, jeder Lebenskreis im Staat sei eigenen Rechtes in seinen eigenen Angelegen-heilen, soweit sie nur seine eigenen Angelegenheiten sind.

Fröbel wünschte die von ihm entwickelte Vorstellung vom Föderalismus allgemein anzuwenden. Er kann sich die Organisation des Deutschen Bundes bzw. Deutschen Reiches nur föderalistisch denken. Er betonte die Notwendigkeit einer föderalistischen Organisation Österreichs. Er schlug vor, die katholische Kirche auf eine föderalistische Basis zu stellen, womit die zentralistische des Papsttums in Wegfall komme. Da er der Meinung war, die islamitische Türkei sei nicht mehr zu retten, gleichzeitig aber nicht wünschte, daß sie Ruß-land zufalle, empfahl er eine föderalistisch-christliche Türkei.

An seiner Vorstellung der Funktionsfähigkeit des Föderalismus hielt Fröbel unablässig fest. Als durch die Reichsgründung eine konsequente Verwirklichung seiner föderativen Vorstellungen auf deutschem Boden nicht mehr möglich war, in den Staaten Europas keine Ansätze für einen seiner Auffassung entsprechenden Föderalismus vorhanden waren, setzte Fröbel seine Hoffnung auf die föderalistische Ausgestaltung einer Europäischen Union. Für Fröbel war der föderalistische Staat der Ideal-staat: „In ihm sah er die Möglichkeit für das Mit-und Ineinander aller Volkskreise, die Möglichkeit einer neuen, antirevolutionären und antidoktrinären realpolitischen Demokratie. Die föderalistische Ordnung des Staates ist für ihn die Garantie der Freiheit in kleinen Lebenskreisen."

Im Herbst 1866 vollzog Fröbel eine Schwenkung, indem er von Österreich zu Preußen überging. Das Ergebnis war „der Glaube an Bismarck, an Preußen und späterhin die Hoffnung auf ein Deutsches Reich". Aus dem Groß-deutschen wurde ein Kleindeutscher, aus dem Anwalt Österreichs ein Verteidiger Preußens. Fröbel rechtfertigte diesen Frontenwechsel, indem er erklärte, er gehöre leider nicht zu denen, die die großdeutsche Bewegung lediglich als ein Mittel Österreichs zur Verteidigung seiner unfruchtbaren Stabilität und seines reaktionären Legitimismus benutzt hätten. Er vertrat die Auffassung, die groß-deutsch-föderalistische Idee habe auch deswegen keinen Erfolg haben können, weil man in Deutschland den Föderalismus schon 1815 nicht begriffen habe.

In der für die in Augsburg erscheinende „Allgemeinen Zeitung" geschriebenen Artikelfolge „Das deutsche und das europäische Föderativ-system" 137) lehnte Fröbel die moderne Ter137) J. Fröbel, Das deutsche und das europäische Staatensystem, in: Allgemeine Zeitung, Nr. 285 v. 12., Nr. 288 v. 15. und Nr. 293 v. 23. Oktober 186G. minologie von Staatenbund und Bundesstaat ab; durch derartige Spitzfindigkeiten habe man den Föderativcharakter des Deutschen Bundes verdorben. Gegenüber dem Hegemoniegedanken, der den letzten Sinn für eine wahrhaft bundesmäßige Gestaltung des deutschen Staatensystems vernichtet habe, legte er noch einmal scharf die Prinzipien des Föderalismus, so wie er sie verstand, dar. Die Bundesgewalt habe in einer wahren Föderation nur übertragenes Recht, nicht aber Recht aus eigener Machtvollkommenheit. Sie sei zwar „legal", aber ihr fehle der Charakter eigennütziger Macht, die Legitimität. Da nach seiner Meinung Deutschland im Begriffe war, „sich zu verpreußen", propagierte er den Föderalismus als Programm einer europäischen Gemeinschaft. Er war davon überzeugt, daß der Föderalismus in Europa eine große Zukunft habe.

Die Notwendigkeit eines europäischen Zusammenschlusses sah er vor allem in der Tatsache, daß Amerika und Rußland enger zusammen-fänden. Den Ausweg aus der Situation nach der Entscheidung von Königgrätz sah er in einem Zusammenschluß Europas, da sich die Interessenscheidung zwischen den Gliedern der „Welttrias" Amerika, Europa und Rußland immer stärker abzeichne. Eine besondere Aufgabe sah Fröbel für den europäischen Föderalismus in der Möglichkeit, das Nationalitätenproblem, das bei der europäischen Gemengelage immer Schwierigkeiten bereite, befriedigend zu lösen. Obwohl er seine Hoffnung auf eine Föderalisierung Deutschlands bereits aufgegeben hatte, versuchte er in der Diskussion über die Beziehungen zwischen dem sich bildenden Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten noch einmal den föderativen Gedanken zur Diskussion zu stellen.

In der von ihm redigierten „Süddeutschen Presse" schrieb er: „Unsere politischen Über-zeugungen sind die des Föderalismus. Eine wahrhafte Bundesverfassung war unser Ideal für die politische Einheit Deutschlands. Die Ausbildung des Deutschen Bundes zu einer föderativen Macht war unser politisches Ziel. Durften wir aber, wenn wir den verstockten Partikularismus und die offene Religion sahen diese beiden Mächte, welche sich der-Bundesverfassung zu antinationalen Zwecken bedienten —, durften wir uns wundern und beklagen, daß der Bund als solcher in Verruf und der deutsche Föderalismus zu Fall kam? — Wenn heute die noch übrigen Vertreter des deutschen Föderativsystems über die Blindheit der Parteien klagen, die nicht sehen wollen, daß dieses System an sich das den deutschen Bedürfnissen entsprechende war und noch sein könnte, — müssen wir ihnen zurufen: Wer anders als ihr selbst trägt die Schuld dieser Erscheinung — wer anders als ihr selbst, die ihr von einem an sich richtigen Prinzip, von einem an sich guten Systeme einen so schlechten Gebrauch gemacht habt, daß es dem allgemeinen Unwillen erliegen mußte."

Fröbel versuchte der neuen Situation dadurch gerecht zu werden, daß er „das Prinzip der Autonomie an die Stelle des Föderalismus" setzte: Der Gegensatz von Föderalisten und Unitariern wird zum Gegensatz von Autonomisten und Zentralisten. Fröbel wollte damit nicht, wie ihm vorgeworfen wurde, durch Sophismus seinen angeblichen Rückzug vom föderalistischen Standpunkt verschleiern. Er versuchte damit die im Norddeutschen Bund bereits vorhandenen Gegebenheiten anzusprechen und zu bezeichnen. Im weiteren Verlauf seiner Entwicklung sah er für den Föderalismus, so wie er ihn verstand, in Deutschland keine Chance mehr. Er glaubte, der Föderalismus werde eine überragende Bedeutung für die Vereinigten Staaten von Europa haben, so wie er die Bildung und Behauptung der Vereinigten Staaten von Amerika ermöglichte.

Fröbel entzog sich nicht der großen Bewegung, die im Herbst 1870 auch Süddeutschland erfaßte. Er war der Ansicht, die deutsche Einheit habe durch das spontane Zusammenwirken des Norddeutschen Bundes und des Südens bereits seit Beginn des Krieges praktische Formen angenommen. Diese müßten jetzt weitergeführt und stabilisiert werden: „Ein Reich also muß gegründet werden . . . jetzt in der schöpferischen Stunde hoher Gefühle." Uber die Struktur dieses Reiches sagte er: „Das Deutsche Reich ist weder der deutsche Staat noch der Deutsche Bund; aber die , Idee des Reiches'ist die der föderativen Hegemonie — des Bundesstaates mit feststehender Vormacht — in dieser Idee müssen sich Nord und Süd zusammenfinden."

Die Reichsidee, zu der sich Fröbel Ende 1870 bekannte, hatte starke Wandlungen durchgemacht. Sie begriff das Reich als hochentwickelten föderativen Oberstaat. Die Möglichkeit eines bayerischen Vetos gegen die Reichsgründung verwarf er mit der Begründung, Föderalismus dürfe nicht verkappter Partikularismus sein.

Indem Fröbel seinem Wunsche entsprechend in den Reichsdienst eintrat, bezeugte er sein Bekenntnis zu diesem Reich, zu dem klein-deutschen Nationalstaat, dessen Entstehung er als Publizist im Dienste der österreichischen Regierung zunächst mit allen Mitteln hatte verhindern wollen. Fröbel gehört zu der Generation der Revolution von 1848/49, die nach schmerzlichen Erfahrungen gegensätzliche Standpunkte einnahm. Ein Teil fand sich schließlich mit den Gegebenheiten ab. Während Constantin Frantz auf das Deutsche Reich bitterböse war und blieb und dem Reichsgründer Bismarck grollte, machte Fröbel seinen Frieden mit beiden, mit dem kleindeutschen Nationalstaat und mit seinem ersten Reichs-kanzler. Er glaubte, durch die Modifizierung seiner föderativen Vorstellungen, diese den neuen Gegebenheiten anpassen zu können, übersah jedoch, daß er dabei in Widerspruch zu früheren Ansichten und Forderungen geriet. Nachdem sich die Verwirklichung des föderativen Gedankens, so wie er ihn sich vorstellte, in Deutschland als unmöglich erwiesen hatte, hoffte er, daß der föderative Gedanke sich als die Kraft erweise, die Europa zusammenführe, auf daß sich Europa zwischen seinen beiden Flügelmächten Amerika und Rußland als dritte Macht behaupten könne. Fröbel vertrat zwar eine immer gleiche föderative Vorstellung, diese jedoch in zahlreichen Varianten und Modifikationen. Er war der Meinung, daß der föderative Gedanke nicht starr gedacht und angewendet, sondern den jeweiligen Gegebenheiten angepaßt werden müsse. Sein Föderalismus ist ein zeitgemäßer Föderalismus, dessen Umfang und Gestalt von den Zeitverhältnissen bestimmt wird. Er ist keine Doktrin, sondern ein wandelbares Strukturprinzip.

Wird fortgesetz

Fussnoten

Fußnoten

  1. Brie, a. a. O., S. 33, Anm. 4.

  2. Brie, a. a. O., S. 34, Anm. 5.

  3. Brie, a. a. O., S. 34.

  4. Brie, a. a. O„ S. 38 ff.

  5. F. Schleiermacher, über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen. Vorgelesen den 24. März 1814, in: Sämtliche Werke, III. Abt., Bd 2, S. 246 ff.

  6. Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, hrsg. v. W. Hubatsch, Bd. IV, Stuttgart 1963, S. 413 ff.

  7. Ebenda, S. 428 ff.

  8. E. v. Puttkamer, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648, Göttingen 1955, S. 75 f.

  9. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung, Bd. 1, Heft 1, S. 16 ff.

  10. H. v. Srbik, Goethe und das Reich, München 1940, S. 32.

  11. A. H. L. Heeren, Historische Werke, 2. Teil, Göttingen 1821, S. 423 ff.

  12. J. F. Fries, Vom Deutschen Bund und Deutscher Staatsverfassung. Allgemeine staatsrechtliche Ansichten, Heidelberg 1816, vor allem S. 162 ff.

  13. H. v. Gagern, Leben des Generals Friedrich von Gagern, Bd. 1, Leipzig und Heidelberg 1856, S. 361 ff.

  14. Ebenda, S. 372 ff.

  15. P. A. Pfizer, Briefwechsel zweier Deutschen, hrsg. v. G. Küntzel, Berlin 1911.

  16. P. A. Pfizer, über die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung des Bundes, Stuttgart 1835.

  17. C. v. Rotteck und C. Welcker, Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, 3 Bde, Bd. 1, Altona 1836, S. 76 ff.

  18. E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1961, S. 262 ff.

  19. Ebenda, S. 264 f.

  20. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrsg. v. F. Wigard, Bd. IV, Frankfurt 1848, S. 2722 ff.

  21. Huber, a. a. O., Bd. I, S. 294 ff.

  22. Ebenda, S. 298 ff.

  23. Brie, a. a. O., S. 78 f.

  24. E. Deuerlein, Bayern in der Paulskirche, 1948, S. 260 ff.,

  25. Huber, a. a. O., S. 331 f.

  26. F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat., hrsg. v. H. Herzfeld, München 1962, S. 426.

  27. C. C. J. Bunsen, Die Deutsche Bundesversammlung und ihr eigentümliches Verhältnis zu den Verfassungen Englands und der Vereinigten Staaten. Zur Prüfung des Entwurfs der Siebenzehn. Sendschreiben an die zum Deutschen Parlamente berufene Versammlung, Frankfurt a. M. 1848.

  28. (J. K. Bluntschli), Bemerkungen über die neuesten Vorschläge zur deutschen Verfassung. Eine Stimme auf Bayern, München 1848.

  29. J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung nach den Beschlüssen der deutschen Nationalversammlung und nach dem Entwurf der drei königlichen Regierungen, Berlin 1849.

  30. Brie, a. a. O., S. 91 f.

  31. G. Waitz, Das Wesen des Bundesstaates. Reden und Betrachtungen von J. v. Radowitz (Gesammelte Schriften Bd. 2), Berlin 1852, in: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur. Jahrg. 1853, S. 494 ff.

  32. G. Waitz, Grundzüge der Politik nebst einzelnen Ausführungen, Kiel 1862, S. 153 ff.

  33. H. Schulze, System des Deutschen Staatsrechts. Erste Abteilung. Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, Leipzig 1865.

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  35. H. Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates, 2 Bde, Wien 1870 f.

  36. R. v. Mohl, Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Erste Abteilung: Verfassungsrecht, Stuttgart-Tübingen 1824.

  37. R. v. Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften Tübingen 18722, S. 366 ff.

  38. H. v. Treitschke, Historische und politische Aufsätze, Leipzig 1865, S. 444 ff.

  39. Brie, a. a. O., S. 128 ff.

  40. G. Anschütz, Bismarck und die Reichsverfassung, 1899, S. 13.

  41. Meinecke, a. a. O., S. 422.

  42. H. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, Tübingen 1920, S. 196 ff.

  43. H. Schneider, Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates 1848— 1918. Erster Halbband 1848 bis 1874, Stuttgart 1931, S. 23 ff.

  44. E. Dürr, R. Feller, L. v. Muralt u. H. Nabholz (HIrsg.), Geschichte der Schweiz, 2 Bde, Zürich 1932/38, Bd. 2, S. 454 ff.

  45. Oeuvres completes de P. -J. Proudhon. Nouvelle edition. Du principe federatif et Oeuvres diverses sur les Problemes politiques europeens, Paris 1959.

  46. M. Buber, Pfade in Utopia, Heidelberg 1950, S. 46 ff.

  47. E. Biermann, Karl Georg Winkelblech (Karl Marlo), Sein Leben und sein Werk, 2 Bde, Leipzig 1909.

  48. K. Marlo, Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie, 4 Bde, 2. Ausl., Bd. 2, Tübingen 1884. S. V.

  49. R. Huch, 1848. Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Zürich 1948, S. 346 ff.

  50. Ein vollständiges Verzeichnis der Schriften von Konstantin Frantz gibt K. Heldmann in: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Bd. 7 (1917).

  51. K. Frantz, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Mainz 18791, Neudruck Aalen 1962.

  52. K. Frantz, Untersuchung über das europäische Gleichgewicht, Berlin 1859.

  53. J. Fröbel, Kleine Politische Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1866, S. 335 ff: „Die Forderungen der deutschen Politik".

  54. J. Fröbel, Ein Lebenslauf. Aufzeichnungen, Erinnerungen und Bekenntnisse, 2 Bde, Bd. 2, Stuttgart 1891, S. 67 und 76.

  55. H. Lülfing, Die Entwicklung von Julius Fröbels politischen Anschauungen in den Jahren 1863 bis 1871 mit besonderer Berücksichtigung seiner Stellung zur deutschen Frage, Leipzig o. J.

Weitere Inhalte

Ernst Deuerlein, Dr. phil., o. ö. Professor Köln 1958; Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente für Geschichte an die Phil. -Theol. Hochschule zum 8. /9. November 1923, in: Quellen Dillingen/Donau. Geb. 9. September und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 9, 1918 in Rückersdorf bei Nürnberg. 1947 Eintritt Stuttgart 1962; Potsdam 1945. Quellen zur in den bayerischen Staatsdienst; vornehmlich Konferenz der „Großen Drei", München 1963; in der Bayerischen Staatskanzlei tätig. Der deutsche Katholizismus 1933, Osnabrück Habilitation an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1963; Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 1961 Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte 1945— 1955, in: Handbuch der deutschen zu Dillingen. 1966 Lehrtätigkeit an Geschichte, Bd. IV Abschnitt 6, Konstanz 1963/der Universität Erlangen-Nürnberg. 64; DDR. Geschichte und Bestandsaufnahme, 19662; Zahlreiche Aufsätze vornehmlich zur Veröffentlichungen u. a.: Der Bundesratsausschuß Verfassungs-, Sozial-und Zeitgeschichte. Bearbeiter, für die auswärtigen Angelegenheiten zusammen mit Hansjürgen Schier-baum 1871— 1918, Regensburg 1955; Das Reichskonkordat, u. a., der bisher erschienenen Bände der Düsseldorf 1956; Die Einheit Deutschlands, vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Bd. I: Die Erörterungen und Entscheidungen Fragen herausgegebenen „Dokumente zur der Kriegs-und Nachkriegskonferenzen Deutschlandpolitik": Bd. III/l (5. Mai bis 1914— 1949, Frankfurt/Main 1961; Joseph 31. Dezember 1955), Frankfurt/Main 1961; Görres, Geistesgeschichtliche und politische Bd III/2 (1. Januar — 31. Dezember 1956), Schriften der Münchner Zeit (1828— 1838), in: Frankfurt/Main 1963; Bd. III/3 (1. Januar bis Joseph Görres, Gesammelte Schriften, Bd. 15, 31. Dezember 1957), Frankfurt/Main 1967.